Unwillkürlich rückten die Freunde dichter zusammen. In Leons Kopf wirbelten die Gedanken. Was sollten sie tun? Einen Fluchtversuch unternehmen oder etwa zum Angriff übergehen?
Die Straßenkinder zogen den Ring um sie enger.
Da spürte Leon Kija an seinen Beinen. Die Katze huschte zwischen seinen Füßen hindurch und lief geradewegs auf das Mädchen zu, das offenbar die Anführerin der Gruppe war.
„Bleib hier!“, rief Leon.
Doch die Katze ließ sich nicht stoppen, erreichte das Mädchen und lief schnurrend um seine Beine.
„Das darf ja wohl nicht wahr sein“, entfuhr es Leon. Für ihn sah es so aus, als würde Kija gerade zum Feind überlaufen. Aber das wollte so gar nicht zu der Katze passen. Was hatte sie vor?
Das Mädchen sah überrascht zu Kija hinab. Für einen Moment wirkte das Straßenkind unschlüssig. Als die Katze maunzte, beugte es sich zu ihr herab und streckte die Hand nach ihr aus. In dieser Sekunde schlug Kija zu – ein gut platzierter Hieb mit den ausgefahrenen Krallen. Das Mädchen schrie auf und zog die Hand zurück. Kija sprang zwischen den Straßenkindern hindurch und verschwand in einer Gasse.
„Das Mistvieh hat mich gekratzt“, schimpfte das Mädchen und starrte auf seine leicht blutende Hand. Seine Freunde kamen zu ihm, um die Wunde zu betrachten.
„Jetzt!“, flüsterte Leon und rannte los. Mit Kim und Julian wetzte er an den verblüfften Straßenkindern vorbei in die Gasse, in die Kija geflitzt war.
„Maledizione!“, fluchte das Mädchen. „Hinterher!“
Die Freunde rannten, so schnell sie konnten, ohne Ziel, ohne Plan. Nach fünfzig Metern hatten sie Kija erreicht, die behände über das unebene Pflaster sprang. Hinter ihnen gellten Rufe durch die Nacht. Keine Frage, die Straßenkinder hatten die Verfolgung aufgenommen.
Leon, Kim und Julian stolperten weiter. Urplötzlich tauchte eine schwarze Hauswand vor ihnen auf, und es schien, als sei der Weg zu Ende. Die Gasse machte jedoch einen scharfen Knick. Die Freunde schossen um die Ecke. Eine weitere Gasse, ebenso unbeleuchtet, eng und muffig. Eine Kirchturmuhr schlug. Dumpf rollte der Glockenklang über die Dächer der dicht an dicht stehenden Häuser. Die Rufe hinter den Freunden wurden lauter. Offenbar holten die Verfolger auf! Kein Wunder, das hier war ihr Revier!
Jetzt erreichten die Freunde einen Campo, von dem drei Wege abzweigten. Leon, der voranlief, wählte einfach den mittleren, und die anderen kamen nach, froh, dass jemand eine Entscheidung getroffen hatte.
Eine falsche Entscheidung. Denn der Weg endete abrupt vor einem schmalen Rio. Eine Treppe führte zu der trüben Brühe hinab. Der Rio war etwa vier Meter breit. Zu breit, um mit einem beherzten Sprung auf die andere Seite zu gelangen. Die Freunde fuhren herum. Fünf flinke Gestalten kamen auf sie zu …
Gehetzt sah sich Leon um – wo war hier eine Brücke? Nirgends, sie saßen in der Falle!
Doch da, was war das? Leon kniff die Augen zusammen. Gleich neben der Treppe war ein S’ciopòn, ein kleines, flaches Ruderboot, an einer Palina vertäut.
„Kommt!“, stieß Leon hervor. Er nahm Kija auf den Arm und sprang von der Treppe ins Boot. Kim und Julian folgten. Rasch stieß Leon das S’ciopòn vom Pfahl ab, sodass es sich quer zum Rio drehte. Dann balancierte er über den Kahn, bis er an dessen anderem Ende stand. Nun war das andere Ufer nur noch eineinhalb Meter entfernt. Leon machte einen Satz und landete mit Kija sicher auf dem anderen Kai. Auch Julian und Kim gelang dies.
Auf der gegenüberliegenden Seite wurden Rufe laut. Die Straßenkinder hatten die Palina erreicht. Der kleine Junge, der ständig schniefte, sprang als Erster in das Boot. Aber er kam zu weit links auf, das S’ciopòn neigte sich zur Seite, und der Junge verlor das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen und stieß einen spitzen Schrei aus. Dann klatschte er ins Wasser. Prustend tauchte er wieder auf und schrie: „Aiuto! Ich kann nicht schwimmen!“
Kim, Leon und Julian, die eigentlich ihre Flucht fortsetzen wollten, zögerten. Sie sahen, wie der kleine Junge kämpfte. Seine Freunde saßen im Boot und streckten ihm die Hände entgegen, aber der Kleine erreichte sie nicht. Keiner machte Anstalten, ins Wasser zu springen und ihn zu retten.
„Die können wahrscheinlich alle nicht schwimmen!“, sagte Kim. „Wir müssen etwas unternehmen!“ Sie blickte sich um und entdeckte an einer weiteren Palina ein Seil. Kurz entschlossen knotete Kim es ab und warf das eine Ende dem Jungen im Wasser zu. Der Kleine griff danach, verfehlte es aber. Das Seil versank im Wasser. Rasch riss Kim es heraus und schleuderte es erneut zu dem Jungen. Und diesmal erwischte er es. Kim zog am Seil, Leon und Julian kamen ihr zu Hilfe.
„Danke“, sagte der Junge, als er schniefend vor den Gefährten stand. Seine Freunde sprangen nun auch ans Ufer. Wieder umringten sie Kim, Julian, Leon und Kija. Doch jetzt war jede Angriffslust aus dem Gesicht der Anführerin gewichen.
„Danke“, sagte auch sie. „Ihr habt Matteo das Leben gerettet.“
„Ich will nach Hause.“ Matteo zitterte.
„Ja“, sagte das Mädchen und blickte die Freunde an. „Und ihr, wo ist euer Zuhause?“
„Wir haben keins“, erwiderte Julian. Dann stellte er sich, Kim und Julian vor und erzählte ihre Standardgeschichte für solche Fälle: Sie seien arme Waisen und auf der Suche nach Arbeit sowie einem Dach über dem Kopf.
„Kommt mit“, sagte das Mädchen. „Ihr könnt bei uns schlafen. Ich heiße übrigens Ela.“
„Ja, Ela, die Flinke“, sprudelte es aus Matteo hervor. „Niemand greift so geschickt in die Taschen anderer Leute!“
Ela lachte auf. „Und ihn nennen wir Matteo, die Maus.“ Dann stellte sie die anderen drei der Gruppe vor: Enzo, Mario und Guiseppe. Schließlich fragte sie: „Was ist? Wollt ihr mitkommen?“
Kim, Julian und Leon nickten.
Ela führte sie durch die venezianische Nacht. Unterwegs erzählte sie ihnen, dass Matteo, sie selbst und die anderen ebenfalls keine Eltern mehr hätten. „Wir sind Straßenkinder, leben von dem, was wir finden und uns besorgen“, sagte sie. „Aber wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf.“
Sie hatten ein halb verfallenes Haus erreicht. Vielleicht war es früher mal ein stattlicher Palazzo gewesen. Aber das war lange her. Der Putz war abgebröckelt, die Fenster geborsten. Statt einer Tür gähnte ein schwarzes, rechteckiges Loch in der Fassade. Die Kinder glitten hindurch und liefen eine Holztreppe hinauf, die zum Dachboden führte. Das Dach war teilweise eingestürzt. Mondlicht fiel durch die Lücken.
„Macht es euch irgendwo gemütlich“, sagte Ela.
An einer Stelle, wo das Dach noch heil war, lagen mehrere große Säcke, die mit Stroh gefüllt waren. Dort ließen sich Kim, Julian und Leon nieder. Kija hüpfte auf Kims Schoß. Sie sahen sich um. Der Unterschlupf der Straßenkinder war alles andere als gemütlich: zugig, dreckig und kalt.
„Habt ihr Hunger?“, fragte Ela und gab die Antwort selbst. „Klar, den werdet ihr haben.“ Sie kramte in einer Kiste hinter den Säcken, förderte einen Laib Brot zutage und verteilte das Essen gerecht unter allen Kindern.
„Ist das … äh … euer Haus?“, fragte Julian. Irgendwie kam ihm die Frage blöd vor.
Ela lächelte. „Wie man’s nimmt. Jedenfalls wohnen wir hier.“ Dann berichtete sie von ihrem Leben auf Venedigs Straßen. Ein Leben voller Abenteuer, aber vor allem voller Not und Gefahren.
„Niemand kann uns leiden“, sagte Ela mit einem bitteren Zug um den Mund. „Jeder jagt uns davon. Dabei wollen wir nur eins: überleben. Dafür müssen wir eben manchmal auch etwas stehlen.“
Nachdenklich schwiegen Kim, Leon und Julian.
Ela und die anderen erzählten weiter, berichteten von gefährlichen Momenten und rissen Witze über die Stadtwachen, die immer zu langsam waren, um sie einzuholen. Irgendwann stand der kleine Matteo auf und huschte aus ihrem Quartier. Er sagte nur, dass er noch etwas zu erledigen habe. Ela nickte.
Spät in der Nacht legten sich die Kinder zum Schlafen hin. Ihre Köpfe betteten sie auf die Säcke. Decken gab es nicht. Kija hatte sich dicht an Kim gekuschelt. Sanft streichelte das Mädchen den Rücken des Tieres. Kurz darauf hörten sie Schnarchen. Offenbar waren die Straßenkinder eingeschlafen.
„Ich finde Ela und die anderen eigentlich schwer in Ordnung. Und ihr?“, flüsterte Kim.
„Ja“, sagte Leon ebenso leise.
„Ich auch“, ließ sich Julian vernehmen. „Gut, dass wir Matteo aus dem Kanal gefischt haben.“
„War doch klar.“ Kim gähnte. „Wir sollten jetzt schlafen. Und morgen suchen wir bei Tageslicht die Kreuzritter. Dabei können uns sicher auch die Straßenkinder helfen.“
Die Freunde versuchten zu schlafen. Doch immer wieder schreckten Geräusche sie auf. Mal ächzten die Dachsparren, mal glaubten sie, ein Klopfen zu hören. Dann knarrten plötzlich die Stiegen der Treppe. Und später waren es leise Schritte, die auf das einfache Schlaflager zukamen. Leon öffnete seine Augen einen Spalt. Und tatsächlich: Im schwachen Mondlicht glitt eine schmale Gestalt an ihm vorbei – Matteo! Jetzt hockte er sich neben Ela und rüttelte an ihrer Schulter. Das Mädchen richtete sich auf.
Leon hob den Kopf ein wenig und erkannte, dass auch Kim und Julian wach waren und die Szene heimlich beobachteten.
„Sie haben Kisten voller Silbermark dabei“, raunte Matteo. „Viele Kisten, hörst du?“
„Wer?“, fragte Ela schlaftrunken.
„Die Kreuzritter!“, stieß der Junge hervor und kicherte. „Und sie werden auch viel Geld brauchen. Der Doge verlangt 85.000 Silbermark. Dafür will er den Rittern 200 Schiffe geben, damit sie nach Jerusalem segeln können.“
Ela schüttelte den Kopf. „So viele Schiffe?“
Matteo nickte. „Ja, es sind wohl 10.000 Ritter. Sie werden jedes einzelne Schiff brauchen.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte Ela nach.
Matteo kicherte erneut. „Ich war vorhin in einer Schenke unten am Canal Grande. Hab ein wenig gebettelt, du weißt schon. Und bevor mich der Wirt rauswarf, habe ich ein Gespräch von zwei Kreuzrittern belauscht. Die waren ziemlich betrunken und laut. Ideal, verstehst du? Die beiden gehören zur Leibgarde der Anführer der Kreuzritter. Der eine Anführer heißt Montferrat und der andere St. Pol. Die dürfen sogar im Dogenpalast wohnen!“
Ela stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Kein Wunder, dass man die beiden so vornehm untergebracht hat. Dandolo will ja viel Geld von ihnen. 85.000 Silbermark – was für eine Summe!“
„Allerdings“, stimmte Matteo ihr zu. „Scheinbar laufen gerade Verhandlungen zwischen dem Dogen und den Kreuzrittern. Sieht so aus, als wollten die Ritter den Preis für die Schiffe drücken.“
„Ja, bestimmt.“ Ela blickte an die Decke des verfallenen Hauses. „Also haben die Ritter eine gewaltige Menge Geld dabei. Weißt du, wo es ist, Matteo?“
„Leider nicht, das haben die beiden Wachen nicht gesagt.“
Ela lächelte in die Dunkelheit. „Wenn wir das herausfänden …“