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Im Netz gefangen

Am nächsten Morgen beratschlagten die Kinder bei der Arbeit im Stall, wie sie weiter vorgehen sollten. Kim hatte ihren Freunden vor dem Einschlafen erzählt, dass sie di Vecchio gesehen hatte. Leon und Julian waren ebenso beunruhigt wie sie selbst, aber zu müde gewesen, um die nächsten Schritte zu planen. Doch nun stand eine Entscheidung an.

„Wir machen weiter“, sagte Leon. „Auch wenn uns der Doge gewarnt hat und uns dieser di Vecchio hinterherschleicht.“

„Gut.“ Kim versuchte, fröhlich zu klingen. „Vielleicht finden wir das Haus wieder, wo die Täter die Truhen abgeladen haben. Das Geld ist bestimmt noch in Venedig, alle Kanäle sind doch abgeriegelt worden.“

Ihre Stunde schlug am Nachmittag. Luca hatte ihnen, wie er fand, die Reste eines wahren Festmahls gebracht: Sarde in Saor – Sardinen mit Zwiebeln, Olivenöl, Rosinen und Pinienkernen. Dazu gab es Weißbrot und Polenta. Alle stürzten sich auf das Essen, bis auf Kim, die keinen Fisch mochte und sich nur an die Polenta halten konnte. Nach dem Essen streckte sich Luca im Heu aus und begann zu schnarchen. Und da er den Freunden keinen Auftrag erteilt hatte, schlichen diese auf Zehenspitzen aus dem Stall.

Eine Viertelstunde später irrten sie durch die Gassen von San Marco. Eine schüchterne Frühlingssonne schien, das Viertel war voller Leben. Kinder spielten mit einem hölzernen Reifen, fliegende Händler boten Backwaren an, aus Werkstätten dröhnte Lärm. Vor einem Haus stand ein Barbier und stutzte einem Kunden den Bart.

Julian hatte die Führung übernommen. Doch er fand das Haus nicht. Schließlich blieb er auf einem Campo stehen und kratzte sich am Kopf. Auch Kim und Leon hatten keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollten.

Kija beobachtete ihre ratlosen Freunde einige Sekunden. Dann stellte sie den Schwanz hoch und stolzierte in die schmalste Gasse, die von dem kleinen Platz abzweigte.

„Ob Kija etwa weiß, wo wir hinmüssen?“, fragte Leon skeptisch.

Kim nickte. „Gut möglich. Wäre schließlich nicht das erste Mal.“ Und tatsächlich: Kija führte sie auf direktem Weg bis vor das verdächtige Haus. Kim beugte sich zu der klugen Katze hinunter. „Was würden wir nur ohne dich machen? Jetzt können wir diese Bude etwas genauer unter die Lupe nehmen!“

Julian stöhnte auf. Es gefiel ihm gar nicht, am helllichten Tag in ein fremdes Gebäude zu schleichen. Doch Leon und Kim hatten die Tür bereits aufgestoßen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass niemand sie beobachtete. Also ging Julian den anderen hinterher.

Durch die Ritzen der Fensterläden fielen schmale Streifen Licht, in denen der Staub einen schwerelosen Tanz aufführte. Es roch nach feuchten Wänden. Plötzlicher Flügelschlag, eine Taube gurrte. Allmählich gewöhnten sich die Augen der Freunde an das Zwielicht. Sie standen in einem großen Raum, der bis auf ein paar Kisten und Säcke leer war.

„War wohl mal ein Lager oder so was“, murmelte Kim. Sie ging voran, hob einen der zerschlissenen Säcke auf, betrachtete ihn und ließ ihn wieder fallen.

Die neugierige Kija war schon in das angrenzende Zimmer geschlüpft. Vorsichtig folgten die Freunde der Katze. Dieser Raum war noch düsterer als der erste. Bei jedem Schritt ächzten die altersschwachen Holzbohlen. Unter ihnen gluckerte es. Standen sie über einem Kanal? Dann waren dumpfe Töne über ihnen zu hören, möglicherweise Schritte. War das Haus etwa doch nicht unbewohnt? Die Freunde sahen hoch, aber es war so finster, dass sie die Decke nicht sehen konnten. Ihre Herzen hämmerten.

„Lasst uns umdrehen, hier finden wir sowieso nichts. Es ist doch viel zu dunkel“, schlug Julian flüsternd vor.

Die anderen waren einverstanden. Sie machten kehrt, als plötzlich etwas von oben auf sie herabfiel – ein Netz!

Die Freunde schrien auf, versuchten, das Netz zu zerreißen, aber verhedderten sich nur noch mehr in den stabilen Maschen. Auch Kija konnte mit ihren scharfen Krallen nichts ausrichten. Schließlich fielen die Kinder übereinander und saßen endgültig in der Falle.

„Was haben wir denn da für einen außergewöhnlichen Fang gemacht?“, erklang eine Stimme, näselnd und höhnisch.

Ein Fensterladen wurde aufgestoßen und Licht flutete in den Raum. Die Freunde blinzelten. Jetzt erkannten sie einen mittelgroßen, breitschultrigen Mann mit einem imposanten Schnauzbart. Er trug die derbe Kluft eines Handwerkers. Seine Hände waren schwielig. Und in diesen Händen lag ein Messer.

„Drei kleine Diebe und eine Katze“, näselte der Bärtige. „Und das mitten am Tag.“

„Wir wollten nichts stehlen“, rief Julian.

„Ja, ja, natürlich“, erwiderte der Mann und grinste höhnisch. Er ging um seine Beute herum und schien nachzudenken, was er mit ihr anfangen sollte.

„Im Ernst: Was hätten wir hier stehlen sollen? Das Lager ist doch leer“, fügte Julian hinzu.

„Hier? Nichts, da hast du wohl Recht“, gab der Bärtige zurück. „Aber ich wohne über diesem leeren Lager. Und vermutlich wolltet ihr zu mir, ihr kleinen Verbrecher! Ich glaube, dass ich euch den Stadtwachen übergebe, damit sie euch ins Verlies werfen.“

„Nein, bitte nicht“, platzte es aus Kim heraus. Kija fauchte aggressiv.

„Pst“, machte der Mann. „Ich frage mich nur, was ihr hier gesucht habt, wenn ihr nichts stehlen wolltet.“

„Wir können es erklären“, rief Julian. „Vergangene Nacht gab es in diesem Haus einen Kampf. Womöglich hat dieser Kampf etwas mit dem Raub des Kreuzrittergeldes zu tun. Hast du davon gehört?“

Der Bärtige grinste breit. „Aber ja, das Geld der Kreuzritter ist verschwunden. Jeder in Venedig weiß es inzwischen. Sehr tragisch. Der heilige Auftrag steht auf dem Spiel.“

„Genau“, sagte Leon. „Und wir wollen helfen, das Geld wiederzufinden.“

Jetzt lachte der Mann dröhnend. „Ihr?“

„Genau!“, beharrte Kim. „Und nun lass uns hier raus. Wir haben nichts getan!“

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Zu ihrer Überraschung kam der Mann dichter an sie heran. Er schüttelte den Kopf. „So eine verrückte Geschichte kann man sich nicht ausdenken. Ich glaube euch.“ Dann half er ihnen aus dem Netz.

„Danke“, sagte Julian. Er überwand sein Misstrauen gegenüber dem Mann und stellte sich und seine zwei Freunde höflich vor. Schließlich wollten sie ja Informationen von ihm. Der Bärtige nickte nur, vermied es aber, seinen Namen zu nennen.

„Zuerst drang ein Schrei aus diesem Haus. Dann liefen die Männer hinein. Es kam zum Kampf“, berichtete Julian. „Und davon hast du nichts mitbekommen?“

„Nein“, erwiderte der Bärtige und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich war in einer Schenke hier ganz in der Nähe. Es wurde ein bisschen später, wisst ihr.“ Er gluckste.

„Ach so.“ Julian war enttäuscht. „Wir dachten, dass du etwas beobachtet hast. Immerhin wohnst du ja direkt über dem Lager.“

„Tut mir leid“, sagte der Mann. „Aber das habe ich den Stadtwachen auch schon gesagt. Die haben das ganze Viertel durchkämmt und alle Leute befragt. Nein, ich habe keine Ahnung, was hier los war und mit wem die Kreuzritter gekämpft haben.“

Julian nickte. Seine Gedanken überschlugen sich. Irgendetwas kam ihm komisch vor, aber er wusste nicht, was es war. Noch nicht.

„Und als du nach Hause kamst, war auch alles ganz normal?“, fragte Julian weiter.

„Certo, alles wie immer“, entgegnete der Mann.

Wenig später standen die Freunde wieder vor dem Haus. Kim und Leon waren erleichtert, nur Julian wirkte nach wie vor angespannt. Er grübelte immer noch vor sich hin. Etwas hatte gerade nicht gestimmt, wie ein Puzzlestück, das nicht zu den anderen passen wollte, ganz gleich, wie man es drehte. Er rief sich die Antworten des Mannes ins Gedächtnis, ging sie noch einmal systematisch durch. Dann schnippte Julian mit den Fingern. „Der Kerl hat uns gerade angelogen. Er weiß mehr, als er zugibt.“

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