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RADIO-AKTIVITÄT
Das Streben nach Glück. Die »Endlösung« für das Musikproblem? Tonaufnahmen Radio-Aktivität. Radioland. Ätherwellen. Sendepause – Nachrichten. Die Stimme der Energie. Antenne. Radio Sterne – Uran – Transistor. Ohm Sweet Ohm. Artwork. Mein Crashkurs. Unmerklich ins soziale Abseits? Im Hause Schneider-Esleben. Kraftwerk: Ein Rückblick. Radioaktivität – Der Film. Kontrapunkt und Promo-Tour. Berger Allee 9. Künstlerische Reifeprüfung. Sinus und Science-Fiction. Sommer-Hit.
Das Streben nach Glück
Als ich nach der US-Tour endlich wieder allein in meiner Oberkasseler Dachwohnung war, zog mir der Jetlag die Beine weg und legte mich erst mal flach. Mitten in der Nacht kam ich wieder zu mir und wunderte mich, nicht in einem King-Size-Bett im Holiday Inn zu liegen. Ich musste unsere Tournee erst einmal verdauen. Alles was ich von der Reise über den Atlantik mitgebracht hatte, breitete ich wie eine Collage auf dem Boden neben dem Bett aus: Mallets und Noten vom Frank Ippolito’s Professional Percussion Center in New York, zwei Krawatten aus Chinatown, San Francisco, und andere neue Kleidungsstücke, ein paar von Florians Polaroids, drei, vier zerknitterte Backstage-Pässe, meinen Taschenkalender und einen Zettel, auf den ich irgendwann unterwegs gekritzelt hatte: »Musser Pro-Vibe, PAS – Percussive Arts Society, The Catcher in the Rye , Musique concréte – Pierre Schaeffer, Pierre Henry, Stax Records. «
Von dem Geld, das ich auf unserer Tour verdient hatte war nicht mehr viel übrig, aber trotzdem fühlte ich mich vom Leben reich beschenkt. Denn die Erinnerungen an die vergangenen zehn Wochen, in denen wir von Küste zu Küste in Nord-Amerika unterwegs waren, klangen immer noch in mir nach. Mich hatte die Vielfältigkeit der Geographie und der Kultur des Landes überwältigt, und sein scheinbarer materieller Reichtum. Deutlich spürbar war das Selbstverständnis der Menschen, dass jeder durch die Arbeit seiner eigenen Hände etwas aus sich machen kann. Und tatsächlich wird in der berühmt gewordenen Formulierung in der Unabhängigkeitserklärung jedem Amerikaner das Streben nach Glück – »The Pursuit of Happiness« – als sein unabänderliches, gottgegebenes Recht zugesprochen. Die Grundvoraussetzung für das, was sie dort den »amerikanischen Traum« nennen. Diesen Gedanken der Machbarkeit aus eigenem Antrieb hatte ich selbst in mir gespürt, seitdem ich Musiker werden wollte. Hier erlebte ich außerdem, dass das Showgeschäft in den Staaten eine ungleich höhere Wertschätzung in der Gesellschaft genießt als bei uns in Deutschland. Und ganz nebenbei waren die Vereinigten Staaten der größte zusammenhängende Musikmarkt der Welt.
Auch für die Band war diese Reise wichtig, denn wir erhielten ein internationales Feedback. Das war neu für uns alle. Die Resonanz auf unsere Gigs war großartig. Ich würde, falls sich wieder die Gelegenheit bietet, gerne wieder mit den Jungs nach Amerika reisen. Das stand für mich fest, gehörte seitdem zu meinem Streben nach Glück.
Allerdings versuchte ich auch nicht krampfhaft in die Zukunft zu schauen. Schließlich hatte gerade das Sommersemester begonnen. Vorlesungen, Einzelunterricht und die Arbeit am Opernhaus holten mich vollends in mein altes Leben zurück. In dieser Zeit hatte ich keinen Kontakt zu Ralf und Florian. Erst Mitte Juli traf ich Ralf in einem Lokal. Ich freute mich wirklich sehr, ihn wiederzusehen. Wir sprachen natürlich über die Tournee, erinnerten uns gemeinsam an einige Highlights, die Sprüche purzelten … Als Bonus für die Tour, so Ralf, hätten er und Florian mir ein Musser-Vibraphon aus Amerika mitgebracht. Eine tolle Geste, wie ich fand. Das Second-Hand-Instrument klang großartig. Es war wirklich der amtliche Sound.
Was Ralf in der Zwischenzeit erlebt hatte, wusste ich nicht, aber dass Kraftwerk ein Follow-up zu Autobahn plante, war mir klar. Tatsächlich fragte er mich, ob ich Lust hätte, bei ihrer nächsten Platte als Schlagzeuger mitzumachen. Natürlich musste ich keinen Augenblick überlegen, bevor ich zusagte. Dieses Album, so erfuhr ich, wollten Ralf und Florian selbst produzieren.
Allerdings verfügten sie nicht über das nötige Equipment, das man für eine Schallplattenproduktion braucht. Bei den vorausgegangenen Alben hatte Conny Plank das technische Know-how und Werkzeug beigesteuert. Das waren vor allen Dingen ein Mehrkanal-Tonbandgerät, das Mischpult zum Aufnehmen und gute Mikrofone. Doch es gab eine Lösung: In Florida waren wir Hans Otto Mertens, dem Manager des Komikers Otto Waalkes, begegnet und hatten von ihm erfahren, dass ihre Firma ein 8-Spur-Tonbandgerät besaß, um Live-Mittschnitte von Ottos Show zu machen. Und so liehen sich Florian und Ralf die Maschine im Hamburger Rüssl Studio aus.
Als wir im Juli mit den Tonaufnahmen im Kling Klang Studio begannen, lernte ich Peter Bollig kennen. Peter lebte in der Eifel, studierte an der Fachhochschule Köln Nachrichtentechnik und begleitete als Toningenieur die Aufnahmen. Sein Humor war erfrischend, wir verstanden uns vom ersten Augenblick.
Peter Bollig: »Ralf und Florian waren 1974 irgendwann bei Conny Plank und sind dort über einen siemensgrauen Phaser gefallen, den ich für Conny gebaut hatte. Mein Design für das Gerät gefiel ihnen. Wir lernten uns kennen, und dann ging es weiter: ein Gerät kopieren oder etwas Ähnliches bauen oder verbessern. Ich war freier Mitarbeiter – eine technische Dienstleistung gegen Kohle. Als mich Ralf und Florian fragten, ob ich Lust hätte, bei den Aufnahmen von Radio-Aktivität mitzumachen, sagte ich zu. Ich habe mich ganz auf die Aufnahmetechnik konzentriert und aufgepasst, dass genug Pegel aufs Tonband kam, dass keine Brummschleifen entstanden und alle Signale sauber und klar waren.«
Die Tonaufnahmen von Radio-Aktivität teilten sich in zwei Sessions. An die erste Hälfte habe ich allerdings kaum noch Erinnerungen, denn in meinem anderen Leben liefen Unterricht, Vorlesungen und Oper parallel. Zudem zog die Robert-Schumann-Hochschule in den Semesterferien um. Und wir Studierende der Klasse Göbler halfen Pauken, Trommeln, Mallet- und Perkussionsinstrumente in das neue Gebäude zu schleppen.
Ich hatte also viel um die Ohren, außerdem war es ein wunderbarer Sommer – und es war heiß. Das bedeutete Frühstücken im Café, danach mit dem Rad ins Freibad, dort bis zum Abend abhängen oder alternativ auf den Oberkasseler Rheinwiesen über die Kirmes gehen. Dieser Schlendrian wurde lediglich von meiner harten Arbeit als Trauzeuge für Marlis und Rainer Sennewald durchbrochen. Ich kann mich nicht mehr an einen ähnlichen Sommer in meinem Leben erinnern …
Mitten hinein in meine perfekte Idylle erreichte mich die Information, dass für Kraftwerk noch in diesem Jahr eine England-Tournee organisiert wurde, um den Erfolg von Autobahn auch dort mit Konzerten zu unterstützen. Die Karten für Kraftwerk sahen wirklich gut aus, das war nicht zu übersehen. Meine Semesterferien gingen bis zum 6. Oktober, das passte also auch! Am 2. September trafen wir uns wieder am Flughafen Düsseldorf .
Die »Endlösung« für das Musikproblem?
Natürlich ist die Berichterstattung der Presse gerne gesehen, wenn man eine Platte veröffentlicht oder auf Tour geht. In England sollten wir allerdings die Erfahrung machen, dass ein Interview auch kontroverse Reaktionen hervorrufen oder gar nach hinten losgehen kann.
Bereits während der US-Tour war das Interesse der Medien an Kraftwerk groß gewesen. Für das renommierte Creem Magazine hatte Lester Bangs – der neue Star des Gonzo-Journalismus – mit Ralf und Florian ein Interview geführt. Sein Kraftwerk-Feature 1 gilt heute als die erste relevante Auseinandersetzung mit der Philosophie der Gruppe. Bangs war sich bewusst, dass in Deutschland ein neuer, ernstzunehmender Ansatz für die Popmusik formuliert wurde. In einer Präambel, die er dem Interview vorausstellt, beantwortet er die Frage »Wie wird sich der Rock entwickeln?« mit »Deutsche und Maschinen werden ihn dominieren« 2 und prophezeit eine Musik des technischen Zeitalters.
Bangs – berühmt und berüchtigt für seine brillante Rhetorik – hatte sich vorgenommen, Kraftwerk auf den Zahn zu fühlen. Schon beim Einstieg ins Interview macht er ironisch darauf aufmerksam, dass deutsche Wissenschaftler die Droge Speed erfunden hatten und somit mitverantwortlich für die Entwicklung der amerikanischen Gegenkultur gewesen seien. Im Interview – und in der Auswahl der dann abgedruckten Antworten – vermittelt er das bekannte Klischee der Deutschen. Und Ralf und Florian steigen darauf ein. Bangs’ Bemerkung »[…] der nächste logische Schritt wäre, dass die Maschinen euch spielen« 3 wird von Ralf inhaliert und gehört ab diesem Zeitpunkt zu seinem Repertoire. Themen dieses Interviews sind auch das angebliche kulturelle Vakuum Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg 4 , die Vorzüge elektronischer Instrumente 5 und der »deutsche wissenschaftliche Ansatz« 6 . Diese Themen sollten uns noch lange begleiten.
Während wir bereits in England tourten, veröffentlichte der New Musical Express das Interview in seiner Ausgabe vom 6. September mit einer neuen Headline: »Kraftwerk: Die Endlösung für das Musikproblem? Lester Bangs seziert den deutschen wissenschaftlichen Ansatz.« 7 Na toll. Als ob das nicht schon genug wäre, illustrierte das Magazin das Interview auch noch mit einer Fotomontage, bei der ein Gruppenbild von Kraftwerk in ein historisches Bild des Reichsparteitags der NSDAP in Nürnberg kopiert wurde. Hakenkreuze und Fraktur-Schrift verstehen sich von selbst. Die Überschrift und die aus dem Zusammenhang des Fließtextes gerissenen Schlagworte (Deutschland, Wissenschaft, Mensch-Maschine, Endlösung, Kraftwerk) geben dem Interview einen ganz anderen Zungenschlag. War das also der britische Humor?
Ob das englische Publikum die Botschaft des NME verstanden hatte oder nicht – es blieb zu Hause. Wir spielten vor leeren Sälen in Newcasle, Hampstead, Bournemouth, Bath, Cardiff, Birmingham und schließlich am 11. September in Liverpool. Nachmittags lief ich in der Stadt umher auf der Suche nach … ja, nach was eigentlich? Hätte ich mehr Zeit gehabt, wäre ich mal zur Penny Lane gefahren, mit dem Bus natürlich … Ein paar Jahre später holte ich diese Sightseeing-Tour durch Liverpool mit Andy McCluskey nach, der an diesem 11. September im Liverpool Empire Theatre in Reihe Q auf Sitz 36 saß und der bis heute sagt, sein Interesse an elektronischer Musik sei genau dort geweckt worden.
Es folgen Middlesbrough, Edinburgh, Manchester und ein Konzert am 15. September im Apollo-Theater von Glasgow vor etwa 500 Zuschauern. Auch die Gigs in Southport, Brighton, Yeovil, London und Croydon waren mehr oder weniger schlecht besucht und hinterließen bei mir keinen bleibenden Eindruck. Am Ende der Tour schaute ich auf unsere drei Wochen in Großbritannien zurück. Auch hier war Autobahn in den Charts, die Single erreichte Platz 11 und das Album stieg sogar auf Platz 4. Ich glaube, unsere ersten Konzerte in England waren für das damalige Publikum ziemlich kuriose Veranstaltungen. Es gab einfach keine der gängigen Fixpunkte einer Rockperformance wie ein akustisches Schlagzeug, Gitarristen oder einen Leadsänger, der mit mehr oder weniger Sex-Appeal seine Botschaft ins Mikrofon schreit. Stattdessen befanden sich auf unserer Bühne vier junge Männer in Anzügen. Bei einigen Gigs dieser Tournee wurde auch schon mal abwertend gepfiffen.
Trotz der durchwachsenen Rezeption durch das englische Publikum war das Betriebsklima in unserer Mannschaft hervorragend. Ein paar Schläge unter die Gürtellinie vom NME konnten uns nicht in tiefe Depressionen stürzen.
Tonaufnahmen Radio-Aktivität
Mittlerweile war auch das ambitionierte Konzept für das Follow-up-Album von Autobahn klar. Es bestand im Grunde aus der Ambiguität des Wortes Radio-Aktivität bzw. Radioaktivität. Florian formulierte es in einem Interview so: »Einmal ist es die Aktivität der Rundfunksender. Durch sie wurden wir berühmt. Zum anderen ist es die Atom-Energie der Bomben und Kernkraftwerke.« 8 Die zwölf Tracks auf dem Album wurden entweder dem einen oder dem anderen Bereich zugeordnet. Im Oktober setzten wir die Tonaufnahmen fort.
Immer wenn ich heute irgendwo den Song »Radioaktivität« höre, schwirren mir sofort jede Menge Assoziationen durch den Kopf: Die Rubrik »Singles Radio Action« im Billboard Magazine gehört dazu, »Astronomy Domine« von Syd Barrett, der Morsecode und die Akkordfolge von Pink Floyds »Echos«, Kernkraftwerke, Bomben, Volksempfänger, aber auch OMDs »Electricity«, New Orders »Blue Monday« … bis hin zu einem Text von Pierre Schaeffer, dem Erfinder des Begriffs Musique concrète, in dem er von einem radioaktiven Isotop beim Entstehungsprozess einer Klangstruktur spricht. 9 Ja, mit diesem Lied verbinde ich wirklich eine Menge. Vielleicht liegt das daran, dass ich während der Recording Sessions noch unter dem Eindruck der Amerika-Tour stand und ständig über die Musik von Kraftwerk nachdachte. Außerdem war es die erste Albumproduktion, an der ich teilnahm.
Einen Sequenzer hatten wir für die Aufnahme von »Radioaktivität« nicht zur Verfügung. Doch mit den vom Oszillator erzeugten durchgehenden Achteln im Bass-Frequenzbereich auf dem Minimoog-Synthesizer näherte sich Kraftwerk dem Konzept Mensch-Maschine ein gutes Stück. Der Morsecode, der in einer hohen Frequenz gut hörbar über dem Bass im Spektrum liegt, steht für die Telegrafie, mit der es erstmalig möglich war, codierte Informationen in unvorstellbarer Geschwindigkeit über große Entfernungen zu transportieren.
Unsere Arbeitsmethode war denkbar einfach: Ralf und Florian gaben mir den Song vor, und ich lernte ihn beim Mitspielen. Die Silben des Wortes »Ra-di-o-ak-ti-vi-tät«, das Ralf ständig wiederholte, um mit mir den Beat zu finden, führten zu dem bekannten Drum-Pattern. Im Laufe der USA-Gigs hatte ich mich einigermaßen an die Stricknadeln gewöhnt, und dieses einfache Muster ließ sich gut umsetzen. Die Schwierigkeit bei solch monotonen Rhythmen besteht darin, sie die ganze Zeit mit größtmöglicher Präzision durchzuhalten. Vor allem, wenn man mit einer Maschine spielt.
Die Schlagzeugspuren einzeln aufzunehmen war kein besonderes sinnliches Vergnügen. Aber nur so schafft man die Voraussetzung für die individuelle Kontrolle der Instrumente beim Mix. Alle paar Takte kam es beim Spielen zu einem unzureichenden Kontakt zwischen Metallplatte und Metallschlägel, und ein unrhythmischer »Vorschlag« oder »Praller« entstand. Durch ein sogenanntes Drop-in/Drop-out-Verfahren – eine erneute Aufnahme auf derselben Tonbandspur – ließen sich diese fehlerhaften Stellen aber zum Glück ausbessern. Florian kam irgendwann auf die Idee, das Tonbandgerät langsamer laufen zu lassen. Wir testeten das, bis wir die Geschwindigkeit fanden, bei der sich der Klang beim Abspielen in der normalen Geschwindigkeit nicht allzu sehr veränderte. So gelang es mir, einen stabileren Rhythmus zu trommeln.
Es war das langsame Tempo, dieses gewisse »im Beat schweben«, das damals in meinem Kopf die Verbindung zu Nick Masons Schlagzeug-Stil herstellte, aber bei diesem Titel bestehen noch weitere Parallelen zu Pink Floyd, genauer gesagt zu dem Song »Astronomy Domine« 10 . Er beginnt ebenfalls mit durchgehenden Achteln und einem Morsecode. Allerdings dauert sein Klangmodell nur wenige Sekunden. Dieser kurze Anfang wird noch heute wegen seiner Dramatik als Erkennungsmelodie für den sogenannten Brennpunkt im Fernsehsender ARD verwendet.
Bei »Radioaktivität« setzte Ralf zum ersten Mal den Chor des Vako Orchestron ein. Die Akkordfolge ist die gleiche wie bei einem anderen Song von Pink Floyd: »Echoes« 11  – allerdings nicht in a-Moll, sondern in cis-Moll. Was aber auch keine Rolle spielt, denn ich bin der Meinung, dass alle Musik der Welt miteinander verwandt und verbunden ist. Das hatte ich beim Konzert der Beach Boys in den USA verstanden.
Die Produktion mit dem Magnettonband funktionierte wie die Fertigung einer Lasagne in mehreren Schichten: Zunächst nahm Peter Bollig den Minimoog-Bass auf die erste Spur auf. Das Arrangement wurde skizziert, und während ich die Takte laut mitzählte, transponierte Ralf die Achtelsequenz auf der Tastatur. Die Achtel im Bass, die sich schon auf dem Band befanden, ergaben ein exaktes Metronom, zu dem ich die elektronischen Schlaginstrumente einspielte. Florian hämmerte auf seinem ARP-Synthesizer ein Stakkato-Motiv, das mir bekannt vorkam. Während unserer Gigs kombinierten wir manchmal die Stücke »Mitternacht« und »Kristallo«. Wenn Ralf bei »Kristallo« auf dem Farfisa-Piano improvisierte, hörte ich gelegentlich dieses Motiv. Jetzt wurde es als Hauptmotiv für »Radio-Aktivität« verwendet. Den Orchestron-Chor übernahm Ralf, und Florian »tastete« den Morsecode aufs Band. Die schneller werdende Bass Drum und der Geigerzähler-Sound wurden irgendwann später an den Anfang gesetzt.
Mit der Ambiguität des Album-Themas tue ich mich bis heute schwer. Es bezieht sich sowohl auf das Senden und Hören von Klang durch physikalische Radiowellen wie auf die Strahlung radioaktiver Substanzen. Im Titelsong treffen diese beiden Perspektiven aufeinander und werden miteinander vermischt. Die Textzeilen »Tune into the melody« und »Strahlt Wellen zum Empfangsgerät« sowie der Morsecode lassen sich der Perspektive der Kommunikation, also den Radiowellen zuordnen. Die zweite Perspektive – die Strahlung radioaktiver Substanzen – wird mit den verbleibenden Lyrics angesprochen. Während »Is in the air for you and me«, »Für dich und mich im All entsteht« auf die kosmische Strahlung anspielt und »Wenn’s um unsere Zukunft geht« nach einem Werbeslogan der Atom-Lobby aus den Siebzigerjahren klingt, hält der Hinweis, Marie Curie habe die Radioaktivität entdeckt (»Discovered by Madame Curie«), einer näheren Prüfung nicht stand. 12 Die Zeile »In the air for you and me« kann sich natürlich ebenso auf die Strahlung radioaktiver Substanzen als auch auf Airplay der Radiosender beziehen. Aber um was geht es hier eigentlich? Jahre später wurde aus dem ambivalenten Text ein Anti-Atomkraft-Credo, und der Volksempfänger auf dem Album-Cover durch ein Radioaktiv-Piktogramm ersetzt.
Damals lag der thematische Schwerpunkt des Albums für mich – das wurde ja auch durch den Volksempfänger auf dem Cover unterstrichen – auf dem Gebiet der Kommunikation. In meinen Augen war die eine Hälfte des Konzepts – die Strahlung radioaktiver Substanzen – völlig wertfrei gedacht. Wie wäre es auch sonst denkbar gewesen, dass wir vier uns für die Promotion des Albums in weißen Mänteln und Überschuhen in einem Atomkraftwerk haben fotografieren lassen? Die Anti-Atomkraft-Bewegung gelangte erst nach der Veröffentlichung des Albums in mein Bewusstsein, weil mich Freunde kritisch auf den Inhalt der Platte ansprachen und ich peinlicherweise in Erklärungsnot geriet.
Radioland
»Radioland« ist für mich eine der atmosphärischsten Kraftwerk- Kompositionen überhaupt. Die Rhythmusgruppe unterteilt wie ein Metronom die Zeit gleichmäßig. Ralf und Florian singen abwechselnd den Text in Deutsch und Englisch. Florians Stimme berührt mich beim Hören auch heute noch auf eine seltsame Art. Für mich zeigt sie, wie viel man beim Singen von sich preisgibt, welche Nähe dabei entstehen kann. »Radioland« sollte der letzte Song sein, auf dem Florians Stimme zu hören ist. Auf den späteren Kraftwerk-Platten sind es nur noch gesampelte Fragmente.
Ralf spielt effizient auf dem Violinen-Preset des Orchestrons, während Florian wie ein Foley Artist (Geräuschemacher) bei einem Animationsfilm die Gestaltung der Geräuschebene übernimmt und die Textzeilen mit dem Synthesizer akustisch illustriert. Es ist aber der Refrain, der »Radioland« zu einem außergewöhnlichen Musikstück macht: Eine synthetische Stimme singt »Elektronenklänge aus dem Radioland«, mit einer fast schon überirdischen Qualität. Der Eindruck wird noch verstärkt durch den Harmoniewechsel auf dem Wort »Radioland«. In diesem Moment hebt der Track ab.
Mit überirdischen Phänomenen hatte der in Detroit lebende französisch-kanadische Computerwissenschaftler Richard T. Gagnon wenig im Sinn. Stattdessen entwickelte er 1970 im Keller seines Hauses einen Phonem-Generator. Als Grundlage seiner Forschung dienten ihm Aufnahmen seiner eigenen Stimme. Unter dem Firmennamen Votrax International, Inc. brachte er 1972 den ersten kommerziell erhältlichen Sprachsynthetisator der Welt auf den Markt, den Votrax VS-4. Während unserer Amerika-Tournee hatte Florian Gagnon in Detroit besucht und das letzte Update erworben. Auf einer sehr speziellen Phonemtastatur ließen sich Laute manuell eingeben. Im Grunde war dieser Votrax VS-6 eine sprechende Schreibmaschine. Normalerweise war das Gerät versiegelt, die Schaltungen streng geheim. Nach dem Aufschrauben des Kasten sah man lediglich vergossene Platten. Aber Florian hatte vom Erfinder einen unvergossenen Votrax erhalten. Dadurch konnte er über einen externen Eingang jedes Audio-Signal einspeisen und es mit den Phonemen modulieren. Gagnon hatte ihm dieses Geheimnis verraten. Und auf diese Art und Weise erzeugen Ralf und Florian im Refrain von »Radioland« diesen der Welt entrückten Klang. Schon bei unseren Gigs in England hatte diese Anwendung zu einer wirkungsvollen Live-Nummer geführt, bei der Florian »Die Sonne, der Mond, die Sterne«, auf der Votrax-Tastatur tippte.
Ätherwellen
Nach einem klassischen Science-Fiction-Soundeffekt beginnt Ralf den Song mit dem Orchestron-Riff, in das Florian mit seinem ARP-Synthesizer einstimmt. Dann setzt die Rhythmusgruppe – Minimoog und Elektro-Drums – zusammen ein und hämmert wie eine Maschine mit fast 180 Schlägen pro Minute durch.
Der Track enthält eine weitere Neuheit: Florians elektronische Flöte, deren Konstruktion er bei Peter Bollig in Auftrag gegeben hatte. Noch auf Autobahn verwendete Florian eine ganz normale akustische Querflöte aus Metall, die wie Gesang mit einem Mikrofon elektrisch verstärkt und deren Klang durch Effektgeräte verändert wurde. Das neue Modell war ein Plexiglasrohr, das auf einem Mikrofonständer mit Schwanenhals geschraubt war. Regungslos stand Florian davor und spielte mit Ralf zusammen die Ätherwellen-Melodie. Am Synthesizer hatte er den Glide-Effekt eingestellt, der ein stufenloses Glissando simulierte, und »sang« mit der neuen Elektroflöte in den höchsten Tönen, sodass man unweigerlich an ein Theremin – eines der ersten elektronischen Musikinstrumente – dachte.
Sendepause – Nachrichten
Die A-Seite endet mit dem Interludium »Sendepause« und der anschließenden Klang-Collage »Nachrichten«. Auf verschiedenen Radiosendern – durch Sendetöne gekennzeichnet – werden Nachrichtentexte, die in Zusammenhang mit Kernkraftwerken stehen, übereinandergeblendet. Eine inhaltliche Position wird für mich bei keinem der Beiträge erkennbar. Die Sprache bleibt unverständlich, sie ist eher Klang als Botschaft.
Die Stimme der Energie
Die B-Seite des Albums eröffnet mit einer Vocoder-Stimme, die dem Hörer offenbart, ein riesiger elektrischer Generator zu sein. »Die Stimme der Energie« macht darauf aufmerksam, dass mithilfe der Elektrizität Bild und Ton gesendet und empfangen werden können, und konstatiert schließlich, gleichermaßen unser Diener und Herr zu sein. Abschließend gibt sie uns noch den Tipp: »Deshalb hütet mich gut – mich, den Genius der Energie.«
Antenne
Bei »Antenne« erinnert mich der Sound der Vocals an die Rock ’n’ Roll-Ästhetik und klingt wie das Tape-Echo der Sun Studios in Memphis. Wie bei »Radioland« wechseln sich Gesangspassagen mit Geräuschen aus dem Elektrosound-Baukasten ab. Die Harmoniegesänge auf »Ätherwellen« und diesem Track – das lässt sich heute leicht feststellen – hatten aber keine große Zukunft bei Kraftwerk.
Radio Sterne – Uran – Transistor
Die Stücke werden ineinandergeblendet oder mit einem Mini-Radiohörspiel verbunden und ergeben dadurch eine zusammenhängende Sequenz.
Bei »Radio Sterne« produziert der dritte Oszillator des Minimoog-Synthesizers einen Science-Fiction-Soundeffekt, über den Ralf beinahe abwesend »Aus des Weltalls Ferne funken Radiosterne« monologisiert. Wie auf »Radioland« speisen Ralf und Florian über den externen Eingang des Votrax ein polyphones Audiosignal ein und modulieren damit die Phoneme der Worte »Quasare und Pulsare«, die Florian auf seiner »sprechenden Schreibmaschine« tippt.
Nach circa dreieinhalb Minuten löst in einem Crossfade ein Akkord des Orchestron-Chors den Science-Fiction-Sound ab. Dieses Mal wird ein White-Noise-Signal in den Votrax eingespeist und ein Text über die Strahlung radioaktiver Substanzen aus dem Urankristall moduliert. Es folgt ein »Ohrenreiniger« in Form eines Mini-Radiohörspiels, und die anschließende kleine Echo-Studie mit dem Namen »Transistor« erinnert mich – wie einiges bei Radio-Aktivität  – an Ralf und Florian , das Album von 1973.
Ohm Sweet Ohm
Lange habe ich überlegt, in welche Stimmung mich der letzte Track des Albums versetzt. Ich denke, an »Ohm Sweet Ohm« lässt sich ein seltsames Phänomen der Musik feststellen: Sie kann gleichzeitig traurig und fröhlich sein. Nach dem Votrax-Intro beginnt das Instrumental zunächst in einem getragenen Tempo, dessen volksmusikalische Elemente sich bis zur Live-Version von »Morgenspaziergang« zurückverfolgen lassen. Ralf spielt sein Orchestron wirklich gekonnt unperfekt, und wie auf früheren Kraftwerk-Alben zieht das Tempo nach einiger Zeit deutlich an.
Artwork
Als ich den Volksempfänger auf dem Cover von Radio-Aktivität zum ersten Mal sah, staunte ich nicht schlecht. Warum Emil den »Deutschen Kleinempfänger DKE 38« für ein geeignetes Cover-Motiv hielt, ist mir noch heute ein Rätsel. Er erzählte einmal, dass er für die Aufnahme auf der Cover-Rückseite mit Ralf in der Gegend herumgefahren ist, um ein Modell des Volksempfängers zu ergattern. 13
Auch wenn das Hakenkreuz unter dem Lautsprecher durch den Titel des Albums ersetzt und die »1938« auf der Rückseite rechts neben »Deutscher Kleinempfänger« entfernt wurde, bleibt es doch der Volksempfänger, den Joseph Goebbels entwickeln ließ. Er wusste: Die Kommunikation zwischen dem Radiogerät und den Menschen war entscheidend, aber allein mit Propaganda kam sie nicht zustande. Mit emotionalen Liedern wie »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, »Freunde, das Leben ist lebenswert« oder »Lili Marleen« ließen sich die Menschen leichter erreichen. Der Volksempfänger war im Zweiten Weltkrieg das Medium für Information, aber auch für Unterhaltung.
Ob Zufall oder Absicht – so einiges bei Kraftwerk schien aufgeladen mit geschichtsträchtiger Symbolik. Bei Autobahn hatte der Wink mit dem Zaunpfahl auf die deutsche Identität allein durch den Titel und den Mercedes und VW gut funktioniert. Und jetzt diese mysteriöse Reminiszenz?
Emils eigentliche Handschrift wird aber wieder deutlich in der Collage auf der Rückseite der Innenhülle: der Antenne und seinem Portrait mit einigen Werkzeugen in der Hand – Schraubenzieher, Pinsel und Bleistift. Das ist für mich der echte Emil, der »Malermeister Klecksel«, wie wir ihn manchmal freundschaftlich aufzogen.
Für das Gruppenbild auf der Vorderseite der Innenhülle wurden Wolfgang und ich wieder zu einem Fototermin bei Foto Frank eingeladen. Wie unser erstes Gruppenfoto, die Autogrammkarte, sollte es in Schwarz-Weiß sein. Diesmal aber etwas eleganter mit Anzug und Krawatte. Apropos: Wolfgang trug bei dieser Session die schwarze Krawatte, die ich im Mai in San Francisco entdeckt hatte, Florian eine klassische dunkle. Ralf, von jetzt an ohne Brille, hatte sich seine Lieblingskrawatte umgebunden, auf der ein Deutscher Schäferhund abgebildet war. Ich selbst trage meine silberne Dienst-Krawatte aus dem Opernhaus.
Außerdem sollten unsere Instrumente wenigstens zum Teil mit aufs Bild, wie bei einem klassischen Band-Foto: Ralf mit dem Sennheiser-Mikrofon, das in einer sogenannten Spinne aufgehängt war; Wolfgang und ich haben unsere Stricknadeln mitgebracht und hielten sie wie konventionelle Drummer ihre Drumsticks in der Hand. Florian stellte auf diesen Bild erstmalig seine elektronische Flöte vor.
Mein Crashkurs
Meinem Empfinden nach ist dieses Album ein in zwölf Episoden unterteiltes avantgardistisches dramatisches Radio-Hörspiel. Die darin enthaltenen Popsongs »Radioaktivität« und »Antenne«, wurden als A- und B-Seite der Single ausgekoppelt. Drei weitere Musikstücke – »Radioland«, »Ätherwellen« und »Ohm Sweet Ohm« – sind durch Interludien, die aus experimentellen elektronischen Klängen und Wortbeiträgen bestehen, miteinander verbunden.
In der klassischen Musik ist es geboten, Beethoven so aufzuführen, als hätte man Wagner oder Mahler noch nie gehört. Deshalb stelle ich mir beim Hören von Radio-Aktivität gerne den musikalischen Kontext von 1975 vor. Ich denke, unser Aufzeichnungsmedium führte durch die Begrenzung auf acht Spuren zu den transparenten Arrangements. Das wichtigste Mittel der Gestaltung ist die originäre Tonerzeugung der Sprachsynthese in Verbindung mit den Violinen- und Choraufnahmen des Orchestrons und den synthetischen Klängen der Synthesizer. Das Schlagzeug hat in diesem Kontext lediglich eine ordnende Funktion, gleichwohl erfüllt es durch seine Klangerzeugung die Definition elektronischer Musik. Die einzigen natürlichen Tonquellen auf diesem Album sind die Stimmen von Ralf und Florian, womit, wie bei Stockhausens Gesang der Jünglinge , elektronische und akustische Signale miteinander verschmelzen und eine originäre elektroakustische Klangkomposition formen.
Ralf und Florian waren zu diesem Zeitpunkt bereits zwei alte Hasen in der Schallplattenproduktion. Von einem Druck, der auf den beiden Co-Autoren und Produzenten vielleicht gelastet haben mag, war bei unseren Aufnahmen nichts zu spüren. Die Atmosphäre bei der Produktion war zielorientiert, aber unangestrengt. Zudem trugen Peter Bolligs Kompetenz und Humor eine Menge zum Gelingen der Aufnahmen bei.
Die musikalischen Ideen für die Tracks existierten bereits in den Köpfen von Ralf und Florian, als ich hinzukam, um meine Parts mit dem Elektro-Schlagzeug einzuspielen. Ich beteiligte mich am Finden der passenden Rhythmus-Formeln. Mein Input blieb im Rahmen dessen, was von einem Studiomusiker erwartet wird. Wolfgang sprach seine Jobs mit Ralf und Florian ab. Bei der Filmaufnahme für »Radioaktivität« trommelten wir jedenfalls zusammen. Heute denke ich: Die Schlagzeugspuren sind in Ordnung und erfüllen ihren Zweck – jeder hätte sie einspielen können. Inwieweit unsere paraphrasierenden Anmerkungen über die Musikaufnahmen für die Entwicklung der Kompositionen wichtig waren, kann ich nicht beurteilen.
Nach den Aufnahmen fuhren Ralf und Florian mit der Tonbandmaschine und den Multitracks nach Hamburg ins Rüssl Studio – heute Gaga Studios – und mischten das Album mit dem Toningenieur Walter Quintus ab. Für mich waren die Schallplattenaufnahmen ein auditiver Crashkurs. Interessant. Spannend. Neu. Aber ich trennte meine Mitwirkung bei der Gruppe Kraftwerk von meinem Studium und meinen anderen musikalischen Tätigkeiten.
Zu gerne wäre ich dabei gewesen, als die zuständigen Gentlemen der amerikanischen Plattenfirma Masterband und Artwork von Radio-Activity aus der FedEx-Versandhülle nahmen und prüften. Ich fürchte, der schwarze Volksempfänger wurde von ihnen höchstwahrscheinlich nicht wirklich als ein »Fun, Fun, Fun«-Objekt wahrgenommen. Meine Fantasie reicht nicht aus, mir vorzustellen, wie sich für sie das »Kling Klang Hörspiel« angehört haben muss. Als Follow-up von Autobahn war Radio- Activity nicht nur in den USA, sondern weltweit ein verhältnismäßiger Flop. In den USA landete das Album auf einem bescheidenen Platz 140 und verschwand nach kurzer Zeit total. In Großbritannien reichte es nicht zu einem Platz in den Charts, auch nicht in den unteren Regionen. In Deutschland schaffte es das Album mit dem Volksempfänger immerhin auf Platz 22. Und in Frankreich? Hier machte der Manager des Labels Pathé Marconi einen Superjob. Über Monsieur Maxime Schmitt, der in diesem Jahr seine speziellen »Radio-Akivitäten« unter Beweis stellte, wird in diesem Buch noch häufiger die Rede sein.
Unmerklich ins soziale Abseits?
Natürlich lief mein Studium auch im Wintersemester 1975/76 weiter. Ich tauchte wieder ganz in meine musikalische Parallelwelt ein, traf mich mit dem Play-Bach-Ensemble und arbeitete an Bartoks Musik für zwei Klaviere und Schlagzeug . Bei einem Vorspielabend mit dem Percussion Ensemble der Hochschule setzte ich zum ersten Mal meinen Bonus von der Kraftwerk-Tour, ein: das Musser-Vibraphon. Mittlerweile war Kraftwerk auch in den Düsseldorfer Lokalmedien angekommen, und ich wurde in meinem Umfeld damit assoziiert. Die Lokalpresse erwähnte das auch in Kritiken.
Die Neue Rhein Zeitung schrieb: »Von allen Mitspielern im Percussion-Ensemble […] stach einer durch Musikalität und wohl angeborene Behendigkeit und Leichtigkeit des Spiels hervor: Karlheinz Bartos, der soeben mit der Düsseldorfer Pop-Gruppe ›Kraftwerk‹ eine erfolgreiche Amerika-Tournee hinter sich gebracht hat.« Und die Rheinische Post: »Einer der begabtesten Schlagzeuger und Vibraphonisten Düsseldorfs ist Karlheinz Bartos, Studierender der Klasse Ernst Göbler am Robert-Schumann-Institut und versierter Rhythmusmacher bei zahlreichen Konzerten in und um Düsseldorf. Als Solist begleitete er Düsseldorfs Pop-Band ›Kraftwerk‹ auf ihrer sehr erfolgreichen USA-Tournee – warum muss Amerika mal wieder eher auf solche Talente aufmerksam werden als wir? […]«
Eine solche Presse half mir nicht gerade dabei, einen guten Kontakt zu meinen Kommilitonen zu pflegen. Ganz langsam und unmerklich veränderten sich meine sozialen Kontakte. In der Robert-Schumann-Hochschule war ich mittlerweile einer der bekanntesten Studierenden, aber die meiste Zeit allein. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich auch die Kollegen im Opernhaus jetzt anders betrachteten als früher. Ob meine launigen Ansichtskarten aus New York, Los Angeles, San Francisco oder Vancouver nicht nur gut angekommen waren? Selbst mein Kontakt zu Marlis und Rainer Sennewald war nicht mehr ganz so unbeschwert und spielerisch. Offensichtlich war ich als Kraftwerk-Mitglied bei meinen anderen Freunden in eine Art soziales Abseits geraten. Aber dieses Gefühl war nicht konkret, nicht greifbar, mehr ein vager Verdacht. Ich vertiefte es nicht, schob es beiseite.
Zu dieser Zeit erhielt ich einen Telefonanruf von den Jokers. Es musste ja so kommen: Franz feuerte mich wegen permanenter Abwesenheit. Er hatte natürlich recht. Die Jokers waren in ihrem Metier sehr erfolgreich, und ich verhielt mich nicht besonders professionell. Im Grunde hatte ich mich in Amerika innerlich von ihnen verabschiedet. Dass ich mein regelmäßiges Einkommen verlor, war mir völlig egal. Es bedeutete mir mehr, Mitglied einer authentischen Künstlergruppe zu sein, als in einer Coverband zu spielen. Finanziell würde ich das schon irgendwie kompensieren, so hoffte ich.
Im Oktober 1975 absolvierte ich meine schriftlichen Abschlussprüfungen in Gehörbildung, Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre. Parallel liefen weitere Sessions im Kling Klang Studio.
Im Hause Schneider-Eslebe n
Wir vier hatten uns seit Ende Oktober nicht mehr gesehen. Daher freute ich mich, als wir uns am Samstag, der 24. Januar – genau drei Monate später – in Florians Elternhaus in Düsseldorf-Golzheim wiederbegegneten. Golzheim gehörte damals zu den Villenvierteln der Stadt. Offensichtlich waren seine Eltern in Urlaub gefahren, und Florian sah hin und wieder nach dem Rechten. Florian war damals sehr cool. Wie ein Museumsführer führte er mich durchs Haus und erklärte mir die selbstentworfenen Designer-Möbel, Bilder und Kunstgegenstände seines Vaters, an denen wir gerade vorbeikamen. Aus der wertigen Stereoanlage klang im Hintergrund der Soundtrack: Brian Wilsons Meisterwerk Pet Sounds oder eine Platte von Stevie Wonder.
Florians Vater – Paul Schneider-Esleben – war ein ziemlich berühmter Künstler-Architekt, der in den Nachkriegsjahren zunächst in Düsseldorf einige bedeutende Bauten erschuf. Die Haniel-Garage, das Mannesmann-Hochhaus oder die Rochus-Kirche in Düsseldorf-Pempelfort, aber auch der Flughafen Köln/Bonn gehören dazu. Einerseits war Florian seine privilegierte Herkunft bewusst, andererseits setzte er sich von den Ritualen des Großbürgertums und der Reichen ab. Damals empfand ich ihn als heimatlosen Luxus-Punk, für den offensichtlich die Musik ein Vehikel wurde, um seine eigene Identität zu entwickeln.
Schon als Kind begann Florian mit dem Flötenspiel. Seine Schwester Claudia Schneider-Esleben erzählte mir einmal, dass er als Begabung galt. Unterrichtet wurde er von Frau Rosemarie Popp – Fräulein Popp, wie sie im Hause Schneider-Esleben genannt wurde. Als Jugendlicher hatte er – auch geprägt durch das Elternhaus – Zugang zur Düsseldorfer Künstlerszene.
Claudia Schneider-Esleben: »Florian war schon in der Kunstszene unterwegs, bevor er Ralf kennenlernte. Er hat mit Ferdinand Kriwet in der Kunsthalle Licht- und Crossover-Performances gemacht, zu denen er in verschiedenen Formationen spielte.
Joseph Beuys, die Gruppe Zero und andere Künstler gingen bei uns ein und aus. Da war High Life, Party. Alles war immer stark mit Kunst besetzt. Dann kam Hans Mayer, der Galerist der Galerie Denise Renée Hans Mayer dazu, das war 1967. Er war schon mit Florian befreundet, veranstaltete Wahnsinns-Vernissagen, zu denen alle hingingen. Hans Mayer hatte dort auch Florian und Ralf spielen lassen.«
Kraftwerk: Ein Rückblick
Genau in der Zeit, die Claudia Schneider-Esleben hier beschreibt, lernte Florian Eberhard Kranemann kennen, der ab 1965 an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Er sollte Weggefährte seiner ersten musikalischen Gehversuche werden.
Kranemann experimentierte mit Klängen, Geräuschen und Repetitionen und gründete 1968 die Band Pissoff. Als er erfuhr, dass Florian Querflöte spielte, fingen die beiden an, gemeinsam Musik zu machen, und erweiterten ihren Kreis um andere Musiker. Kranemann hatte an einem Jazz-Kursus der Akademie Remscheid 14 teilgenommen und empfahl Florian, auch dorthin zu gehen.
Und genau dort traf der 21-jährige Florian Schneider-Esleben 1968 auf den 22-jährigen Organisten Ralf Hütter. Schon bald erkannten sie ihre Gemeinsamkeiten: Beide lehnten die Klischees einer handwerklich orientierten instrumentalen Praxis ab und richteten stattdessen ihre Kreativität darauf, ihren eigenen musikalischen Ausdruck zu finden. Sie schlossen sich zusammen. In einem langen Interview mit dem britischen Mojo -Magazin beschreibt Ralf dies rund 40 Jahre später ganz treffend: »Wir sprachen dieselbe Sprache«, sagte er über seine Begegnung mit Florian. »Wir waren Einzelgänger, Eigenbrötler. Herr Kling und Herr Klang. Zwei Einzelgänger ergeben einen Doppelgänger.« 15
Ralf hatte in seiner Jugend als Organist in der Cover-Band The Quatermasters gespielt, wie eine Fotografie von 1965 zeigt. Nach seinem Abitur begann er ein Architekturstudium in Aachen, gab aber das Musizieren nicht auf. Er wechselte zu der Beat-Gruppe The Phantomes und gewann im Februar 1967, mit 20 Jahren, den zweiten Platz der Endausscheidung der nordrhein-westfälischen Beat-Meisterschaft in der Düsseldorfer Rheinhalle. 16
Nach dem Jazz-Kurs holte Florian Ralf in sein Düsseldorfer Umfeld, und es entstand ein freies Musik-Projekt mit häufig wechselnder Besetzung. Sie spielten 1969 zahlreiche Gigs in der näheren Umgebung, bis sie schließlich Conny Plank begegneten. Jahre später erzählte er dem Magazin Soundcheck von der ersten Begegnung: »In Düsseldorf, in einem Keller in der Altstadt, fand ich […] eine Gruppe, die ›Organisation‹ hieß, hauptsächlich bestehend aus Ralf Hütter und Florian Schneider. […] Das Wichtigste an dieser Gruppe war aber, dass Leute zusammenkamen, die ein Instrument gar nicht so richtig beherrschten, aber im Ausdruck sehr deutlich, sehr kraftvoll waren. Ich habe dabei entdeckt, dass man, ohne ein Instrument spielen zu können, sich damit ausdrücken kann. Das fand ich bei der Gruppe Kraftwerk wieder, die aber sehr eigen vorging in ihrer Gestaltung.« 17
Im Dezember 1969 nahmen Ralf Hütter, Florian Schneider, Butch Hauf, Basil Hammoudi und Alfred Mönicks in der Nähe der großen Raffinerien am Rheinufer, im Rhenus-Studio Godorf ihr erstes Album auf, das im August 1970 vom britischen Label RCA in England veröffentlicht wurde. Genau dort, wo ich mit Marius, Bodo und Peter ein Jahr später im August 1971 ebenfalls eine Session mit Conny hatte.
Im Frühjahr 1970 änderten Ralf und Florian den Namen und die Programmatik ihres Musik-Projekts – aus Organisation wurde Kraftwerk. Sie mieteten im Hinterhof der Mintropstraße 16 einen gewerblichen Raum und errichteten dort ihre Geschäftszentrale. Im Sommer 1970 produzierten sie zusammen mit Conny Plank ihr erstes Album mit dem Namen Kraftwerk. Die Schallplatte erreichte Platz 30 der deutschen Charts. Es folgten zahlreiche Live-Auftritte von Ralf, Florian und Klaus Dinger – der neben Andreas Hohmann auf dem Album getrommelt hatte. Gelegentlich erweiterten Emil Schult und Plato Rivera die Gruppe zum Quintett. Dinger nannte diese ständig wechselnde Kraftwerk-Besetzung einmal »the floating line-up«. Dann kam Michael Rother ins Spiel.
Michael Rother: »Ein befreundeter Gitarrist lud mich Anfang 1971 ein, zu einer Band namens Kraftwerk ins Studio mitzugehen. Als ich den großzügig geschnittenen Raum in der Mintropstraße betrat, saßen Florian Schneider und Klaus Dinger auf einer Couch. Ralf Hütter spielte auf seiner Hammond-Orgel, Charlie Weiss saß am Schlagzeug. Ich griff mir einen Bass und improvisierte mit Ralf. Musikalisch verstanden wir uns sofort. Offenkundig hatten wir eine ähnliche Vorliebe für europäische Harmonien und Melodielinien, völlig frei von den damals üblichen Blues-Strukturen. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, und dann nahm die Sache ihren Lauf.«
Ende 1970 verließ Ralf für einige Monate Kraftwerk und Michael Rother übernahm Ralfs Part auf der Gitarre. Der wiederum hielt nach anderen Musikern Ausschau.
Klaus Röder: »Ralf war gerade bei Kraftwerk ausgestiegen und sprach mich an, ob ich Lust habe, mit ihm zu spielen. Kurz darauf probten wir auch schon zusammen: Ralf an den Keyboards, Charly Weiss am Schlagzeug und ich an der Gitarre. Das taucht in keiner Chronik auf. Ralf studierte damals Architektur und lebte bei seinen Eltern in Krefeld. Für die Proben sind Charly und ich immer dorthin gefahren. Wenn Ralf die Tür öffnete, begrüßte er uns immer mit den Worten ›Na Mädels‹. Viele Auftritte hatten wir nicht, aber ich erinnere mich an ein Konzert mit Ralf und Charly in der Röhre in Moers: Ralf hat auf seinem E-Piano geklimpert, und ich fuhr dazu schräge elektronische Sounds ab. Wir haben an dem Abend hauptsächlich improvisiert. Das hat mir natürlich gefallen. Wir haben danach aber nicht mehr in dieser Besetzung gespielt.«
Nach Ralfs Abgang existierten für einige Zeit – von Ende 1970 bis September 1971 – zwei Gruppen mit dem Namen Kraftwerk. Denn am 19. Dezember spielte er mit einem anonymen Kollegen im von Mauricio Kagel angefertigten »Beethovens Musiksalon« der Neuen Galerie in Aachen. Dort realisierte Ralfs Kraftwerk seine Vorstellungen und Ideen von und über Beethoven. 18
Florians Kraftwerk trat am 22. Mai 1971 in der Besetzung Florian Schneider, Michael Rother und Klaus Dinger in der Sendung Beat-Club mit dem Stück »Rückstoß Gondoliere« auf. Mit wechselnden Mitmusikern spielte Florian über ein halbes Jahr verteilt jede Menge Gigs, um das erste Album zu verkaufen.
Michael Rother: »Als ich bei Kraftwerk einstieg, waren wir zunächst ein Quintett: Florian Schneider, Klaus Dinger, Houshäng Nejadepur, Eberhard Kranemann und ich. Nach zwei Konzerten lud Florian Houshäng und Eberhard nicht mehr zu weiteren Konzerten ein. Florian, Klaus und ich waren ein musikalisch kompaktes Team, und als Trio tourten wir bis in den Sommer. «
Der Versuch, das zweite Kraftwerk-Album im Studio von Conny Plank als Trio mit Schneider, Rother, Dinger aufzunehmen, scheiterte allerdings.
Michael Rother: »Es stellte sich heraus, dass wir nicht in der Lage waren, die musikalische Spannung, die besondere Qualität unserer Live-Performance ins Tonstudio zu übertragen. Auch Conny Plank konnte daran nichts ändern. Nach dem Scheitern der Aufnahmen war uns allen klar, dass wir nicht weiter zusammenbleiben würden. Klaus und ich fühlten eine größere Übereinstimmung in unseren musikalischen Zielen, und so beschlossen wir, als Duo weiterzumachen, und gründeten Neu!. Nach unserem Weggang verbündete sich Florian wieder mit Ralf, dessen Abwesenheit in den vorangegangenen Monaten in der offiziellen Kraftwerk-Biografie gerne unter den Teppich gekehrt wird.«
Durch den Erfolg des ersten Albums und die zahlreichen Konzerte wurden immer mehr Leute auf Kraftwerk aufmerksam. Auch die Verwendung von »Ruckzuck« als Erkennungsmelodie von Kennzeichen D ab September 1971 steigerte ihre Popularität und machte Kraftwerk zu einem Phänomen in der deutschen Pop-Szene. Man kann sagen, aus der Musikgruppe Kraftwerk war ein prosperierendes Unternehmen geworden. Nach dem Ausscheiden von Michael Rother und Klaus Dinger kehrte Ralf wieder zurück, um mit Florian und Conny im September/Oktober 1971 im Star Studio Hamburg das zweite Kraftwerk-Album einzuspielen. Nur kurze Zeit darauf produzierte Conny Plank das Debut-Album von Michael Rother und Klaus Dinger. Zeitgleich erschienen im Januar 1972 Kraftwerk 2 und NEU!.
In Großbritannien wurde eine Kraftwerk-Doppel-LP mit den ersten beiden Kraftwerk-Alben veröffentlicht. Das war die Platte, die mir Ralf nach unserer zweiten Session mitgegeben hatte. Ralf und Florian spielten 1972 und 1973 zahlreiche Gigs, unter anderem in Frankreich auf dem Festival of German Music.
In der Rückblende war 1973 ein sehr wichtiges Jahr für die beiden, denn es gab viele Veränderungen – auch in geschäftlicher Hinsicht. Conny Plank hatte sie mit Tone Float ins Geschäft gebracht. Er galt als Top-Adresse für progressive Produktionen in Deutschland, hatte die besten Kontakte zur Industrie und bot im Namen der Bands seine Produktionen an. In dieser Zeit kam auch Kraftwerks Plattenvertrag mit Philips zustande.
Damals herrschte eine Art Aufbruchstimmung in der experimentellen Musikwelt. Völlig unabhängig voneinander arbeiteten einige Gruppierungen am Klang einer deutschen Musik. Wodurch sich Ralf und Florian von ihnen unterschieden, war ihre Fähigkeit, sich zu organisieren. Seit der Zeit von Ralf und Florian verfuhren sie in den Angelegenheiten der Gruppe Kraftwerk verstärkt nach dem Prinzip »maximale Kontrolle und Autonomie«:
  1. Produktionsräume: Der erste Schritt, in Geschäftsräume zu investieren, lag bereits hinter ihnen. Die Musikaufnahmen fanden im eigenen Studio auf der Mintropstraße statt – gemischt wurde allerdings immer noch extern.
  2. Verwertung der Urheberschutzrechte: Alle Tracks wurden wieder von Ralf und Florian geschrieben (ab Ralf und Florian ohne »Esleben« bei den Autorenangaben), und ihr neu gegründeter Kling Klang Musikverlag, Mitglied der GEMA, kontrollierte fortan ihre Verlagsrechte. (Das war eine weitere sehr wichtige Maßnahme. Denn bei ihren Vorgängeralben gingen die Verlagsrechte an externe Verlage. Ein Modell, mit dem häufig die Kosten für die Studionutzung kompensiert werden.)
  3. Personal: Personalstruktur und Außenauftritt veränderten sich. Ein Cover, das stilistisch an Warhol erinnert wie der Pylon, hatte zwar wie die Banane für Velvet Underground seinen Zweck erfüllt, war aber auch anonym. Auf der Vorder- und Rückseite von Ralf und Florian sind die beiden persönlich abgebildet. Darüber hinaus trägt das Album sogar ihre Namen. Wie bei den Künstlern Gilbert & George lag der Fokus nun auf den Personen.
  4. Producer: Mit Ralf und Florian wurde Conny Plank in den Credits nicht mehr wie bei den ersten Alben als Co-Produzent, sondern lediglich als Toningenieur genannt. Damit entkoppelten sie sich nach außen sichtbar von ihm – und bereiteten mittelfristig Punkt fünf vor.
  5. Record-Label: Kraftwerks Schallplattenvertrag mit Philips bzw. Phonogramm war mit dem Album Autobahn ausgelaufen. Damit war auch Conny Plank aus dem Geschäft. Das von Ralf und Florian in der Zwischenzeit gegründete Label Kling Klang Schallplatten hatte sich anderweitig orientiert: Es gab für die Alben nach Autobahn neue Deals mit EMI Electrola für die Bundesrepublik, Österreich und die Schweiz, mit Capitol für die USA und Kanada sowie mit der EMI für UK und den Rest der Welt.
Das dritte Kraftwerk-Album mit dem Titel Ralf und Florian erschien im Oktober des Jahres 1973 in Deutschland und Frankreich unter dem Philips-, in Großbritannien im Januar 1974 unter dem Vertigo-Label. Das Duo-Konzept schien zwar auf dem Album zu funktionieren, aber für die arbeitsteilige Live-Präsentation erweiterten sie die Besetzung. Mit Wolfgang Flür am elektronischen Schlagzeug traten sie am 10. Oktober 1973 im ZDF mit dem Track »Tanzmusik« in der Sendung Aspekte auf.
Bei ihren nächsten Gigs – beispielsweise im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks im Januar oder der Hamburger Ernst-Merck-Halle im April 1974 – war Kraftwerk ein Quartett mit der Besetzung Ralf, Florian, Wolfgang und Klaus Röder. Zusammen mit Conny Plank nahmen die vier dann Autobahn auf. Im Sommer 1974 verließ Klaus Röder die Band, um sich wieder mehr den eigenen musikalischen Ideen zu widmen.
Am 4. Oktober 1974 ging ich zum ersten Mal durch das Rolltor der Mintropstraße 16.
Radioaktivität – Der Film
Um einen Tonträger auf dem internationalen Musikmarkt zu bewerben, war auch schon 1976 ein Film sehr wichtig, auch wenn es damals – fünf Jahre vor MTV – dafür noch keine regulären Formate gab, ihn im Fernsehen zu senden. Ralf und Florian wollten einen Film für »Radioaktivität« im Kling Klang Studio drehen und die visuelle Ebene auch dafür nutzen, das Image der Gruppe zu formen. Dabei orientierten sie sich am deutschen Film der 1920er-Jahre. Bei der Suche nach einem Kameramann half das Branchentelefonbuch. Schließlich hatten die beiden Günter Fröhling – der noch bei der DEFA, Deutsche Film AG, gelernt hatte – ausfindig gemacht.
Am Mittwoch, den 28. Januar 1976 drehte er mit seiner Arriflex-Kamera im Kling Klang Studio unseren ersten Musikfilm. Fröhling war ein körperlich kleiner Kameramann mit einer großen Kompetenz. Schon die ersten Einstellungen lassen das Kino der Zwanzigerjahre erkennen: Die Irisblende am Anfang, das Radioaktiv-Zeichen – gut, das gab es damals in den Zwanzigern natürlich noch nicht –, die strahlende Kraftwerk-Schrift, Wolfgangs silberne Handschuhe, unser Gruppenbild von Foto Frank, der Morsecode. Nicht schlecht ist auch die Montage von Florians Morsesolo und Wolfgangs Handschuhballett, bei dem er rhythmisch einen Lichtstrahl durchtrennt. Bitte ausprobieren: Wenn man die Farbe rausdreht, verstärkt sich der Eindruck, es sei ein alter Streifen aus den Studios in Babelsberg .
Kontrapunkt und Promo-Tour
Im Februar 1976 absolvierte ich meine mündlichen Abschlussprüfungen in Gehörbildung, Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre. Einen Tag später trafen wir uns in der Mintropstraße und brachen mit mehreren Autos nach Frankreich auf. Wie schon in England waren Emil und Peter wieder mit dabei. In Frankreich standen einige Gigs an. Später sollten weitere in Dänemark und den Niederlanden folgen. Ralf erklärte das Unternehmen zu einer sogenannten »Promo-Tour«, er achtete sehr genau auf die Formulierung. Ein unverzichtbarer Begriff in seinem aktiven Sprachschatz der nächsten Jahre. Denn bei einer »Promo-Tour«, so lernte ich, geht es natürlich nicht ums Geldverdienen, sondern darum, für ein Produkt zu werben. In diesem Fall für Radio-Aktivität . Mir leuchtete es damals ein, dass ich in einem solchen Zusammenhang keine normalen Gagen, sondern nur eine Art Aufwandsentschädigung oder Reisespesen erwarten konnte.
Wir spielten in Lille, in Lyon und im berühmten Olympia in Paris. Kein schlechter Gig, wenn ich mich recht erinnere. Aber kurz vor Beginn der Show brach mein Elektro-Schlagzeug zusammen und machte keinen Mucks mehr. Peter Bollig erschien mit dem Lötkolben in der Hand auf der Bühne – damals hatten wir noch keinen Vorhang – und lötete in aller Seelenruhe die Kiste wieder zusammen.
Das Zusammensein mit Ralf, Florian, Wolfgang und Emil war entspannt. Florian lief in seiner grauen Pilotenjacke und einer abgewetzten grauen Stoffhose umher, Ralf mit einer schwarzen Kunstlederjacke und Jeans, Emil wirkte wie immer zu dieser Zeit mit seiner Anzugjacke lässig, und Wolfgang sah sowieso jederzeit klasse aus.
Bei unserem ersten Gig in Lille begegneten wir Monsieur Maxime Schmitt, der als Manager für das EMI-Label Pathé Marconi arbeitete. Nur geringfügig größer als wir, trug er sein dunkles Haar schulterlang mit einem Mittelscheitel. Damals nicht zu übersehen: seine Brille mit rötlich eingefärbten Gläsern. Maxime war von der Musik Kraftwerks begeistert und begann sich für die Gruppe zu engagieren. In »Radioactivity« sah er das Potenzial für eine Hit-Single, wobei für ihn das Konzept, das hinter der LP steckte, nicht entscheidend war, sondern der Klang der Musik.
Als wir einige Tage in Paris verbrachten, quartierte uns Maxime im Nobelhotel Royal Monceau auf der Avenue Hoche ein und ging mit uns zum ersten Mal ins La Coupole. Das Restaurant auf dem Boulevard du Montparnasse sollte zu unserem Stammtreffpunkt in Paris werden. Beim Betreten des Saals war ich beeindruckt von den hohen Decken, den Art-Deco-Lampen und der bemalten Kuppel in der Raummitte. Kunstvoll gestaltete Säulen unterteilen den Raum, in dem unzähligen Tische – eingedeckt mit weißen Tischdecken, Servietten und klassischem Geschirr – eine Atmosphäre erzeugen, wie sie anscheinend nur in Paris möglich ist. Die Stimmung während des verlängerten Wochenendes in Paris war großartig. Nach einer zweiwöchigen Pause setzten wir unsere Tour mit Gigs in Kopenhagen, Aarhus und Rotterdam fort.
Mai, Juni und Juli verbrachte ich mit einigen Vorlesungen, die ich auch nach meinem Theorie-Examen noch belegt hatte, und weiteren Aufführungen im Opernhaus. Der 4. Juni 1976 – am Ende der Spielzeit 1975/1976 – war wirklich kein herausragender Tag in meiner Klangbiografie. Mein Tag begann um 10:00 Uhr in der Robert-Schumann-Hochschule mit einer Unterweisung im Freien Satz. Danach übte ich den ganzen Tag für mein Schlagzeug-Examen. Für einige meiner englischen Freunde hat dieser Tag allerdings eine besondere Bedeutung: Sie erlebten in Manchesters Lesser Free Trade Hall den Gig einer damals noch relativ unbekannten Band. Als die Sex Pistols in Manchester vor einer Handvoll Zuschauer ihren berühmten Gig spielten, der zur Gründung von Joy Division führte, saß ich im Orchester der Deutschen Oper am Rhein bei einer Aufführung von Sergej Prokofjews Die steinerne Blume.
Berger Allee 9
Damals entwickelte sich in unserem Kreis in Düsseldorf ein gewisses Gemeinschaftsgefühl, das uns auch jenseits der Arbeit miteinander verband. Wir verbrachten mehr und mehr Zeit zusammen. Gelegentlich traf ich mich mit Ralf auf der Kö oder in der Mata-Hari-Passage in der Altstadt. Irgendwann sprachen wir über die Wohnung auf der Berger Allee 9, die Ralf angemietet hatte. Zu der Zeit wohnten dort allerdings Wolfgang, Emil und Plato Kostic Rivera – ein früheres Kraftwerk-Mitglied und ehemaliger Studienkollege von Ralf. Die Wohnung im Erdgeschoss sei riesengroß, so Ralf, habe fünf Räume, Küche, Diele, Bad und außerdem noch eine Waschküche und einen Extraraum im Souterrain. Wenn ich Lust hätte, könnte ich doch dort einziehen. Dann wäre die ganze Mannschaft unter einem Dach. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, um uns die Wohnung gemeinsam anzuschauen.
Die Berger Allee liegt nur ein paar Meter vom Rhein entfernt, am Rande der Altstadt. Dort befindet sich auch das von Florians Vater entworfene Mannesmann-Hochhaus. Auf der gesamten Straßenseite des Blocks stehen großzügig gebaute Jugendstilhäuser, die damals gerade den perfekten Zustand irgendwo zwischen funktionsfähig und verrottet erreicht hatten.
Wolfgang öffnete uns die Tür, und als ich mit Ralf in der Diele stand, bemerkte ich sofort, wie großzügig die Wohnung gebaut war. Die Decken der Zimmer waren sehr hoch und mit Stuckornamenten im Jugendstil verziert. Ein leichter Geruch von Farbe lag in der Luft. Der erste Raum links wurde von Emil bewohnt. Als wir ihn betraten, knarrte das Parkett. Die Einrichtung erschien mir äußerst minimalistisch. Im Grunde bestand sie aus einem selbstgebauten Holzbett mit einer Schaumgummimatratze und einem großen Werkstatt-Tisch mit einem Stuhl aus Holz vor dem Fenster, durch das man auf den gegenüberliegenden großen Teich blickte. Gerade zogen langsam ein paar Schwäne vorbei. Eingerahmt von altem Baumbestand sah das Gewässer nach deutscher Romantik aus – ich konnte mir keinen schöneren Blick aus einem Wohnraum vorstellen. An den Wänden hingen Emils Gemälde bis unter die Decke und gaben dem Raum die Atmosphäre einer Galerie. Portraits, Landschaften und unter riesigen Glaskuppeln gebaute Science-Fiction-Städte ließen trotz ihrer unterschiedlichen Motive eine eigene Handschrift erkennen. Ein Selbstbildnis von Emil mit einer Les-Paul-Gitarre fiel mir ins Auge. Darauf sah er aus wie ein junger Gitarrengott.
Durch eine große Flügeltür gelangten wir in den riesigen, fast leerstehenden Nebenraum – der zentrale Raum der Wohnung –, den Emil scheinbar gerade als Atelier nutzte. Gasflaschen und Spritzpistolen standen und lagen im Raum, außerdem eine Couch, über die eine Decke mit Tigerfellmuster ausgebreitet lag. In Sichtweite ein alter Fernsehapparat mit einer Zimmerantenne.
Am hinteren Ende des Ateliers führte eine Tür in Wolfgangs Raum, durch dessen Fenster der Rhein zu sehen war. Wolfgang war kurz nach dem Auftritt bei Aspekte im Oktober 1973 in die WG gezogen. Auch bei ihm herrschte eher Minimalismus.
Die große Wohnküche, Bad und Toilette ließen sich über die Diele erreichen, ebenso das Souterrain. Plato Kostic Rivera bewohnte zwei Räume der Wohnung, die noch hinter Küche und Bad lagen. Alles in allem werden es bestimmt 200 Quadratmeter gewesen sein.
Ralf, Emil und Wolfgang erklärten mir, wenn ich Lust hätte, könne ich schon mal in das Atelier von Emil einziehen, und, wenn Plato sein Architekturstudium beendet und zurück nach Griechenland gehe, in seine beiden Räume wechseln. Den hinteren Raum im Souterrain könne ich zum Üben nutzen. Die Miete würde zunächst 150 und später 230 Mark monatlich kosten.
Also verließ ich meine eigentlich wunderbare Studentenbude in Oberkassel und zog auf die Berger Allee. Die Gravitation der Gruppe Kraftwerk war einfach zu stark. Am meisten hatte mich unsere Tournee durch Amerika beeinflusst, aber auch die Recording-Session von Radio-Aktivität , die Gigs in England und die »Promo-Tour« zu Beginn des Jahres waren großartige Erlebnisse gewesen. Die Internationalität, die durch unsere Reisen in mein Leben gekommen war, die Authentizität der Musik, unsere Gruppendynamik – das alles fühlte sich gut an. Ich wollte diesem Kreis angehören. Schließlich half mir Peter Wollek von Sinus, mit seinem Kombi meinen Hausstand von Oberkassel in die Altstadt zu transportieren, und ab 1. Juli 1976 wohnte ich – auch für das Einwohnermeldeamt – auf der Berger Allee 9.
Im Gegensatz zu meiner früheren Dachwohnung hatte ich nun eine Zentralheizung und ein normales Badezimmer. Mit der Ruhe war es allerdings vorbei. Ein ständiges Kommen und Gehen von Freunden, Bekannten und Rumhängern war hier an der Tagesordnung. Schon bald fühlte ich mich in unserer »Betriebswohnung« wirklich zu Hause. Der Sozialraum war wie in jeder WG die Küche. Vielleicht noch erwähnenswert: die Küchenzeile mit drei Kühlschränken. Offensichtlich hatten es meine Mitbewohner aufgegeben, einen Kühlschrank gemeinsam zu nutzen. Allerdings hatte der aktuelle Modus auch einen Nachteil: Die drei Kühlschränke ließen sich nicht abschließen, und unter besonderen Bedingungen sank der Respekt vor den Vorräten der anderen unter einen gewissen Schwellenwert und führte zu »feindlichen Entnahmen«, die wiederum einer Zero-Tolerance-Politik mit unvermeidbaren Vergeltungsschlägen den Weg ebneten. Ähnliches galt übrigens auch für die Telefonrechnung. Die Buchführung stimmte nie, und die jeweiligen Anteile wurden oftmals mit einem rheinischen Sinn für Ordnung angeglichen.
Oft denke ich an meinen »legendären Kleiderschrank« zurück, der aus einem guten Dutzend übereinandergestapelten Umzugskartons bestand. Im vorderen Raum standen mein Klavier und das Vibraphon. Ich erinnere mich, wie ich dort kitschige Jazzstandards wie »Moonlight In Vermont«, »The Shadow Of Your Smile« oder »Misty« spielte. Emil, Wolfgang und ich waren schon ein rasantes Dreigestirn! Und über jeden von uns kamen andere Leute in den Kreis, die sich auf den gelegentlich stattfindenden Partys mischten. Wir drei unternahmen sogar echt familiäre Ausflüge ins Bergische Land oder in die Eifel.
Künstlerische Reifeprüfung
Am Mittwoch, den 14. Juli 1976 verließ ich frühmorgens die Berger Allee, ging am Rhein entlang zur Robert-Schumann-Hochschule, um dort meine Künstlerische Reifeprüfung abzulegen. Es war angenehm warm. Die Schlaginstrumente – Pauken, Trommeln, Xylophon, Vibraphon, Glockenspiel – hatte ich am Abend vorher mit dem Hausmeister in die Aula im ersten Stock des neuen Gebäudes geschleppt und aufgestellt. Als ich dort eintraf, saß das Prüfungskomitee – Mitglieder der Hochschulleitung, einige Dozenten und Kammermusiker – an einem langen Tisch. Ernst Göbler stellt die jeweiligen Stücke und Orchesterstudien mit ein paar erklärenden Worten vor.
Mein Vortrag begann mit Kammermusik für Pauke und Schlagzeug mit Klavierbegleitung von Alexander Tscherepnin und Friedrich Zehm und einer Komposition von Gary Burton für Vibraphon-Solo: The Sunset Bell .
Es folgen Orchesterstudien für kleine Trommel, Xylophon und Pauke von Franz von Suppé, Daniel-François-Esprit Auber, Rimsky-Korsakov, Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Paul Hindemith, George Gershwin, Richard Strauss, Ferruccio Busoni, Béla Bartók, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Peter Tschaikowsky. Das volle Programm. Es war natürlich kein Kindergeburtstag, aber besonders nervös war ich nicht. Denn alle Mitglieder des Prüfungskomitees hatten mich in den letzten Tagen bei Sinfoniekonzerten, Opernaufführungen oder Konzerten in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gesehen und gehört. Damals war die Hochschule noch recht übersichtlich, und ich war ein Mitglied der »Familie«.
Nach meiner Audition musste ich den Raum verlassen, damit sich das Komitee beraten konnte. Schon nach wenigen Minuten riefen sie mich wieder in die Aula und erklärten mir sachlich, dass ich mein Examen mit dem Prädikat Summa cum laude bestanden hatte. Nicht schlecht, dachte ich. Ja, natürlich freute ich mich, war erleichtert und glücklich. Aber irgendwie fiel ich auch in ein Vakuum. Zwölf Semester lang hatte ich mich auf diesen Tag vorbereitet. Und jetzt, nach etwas mehr als einer Stunde, war ich mit dem Programm durch und hatte mit meinen 24 Jahren die künstlerische Reifeprüfung in der Tasche. Darauf wird mir ein hohes theoretisches Niveau bescheinigt – angeblich verfüge ich auch über besondere interpretatorische Fähigkeiten und hervorragende künstlerische Fertigkeiten auf meinem Instrument. Gut zu wissen.
Nachdem ich die Instrumente wieder nach unten in den Schlagzeugraum getragen hatte, verließ ich das Institut und streifte planlos durch Düsseldorf. Ich schaute am Rhein den Schiffen nach, ohne sie wirklich zu sehen. Ich war am Ziel angekommen, doch fühlte ich mich dort ziemlich allein. In die Berger Allee wollte ich nicht gehen, dort lebte ich ein anderes Leben. Ich überquerte den Rhein auf der Oberkasseler Brücke, setzte mich in der vertrauten Umgebung meiner früheren Wohnung in ein Restaurant an einen Tisch und bestellte mir etwas zu Essen. Als der Kellner mir noch ein Bier brachte, stellte ich es zurück auf sein Tablett und machte mich auf den Heimweg zur Berger Allee – jetzt war ich wieder so weit.
Sinus und Science-Fiction
Am nächsten Tag ging es ganz normal weiter: nachmittags mit meinen Privatschülern und am Abend mit einen Gig des Peter-Weiss-Quartetts im Jazz-Club Downtown. Der große Vorteil in der Aufführungspraxis des Jazz liegt zweifellos darin, dass die Standards eine verbindliche Konvention darstellen, die es den unterschiedlichsten Musikern ermöglicht, sofort auf dieser Grundlage zu musizieren. Unsere Referenz war das Real Book. Als Vibraphonist lernte ich jetzt die Jazz-Standards aus einer anderen Perspektive kennen.
Übrigens, für den jungen Karlheinz Stockhausen waren Jazzimprovisationen auswendig gelernte Klischees. Hatte er recht? Ja, vielleicht, aber dann auch wieder nicht …
Analytisch gesehen bestehen musikalische Improvisationen aus gelernten und bewusst zusammengesetzten Melodien, Skalen und Akkordbrechungen, unbewussten Aktionen, Zufällen und möglicherweise sogar Fehlleistungen, aber ich habe schon Musiker erlebt, deren angeblich schablonenhafte Improvisationen mich die Zeit, aus der Musik bekanntlich gemacht ist, vergessen ließen.
Für mich ist das Erfinden von Musik aus dem Stegreif vergleichbar mit einer frei geführten Unterhaltung. Denn obwohl wir bekannte Sätze und Redewendungen benutzen, entstehen in unserer Kommunikation immer wieder neue Sinneinheiten und Zusammenhänge. Ich denke, es kommt bei einem guten Gespräch auf den Wortschatz, die Eloquenz und die Fantasie der Gesprächspartner an. Das Ergebnis einer solchen Unterhaltung ist natürlich nicht berechenbar, der Ausgang offen …
Die Improvisation war auch die Grundidee von Sinus. Gerade dieses freie Musizieren mit meinen Freunden brachte eine Konstante in mein Leben. Ich glaube, für uns alle war es ein Bedürfnis, zusammen Musik zu machen. Aber natürlich änderte sich im Lauf der Zeit auch unser Line-up. Peter Wollek – der mittlerweile E-Bass an der Hochschule studierte – bildete mit unserem Kommilitonen Reinhold Nickel am Schlagzeug die Rhythmusgruppe. Über Rainer Sennewald, der sich für ein Fotografie-Studium an der Folkwangschule entschieden hatte, kam der junge Pianist Ralph Rotzoll zu uns. Ralph hatte mit dem Gedanken gespielt, Kunst zu studieren, und dann doch die Musik gewählt. Bis zum Sommer spielten wir unzählige Gigs in Düsseldorf und Umgebung – auch in der Düsseldorfer Kunsthalle.
Regelmäßig trafen wir uns in der Musikhochschule, um mit einem Pantomime-Künstler für eine Aufführung zu proben, oder wir organisierten gemeinsam mit Emil Schult Musikperformances im Club Domizil. »Science-Fiction-Abende« nannte Emil das Programm. Unsere Klangstücke hießen: »Sonnengeräusche«, »Mambo Universitario«, »Marimba Polytechnic« und »Saiten Funk«. Auf dem von Emil gestalteten Plakat schwebte ein Raumschiff, unter einer Glaskuppel war ein Garten zu sehen. Außerdem hatte er einen Roboter darauf gezeichnet. Das waren schon ziemlich schräge Veranstaltungen, bei denen wir hinter einem durchsichtigen Cellophan-Vorhang agierten und bizarre elektronische Sounds auf die andere Seite sendeten.
Die Science-Fiction-Abende mit Emil nahmen jedoch ein jähes Ende. Damals hörte ich auf dem Flurfunk in der Berger Allee zum ersten Mal davon, dass man entweder exklusiv bei Kraftwerk war oder etwas anderes machte. Dann war man aber nicht Kraftwerk. Ich fand das kurios, hatte es aber auch gleich wieder vergessen .
Unabhängig davon änderte sich etwas in meinem Denken: Obwohl ich Jazz bis heute liebe, verlor ich das Interesse, mich weiter mit der Kunst der Jazzimprovisation auseinanderzusetzen. Viel eher wollte ich mich mit einer musikalischen Gestaltung befassen, deren Ursprung zwar auch in der Improvisation liegt, die sich aber nicht den Idiomen eines Genres verpflichtet fühlt.
Sommer-Hit
In Frankreich hatte Maxime Schmitt Jean-Loup Lafont vom Radiosender Europe n° 1 davon überzeugt, den Titel »Radioactivity« als Erkennungsmelodie für sein Programm zu wählen. Der Jingle entfaltete eine erstaunliche Dynamik, und 1976 wurde die Single zum Sommer-Hit. Im Dezember wählte der Sender Radio-Activity zur LP des Jahres. Auf den Fotos, die während der Verleihung der Goldenen Schallplatten im Büro unserer Plattenfirma gemacht wurden, posieren wir und Maxime mit einem Modell des berühmten Hundes, der bekanntlich die Stimme seines Herrn aus dem Trichter des Phonografen erkennt. Zweifellos lässt sich sagen, dass Maxime Schmitt ganz wesentlich zum Erfolg von Single und Album – beigetragen hat. Seinen großen Einfluss auf die Programmatik der Gruppe Kraftwerk während seiner Zeit bei Pathé Marconi sollte man nicht unterschätzen. Vor allem im französischen Sprachraum wurde Kraftwerk das Album abgekauft. Und das meine ich in zweierlei Hinsicht. Einmal als Ware und zum anderen als Blueprint für weitere Produktionen französischer und belgischer Künstler.
Dieser Erfolg fühlte sich gut an. Im Juli 1976 fuhren Ralf, Florian, Wolfgang, Emil und ich über ein verlängertes Wochenende zu Maxime nach Paris. Wieder logierten wir im Royal Monceau. Ein Wochenende in Paris geht bekanntlich schnell vorüber, aber der Montag war reserviert für einige Portraitfotos bei dem Starfotografen J. Stara, der sein Geschäft in unmittelbarer Nähe zum Hotel auf der Rue de Tilsitt hatte. Ein fast schon unwirkliches Foto von Soraya, der Kaiserin Persiens, war im Schaufenster ausgestellt.
Die Kunst von J. Stara bestand darin, seine Kameraeinstellungen auf nur wenige Perspektiven zu beschränken. Gruppenbilder collagierte er aus Einzelportraits. Die Beleuchtung in seinem Fotoatelier hatte Stara fest installiert, die Perspektiven waren standardisiert, er nutzte sie wie Schablonen. Wir setzten uns der Reihe nach in vier unterschiedlichen Posen auf den Stuhl und schauten mit einem Ausdruck von Zuversicht und Hoffnung an der Kamera vorbei ins Leere. Stara hatte auch das Kolorieren von Fotos perfektioniert. Er war, was die Details angeht, ein wahnsinniger Perfektionist. Beim Shooting trugen Wolfgang und ich wieder die Seidenkrawatten aus Chinatown, San Francisco. Ralf verzichtete dieses Mal auf seinen Schäferhund-Binder.