„Warten Sie bitte!“, rief Kim dem Mann zu.
Leon und Julian sahen sie überrascht an.
Jetzt drehte sich der Mann um.
„Wenn Sie Stallburschen suchen, dann können Sie doch auch uns nehmen“, sagte Kim und setzte ihr hübschestes Lächeln auf.
Hochmütig musterte der Mann das Mädchen. „Du und die beiden Knaben da? Und die Katze etwa auch noch?“
Kim nickte eifrig. „Ja, wir sind sehr fleißig. Und die Katze kann doch Mäuse fangen!“
Der Mann verzog keine Miene. Sein Blick wanderte zum Canal Grande, auf dem gerade eine gewaltige Galeere vorbeizog.
„D’accordo“, sagte er schließlich gedehnt. „Kommt mit.“ Er ging voraus. Unterwegs stellte er sich als Verwalter des Dogenpalastes vor. Unter anderem sei er für die Stallungen verantwortlich.
„Ich zeige euch, wo ihr arbeiten und wohnen werdet“, sagte er. „Euer Lohn ist das Essen, das ihr bekommt. Aber ich warne euch: Wenn ihr faulenzt, werde ich euch wieder rauswerfen!“
„Klasse Idee von dir, Kim!“, sagte Julian leise. „Jetzt kommen wir in den Palast! Außerdem haben wir eine Unterkunft und Essen!“
Wenige Minuten später standen die drei Freunde in einem großen Stall, der unmittelbar hinter dem Palast lag. Sechs Pferde waren hier untergebracht, die meisten Boxen standen jedoch leer. Der Mann mit dem Hut stieß einen Pfiff aus, und ein untersetzter, kleiner Kerl, der eine Mistgabel geschultert hatte, erschien.
„Das sind deine neuen Knechte“, sagte der Verwalter. „Zeig ihnen, was zu tun ist.“ Dann verschwand er.
„Ich bin Luca“, sagte der Kleine und gähnte. „Ich bin Bote und Stallbursche. Das hier ist sozusagen mein Laden. Ihr werdet das tun, was ich sage, klar?“
Die Freunde nickten.
„Also gut.“ Luca drückte Leon die Mistgabel in die Hand. „Dann fangt mal gleich an. Mistet die Ställe aus, holt Wasser für die Pferde. Dann könnt ihr sie striegeln. Hopp, auf geht’s!“
„Nur eine Frage noch“, bat Julian. „Wem gehören die Pferde?“
Luca gähnte erneut. „Den Kreuzrittern. Und nun legt los.“
Die Freunde warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Dann begannen sie mit der Arbeit. Luca hingegen zog sich in eine leere Pferdebox zurück und legte sich ins Stroh.
„Luca scheint ganz schön faul zu sein“, wisperte Leon Kim zu.
Das Mädchen nickte und rammte die Mistgabel in einen Haufen Stroh. „Aber wir können froh sein, hier untergekommen zu sein. Wenn das Ela und die anderen wüssten.“
„Stimmt“, ergänzte Julian. „Das müssen wir ihnen bei Gelegenheit erzählen. Die werden staunen!“
Auch Kija fühlte sich im Stall offenbar wohl. Sie sprang durch das Stroh und versuchte, Mäuse zu fangen.
Luca mochte faul sein, aber wenigstens gab er den Freunden gegen Mittag etwas zu essen.
„Sind nur Reste aus der Palastküche, aber immerhin“, sagte Luca. Die Kinder staunten: Luca hatte Brot, Bohnen, Birnen und sogar etwas Gebäck dabei. Mit Heißhunger stürzten sich die Freunde auf die Speisen. Doch die Pause war nur kurz – nach einer Viertelstunde kommandierte Luca sie weiter durch den Stall: „Die leere Box da ganz hinten, die gehört mal richtig sauber gemacht!“ Luca steuerte auf sein Strohlager zu. Aber plötzlich stoppte er. Das Stalltor war aufgegangen und zwei Männer traten herein. Der eine war ungewöhnlich groß und hager, trug ein Kettenhemd und darüber einen Waffenrock, auf den ein rotes Kreuz genäht war. Sein Gesicht war ernst, fast mürrisch. Der andere Mann war untersetzt und gekleidet wie ein Pfau: Wams und Beinlinge waren aus goldgelbem Samt, darüber trug er eine grüne Jacke. Am Gürtel baumelte ein vergoldeter Schmuckdolch. Die Schuhe liefen vorn spitz zu und waren aus weinrot gefärbtem Leder.
Diensteifrig eilte Luca zu den Männern. Zuerst verbeugte er sich vor dem Pfauen-Mann und rief: „Graf Montferrat, welche Ehre!“
Dann neigte er seinen Kopf vor dem Mann im Kettenhemd und säuselte: „Seid gegrüßt, werter Graf St. Pol!“
Kim, Julian und Leon spitzten die Ohren und spähten über den obersten Holzbalken der Box.
„Was kann ich für Euch tun?“, fragte Luca die beiden Adligen unterwürfig.
Montferrat machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. „Wir wollen nur nach unseren Pferden schauen. Immerhin werden wir sie mit an Bord nehmen. Später sollen sie uns bis nach Jerusalem tragen und dafür müssen sie gut gepflegt sein.“
Luca lachte falsch. „Bei mir sind sie in den besten Händen.“
Nun trat St. Pol vor. Sein Gesicht war noch mürrischer als zuvor, als er sagte: „Das rate ich dir auch. Aber jetzt lass uns allein, wir haben etwas zu besprechen. Raus hier!“ Er griff in einen Beutel und schnippte dem Knecht eine Münze zu.
Luca verbeugte sich erneut und beeilte sich, den Stall zu verlassen. Julian, Kim und Leon hatte er anscheinend vollkommen vergessen. Also blieben die Freunde an ihrem Platz. Hier waren sie vor den Blicken der Kreuzritter verborgen und konnten lauschen. Kim nahm die Katze auf den Arm. Das Mädchen hoffte, dass Kija ruhig bleiben und sie nicht verraten würde.
Jetzt ging Montferrat zu einem Schimmel und tätschelte dessen Hals. „Frisch gestriegelt. Der Knecht scheint sich wirklich gut um unsere Tiere zu kümmern.“
„Wenigstens das.“ St. Pol seufzte. „Aber dafür werden wir sicher wieder ordentlich bezahlen dürfen. Diese Venezianer sind einfach geldgierig. Vor allem der Doge.“
Montferrat steckte dem Schimmel einen Apfel zu. „In der Tat. Dandolos Forderung von 85.000 Silbermark für die Schiffe ist eine Frechheit. Der Herrgott möge verhüten, dass wir diese Summe zahlen müssen!“
„Schön wär’s, aber der Doge hat uns in der Hand. Er hat die Schiffe, die wir brauchen“, murmelte St. Pol und schüttelte den Kopf. „85.000 Silbermark. Das ist fast alles, was wir dabeihaben. Und jeder Tag, den wir hier in Venedig untätig herumsitzen, kostet Geld für Unterkunft und Verpflegung!“
Montferrat faltete die Hände. „Und genau das weiß der Doge. Er hat Zeit, wir aber nicht. Wir müssen handeln und so bald wie möglich ablegen. Am besten wie geplant am 29. Juni. Ich kann nur hoffen, dass wir Jerusalem nicht nur den Ungläubigen entreißen, sondern dort auch Beute machen, um die gewaltigen Kosten für das göttliche Unternehmen wieder hereinzuholen.“
„Du willst also zahlen?“
Montferrat sog hörbar die Luft ein. „Großer Gott, was sollen wir tun? Du selbst hast gerade gesagt, dass uns jeder Tag in Venedig ein Vermögen kostet. Immerhin haben wir hier 10.000 Männer!“
In diesem Moment raschelte etwas neben Kims Füßen. Sofort spannte sich Kijas Körper an. Beruhigend strich Kim der Katze über den Kopf. Aber es nützte nichts. Kijas Augen funkelten kalt, die Rückenhaare sträubten sich, ihr Körper zuckte in fiebriger Erregung. Offenbar hatte etwas Kijas Jagdinstinkt geweckt, und dieses Etwas wuselte gerade leichtsinnigerweise ganz in ihrer Nähe vorbei – eine Maus! Kija schlüpfte aus den Armen des Mädchens und sprang auf die Maus zu, die um ihr Leben lief. Kim, die jedes Aufsehen fürchtete, versuchte die Katze einzufangen. Sie lief ein paar Schritte tiefer in die Box hinein, bückte sich, um Kija zu schnappen – und stieß dabei einen Holzeimer um.
„Was war das?“, rief Montferrat. „Ich dachte, wir wären allein!“
„Das kam von da drüben“, erwiderte St. Pol zornig und deutete auf das Versteck der Freunde. „Sieht so aus, als habe uns jemand belauscht. Na warte, das haben wir gleich.“
Die Freunde duckten sich hinter die hölzerne Absperrung. Das konnte nicht gut gehen, niemals! Julian biss auf seine Unterlippe, Leon knabberte an seinen Fingerknöcheln und Kim war weiß vor Angst – und vor Wut auf ihr Missgeschick mit dem Eimer.
Doch in dieser Sekunde kam Kija ihnen zu Hilfe. Sie schoss auf den verdutzten St. Pol zu und wieselte zwischen seinen Beinen hindurch.
„Eine Katze!“ St. Pol lachte, während er sich umdrehte und zu Montferrat zurückging. „Es war nur eine Katze.“
In ihrem Verschlag atmeten Kim, Leon und Julian auf. Aber nicht nur sie waren erleichtert.
„Ich danke Gott“, sagte Montferrat. „Es hätte unsere Verhandlungsposition nicht gestärkt, wenn man uns belauscht hätte. Also, ich bin dafür, dass wir Dandolo das geben, was er verlangt.“
St. Pol schwieg. Sein Blick war düster.
„Außerdem habe ich Angst, dass man uns das Geld stiehlt“, ergänzte Montferrat. „Die Stadt ist voller Paläste, aber auch voller Diebe!“
Jetzt lächelte St. Pol grimmig. „Unser Geld ist an einem geheimen Ort gut versteckt. Außerdem habe ich jetzt sogar persönlich die Nachtwachen übernommen. Niemand wird sich daran vergreifen. Das schwöre ich bei Gott!“
„Ja, ja, das glaube ich dir“, sagte Montferrat. „Also sind wir uns einig: Wir gehen auf Dandolos unverschämte Forderung ein.“
St. Pol zuckte die Schultern. Dann ging er aus dem Stall. Montferrat folgte ihm, immer darauf bedacht, mit seinen roten Schuhen nicht in Mist zu treten.
„Ein geheimes Versteck!“, stieß Leon hervor, als die Männer verschwunden waren.
„Und wir wissen, wer es bewacht!“, ergänzte Kim aufgeregt. „Das heißt: Wenn wir uns an St. Pol halten, wird er uns vielleicht zum Versteck führen. Wenn wir nur wüssten, wo genau St. Pol wohnt.“
Sie spähten aus dem Fenster und sahen, wie die beiden Männer in einem zweistöckigen Gebäude, das dem Stall gegenüberlag, verschwanden.
„Dort schlafen die beiden bestimmt!“, rief Kim.
„Gut möglich, vielleicht ist das ja ein Gästehaus“, sagte Julian. „Etwas anderes finde ich auch sehr interessant. Wir wissen jetzt, dass die Ritter tatsächlich über diese irre Summe von 85.000 Silbermark verfügen. Anders ausgedrückt: Den Kreuzrittern ist das Geld nicht irgendwie ausgegangen, wie es in manchen Büchern steht. Aber wie ist es dann abhandengekommen?“
Kim ballte die Fäuste. „Das werden wir schon noch herausfinden! Außerdem …“ Sie brach mitten im Satz ab und deutete zum Tor, das gerade wieder aufschwang.
Luca stapfte auf sie zu. „Was glotzt ihr aus dem Fenster? Wart ihr etwa die ganze Zeit im Stall?“, herrschte er sie an.
„Nein“, erwiderte Julian schnell. „Wir haben Wasser geholt. Als wir zurückkamen, gingen die hohen Herren gerade.“
Luca knurrte etwas Unverständliches und zog einen versiegelten Brief aus seinem Wams hervor. „Der muss zum Gewürzhändler Tadessi. Eigentlich sollte ich ihn dorthin bringen, aber ich bin … äh … verhindert. Macht ihr das mal. Aber benehmt euch. Tadessi gehört zur Signoria.“
„Signoria, was ist das?“, wollte Kim wissen.
Luca verdrehte die Augen. „Oh Gott, ihr seid vielleicht unwissend. In der Signoria sitzen die neun wichtigsten Männer – nach dem Dogen selbstverständlich. Die Mitglieder der Signoria kontrollieren den Dogen.“ Er grinste verschlagen. „Sie passen ein wenig auf ihn auf, kapiert?“
Schnell nickten die Freunde.
„Und noch etwas: Tadessi ist Sprecher der venezianischen Kaufleute. Er soll die Flotte für die Kreuzritter zusammenstellen. Und die Schiffe gehören überwiegend den Kaufleuten! Aber nun genug gequatscht, lauft los.“ Er drückte Leon die Post in die Hand. „Und hütet diesen Brief gut“, schärfte er ihnen ein. Dann beschrieb er ihnen umständlich, wie sie zum Gewürzhändler kämen.
„Jetzt sind wir einen großen Schritt weiter“, sagte Kim unterwegs. „Wir wissen, wer das Geld bewacht. Und wir ahnen, wo er wohnt. St. Pol wird uns zum Versteck führen. Dort können wir uns dann auf die Lauer legen und ermitteln, wer den Schatz stiehlt!“
Leon seufzte. „Guter Plan, Kim. Aber das setzt voraus, dass wir uns die Nächte um die Ohren schlagen.“
„Das ist es wert!“, rief Julian. „Gleich heute Nacht fangen wir an!“