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Die weißen Augen

Völlig außer Atem erreichten die Freunde den Dogenpalast. Nach kurzer Diskussion erklärten sich die Wachen bereit, sie zum Dogen zu bringen. Gleichzeitig schickte man einen Boten zum Gästehaus, um Montferrat zu alarmieren.

Einer der Wachmänner ging voran und führte die Kinder durch die Arkaden in den gewaltigen Innenhof des Palastes. Sie überquerten den Platz, hielten sich rechts und eilten die breite, weiße Scala dei Giganti hinauf.

„Auf dieser Treppe bekommen die frisch gewählten Dogen ihre Kappe aufgesetzt“, erklärte Julian seinen Freunden leise. Nur zu gut konnte er sich an seinen Urlaub und die Erläuterungen des Fremdenführers erinnern. „Damit wurden sie zum Dogen gekrönt.“

Nun hatten sie den ersten Stock des Palastes erreicht. Hier herrschte nüchterne Eleganz vor. Der Gang war breit, aber weitgehend schmucklos, sah man einmal von einem aufwendig geschnitzten Kruzifix ab. Büros reihten sich aneinander – die Avvogaria und Provveditori della Milizia da Mar, wie die Freunde den Schildern entnahmen, die neben den Türen angebracht worden waren. Doch sie hatten keine Zeit, sich genauer umzusehen, denn schon ging es die nächste Treppe hinauf. Der zweite Stock des Palastes war weitaus prächtiger gestaltet. Gemälde mit religiösen Motiven hingen an den Wänden. Rechts von ihnen lag eine breite Tür. Julian wusste, dass sich dahinter ein gewaltiger Saal befand. Hier tagten die 1.000 Mitglieder des Großen Rates, des Maggiore Consiglio, die den Dogen wählten. Doch das eigentliche Zentrum der Macht lag ein Stück weiter den Gang hinunter: Am Ende des Flurs hatte der Doge seine drei Privatgemächer. Vor der Tür des letzten Raums standen weitere Wachsoldaten. Schnell waren sie informiert, und ebenso schnell verschwand einer der Männer durch die Tür.

Einige Minuten verstrichen. Dann stürmte Montferrat heran, begleitet von einem Palastdiener. Der Kreuzritter war blass, auf seiner Stirn stand eine tiefe Sorgenfalte. Gerade, als er etwas zu den Kindern sagen wollte, öffnete sich die Tür.

„Der Doge ist bereit, euch zu empfangen“, sagte der Wachsoldat und winkte die späten Gäste herein.

Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Im Licht der wenigen Kerzen sahen die Freunde einen zierlichen Mann, der mit einem Glas Wein in der Hand an einem Tisch stand und ihnen den Rücken zuwandte. Er trug einen langen Umhang aus Brokat. Auf dem Kopf des Mannes thronte als Zeichen seiner Macht der Corno – die Dogenkappe mit der hinten kühn aufragenden, abgerundeten Spitze. Die Kappe war aus gold- und silberdurchwirktem Samt gefertigt und mit kostbarsten Edelsteinen verziert.

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Jetzt drehte sich der Doge um und die Freunde erschraken. Sie blickten in ein uraltes Gesicht mit toten, milchigen Augen und unzähligen Falten. Der Doge war blind. Enrico Dandolos Mundwinkel hingen mürrisch herab. „Stimmt das, was ich da gerade hören musste?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Ja“, preschte Leon vor. „Wir haben gesehen, wie das Geld der Kreuzritter gestohlen wurde. Außerdem wurden zwei Wachen entführt!“

Der Doge richtete seine weißen Augen auf Leon, und der Junge senkte den Blick.

„Wer bist du, dass du ungefragt deine Stimme erhebst?“, fragte der Doge schneidend.

„Entschuldigung“, murmelte Leon.

Enrico Dandolo mochte ein blinder Greis sein, aber Leon ahnte, dass man ihn keine Sekunde unterschätzen durfte. Dandolo verkörperte die Macht des Dogen mit jedem Zentimeter seines zerbrechlich wirkenden Körpers. Rasch stellte Leon seine Freunde und sich vor. Als der Junge die Katze erwähnte, machte diese einen Buckel und fauchte leise. Offenbar war der Doge auch ihr nicht geheuer.

„Schon gut, und jetzt berichtet, was ihr beobachtet habt!“, befahl der blinde Greis.

„Ja, und lasst bloß nichts aus!“, meldete sich Montferrat zu Wort.

Die Freunde erzählten alle Einzelheiten. Als Kim den Namen St. Pol nannte, schlug Montferrat die Hände vors Gesicht: „Großer Gott, das ist doch unmöglich!“

„Ruhe“, raunzte der Doge ihn an. Dann wandte er sich an die Kinder. „Wisst ihr, wohin die Diebe das Geld und die Wachen gebracht haben?“

So gut sie es konnten, versuchten die Freunde, den Ort zu beschreiben. Aber ihre Angaben waren nicht besonders genau.

Ungeduldig klatschte der Doge in die Hände. Sofort ging die Tür auf und eine der Wachen erschien.

„Sucht St. Pol“, ordnete Dandolo an. „Und viel wichtiger: Sucht die Truhen mit dem Geld. Wie viel Silbermark waren es überhaupt?“

Der Kreuzritter seufzte. „Etwa 90.000 Silbermark! Das Geld muss wieder her, unter allen Umständen. Wir müssen unsere heilige Mission erfüllen!“

„Richtig“, Certo!“, flüsterte die Wache ehrfürchtig und entfernte sich eilig.

„Auch ich werde meine Männer losschicken, um St. Pol zu schnappen“, sagte Montferrat entschlossen. „Wir müssen diesen Verräter zur Rechenschaft ziehen. Ein Kreuzritter stiehlt unser Geld, entführt unsere Männer. Wenn das der Papst erfährt …“

Der Doge tastete sich zum Tisch zurück. Er trank einen Schluck Wein, bevor er sagte: „Noch weiß Innozenz nichts von dem Diebstahl. Und wenn wir die Täter schnappen und das Geld finden, braucht er auch nichts zu erfahren. Es würde kein gutes Licht auf die Mission der Kreuzritter werfen. Man könnte meinen, dass Gott die Kreuzritter verlassen hat, mein lieber Montferrat. Ohne das Geld ist der Kreuzzug zu Ende …“

Der Ritter bekreuzigte sich. „Wie meint Ihr das? Ist es etwa nicht auch Eure Mission? Immerhin seid auch Ihr Christ.“

„Natürlich bin ich das“, entgegnete Dandolo ernst. „Und ich bedauere den Verlust des Geldes und das drohende Scheitern des göttlichen Auftrags mindestens ebenso. Aber Ihr wart es, der nicht richtig auf das Geld aufgepasst hat, Ihr habt den falschen Mann dafür eingesetzt.“

Nervös nestelte Montferrat an seinem Hemd. „Wie konnte ich ahnen, dass mein bester Mann …“ Er brach den Satz ab und schaute beschämt zu Boden.

„Schon gut“, sagte der Doge. „Geht jetzt, Montferrat und helft, die Täter zu jagen.“

Montferrat verabschiedete sich und wandte sich dann an die Kinder: „Los, ihr habt hier nichts mehr verloren.“

„Halt!“, stoppte der Doge ihn. „Die Kinder bleiben hier.“

„Wir Ihr meint“, erwiderte Montferrat und verschwand.

„Kommt her“, befahl Dandolo den Freunden.

Zögernd traten Kim, Julian und Leon dichter an den mächtigen Mann heran. Nur Kija blieb, wo sie war – in der Nähe der Tür.

Jetzt streckte der Doge den rechten Arm aus. Sein knöchriger, langer Zeigefinger berührte Kims Schulter. Das Mädchen erschauderte.

„Bene“, sagte er heiser, „jetzt seid ihr nah, ganz nah …“

Er richtete seine weißen, toten Augen auf die Kinder. „Ihr seid mutig.“ Er lachte unvermittelt lautlos in sich hinein. „Todesmutig könnte man es auch nennen. Manchmal ist es klüger, wegzuschauen, wenn Gefahr droht.“

„Aber wir haben doch nur unsere Pflicht getan“, erwiderte Kim.

Der knöchrige Finger fuhr über ihre Haare, und das Mädchen zog unwillkürlich den Kopf zurück. Am liebsten wäre Kim weggerannt, aber sie beherrschte sich.

„Angst? Du hast Angst, nicht wahr?“ Die Stimme des Dogen war nur noch ein Krächzen. „Es ist gut, sich zu fürchten. Dann wird man nicht leichtsinnig. Aber ihr wart es. Hört auf, euch in Dinge einzumischen, die ihr nicht zu steuern vermögt. In Dinge, die euch töten könnten.“

Entsetzt sahen sich die Freunde an.

Der dünne Finger machte sich wieder auf die Reise durch Kims Haare. „Und das wäre doch schade um euch. Ihr seid noch so jung, blutjung. Geht jetzt, es ist spät.“

Erleichtert verließen die Kinder die Privatgemächer des Dogen. Bevor sie zum Stall zurückgingen, traten sie auf die von Laternen beleuchtete Mole, die den Palast vom Wasser trennte.

„Ein unheimlicher Mensch, dieser Dandolo“, sagte Julian.

„Allerdings“, stimmte Kim zu, atmete tief die Nachtluft ein und schaute auf das San-Marco-Becken hinaus. In der Ferne glitzerten die Lichter der Insel San Giorgio Maggiore.

Leon zupfte sich am Ohrläppchen. „Er hat uns ausdrücklich gewarnt. Wir sollen nicht weiterermitteln.“Kim lächelte. „Ich denke, daran wird er uns nicht hindern, oder?“

Leon und Julian nickten.

Ein Miauen ließ sie zu Boden sehen. Kija war Richtung Stall losgelaufen.

„Wir kommen schon“, sagte Julian und folgte der Katze. Auch Leon kam nach. Nur Kim blieb noch einen Moment stehen und genoss den Anblick des Inselchens. In diesem Moment nahm sie aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung wahr. Ein Mann glitt aus den Schatten der Arkaden. Kim sah genauer hin. Jetzt lief die Gestalt an einer der Laternen vorbei, Licht fiel auf ihr Gesicht und sorgte dafür, dass sich Kims Puls rasant beschleunigte. Dieser Mann, daran hatte Kim keine Zweifel, war niemand anderes gewesen als di Vecchio, der Bettler mit dem Doppelleben. Was hatte der hier nachts verloren, hatte er sie beschattet?

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