„Tür zu!“, bellte Tadessi.
Widerstrebend gehorchte Kim.
„Ihr schon wieder!“, stieß Tadessi hervor. „Wie könnt ihr es wagen, hier einzudringen?“ Seine Augen funkelten böse.
„Du hast das Geld der Kreuzritter gestohlen!“, rief Kim. „Und wir haben dich überführt. Dein Spiel ist aus. Lass sofort unseren Freund frei!“
Tadessi lachte auf. „Das könnte euch so passen! Euer Spiel ist aus, nicht meins. Denn ihr seid in meiner Hand. Gleich werde ich euch als Diebe verhaften lassen und dann landet ihr im Kerker des Dogen, während ich davonsegeln werde. Mit dem schönen Schatz werde ich in Akkon ein neues Leben anfangen!“ Wieder lachte er. „Aber meine liebe Frau Rosa werde ich hierlassen. Sie hat mir immer vorgeworfen, ein schlechter Geschäftsmann zu sein und das Vermögen, das ich von meinem Vater geerbt habe, zu verprassen. Aber jetzt, jetzt bin ich am Ziel. Dieses eine Mal bin ich der Sieger, ich bin reich, unendlich reich. Und ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich mich von drei Kindern und einer Katze aufhalten lasse!“
Kija machte einen Buckel und fauchte, während Kim in Julians Augen sah. Er hatte Angst. Sie mussten etwas unternehmen. Aber was? Ihr schien es am klügsten, wenn sie erst einmal Zeit gewinnen würden. Vielleicht kam noch jemand in die Kajüte und dann geriet Tadessi womöglich in Erklärungsnot.
„Der Überfall auf St. Pol diente wohl nur dazu, an die Kleidung der Kreuzritter zu kommen, oder?“, fragte sie.
„Gut erkannt“, erwiderte Tadessi listig. „Meine Männer lockten St. Pol und dessen Ritter in ein verfallenes Haus, schlugen sie nieder, raubten ihre Kleidung und konnten sich so ungehindert den Wachen vor dem Palazzo nähern, in dem das viele Geld der Kreuzritter auf mich wartete. Das Schöne an meinem Plan war, dass natürlich alle den armen St. Pol für den Dieb hielten.“
„Wirklich großartig“, sagte Kim mit feinem Hohn in der Stimme.
Tadessi überhörte das. Er schien sich in der Rolle des genialen Verbrechers zu gefallen. „Sicherlich hätten wir St. Pol und die anderen umbringen können, aber ich bin nun mal Geschäftsmann: Ich wollte ein kleines Lösegeld für die Herren erwirtschaften. Also ließ ich sie am Leben und versteckte sie bei einem meiner Männer. Dummerweise kamt ihr mir dazwischen.“ Tadessi lächelte schief. „Aber nun habe ich doch gewonnen – und ihr habt verloren.“
Kim warf Leon einen verzweifelten Blick zu. Doch Leon zuckte nur mit den Schultern. Auch er wusste keinen Ausweg …
Zeit gewinnen, du musst Zeit gewinnen!, dachte Kim verzweifelt.
„Noch eine Frage: Welche Rolle spielte eigentlich di Vecchio in diesem Spiel?“, wollte sie wissen.
Tadessi winkte ab. „Di Vecchio ist ein armes Würstchen. Hält sich für einen besonders klugen Ermittler. Oft hat er sich als Bettler verkleidet und ist durch die Armenviertel gepilgert, um sich Informationen zu verschaffen. Wie lächerlich!“
Kim nickte. Das hatten sie ohnehin vermutet. Und jetzt war endgültig klar, warum di Vecchio sie mit dem Dolch bedroht hatte. Er hatte Angst gehabt, von den Freunden enttarnt zu werden. Kim wollte allerdings noch einen weiteren Punkt klären. „Wahrscheinlich hast du den Verdacht auf die Straßenkinder gelenkt“, sagte sie kühl. „Die haben doch überhaupt nichts mit der Sache zu tun, nicht wahr?“
„Stimmt, das haben sie nicht“, erwiderte Tadessi. „Ich hatte Sorge, dass man St. Pol den Raub nicht allein zutraut. Immerhin ist er fremd in Venedig. Es schien mir angebracht, ihm ein paar Komplizen zur Seite zu stellen, die sich bestens in der Stadt auskennen. Und das tun diese verwahrlosten Kinder zweifellos. Ich ließ ein Säckchen mit Silbermark in ihrem Versteck deponieren und schickte ihnen die Stadtwachen auf den Hals. So einfach war das.“
„Wie kann man nur so hinterhältig sein“, stieß Kim angewidert hervor.
Tadessis Augen flackerten. „Du vergreifst dich im Ton, Kleine. Aber dich und deine schlauen Freunde werde ich verstummen lassen!“ Dann brüllte er laut zwei Namen.
Sekunden später ging die Tür erneut auf und zwei kräftige Matrosen erschienen.
„Diese drei Kinder wollten mich bestehlen“, sagte Tadessi. „Fesselt und knebelt sie und bringt sie zum Kerker!“
Die Männer packen die Freunde, die heftig um sich schlugen und traten. Doch die Matrosen waren zu stark. Sie legten ihnen grobe Stricke um die Hände und steckten ihnen Tücher in die Münder, die sie hinter ihren Köpfen verknoteten. Die Versuche, Kija einzufangen, schlugen jedoch fehl. Geschickt glitt die Katze aus der Kajüte.
„Auf Nimmerwiedersehen“, sagte Tadessi kalt lächelnd, als die Kinder abgeführt wurden.
Mit gesenkten Köpfen gingen Kim, Julian und Leon von Bord, hinter sich die Matrosen, die sie vor sich hertrieben wie Vieh. Die Arbeiter, die nach wie vor zwischen Kogge und Lager hin- und herliefen, beachteten die kleine Karawane nicht weiter.
Doch nicht allen war das Drama gleichgültig. Leon sah, dass Ela, Matteo und die anderen Straßenkinder genau verfolgten, was mit ihnen geschah. Und zu seiner Freude sah Leon auch, dass die Straßenkinder ihre Arbeit einfach liegen ließen und ihnen unauffällig folgten. Jetzt fasste er wieder etwas Mut. Mit seinen gefesselten Händen stupste Leon Kim und Julian an und deutete in die Richtung von Ela. Julian und Kim nickten, sie hatten verstanden. Und zum Glück erblickten sie noch eine Bekannte: Auch Kija war in ihrer Nähe geblieben!
Jetzt löste sich Ela von den anderen und verschwand in der Menge. Hatte sie etwa Verdacht geschöpft und ahnte, dass Tadessi der Dieb war? Und rannte sie jetzt womöglich zum Dogen Dandolo, um ihn zu alarmieren?
Kurz darauf betraten sie den malerischen Markusplatz. Die Matrosen führten sie zu einem Nebeneingang des Palastes in der Nähe der Ställe. In diesem Moment erschien Luca und stoppte sie.
„Die Kinder sollen sofort zum Dogen“, sagte Luca schroff.
Julian, Leon und Kim tauschten erleichterte Blicke aus: Jetzt würde doch noch alles gut gehen! Leon vermutete, dass Ela Alarm geschlagen hatte.
„Wer sagt das?“, fragte einer der Matrosen.
„Der Doge höchstpersönlich, du Schaf“, gab Luca von oben herab zurück. Er genoss es offensichtlich, etwas zu sagen zu haben.
Der Matrose spuckte aus. „Na, wenn das so ist …“
„Auf geht’s“, sagte Luca zu den Kindern und schob sie durch die Arkaden. Kija folgte ihnen. Sie überquerten den Innenhof, liefen die Treppen hinauf und gelangten ins Arbeitszimmer des Dogen.
„Nimm ihnen die Knebel ab. Dann warte draußen“, herrschte der Doge Luca an.
„Ihr scheint meinen Weg öfter zu kreuzen, als es gut für euch ist“, sagte der Doge gefährlich leise, als Luca verschwunden war.
Julian räusperte sich. Sein Mund war trocken. „Bitte, hört uns an, wir haben eine Entdeckung gemacht, die ungeheuer wichtig ist.“
„So?“ Der Doge richtete seinen milchigen Blick auf Julian. „Willst du damit sagen, dass du Straßenjunge etwas erfahren hast, was ich, der Doge, nicht längst schon weiß?“
Julian wurde unter den starren Augen des mächtigen Mannes immer kleiner. Der Doge machte ihm Angst.
„Ja, das will ich“, entgegnete er kühn, auch wenn seine Stimme ein klein wenig zitterte. „Denn wir wissen, wer das Geld der Kreuzritter geraubt hat.“
Ein Lächeln erschien auf Dandolos schmallippigem Mund. „Da bin ich aber mal gespannt. Erzähle.“
Und so berichteten die Kinder ausführlich von ihren Ermittlungen. Kija strich ihnen dabei unaufhörlich um die Beine. Die Katze wirkte nervös.
Auch Kim wurde allmählich unruhig, was am Verhalten des Dogen lag. Ihre Ausführungen schienen ihn nicht besonders zu beeindrucken. Jedenfalls blieb seine Miene fast ausdruckslos.
„Der Herr hat euch mit einem scharfen Verstand gesegnet“, urteilte Dandolo, als die Freunde verstummt waren. „Und sicher erwartet ihr jetzt, dass ich handle.“ Er schwieg eine kleine Ewigkeit, bevor er fortfuhr: „Aber das habe ich bereits. Tadessi wird die Stadt verlassen – mit dem Geld. Luca überbrachte ihm vorhin eine entsprechende Botschaft.“
„Wie bitte?“, entfuhr es den Freunden.
„Certo“, sagte der Doge ungerührt. „Natürlich hat Tadessi mir vorher einen Teil des Geldes gegeben. Ich hatte immerhin ziemliche Aufwendungen, versteht ihr?“
„Aber, aber das ist …“, stammelte Julian fassungslos.
„Das ist Politik“, brachte Dandolo den Satz zu Ende. „Und ein ziemlich kluger Schachzug. Für mich sind Kreuzritter ohne Geld viel wertvoller als Kreuzritter mit Geld. Wir Venezianer haben Geld und Schiffe, aber nur eine kleine Armee. Bei den Kreuzrittern verhält es sich genau umgekehrt. Also machen wir ein hübsches Geschäft: Wir stellen den armen Kreuzrittern die Schiffe kostenlos zur Verfügung, weil sie unsere Feinde in Zara und Konstantinopel besiegen werden. Ihr seht: Ich habe kein Interesse daran, dass das Geld wieder auftaucht. Denn dann bezahlen die Kreuzritter die Schiffe und segeln direkt ins Heilige Land.“
Kim wurde schwindelig. Der Doge war ihre letzte Chance gewesen. Und jetzt war er ein Komplize von Tadessi. Das durfte alles nicht wahr sein! Es kam ihr vor wie ein Albtraum. „Aber warum habt ihr uns dann hierherbringen lassen?“, fragte sie verzweifelt.
Der Doge legte den Kopf schief. „Ganz einfach, ich wollte wissen, was ihr alles in Erfahrung gebracht habt“, erwiderte er. „Und freundlicherweise habt ihr alles ausgeplaudert. Das reicht, um euch für den Rest eures Lebens einkerkern zu lassen. Ihr versteht, dass ich euch nicht mehr ans Tageslicht lassen kann.“ Dann klatschte er in die Hände und brüllte Lucas Namen.
„Wirf die Kinder in den Kerker. Falls sie unterwegs den Mund aufmachen, dann kneble sie wieder!“, befahl der Doge.
„Sehr wohl“, antwortete Luca eifrig. Wieder wehrten sich die Freunde mit aller Kraft. Doch Luca rief Verstärkung heran. Mithilfe der Wachen gelang es ihm, den Kindern Fußfesseln anzulegen, die ihnen nur kleine Schritte ermöglichten. Dann trieb Luca die Kinder und die Katze aus den Gemächern des Herrschers von Venedig.
„Den Rest schaffe ich schon allein“, sagte Luca zu den Wachen.
Wie in Trance ließen sich die Freunde von Luca abführen. Als sie die breite Treppe betraten, die zum Innenhof hinabführte, spürten sie die warme Sonne auf ihrer Haut. Ein paar Tauben stiegen auf. Alles wirkte ruhig und friedlich.
Luca führte sie aus der Palastanlage. Wegen der Fußfesseln kamen sie nur langsam voran. Im Gänsemarsch liefen sie an der Längsseite des Palastes entlang und erhaschten noch einmal einen Blick auf die malerische Lagune und die große Säule mit dem geflügelten Löwen, durch die sie nach Venedig gekommen waren. Julian schniefte leise.
Ein leiser Pfiff ließ ihn, Kim und Leon aufsehen. Ihr Puls beschleunigte sich: Da waren Ela, Matteo, Enzo, Mario und Guiseppe! Wie kleine Schatten waren sie herbeigehuscht und pirschten sich an den Tross heran. Nun überholten sie die Freunde und verschwanden hinter einem langen Karren. Julians Herz pochte wie wild. Was hatten die Straßenkinder vor?
Als die Freunde auf der Höhe des Karrens waren, brachen die Straßenkinder urplötzlich dahinter hervor und griffen an! Ela sprang auf Luca zu und fasste nach seinem Geldbeutel. Luca brüllte etwas Unflätiges und schlug nach dem Mädchen, das er aber weit verfehlte. Er erhielt von Matteo einen harten Stoß von hinten, verlor das Gleichgewicht und purzelte auf das Kopfsteinpflaster. Kija sprang Luca an und verpasste ihm einen Kratzer auf dem Oberarm. Ein Dolch blitzte in Matteos Hand auf. Mit einem Satz war er bei Kim und durchtrennte ihre Fesseln. Dann waren Leon und Julian an der Reihe. Das alles war eine Sache von Sekunden. Die wenigen Passanten, die in der Nähe waren, standen mit offenen Mündern da und glotzten nur.
„Lauft!“, herrschte Matteo die Freunde an.
Doch schon hatte sich Luca wieder aufgerappelt. „Aiuto!“, schrie er. „Die Kinder dürfen auf keinen Fall entkommen!“
Und jetzt kam Bewegung in die Passanten. Sie stürmten den Fliehenden hinterher.
„Zur Säule mit dem Löwen!“, rief Leon. Gehetzt warf er einen Blick über die Schulter. Die Straßenkinder hatten sich getrennt und stoben in alle Richtungen davon – eine bewährte Methode, den Jägern zu entgehen. Mit hochrotem Kopf rannte Luca hinter Julian, Kim, Leon und Kija her. Im Schlepptau hatte er zwei kräftig wirkende Handwerker und, wie Julian mit Schrecken sah, inzwischen auch mehrere Stadtwachen.
„Schneller!“, feuerte Leon seine Freunde an, während er sich erneut umschaute. Die Verfolger kamen näher, immer näher! Blitzartig wurde Leon klar, dass man sie einholen würde, wenn … ja, wenn … Sein Blick fiel auf den Handkarren eines Obsthändlers, in dem sich dicke, rote Äpfel türmten. Mit einem Satz war Leon bei dem Karren, und bevor der Händler reagieren konnte, hatte Leon ihn umgestoßen. Die süße Fracht kullerte genau vor die Füße von Luca und den Wachen, die prompt stürzten.
Julian erreichte mit Kija als Erster die stattliche, rötliche Säule. Dann kamen auch Leon und Kim dort an.
„Wir kriegen euch, bei Gott, wir kriegen euch!“, schnaubte Luca, der sich mühsam wieder aufgerichtet hatte.
Zitternd berührten die Kinder die Säule aus Granit. Sie schlossen die Augen und beteten insgeheim, dass es funktionierte. Und wieder geschah das Wunder: Ihre Hände griffen ins Nichts, durchdrangen den harten Stein als wäre er Luft. Mit klopfenden Herzen traten die Freunde die Heimreise an. Um sie herum wurde es dunkel und sie stürzten in einen lichtlosen Raum ohne Beginn und Ende.