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Im Labyrinth

Die Freunde traten zurück ins Licht. Eine rötliche Granitsäule entließ sie auf einen dicht bevölkerten Platz. Handwerker in grober Leinenkluft schlenderten vorbei, in Seide gehüllte Patrizierinnen mit hochgesteckten Haaren unterhielten sich angeregt miteinander und ein junger, hochnäsig wirkender Mann mit Schnabelschuhen aus Leder ging nervös auf und ab. Fliegende Händler mit nach Honig duftenden Süßigkeiten hatten ihre Waren ausgebreitet und ein Bettler mit verfilzten Haaren bat mit ausgestreckter Hand um eine milde Gabe. Die Luft, getränkt vom nahen Meer, roch leicht salzig.

Niemand nahm Notiz von den drei Kindern und der Katze, als sie die Piazzetta San Marco betraten und Teil des mittelalterlichen Venedigs wurden. Verblüfft drehten sich die Freunde um.

„Sieht so aus, als seien wir tatsächlich durch diese Säule angereist“, sagte Kim verdattert.

„Ja, und das ist nicht irgendeine Säule“, rief Julian begeistert. „Seht ihr den Löwen mit den Flügeln oben auf der Säule? Der Löwe stellt den heiligen St. Markus dar, den Schutzpatron der Stadt. Das weiß ich noch von der Führung!“

„Die Säule sollten wir uns für die Rückreise gut merken“, sagte Leon und nahm Kija auf den Arm.

„Und da vorn ist der Markusplatz!“, ergänzte Julian. „Dort steht die Basilica di San Marco!“

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Wenig später standen sie staunend vor der orientalisch wirkenden Kirche aus weißem Marmor mit den fünf bleigedeckten Kuppeln, auf denen je ein mächtiges goldenes Kreuz thronte. Farbenprächtige Mosaiken, die Szenen aus der Bibel darstellten, verzierten die fünf oben abgerundeten Torbögen, durch die die Basilika betreten werden konnte. Über diesen Bögen hatten Steinmetze feinstes Maßwerk und Türmchen in verschwenderischer Zahl angebracht, die der Kirche etwas Verspieltes gaben. Im warmen Licht der untergehenden Sonne blitzte überall Gold auf. Die Basilika sah fast so aus wie bei Julians Besuch mit seinen Eltern. Doch dort, genau über dem Haupteingang, fehlte etwas ganz Entscheidendes: die Quadriga!

Julian lächelte. Natürlich fehlten die Pferde. Jetzt, im Jahr 1202 standen sie noch in Konstantinopel. Noch …

„Aus dem Weg, Bursche!“ Jemand schob Julian grob beiseite. Ein Mann, klein und dick, drängte sich an ihm vorbei. Er trug einen Waffenrock mit rotem Kreuz über seinem Wams.

„Ein Kreuzritter“, rief Julian. „Wir sollten ihm folgen! Er wird uns zu den anderen Kreuzrittern führen. Die haben hier doch ganz bestimmt ein Lager.“

Für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte der Ritter die Kirche betreten. Doch dann machte er bei einer Frau, die im Schatten des mittleren Torbogens saß, Halt. Die Frau hatte drei kleine Körbe mit Busolai, einem feinen Gebäck, vor sich stehen. Kija maunzte und machte Anstalten, zu den Leckereien zu flitzen, doch Leon hielt sie zurück. Prüfend beugte sich der Mann über die Körbchen, während die Frau auf ihn einredete.

In diesem Moment huschten zwei Kinder heran, die etwa im Alter der Freunde waren: ein Mädchen und ein Junge. Ihre Kleidung, bestehend aus durchlöcherten Hemden und zerschlissenen Hosen, starrte vor Schmutz. Die Füße waren nackt. Das Mädchen hatte lange schwarze Haare, die ungebändigt auf seine Schultern herabfielen. In seinem düsteren Gesicht mit dem verkniffenen Mund schimmerten wunderschöne große, dunkle Augen. Der Junge war einen halben Kopf kleiner als seine Begleiterin und sehr dünn. Er schniefte ständig und wischte sich mit dem fadenscheinigen Ärmel über die spitze Nase. Sein Blick wanderte unruhig hin und her und er zitterte am ganzen Körper, als habe er Fieber. Jetzt erblickte der Junge die Körbe mit den Busolai. Er gab dem Mädchen ein Zeichen. Dann ging alles blitzschnell. Als die Verkäuferin dem Ritter gerade eine Handvoll Kekse aus dem linken Körbchen reichte, griffen die Kinder in den rechten Behälter und flohen augenblicklich mit ihrer Beute. Die Händlerin schrie, der Ritter nahm die Verfolgung auf, doch die kleinen Diebe entkamen in der Menge.

„Mann, waren die fix“, sagte Leon mit einer Spur Anerkennung in der Stimme.

„Habt ihr gesehen, wie abgerissen sie angezogen waren?“, fragte Kim betroffen. „Das sind bestimmt Straßenkinder. Die tun mir echt leid.“ Sie sah an sich herab. „Da haben wir es besser getroffen. Zumindest, was die Kleidung angeht.“ Jeans, T-Shirt und Turnschuhe waren verschwunden. Stattdessen trug Kim ein weites, graues Leinenkleid mit einem einfachen Gürtel und grobe Lederschuhe. Leons und Julians Füße steckten in Lederstiefeln, die bis knapp über die Knöchel reichten. Außerdem trugen die Jungen Leinenhemden, dünne Wämser und braune Beinlinge, die man aufrollen konnte, wenn es zu warm wurde. Sie waren mit Schnürbändern am Wams befestigt.

„Einfach nur schick“, urteilte Julian grinsend. „Aber jetzt sollten wir zusehen, dass wir das Lager der Kreuzritter finden. Vielleicht können wir uns dort als Knechte verdingen. Zu dumm, dass der Kreuzritter verschwunden ist.“

Doch Kim zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Macht nichts, lasst uns die Stadt erobern! Irgendwo werden wir schon noch einen anderen Ritter finden. Es sind doch Tausende in Venedig!“

Die Freunde machten sich auf die Suche. Sie ließen sich einfach durch die Straßen treiben und vom eigenartigen Zauber der Stadt einfangen. Schließlich gelangten sie in das Gassengewirr des San-Marco-Viertels. Zunächst liefen sie durch eine gepflasterte Hauptgasse, gerieten dann jedoch in eine düstere, schlammige Seitengasse, in die sich die Sonne nur selten verirrte, weil die Häuser so dicht zusammenstanden, dass sich die Dächer fast berührten. Hier roch es nach brackigem Wasser und fauligem Holz. Aus einer Metzgerei drang der Geruch nach Blut, dann stieg den Freunden aus einer Bäckerei der Duft von warmem Brot in die Nase.

„Allmählich bekomme ich Kohldampf“, bemerkte Leon.

„Ich auch“, sagte Kim. „Hoffentlich können wir bald ein wenig Geld verdienen, damit wir uns etwas kaufen können.“ Bedrückt dachte sie an die armen Straßenkinder, die ihr Essen stehlen mussten.

Nach jeder Ecke veränderte sich die Gasse. Sie wurde breiter, verengte sich wieder, duckte sich unter Arkaden und Wäscheleinen, führte über schattige Plätze, verwinkelte Kreuzungen und Brücken. Das Wasser war allgegenwärtig. Es stand in einem schmalen düsteren Kanal oder plätscherte durch einen breiten Rio.

Nach kurzer Zeit gab Julian den Versuch auf, sich den Weg zu merken – es war vollkommen sinnlos. Die Stadt faszinierte ihn wie bei seinem letzten Besuch, doch sie ängstigte ihn auch. Denn jetzt war kein Fremdenführer in der Nähe, der ihnen aus diesem Gewirr half. Sie waren auf sich selbst gestellt.

Plötzlich öffnete sich vor ihnen ein Campo mit einer kleinen Kirche. In der Mitte des Platzes stand einer der typischen Brunnen, der Pozzo. Die Häuser mit ihren kleinen Fenstern und Türen ragten dicht an dicht vor den Freunden auf. Die meisten waren aus unverputzten Ziegelsteinen errichtet und mit roten Lehmziegeln gedeckt. In den Erdgeschossen befanden sich kleine Läden und Werkstätten. Vor dem Brunnen unterhielten sich zwei Frauen.

Julian trat an sie heran und lächelte. „Buona sera! Können Sie uns sagen, wo das Lager der Kreuzritter ist?“

Die Ältere der Frauen schüttelte den Kopf. „Ein Lager? No! Die Ritter wohnen in Herbergen, sie sind auf die ganze Stadt verteilt.“ Die Frau deutete in alle Himmelsrichtungen. „Aber einer ihrer Anführer wohnt hier ganz in der Nähe.“ Umständlich beschrieb sie ihnen den Weg.

Tante grazie“, erwiderte Julian und lächelte unsicher.

Die Kinder wandten sich in die angegebene Richtung.

„Kein Lager? Das ist schlecht.“ Leon runzelte die Stirn. „Ich frage mich, ob wir bei einem Hauptmann Arbeit finden. In einem großen Lager wäre das sicher einfacher.“

Die Freunde bogen um eine Ecke und standen plötzlich vor einem breiten Strom.

„Der Canal Grande!“, sagte Julian.

Eine schier unglaubliche Vielzahl von Wasserfahrzeugen glitt an ihnen vorbei – bullige Koggen, prächtige Kriegsschiffe und bunte Gondeln. Julian staunte. Aus der Gegenwart kannte er nur einheitlich schwarze Gondeln. Doch diese hier, die elegant an ihnen vorbeiglitten, lieferten sich einen eitlen Wettkampf in Sachen Farbenreichtum. Sie waren ähnlich bunt wie die Pfähle, die überall im Canal Grande standen und als Seezeichen den Verkehr regelten. Am gegenüberliegenden Ufer reihten sich schmucke Palazzi aneinander. Die venezianischen Paläste überboten sich in ihrer luxuriösen Ausstattung: schmale, elegante Fenster aus feinstem Glas, breite Balkone, verspielte Zinnen auf den Dächern. Vor den Prunkbauten standen massive Holzstangen mit den Wappenschildern der Patrizier im Wasser und markierten den dazugehörigen Landungssteg. Die untergehende Sonne überzog Häuser und Schiffe mit einem goldenen Glanz. Möwen stürzten sich kreischend ins Wasser und verfolgten ein Topo, das Segelboot eines Fischers.

Überwältigt ließ sich Kim an der Kaimauer nieder. „Oh, ist das schön!“, entfuhr es ihr. Kija kuschelte sich dicht an sie und verfolgte interessiert die Jagd der Möwen nach Fisch.

Auch Leon und Julian hockten sich hin. Vergessen war der Hunger, verdrängt war die Gefahr der nahenden Nacht. Sie beobachteten das Schauspiel, das ihnen geboten wurde, von ihrem Logenplatz.

Doch die Dunkelheit ließ sich nicht aufhalten. Sie schlich heran, griff mit schwarzen Fingern in die Stadt, hüllte Kanäle und Gassen ein. Neben den Freunden flackerte das Licht einer Laterne auf, und erst jetzt bemerkten sie, dass sie die Zeit vergessen hatten.

Leon sprang als Erster auf. „Wir müssen los und eine Unterkunft für die Nacht finden!“, rief er. „Am besten die Herberge, wo der Kreuzritter wohnen soll. Hat noch jemand die Wegbeschreibung der Frau im Kopf?“

„Nö“, gab Kim zu. „Aber so toll war die nun wirklich nicht. Den Laden finden wir auch so!“

Sie liefen in die Gasse zurück, aus der sie gekommen waren. Hier brannte keine Laterne. Es war so düster, dass sie kaum die Hand vor Augen sahen. Leon stolperte über einen Stein und fluchte. Etwas huschte an ihnen vorbei – es war länglich, pelzig und ausgesprochen schnell. Kija fauchte.

„Eine Ratte!“, rief Julian angewidert. „Bloß weg hier! Da vorn brennt Licht.“

Julian stolperte voran, dem Lichtschimmer entgegen. Sie gelangten auf einen verlassenen Campo. Doch nun war das Lampenlicht verschwunden, wie eine Kerze, die jemand ausgeblasen hatte. Ein Hund jaulte. Irgendwo schlug eine Tür. Kühl wehte der Wind über den Platz, wirbelte Staub auf und trieb ihn gegen den Campanile, einen schlanken Kirchturm mit offener Glockenkammer, die von einem pyramidenförmigen Dach gekrönt wurde.

„Wo, wo sind wir?“, fragte Julian überflüssigerweise. Er verwünschte ihren Leichtsinn. Sie hätten die Zeit nicht aus den Augen verlieren dürfen! Wie sollten sie bei Dunkelheit in diesem Labyrinth ein bestimmtes Gebäude finden?

Plötzlich ertönte ein Pfiff. Der Hund verstummte. Dann ein knappes Kommando. Ein Schatten tauchte in einer der Gassen auf, die auf den einsamen Platz führten. Dann noch einer und noch einer. Kleine, flinke Schatten – es waren fünf Kinder, die die Freunde umringten. Kija machte einen Buckel und fauchte erneut.

„Seht nur, da ist das Mädchen von heute Nachmittag“, wisperte Kim. Jetzt erkannten auch Julian und Leon das Mädchen wieder. Neben ihm stand der schmale, schniefende Junge.

Jetzt trat das Mädchen einen Schritt vor. Sein Gesicht war wie aus Stein, als es zischte: „Was habt ihr hier verloren? Das ist unser Viertel. Es ist sehr mutig von euch, hier herumzuschnüffeln. Aber diesen Mut werdet ihr jetzt bereuen!“

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