Doch erst einmal mussten sie den Botengang zu Tadessi erledigen. Kurz darauf standen sie vor einem Palazzo am Canal Grande auf der Höhe des Rio di San Maurizio. Der Palast hatte drei Stockwerke. Das oberste mit seinen Balkonen und Erkern, Zinnen, Türmchen und bunten Fahnen diente offenbar der Familie Tadessi als Wohnraum. Das Erdgeschoss glich einem Ameisenhaufen. Alle Türen und Tore waren geöffnet und gaben den Blick auf ein großes Lager frei. Arbeiter schleppten Säcke und Kisten, schwitzend und tief gebeugt unter der Last. Fässer türmten sich in einer Ecke, geflochtene Körbe in einer anderen. Vor dem Haupttor standen Lieferanten vor einem Holzpult Schlange, wo ein Mann mit Tintenfass, Schreibfeder und sehr wichtiger Miene Listen abhakte. Neben dem Palazzo ragte ein breiter Steg in den Canal Grande. Hier lag eine große Kogge, die soeben entladen wurde.
„Riecht ihr das auch?“, fragte Leon.
„Gewürze!“, rief Kim. „Ich muss gleich niesen.“
„Jedenfalls sind wir hier richtig“, Julian sah sich um. „Jetzt müssen wir nur noch Tadessi finden! Lasst uns den Mann am Pult fragen.“
Dieser wollte die Kinder erst fortjagen. Als sie ihm jedoch den Brief unter die Nase hielten, rief er einen der Arbeiter heran und befahl ihm, die drei Kinder zu Tadessi zu führen.
Sie traten in die Halle. Hier verstärkten sich die Gerüche – es roch intensiv nach Chili, Curry und Pfeffer. Jetzt musste Kim tatsächlich niesen. Über ausgetretene Stufen gelangten sie in den ersten Stock des Palazzo, der einem heutigen Großraumbüro glich. Überall standen Schreibtische und Pulte. Männer, die weitaus besser gekleidet waren als die Arbeiter, wieselten herum. Die meisten hatten kleine Tintenfässer um den Hals, offenbar, um sich jederzeit Notizen machen zu können. Vor einer schlichten Holztür machte ihr Führer halt und klopfte an.
„Herein!“, erklang es unwirsch.
Der Arbeiter öffnete die Tür, begrüßte Tadessi und schob die Kinder in den Raum.
Tadessis Gesicht war kreisrund und wurde von einem akkurat gestutzten Vollbart eingerahmt. Seine Augen huschten unruhig hin und her. Der Mann wirkte angespannt, wenn nicht nervös. Immer wieder strichen seine Hände das Stück Pergament glatt, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
„Drei Kinder und eine Katze? Was wollt ihr hier?“, fragte er mit einer merkwürdig hohen Stimme, die Ungeduld verriet.
Leon verbeugte sich. „Wir bringen eine Nachricht aus dem Dogenpalast.“
Tadessis Gesicht hellte sich auf. „Das ist etwas anderes“, sagte er, kam um den Tisch herum und nahm Leon den Brief ab. Er öffnete ihn und überflog die Zeilen. Nun wirkte er entspannter.
„Grazie“, sagte Tadessi.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau erschien. Sie war groß und hübsch und trug einen ärmellosen Überrock aus goldschimmerndem Samt und darunter ein weißes Unterkleid aus Leinen. An ihren Fingern blitzten Ringe.
„Ah, Rosa“, begrüßte Tadessi die Frau.
Sie nickte knapp und hielt ihm mehrere Schriftstücke hin. „Das sind wichtige Sendungen aus Zara, mein lieber Mann. Sie müssen rasch erledigt werden!“ Rosa sagte das selbstbewusst und mit Nachdruck, als wolle sie ihren Mann ermahnen, dass diese Arbeit keinen Aufschub dulde. In diesem kurzen Moment wurde deutlich, wer im Gewürzhandel Tadessi wirklich das Sagen hatte.
„Certo, meine Liebe“, erwiderte Tadessi rasch. „Ich kümmere mich gleich darum.“
Rosa lächelte. „Gut, es geht um die nächste Chili-Lieferung, Bruno.“
„Chili? Ausgezeichnet!“, rief ihr Mann. Und zu den Kindern gewandt sagte er. „Alle in Venedig sind verrückt nach Chili. Und ich bin der Einzige in unserer schönen Stadt, der Chili verkauft. Ich habe hervorragende Geschäftsbeziehungen zu den Händlern in Zara!“
„Außerdem hast du Besuch“, ergänzte Rosa. „Alessandro di Vecchio möchte dich sprechen, wegen der Kreuzritter. Er wartet draußen.“
Tadessi hob eine Augenbraue. „Gut, er soll reinkommen. Aber vorher …“ Er brach den Satz ab, wühlte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch herum und zog schließlich ein versiegeltes Schriftstück hervor. „Bringt das dem Dogen, mit besten Empfehlungen von mir.“ Er drückte Leon das Pergament in die Hand. Dann kramte er aus seiner Jackentasche einige kleine Münzen hervor und gab sie den Kindern. „Und nun geht!“
Die Freunde bedankten sich und wandten sich zur Tür, die gerade von Rosa geöffnet wurde. Ein Mann trat ein – und die Freunde erstarrten. Dieses Gesicht kannten sie: breites Kinn, platte Nase, buschige Augenbrauen … Keine Frage, das war der unfreundliche Bettler, den sie nach dem Weg zum Dogenpalast gefragt hatten! Mit dem Mann war allerdings eine seltsame Verwandlung geschehen. Statt Lumpen trug er feinste Stoffe. Es stand kein Bettler vor ihnen, sondern ein Patrizier! Mit diesem Mann stimmte etwas nicht. Führte er ein Doppelleben? Und was wollte er bei Tadessi? Für einen Augenblick kreuzten sich die Blicke der Freunde und des Mannes. Di Vecchios dunkle Augen wurden schmal, sie brannten förmlich in denen der Kinder. Der Mann schien nachzudenken – und sofort schauten die Kinder weg. Plötzlich hatten sie es sehr eilig, das Büro zu verlassen. Sie drückten sich an di Vecchio vorbei. Als Erste war Kija auf dem Gang.
„Halt!“, sagte di Vecchio jetzt eisig.
Die Freunde hielten den Atem an. Doch dann drehten sie sich um.
„Wer seid ihr?“, fragte di Vecchio schneidend.
„Boten aus dem Palast des Dogen“, erwiderte Julian freundlich.
Bedächtig wiegte di Vecchio den Kopf. „Wir haben uns noch nie gesehen, nicht wahr?“
Was für eine seltsame Frage, dachte Julian. „Äh, nein“, sagte er.
„Richtig, wir haben uns noch nie gesehen“, bestätigte di Vecchio. Er kam auf die Kinder zu und schaute ihnen tief in die Augen. Ein düsterer, drohender Blick, der die Freunde verstörte. „Niemals, hört ihr?“, zischte die Vecchio. „Niemals!“
Hastig nickten die Freunde und liefen davon.
„Puh, war der Kerl unheimlich“, sagte Kim, sobald sie vor dem Gewürzhandel standen.
„Allerdings“, bestätigte Leon. „Vor dem sollten wir uns vorsehen. Möchte mal wissen, welche Rolle der Typ spielt.“
Julian ließ die Münzen in seiner Hand klimpern. „Immerhin haben wir unser erstes Geld verdient. Da vorn ist eine Bäckerei – was meint ihr?“
Sie kauften sich Kekse mit Honig und ließen sich am Fuße eines Pozzo in Blickweite von Tadessis Gewürzhandel nieder.
„Vielleicht ist dieser di Vecchio eine Art Agent oder so was“, sagte Julian. „Jemand, der einen geheimen Auftrag hat und sich deswegen verkleidet. Und jetzt hat er Angst, dass wir seine Tarnung auffliegen lassen könnten.“
„Möglich“, stimmte Kim ihm zu, während sie Kija einen halben Keks abgab. Die Katze miaute und spähte zu Tadessis Palazzo hinüber. Kim folgte ihrem Blick. Ihr Herz machte einen Sprung. Gerade trat di Vecchio aus dem Geschäft. Suchend schaute er sich um. Schon nahm er die Freunde ins Visier und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Di Vecchios Hand glitt unter sein Wams und zog etwas hervor, das in der Sonne aufblitzte.
„Das könnte ein Messer sein! Abflug, Leute“, kommandierte Leon.
Die Kinder sprangen auf und rannten los. Bisher war das venezianische Gassengewirr eher ein Problem für sie gewesen. Doch jetzt kam es ihnen zu Hilfe. Denn in diesem Labyrinth gelang es ihnen, di Vecchio abzuschütteln. Außer Atem erreichten sie nach einer halben Stunde den Palast und gaben Luca die Botschaft für den Dogen.
„Bene“, sagte er nur, „ich werde sie zu Dandolo bringen.“
„Jetzt tut Luca bestimmt so, als habe er den Botengang erledigt“, maulte Kim, sobald Luca außer Hörweite war. „Der Kerl ist wirklich unglaublich faul!“
Den restlichen Tag verbrachten die Freunde mit Arbeiten im Stall. Nach einem Abendbrot aus Brot und Käse machten sie es sich im Stall gemütlich. Luca hatte ihnen ein paar Decken gegeben und ihnen einen Platz in einer mit sauberem Stroh gefüllten, geräumigen Box zugewiesen.
„Besser als der Dachboden“, urteilte Julian. „Wer übernimmt die erste Wache am Fenster?“
„Immer der, der fragt“, gab Leon trocken zurück.
„Stimmt!“ Kim grinste.