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Dunkle Kanäle

Die Freunde verließen ihre Deckung und betraten die Gasse. Matteo verschwand hinter einer Säule mit dem Abbild eines Heiligen.

Nun konzentrierten sich die Detektive wieder auf die Kreuzritter. Diese liefen auf ein unscheinbares Gebäude am Ende der Gasse zu. Im Mondlicht erkannten die Kinder, dass dort zwei weitere Männer standen, die weiße Waffenröcke mit Kreuzen trugen.

„Sieht so aus, als würden die Wache schieben“, hauchte Kim aufgeregt. „Ob dort das Geld versteckt ist?“

„Abwarten“, flüsterte Leon. „Wir …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Seine Augen weiteten sich. „Oh nein“, stammelte er.

Unvermittelt hatten die hinzugekommenen Kreuzritter die Wachen angegriffen. Es war ein kurzer, ungleicher Kampf. Keine Minute später lagen die Wachen am Boden. Die Angreifer zerrten sie in das Haus. Mit einem dumpfen Krachen fiel die Tür hinter ihnen zu.

„Was war denn das?“, fragte Leon verdattert.

Kim ballte die Fäuste. „Ist doch sonnenklar! St. Pol und seine Männer haben die Wachen überwältigt und stehlen den Schatz.“

„St. Pol?“ Leon wollte es nicht glauben. „Aber der ist doch auch ein Kreuzritter! Noch dazu einer ihrer Anführer!“

„Egal, wir müssen den Raub verhindern!“, rief Kim. Bevor Leon und Julian sie bremsen konnten, war das Mädchen zu dem Haus geflitzt, Kija im Schlepptau. Widerstrebend rannten Leon und Julian den beiden hinterher.

Die Tür war nicht verschlossen, stellte Kim erleichtert fest, als sie vorsichtig gegen das Holz drückte. Mit einem leisen Quietschen schwang sie auf. Licht flutete den Freunden entgegen. Ein Verkaufsraum lag im Schein einer Fackel vor ihnen. Ein langer Tisch beherrschte den Raum. Dahinter reichten Regale, die mit Stoffen in allen Farben bestückt waren, bis an die Decke. Kräftiges Leinen, feinste Seide und edlen Brokat gab es hier.

In diesem Moment miaute Kija ungeduldig. Sie stand vor einem Vorhang und drehte sich zu den Freunden um. In ihren Augen funkelte es.

Kim, Leon und Julian hatten verstanden und schlichen zu der Katze. Langsam, ganz langsam zogen sie den Vorhang ein Stück zurück und spähten hindurch. Ein weiterer, viel größerer Raum öffnete sich vor ihnen. Auch er war von einer Fackel beleuchtet, deren Licht jedoch nicht ausreichte, um ihn bis in den letzten Winkel zu erhellen. Die Freunde erkannten, dass sie vor dem Lager der Stoffhandlung standen. Am gegenüberliegenden Ende, dort, wo kaum noch Licht hinfiel, arbeiteten vier Gestalten.

„Das sind bestimmt St. Pol und seine Komplizen!“, wisperte Leon.

In Windeseile wuchteten die Männer offensichtlich schwere Lasten durch den Hinterausgang des Lagers.

„In diesen Kisten ist garantiert das Geld der Kreuzritter!“, vermutete Kim, deren Augen sich allmählich an das schwache Licht gewöhnt hatten. Sie krabbelte auf allen vieren in den Raum, erreichte einen dicken Stoffballen und bezog dahinter Stellung. Vorsichtig kamen ihre Freunde nach. Kim hob die Nase über den Ballen. Gerade schleppten die Diebe die beiden offenbar bewusstlosen Wachen durch die Hintertür. Für einen Moment erkannte Kim die Umrisse eines Schiffs.

Wieder klappte die Hintertür auf und zu. Dann war keiner der Diebe mehr zu sehen.

„Ob die etwa … schon fertig sind?“, überlegte Kim.

Die Freunde warteten eine Minute, doch nichts geschah. Nun sausten sie zur Hintertür. Leon öffnete sie einen Spalt und schaute hindurch.

„Tatsächlich, ein Schiff“, hauchte er. „Und es legt gerade ab!“ Wie ein dunkler, großer Schatten glitt das schnittige Schiff in den Kanal. Es handelte sich um eine Sanpierota mit nur einem Mast und einem kräftigen Ruder.

Die Freunde sahen sich hektisch an.

„Die hauen mit dem Schatz ab und wir stehen hier blöd rum!“, schimpfte Julian.

„Nicht gleich aufgeben.“ Leon hatte ein kleines Ruderboot entdeckt, das an den glitschigen Steinstufen lag, die vom schwarzen Wasser des Kanals zum Lager hinaufführten.

„Los, wir legen ab!“ Leon enterte den Kahn.

Kim band das Boot los und sprang mit dem Seil und Kija ebenfalls an Bord. „Leinen los!“, verkündete sie. „Komm schon, Julian.“

In letzter Sekunde sprang auch er in den Kahn, der bedenklich zu schwanken begann.

„Willst du uns versenken?“, knurrte Leon.

„Klappe halten, rudern“, gab Julian zurück und legte los.

Einige Minuten jagten die Freunde hinter der Sanpierota her. Dann machte der Kanal einen scharfen Rechtsknick, und das Schiff verschwand aus ihren Augen. Jetzt bog auch das Ruderboot mit den Kindern um die Kurve.

„Ach, du Schande!“, entfuhr es Kim.

Die Sanpierota lag urplötzlich fast vor ihnen, keine fünfzehn Meter entfernt. Sie dümpelte mitten im Kanal, und Kim wurde klar, dass die Besatzung des Bootes ihnen auflauerte. Offenbar hatten die Diebe bemerkt, dass sie verfolgt wurden!

„Eine Falle! Zu-zurück“, stammelte Kim.

Leon und Julian legten sich in die Riemen, während Kim gebannt auf das andere Schiff starrte.

Jetzt tauchte an dessen Heck ein großer, hagerer Mann auf. Kim kniff die Augen zusammen. War das St. Pol? Er war schlecht zu erkennen, es war einfach zu dunkel!

Der Mann hatte etwas in der Hand, das matt im Mondlicht glänzte. Jetzt hob der Mann das Ding hoch, und Kim erkannte dessen Konturen. Sie erschrak – es war eine große Axt.

„Achtung!“, schrie Kim voller Entsetzen, als der Mann die Waffe in Richtung der Freunde schleuderte.

Alle duckten sich.

Ein hässliches Splittern. Die Streitaxt steckte tief im Holz ihres Kahns, und zwar auf Höhe der Wasserlinie. Schon blubberte Wasser ins Boot.

„Mist, wir sinken!“, rief Leon. Er zitterte am ganzen Körper. Gott sei Dank hatte die Axt nur das Boot getroffen …

„Das wird Kija gar nicht gefallen“, sagte Kim. Und mir auch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu. „Rudert zur Kaimauer da drüben, schnell!“

Unterdessen entfernte sich die Sanpierota. Kim fluchte leise. Und sie saßen mitten auf dem Kanal in einem lecken Kahn! Sie spürte kühles Wasser an ihren Beinen und suchte hektisch unter der Bank nach einem Eimer, mit dem sie das Wasser aus dem Boot schöpfen konnte. Doch sie fand nichts.

Die Kaimauer kam nur ganz allmählich näher, obwohl sich Julian und Leon nach Leibeskräften abmühten. Das kleine Boot war durch das eindringende Wasser immer schlechter zu manövrieren. Kläglich miauend sprang Kija auf der Bank hin und her, ihr Schwanz war gesenkt und aufgeplustert. Kim nahm sie auf den Arm und versuchte, sie zu beruhigen.

Endlich stieß das Boot gegen die Steinmauer. Kija war die Erste, die von Bord sprang. Als Leon als Letzter an Land kam, war ihr Ruderboot bereits zur Hälfte mit Wasser vollgelaufen.

„Das war ziemlich knapp“, sagte Leon. „Was jetzt?“

Statt eine Antwort zu geben, rannte Julian los. „Wir laufen am Kanal entlang“, rief er über die Schulter. „Vielleicht können wir das Schiff der Diebe einholen.“

Sie hetzten an Stegen, Lagerschuppen und verrammelten Fischläden vorbei, an Kneipen und einem Squero, wo Gondeln gebaut und repariert wurden.

Und Julian sollte Recht behalten. Nach einer Weile sahen sie das Schiff der Diebe wieder. Es hatte gerade vor einem düsteren Haus angelegt, in das ein Steg führte. Darauf balancierten vier Männer mit schweren Kisten.

„Sie laden die Beute ab“, stieß Julian atemlos hervor. „Jetzt müssen wir den Dogen oder Montferrat alarmieren.“

„Lieber den Dogen“, sagte Leon. „Wer weiß, ob nicht auch Montferrat mit den Dieben zusammenarbeitet – wie St. Pol!“

„Mal was anderes: Könnt ihr euch das Gebäude merken?“, fragte Kim unsicher.

„Denke schon“, erwiderte Julian. Doch auch er war sich nicht sicher. Er überlegte, wie sie am schnellsten zum Dogenpalast kommen könnten.

Sie hatten Glück: Ein junger Mann, der gerade aus einer Schenke kam, gab ihnen eine exakte Beschreibung.

Während sie rannten, dachte Julian fieberhaft nach. Matteo war ihm eingefallen. Was hatte er nachts in der Nähe des ursprünglichen Geldverstecks zu suchen gehabt? Steckten Matteo, Ela und die anderen Straßenkinder etwa mit den Dieben unter einer Decke? Das konnte Julian sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Ihm kam ein anderer Gedanke: Kim hatte einen großen Mann auf dem Schiff gesehen und vermutet, dass es sich um St. Pol gehandelt hatte. Aber: Hatte der Mann auch die Freunde erkannt? Wussten die Täter, wer sie verfolgt hatte? Julian bekam eine Gänsehaut.

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