„Die Säcke, die man den Kreuzrittern übergestülpt hatte, riechen stark nach Chili!“, erklärte Julian.
„Na und?“
„Überlegt doch mal“, fuhr Julian fort. „Tadessi ist der Einzige in Venedig, der mit Chili handelt! Der Gewürzhändler steckt in der Sache mit drin, wetten?“
„Genial!“ Leon klopfte Julian anerkennend auf die Schulter.
„Wir sollten uns mal bei Tadessi umschauen, um herauszufinden, ob er tatsächlich genau diese Säcke benutzt!“, sagte Kim aufgeregt.
Doch zunächst führte ihr Weg mit St. Pol in den Dogenpalast. Dort wurden sie umgehend von Enrico Dandolo empfangen. Auch Montferrat war gleich zur Stelle. Er schien unendlich erleichtert, dass St. Pol und die anderen drei Kreuzritter nun doch nicht die Täter waren.
„Ja“, sagte der Doge mit seiner brüchigen Stimme. „Aber die wahren Täter sind flüchtig. Und das Geld ist immer noch weg.“
St. Pol nickte betrübt. „Was soll nur aus unserer göttlichen Mission werden?“
Der Doge fuhr sich versonnen über die Corno, als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da sei. „Nun“, sagte Dandolo gedehnt. „Da haben mein lieber Freund Montferrat und ich eine Lösung gefunden, nicht wahr?“
„So ist es“, pflichtete Montferrat dem Dogen zu. „In seiner unendlichen Großzügigkeit will uns der Doge die Schiffe umsonst zur Verfügung stellen, wenn wir mit unseren Truppen Zara erobern.“ Dann erklärte er St. Pol den Plan.
„Wenn es dem Auftrag dient“, sagte St. Pol etwas reserviert.
„Va bene, dann sind wir uns ja einig“, antwortete der Doge und wandte sich an die Freunde. „Und nun zu euch. Wenn ich mich richtig entsinne, habe ich euch davor gewarnt, eure Ermittlungen fortzuführen.“ Die Stimme des Dogen war schneidend geworden.
„Ja, aber …“
„Kein Aber!“, zischte der Doge heftig. „Ihr macht unsere Stadtwachen lächerlich. Geht dorthin, wo ihr hingehört, in den Stall!“
Beleidigt gehorchten die Freunde.
„So ein alter Meckerheini“, sagte Kim, als sie unter sich waren.
„Nicht so laut“, flehte Julian.
„Ist doch wahr!“, beharrte Kim. „Wir riskieren Kopf und Kragen, und der Doge bedankt sich noch nicht einmal.“
Im Stall empfing Luca die Kinder mit einem Donnerwetter und deckte sie dann bis zum frühen Abend mit Arbeit ein. Erst als die Plackerei beendet war, konnten sich die Freunde auf den Weg zu Tadessi machen. Die Luft war mild. Die untergehende Sonne schickte ein paar goldene Streifen in die verwinkelten Gässchen und ließ Lichter auf den Kanälen tanzen.
„Hat jemand einen Plan?“, fragte Kim unterwegs.
„Nö“, gab Leon zu.
„Lasst uns erst mal hingehen“, schlug Julian vor. „Vielleicht können wir unbemerkt in das Lager schlüpfen.“
Vor Tadessis Gewürzhandel herrschte das übliche geschäftige Treiben. An der Kaimauer lag eine einmastige, etwa dreißig Meter lange Kogge, die gerade entladen wurde.
„He, seht mal: Da sind ja ein paar alte Bekannte“, rief Leon.
Jetzt erkannten auch Julian und Kim, wen Leon meinte: Ela, Matteo und deren Freunde schleppten Säcke von Bord.
„Die scheinen sich ein bisschen Geld verdienen zu wollen. Hoffentlich werden sie anständig bezahlt“, sagte Kim. Ihre Augen wurden schmal. „Sie schaffen die Waren ins Lager. Das wäre also genau der richtige Job für uns.“
„Ja, aber vorn bei der Kogge steht ein Aufpasser“, gab Leon zu bedenken, um gleich einzuschränken: „Doch besonders ernst nimmt er seine Aufgabe nicht. Er flirtet mit einer jungen Frau.“
„Umso besser!“ Julian grinste. „Dann fällt es nicht besonders auf, wenn wir Ela und den anderen ein bisschen helfen.“
Und so reihten sich Julian, Kim und Leon in die Karawane der Arbeiter ein. Der Aufpasser bemerkte sie nicht – nach wie vor galt seine ganze Aufmerksamkeit der hübschen Frau. Jetzt sprangen die Freunde an Bord. Stabile, breite Leitern führten vom Oberdeck in den Frachtraum. Schwer beladen kletterten die Arbeiter wie Ameisen die Sprossen hinauf. Kim, Leon und Julian stiegen in den Bauch der Kogge, schnappten sich jeder einen kleinen Sack und folgten den anderen Arbeitern zu Tadessis Palazzo.
Das große Lager im Erdgeschoss hatte zwei niedrige Zwischengeschosse. Diese waren durch Treppen und Leitern miteinander verbunden und in viele kleine und große nummerierte Kammern unterteilt.
Am Tor stand ein mürrisch dreinblickender Vorarbeiter neben einem kleinen Schreibpult und kommandierte die Lastenträger herum. Er stoppte Leon. „Was hast du da?“, fragte er und warf einen Blick auf den Sack.
Leon begann zu schwitzen, weil er Angst hatte, dass der Vorarbeiter erkennen würde, dass er gar nicht zu den Trägern gehörte.
„Ach, das ist Pfeffer. Bring den Sack in die Kammer da rechts unten, die mit der Nummer zwei, falls du lesen kannst“, ordnete der Mann an und machte eine Notiz. „Und beeil dich, hopp, hopp!“
Leon gehorchte und atmete auf. Auch Kim und Julian wurden in Kammer Nummer zwei geschickt. Schnaufend luden sie die Säcke ab.
Rasch blickte sich Leon um. „Wir sind allein“, stellte er fest, „und könnten uns mal ein wenig umsehen.“
In diesem Moment huschte Kija heran.
„Prima, jetzt sind wir ja wieder komplett“, freute sich Kim.
Derweil hatte sich Leon über den Pfeffersack gebeugt. „Nein, der Sack ähnelt nicht denen, die den Kreuzrittern über den Kopf gestülpt wurden. Falsche Farbe. Wir müssen in die anderen Lagerräume!“
Julian spähte vorsichtig aus dem Abteil. Der Vorarbeiter drehte ihnen den Rücken zu und scheuchte die Lastenträger hin und her. Julian gab seinen Freunden einen Wink und sie flitzten in das angrenzende Abteil. Doch das war leer. Sie versuchten es im nächsten, stießen aber nur auf ein paar Kisten, die nach Curry rochen. Da miaute Kija. Sie sah die Freunde mit großen, grünen Augen an und legte den Kopf schief. Dann sauste sie an den nächsten Abteilen vorbei bis in den hintersten Winkel des Lagers.
Nach einem nervösen Blick in Richtung des Vorarbeiters eilten Kim, Leon und Julian der Katze hinterher und fanden Kija in einer düsteren Kammer, die gänzlich leer zu sein schien.
„Was willst du denn hier?“, fragte Julian.
Wieder miaute Kija, aber diesmal eindringlicher.
„Wartet mal“, bat Leon. Hier war es zwar ziemlich düster, aber doch nicht so dunkel, dass er nicht erkannt hätte, vor was Kija hockte. Leon lief zu ihr und bückte sich.
„Schnell, kommt her!“, wisperte er. „Kija hat etwas gefunden!“
Kim und Julian hasteten zu Leon und der Katze.
Leon hielt den Freunden einen Sack unter die Nasen. „Chili“, flüsterte er aufgeregt. „In diesem Sack wurde Chili transportiert!“
Julian nahm den Sack und ging mit ihm ein Stück Richtung Tor, wo es heller war.
„Die Farbe passt auch: hellbraun!“, sagte er zu seinen Freunden. „Leute, ich sage euch: Tadessi ist unser Mann!“
„Aber wo ist das Geld?“, hauchte Kim.
„Schaut mal, da kommt ja noch ein alter Bekannter!“, zischte Julian und deutete zum Tor.
Luca war auf der Bildfläche erschienen – mit einer Schriftrolle.
„Das ist bestimmt eine Botschaft für Tadessi!“, sagte Julian, während er mit seinen Freunden in Deckung ging.
Jetzt polterte der Vorarbeiter die Treppe hinunter. Er wechselte ein paar Worte mit Luca und verschwand wieder. Kurz darauf tauchte Tadessi allein auf, nahm die Schriftrolle in Empfang, drückte Luca etwas in die Hand und scheuchte ihn fort. Tadessi öffnete die Rolle und überflog den Inhalt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann legte er die Hände an den Mund und brüllte ein paar Kommandos. Augenblicklich brach große Hektik aus. Arbeiter wuchteten schwere Kisten zum Schiff. Matrosen eilten herbei und bekamen den Auftrag, die Kogge klar zum Auslaufen zu machen.
„Tadessi will türmen“, sagte Kim. „In den Kisten ist das Geld der Kreuzritter, wetten?“
Niemand widersprach. Doch Julian gab zu bedenken: „Wir brauchen einen Beweis. Die Säcke reichen wohl kaum …“
„Wir müssen herausfinden, was in diesen Kisten ist. Und dafür müssen wir an Bord“, stellte Leon fest. „Das sollte nicht so schwierig sein. Immerhin gehören wir sozusagen zum Personal. Wir müssen nur aufpassen, dass uns Tadessi nicht sieht!“
Doch Tadessi war gerade damit beschäftigt, auf den Vorarbeiter einzureden. Die beiden Männer zogen sich in den ersten Stock zurück. Und so störte sich niemand an den kleinen Helfern, die sich wieder unter die Arbeiter mischten. Ungehindert konnten die Freunde die Kogge betreten. Dort gab es regelrechte Staus an den Leitern. Derbe Flüche wurden laut.
Julian, Kim und Leon wurden an die hölzerne Reling gedrängt und sahen sich unschlüssig um. Gerade kamen zwei Männer an ihnen vorbei, die eine der verdächtigen Kisten trugen. Kim, Leon, Julian und Kija ließen die Arbeiter nicht aus den Augen. Die beiden blieben auf dem Oberdeck und wuchteten ihre Last zum Achternkastell am Heck der Kogge, das mit einer kleinen Kajüte ausgestattet war.
Die Freunde warteten, bis die Arbeiter wieder aus der Kajüte kamen und von Bord verschwanden.
Leon überlegte. Sie mussten in die Kajüte – nur wie? Da fiel sein Blick auf eine sperrige Kiste, die gleich neben ihnen an Deck stand. Schnell warf Leon einen Blick hinein: Taue und etwas Werkzeug. Leon hatte eine Idee. Wenn sie nun mit dieser Kiste … Er weihte seine Freunde in den Plan ein.
Eine Minute später schleppten sie die Kiste zum Achternkastell. Vorn gingen Kim und Julian, hinten Leon. Sie sahen genauso aus wie alle anderen Arbeiter und fielen deshalb nicht auf. Vor der Kajüte setzten die Freunde ihre Last ab und schauten sich um. Niemand schenkte ihnen Beachtung.
„Los!“, zischte Leon und drückte auch schon die Tür zur Kajüte auf. Mit klopfenden Herzen betraten sie den Raum. Als Erstes sahen sie einen Tisch mit verschiedenen Karten, Zirkeln und Schreibzeug. Aber da, an der gegenüberliegenden Wand, standen drei der verdächtigen Kisten! Die Freunde untersuchten sie.
„Mist, die sind abgeschlossen.“ Leon ärgerte sich – das hätten sie sich eigentlich denken können!
„Wir müssen sie aufbrechen“, schlug Kim vor.
Hektisch schaute sich Leon um. „Ja, aber womit?“
„Wir gehen besser“, sagte Julian. „Jeden Moment kann jemand hier aufkreuzen!“
„Nein“, widersprach Leon. „Jetzt sind wir fast am Ziel.“
Kija miaute warnend. Sofort waren alle Blicke auf das Tier gerichtet. Schritte dröhnten an Deck. Kam da jemand zur Kajüte? Die Freunde wagten nicht mehr zu atmen. Die Schritte wurden lauter, die Kinder hasteten zurück zur Tür und drückten sich flach an die Wand. Jetzt wurde die Tür aufgerissen und flog Kim fast gegen die Nase. Ein Mann erschien – Tadessi! Ohne die Freunde zu bemerken, ging er zum Schreibtisch, blieb kurz stehen und murmelte ärgerlich etwas vor sich hin. Dann griff er in die Tasche, holte einen Schlüsselbund hervor und öffnete das Schloss an einer der Truhen. Er stemmte den Deckel nach oben und die Freunde hielten den Atem an: Die Truhe war bis zum Rand mit Silbermünzen gefüllt.
Tadessi ließ die Münzen durch seine Hände rieseln. Er grunzte zufrieden. Leon nickte seinen Freunden zu. Jetzt mussten sie fliehen! Sie rannten los, hatten aber Tadessis Reaktionsvermögen unterschätzt. Der Gewürzhändler fuhr herum und war mit einem Satz an der Tür, durch die Leon, Kim und Kija bereits geschlüpft waren. Doch Julian war einen Tick zu langsam gewesen. Tadessi hatte ihn gepackt und riss ihn in die Kajüte zurück. Julian schrie auf, und Leon und Kim machten kehrt.
„Bleibt, wo ihr seid!“, zischte Tadessi. Mit der einen Hand hielt er Julian fest, in der anderen lag ein vergoldeter Dolch.