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DIE MENSCH-MASCHINE
Tonaufnahmen Die Mensch-Maschine. Metropolis. Die Roboter. Filmaufnahmen für Schaufensterpuppen. Das Model. Manuskripte. Spacelab. »Best European Group, Male«. Deutschland im Herbst. Phasenhafte Verstimmungen. New Musick. Neonlicht. Weihnachten in Paris. Die Mensch-Maschine (Song). Wir werden zu Skulpturen. Mix im Tonstudio Rudas. Artwork. Copyrights. Premiere: Die Roboter in München. Le Ciel de Paris. The Man-Machine in the UK. Der Kultur-Kanal. Filmaufnahmen: The Robots und Neon Lights. Saint-Tropez – Paris – ZDF-Hitparade. Paris – Rom – Venedig.
Tonaufnahmen Die Mensch-Maschine
Wie so oft zu dieser Zeit saß ich Anfang Mai 1977 spätvormittags im Café Bittner am Carlsplatz. Abwesend schaute ich über den oberen Rand meiner Tageszeitung auf das geschäftige Treiben des Wochenmarktes. Das Café lag nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt, und ich hatte mir zur Gewohnheit gemacht, dort bei einer Tasse Kaffee langsam aufzuwachen. Bei Kraftwerk hatte sich in den letzten drei Jahren alles großartig entwickelt, und auch mein Studium – ich arbeitete mit Ernst Göbler am Zyklus  – lief gut. Am Nachmittag würde ich einen meiner Privatschüler auf der kleinen Trommel unterrichten, und für den Abend war ich mit den Jungs im Kling Klang Studio verabredet.
Die Veröffentlichung von TEE lag erst ein paar Wochen zurück – das Album stand sogar noch in den Schaufenstern einiger Schallplattengeschäfte –, aber es sollte direkt mit der Arbeit am nächsten Album losgehen. Allerdings würden wir ohne die Hilfe eines Toningenieurs auskommen müssen. Peter Bollig hatte aufgrund seines Studiums keine Zeit, uns weiter zu unterstützen.
Um die Tonaufnahmen professionell hinzukriegen, ließen sich Ralf und Florian ein sogenanntes Aufspielpult konstruieren. Ein stabiler schwarzer Plexiglaskasten – etwa so groß wie der Synthanorma – mit der Funktion einer Matrix. Dort wurden die ankommenden Signale der Instrumente ausgesteuert und auf die unterschiedlichen Spuren des Magnettonbands geroutet.
In konventionellen Studios schauen die Produzenten und Toningenieure vom Kontrollraum durch eine mehrfach isolierte Glasscheibe auf die Musiker in dem Aufnahmeraum. In diesem Fall spielt die Raumakustik des Aufnahmeraums eine wichtige Rolle. Denn Mikrofone nehmen nicht nur die Instrumente, Verstärker und Stimmen, sondern auch den Raum mit auf. Deshalb ist die Beschaffenheit des Raums von Bedeutung: seine Größe und Architektur, die Deckenhöhe, die Anordnung der fahrbaren Trennwände. Gibt es schallisolierende Materialien an Wänden und Decken? Handelt es sich um einen Holz- oder um einen Teppichboden? Für die Aufnahme ist auch die Wahl des Mikrofons von großer Bedeutung. Ferner lassen sich Tonquellen und Mikrofone so lange im Raum hin und her bewegen, bis der richtige Platz für den gewünschten Sound gefunden ist. Solche Entscheidungen werden im Kontrollraum getroffen, denn dort hört man nur den Klang, den das Mikrofon überträgt. Um die dafür am besten geeigneten Lautsprecher ranken sich Mythen, und es werden pseudoreligiöse Debatten in Fachzeitschriften geführt. Selbstverständlich spiegeln die Preise für die Geräte, die mit ihren Membranen die Luft zum Schwingen bringen, diesen Wahnsinn wider. Wenn mehrere Musiker gleichzeitig spielen, entstehen natürlich weitere Probleme, da sich die Signale nicht ohne Weiteres wieder voneinander trennen lassen .
Das Kling Klang Studio war kein konventionelles Tonstudio mit akustisch voneinander getrenntem Aufnahme- und Kontrollraum. Das Studio war ein einziger, rechteckiger, 12 × 6 Meter großer, 6 Meter hoher Raum. Ehemals als Proberaum, musikalische Werkstatt und – wie es auf Englisch heißt – »Writing Room« konzipiert, entwickelte es sich immer mehr zum Kontrollraum, in dem die elektronischen Instrumente direkt in Submixer und diese dann in das oben erwähnte Aufspielpult verkabelt wurden. Das Mikrofonieren von Instrumenten fiel bei uns weg, lediglich die Stimmen wurden mit Mikros aufgenommen. Aber ihnen wurde, wenn ich das mit anderen Studios vergleiche, keine übertriebene Aufmerksamkeit gewidmet.
Der Vorteil dieses Set-ups liegt auf der Hand: Wir hatten beim Spielen und Komponieren die Atmosphäre einer Live-Performance. Dafür sorgten die im Raum verteilten Instrumente, einige Komponenten der PA und die großen JBL-Lautsprecher, die sich an der 6 Meter breiten Rückwand des Studios in einem Metallgerüst befanden und für eine lebendige Akustik sorgten.
Der Nachteil war, dass zwischen der hinteren Lautsprecherwand und der 12 Meter entfernten parallelen Wand, an der direkt neben der Eingangstür das Mischpult und die Bandmaschine positioniert waren, sich der Schall im Raum ausbreitete und von den Wänden mehrfach reflektiert wurde. Die an den Steinwänden angebrachten schallabsorbierenden Kunststoffpyramiden dämpften lediglich den Mitten- und Höhenbereich. Das eigentliche Problem lag für uns darin, die Bassfrequenzen beurteilen zu können. Ich sehe noch Florian vor mir, der mit dem Kopf in der Ecke zwischen Tür und Seitenwand steckte und immer wieder etwas wie »Bassfalle« murmelte. Ja, die Bässe der Oszillatoren waren damals für uns nur schwer in den Griff zu kriegen. In meiner Erinnerung spielten zu diesem Zeitpunkt die Nahfeldmonitore von Auratone, die irgendwann am Mischpult positioniert waren, noch keine maßgebliche Rolle .
Heute glaube ich, dass uns gerade diese unkonventionelle Akustik zu ganz brauchbaren Ergebnissen führte. Wir erfanden unsere Musik unter akustisch nicht perfekten Bedingungen, hatten aber auf der anderen Seite den Stimulus eines Live-Auftritts. Jedenfalls solange wir vorwiegend analoges Equipment benutzten und gleichzeitig miteinander im Raum musizierten.
Neben dem Aufspielpult warteten noch weitere Neuanschaffungen im Studio. Hajo Wiechers war es gelungen, den Synthanorma Sequenzer weiterzuentwickeln. Das neue Modell besaß jetzt 16 Steps, was wesentlich sinnvoller für die vom Viervierteltakt geprägte Popmusik war. Außerdem hatte er die Elektronik in einem dunklen 19-Zoll-Gehäuse untergebracht, was der Studionorm entsprach. Der neue Musikautomat wirkte technischer, kam nicht mehr im Holz-Look des Prototyps daher. Verbesserungen wie der Intervallomat ermöglichten es, Tonfolgen schnell und reproduzierbar einstellen zu können. Es gab auch eine Sync-to-Tape-Funktion für die Multitrack-Aufnahmen – um nur die wichtigsten Funktionen zu nennen. Durch die Synchronisation mit der Bandmaschine konnten nun alle Instrumente der Rhythmusgruppe maschinell eingespielt und aufgenommen werden.
Die dritte neue Komponente für die kommende Produktion war der Polymoog – ein Hybrid aus elektronischer Orgel und Synthesizer. Bei Radio-Aktivität und Trans Europa Express war das Orchestron omnipräsent; der Polymoog eröffnete uns nun eine neue Klangperspektive. Auch physikalisch hatte er die Position des Orchestron eingenommen – auf dem neuen Instrument konnte Ralf wieder gut den Minimoog abstellen.
Metropoli s
Ralfs neues Keyboard schien wie für ihn gemacht. Er hatte, wie man so sagt, ein »Händchen« für den Polymoog. Mit dem synthetischen Violinensound-Preset griff er bei unserer ersten Session am 5. Mai 1977 auf der Tastatur einige Akkorde und improvisierte dazu Melodien auf dem Minimoog. Der Polymoog-Sound erinnerte mich an ein herkömmliches String-Ensemble, aber der Klang schien im Raum zu schweben und sich dabei ganz leicht zu drehen. Ich hatte die Assoziation einer unendlich weiten Landschaft, die sich vor mir ausbreitet.
Um mich für die anstehenden Sessions im Kling Klang Studio vorzubereiten, hatte ich auf meinem Klavier ein paar Riffs und Motive getestet. Eine von Latino-Orchestern inspirierte, synkopische Figur nahm ich mit ins Studio. In der Basslage gespielt passte sie perfekt zu Ralfs Polymoog-Akkorden. Ralf stellte die Tonfolge auf dem Synthanorma Sequenzer ein, brachte sie in einen regelmäßigen Grundrhythmus und manipulierte sie noch ein wenig, bis daraus die rasterhafte Bass-Sequenz von »Metropolis« wurde.
Durch die neue Sync-to-Tape-Funktion des Synthanorma konnten wir nun eine Spur nach der anderen synchron auf das Magnettonband aufnehmen. Das ermöglichte es uns, auch die Schlaginstrumente vom Sequenzer ansteuern zu lassen. Heute nur noch schwer vorstellbar … aber ich empfand damals diese maschinelle Präzision als eine völlig neue Form des musikalischen Ausdrucks. »Metropolis« war der erste Track, bei dem wir diese Methode realisierten.
Als Ralf mit seinem zweiten Minimoog über den schwebenden Klang des Polymoog die Hauptmelodie erfand, nahmen wir das erste Demo auf eine Kassette auf und hörten uns seine Improvisation während einer Autofahrt an. Ralf und Florian hatten sich mittlerweile Mercedes-Benz-Limousinen mit sehr guten Stereoanlagen angeschafft, und von diesem ersten Demo an kultivierten wir unsere »Soundrides«. Die nächtlichen Stadtrundfahrten wurden ein fester Bestandteil unserer Studiosessions während der Produktion der nächsten zwei Alben. Ich glaube, es war dieses Taxi Driver -Ding, die Stimmung, in der Travis im Abspann des Scorsese-Films durch die Straßen von Manhattan cruist. Nachts mit dem Auto langsam durch die Stadt fahren und Musik hören, während draußen die Gebäude, Straßen und Lichter der Umgebung wie in einem Film vorübergleiten. Natürlich wäre es lächerlich, Düsseldorf mit New York zu vergleichen, aber dieser audiovisuelle Sinneseindruck war rückblickend ein wichtiger Bestandteil der Meinungsbildung. Und so wurde aus den Vorschlägen eines Einzelnen, den Kommentaren der anderen, unseren gemeinsamen Improvisationen, dem Einbringen von technischen Tricks, dem kontinuierlichen Basteln am Rohmaterial und der abschließenden Wertung der Ergebnisse ein kreativer Prozess, in dem unsere Musik entstand.
Bei unseren Soundrides fuhren wir meistens über die Kniebrücke nach Oberkassel und über die Theodor-Heuss-Brücke wieder zurück ins Studio. Eine Viertelstunde, manchmal dreißig Minuten dauerte so ein Trip. Hin und wieder fuhren wir auch mehrmals während einer Session, um ausgeführte Änderungen miteinander zu vergleichen. Nachdem wir uns den neuen Track auf unserem ersten Soundride angehört hatten, wussten wir, dass es sich lohnt, weiter an ihm zu arbeiten. Die Stimmung der Musik kam uns irgendwie russisch vor, und deshalb bekam der Track den Arbeitstitel »Don Wolga« verpasst. Damit hatte unser neues Album von Anfang an eine Richtung: Osten.
Irgendwann sahen wir uns in der Landesbildstelle an der Prinz-Georg-Straße den Fritz-Lang-Klassiker Metropolis von 1927 an. Dass der Stummfilm gezeigt wurde, war damals eine Sensation, und es kamen viele Zuschauer. Wir hatten keinen Sitzplatz mehr bekommen und mussten uns den Streifen im Stehen durch die Tür angucken. Da ja bereits auf unserer US-Tour auf Plakaten mit dem Begriff »Die Mensch-Maschine« geworben worden war, kann ich mir denken, dass Ralf und Florian sich schon früher mit dem Film beschäftigt haben mussten. Mir selbst waren bis zu diesem Zeitpunkt nur Standbilder bekannt.
Ich war ziemlich beeindruckt, jetzt die Original-Modelle der »Stadt der Zukunft« im Kinofilm zu sehen. Auch die Stilisierung der anonymen Massen der Arbeiter, die sich im Gleichschritt und mit gesenkten Köpfen durch die unterirdischen Maschinen-Säle schleppten, berührten mich. Bei ihnen hatte sich die Mutation zur Maschine, wie sie von F. T. Marinetti in den futuristischen Manifesten euphorisch gefordert wurde, scheinbar schon vollzogen.
Und natürlich war ich von der Szene im Laboratorium des berühmten Erfinders Rotwang begeistert, in der seine »Mensch-Maschine« 1 das Gesicht von Maria erhält. Dieser wahnsinnige Raum voller komplizierter und verwirrender Geräte: Schalter, die Elektrizität durch Stromkabel fließen lassen, Induktionsspulen, Widerstände, Schwungräder, Übertragungstabellen mit rätselhaften Formeln, siedende Chemikalien in gläsernen Schalen, Retorten und Reagenzgläser, filigrane Drahtverbindungen und eine Reihe von geheimnisvollen Objekten und Erscheinungen wie die elektrischen Lichtkreise, die den »Menschen der Zukunft, den Maschinen-Menschen« umhüllen.
Die Geschichte spielt im Jahr 2027, also ungefähr in unserer Gegenwart. In der Superstadt Metropolis schuften die Arbeiter tief unter der Erde in Maschinen-Sälen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Hoch über ihnen leben die Magnaten der Oberschicht in ihren Wolkenkratzern. Als die Unterdrückten eine Revolution planen, finden sie in den Worten der »heiligen« Arbeiterin Maria Hoffnung: »Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein«, predigt sie.
Im Auftrag des Chef-Kapitalisten Freder konstruiert der geniale Erfinder Rotwang im Anschluss eine »Mensch-Maschine«, die als Doppelgängerin von Maria den Arbeitern klarmachen soll, dass sie weder einen Mittler noch eine Änderung der Verhältnisse erwarten können. Doch Rotwang programmiert die »Software« des Androiden Maria dahingehend, dass sie die Arbeiter zur Rebellion anstiftet. Die künstliche Maria hetzt die Arbeiter dermaßen auf, dass die Situation außer Kontrolle gerät: Chaos bricht aus. Die aufgebrachten Massen zerstören die Maschinen. Doch am Ende des Films ist alles wieder so, wie es war. Die Botschaft: Revolution bringt nichts.
In der damaligen Zeit gab es keinen Film, der schon während seiner Produktion so viel Aufsehen erregte wie Metropolis: Über ein Jahr lang wurde in den UFA-Ateliers gedreht, eine rund tausendköpfige Armee von Komparsen stand für die Massenchoreograpfie zur Verfügung; die Produktionskosten verschlangen angeblich eine für die Zwanzigerjahre unglaubliche Summe von fünf Millionen Reichsmark, und obwohl bei einem Film noch nie so viel Ausschuss produziert wurde, kamen mehr als sieben Stunden Film zustande.
Der Mythos Metropolis war geboren und auch Fritz Lang bastelte bereits zu Lebzeiten an seiner Legende. So gab er an, seine Reise nach Amerika im Oktober 1924 hätte ihn zu seinem Film inspiriert, was heute angezweifelt wird. Die Idee der Superstadt lag natürlich schon seit Beginn der Moderne in der Luft. Bereits im Jahr 1914 hatte Antonio Sant’Elia Zeichnungen zur Città Nuova zusammen mit dem futuristischen Architekturmanifest veröffentlicht und zum Ideal des italienischen Futurismus deklariert. Das Design von Metropolis erinnert nicht von ungefähr an diese Konzepte. Auch Paul Citroens 1923 entstandene Fotocollage »Metropolis« gab vermutlich eine passgenaue Steilvorlage für Lang ab.
Die am 10. Januar 1927 präsentierte zweieinhalbstündige Premierenfassung fiel bei Kritikern durch und hatte auch beim Publikum keinen Erfolg. Aber es gab auch Bewunderer des Science-Fiction-Märchens. Die Nationalsozialisten verstanden den Film wohl als Blueprint für ihren Masterplan. Fritz Lang arrangierte sich zunächst mit dem Regime, aber er hatte eine jüdische Mutter und konnte sich ausrechnen, wie sich das, was sich in Deutschland anbahnte, entwickeln würde.
Nach weiteren erfolglosen Filmen drehte Lang den Tonfilm M und danach Das Testament des Dr. Mabuse. Letzterer wurde allerdings 1933 wegen »Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« vom Propagandaministerium in Deutschland verboten. Bekannt, aber nicht belegt ist Fritz Langs legendäres Gespräch mit Dr. Joseph Goebbels Ende März 1933. In einem Filminterview 2 beschreibt der Regisseur seine Besprechung mit dem »unerhört liebenswürdigen« Goebbels in dessen Arbeitszimmer. Natürlich hoffte er, den Reichspropagandaminister dazu zu bewegen, das Verbot von Mabuse aufzuheben, doch der erklärte ihm, dass man das Ende des Films ändern müsse.
Goebbels habe ihn wissen lassen, »was er vorhätte mit Schauspielern und Schauspielerinnen, was für Filme gemacht werden müssten, und dann kam er wiederum zu sprechen auf meine Tätigkeit, wie ich also alle diese Filme im Sinne der Nazis inszenieren sollte. Ich sagte dem Minister, wie sehr ich mich geehrt fühlte, nahm mir ein Auto – ich war nass am ganzen Körper vor Angst –, fuhr nach Hause, sagte meinem Diener, er solle meinen Koffer packen, ich müsste so eine Woche, zwei nach Paris. Am selben Abend verließ ich Deutschland und kam nie wieder.«
Die Story seiner Flucht, die der monokeltragende Wiener Filmregisseur unnachahmlich vorträgt, ist einfach fabelhaft. Die Filmhistorikerin Lotte H. Eisner berichtet, Lang »erzählte mit Vorliebe diese Geschichte und schmückte sie jedes Mal ein bisschen mehr aus.« 3 Seine Angaben werden allerdings aufgrund von Visaeinträgen in seinem Reisepass bezweifelt. Aber ist das so wichtig? Richtig ist, dass er 1933 über Frankreich nach Amerika emigrierte.
Heute gilt Metropolis zurecht als Meilenstein der Filmgeschichte. Regie-Legende Luis Buñuel analysiert den Grund dafür: »Was uns hier erzählt wird, ist trivial, schwülstig, pedantisch, von einem übermächtigen Romantizismus. Aber wenn man sich nicht auf die Anekdote, sondern auf den plastischen Hintergrund konzentriert, dann übertrifft Metropolis alle Erwartungen, erstaunt einen wie das wunderbarste Bilderbuch, das je geschaffen wurde.« 4
Und diese Filmmalerei, das Entwerfen von perfekten Oberflächen handhabt Lang mit einer unglaublichen Meisterschaft. Sogar der Ton wird von ihm ins Bilderbuch gemalt. Zum Beispiel die vier Dampfstrahlen der Fabriksirenen, die nachträglich auf das Negativ gezeichnet wurden. »Bei der meisterhaften Instrumentierung von Metropolis glaubt man in diesem Stummfilm Geräusche fast ebenso zu hören wie die Sirenen« 5
Betrachtet man die Architektur der Stadt und die Menschenmassen, das phantastische Laboratorium und die »Mensch-Maschine« als abstrakte und von der Handlung isolierte Elemente, dann fällt es nicht schwer, Fritz Langs Metropolis als einen nicht ganz unwesentlichen Einfluss auf die Ästhetik und später auch auf die kommunikative Außendarstellung von Kraftwerk zu bezeichnen.
Übrigens: Ralf sagte einmal, Kraftwerk sei die Band, die Fritz Lang in Metropolis besetzt haben könnte. 6 Vielleicht war das ein Versuch, seine Wertschätzung für die Ästhetik des Films auszudrücken. Rein musikalisch macht die Äußerung wenig Sinn, vor allem wenn man den Faktor »Zeit« berücksichtigt. Viel besser jedoch war der Trick, sich die »Mensch-Maschine« als Metapher für das musikalische Konzept von Kraftwerk auszuleihen und auch als Namensgeber für unser aktuelles Album zu verwenden.
Zurück ins Kling Klang Studio. Wir arbeiteten am Stück mit dem Arbeitstitel »Don Wolga«. Als Ralf die Idee hatte, unsere Instrumentalmusik mit dem Film Metropolis in Verbindung zu bringen, ergaben sich natürlich sofort visuelle Bezugspunkte. Die Fabriksirenen, mit der die Arbeiter im Film zu ihrer Schicht gerufen werden, waren unsere Inspiration für den Anfang des Tracks. Heutzutage würde ich mir den Film in den Computer laden, die Bilder auf mich wirken lassen und synchron die Musik komponieren. Damals hatten wir aber keinen Filmprojektor im Studio. Wir hatten auch keinen Zugriff auf den Film und demzufolge keine visuelle Referenz, es gab keinen Rhythmus und keine Melodie der Bilder. Wir komponierten aus unserem kollektiven Gedächtnis.
Nach diesem Kick-off der Albumproduktion verschwanden wir in ein längeres Clubbing-Wochenende und trafen uns alle am folgenden Montag zu einem Konzert der Eagles. Jawohl! Wir zogen uns die Show der Amerikaner rein. Die Band schaffte es mühelos, für die Zeitspanne ihres Gigs die Bühne der Philipshalle in ihr »Hotel California« zu verwandeln und beeindruckte mich mit der Stimmigkeit ihrer Musik, einem sensationell guten Sound und einer aalglatten Performance. Klänge aus einer anderen Welt.
Die Roboter
Als der Film Star Wars am 25. Mai 1977 in den USA Premiere hatte, glaubte niemand mehr an seinen Erfolg. Die Dreharbeiten hatten sich als extrem schwierig erwiesen, das vereinbarte Budget wurde überschritten und 20th Century Fox rechnete nicht mehr damit, die ursprünglich vereinbarten Produktionskosten von drei Millionen US-Dollar einzuspielen. Aber: Obwohl Science-Fiction-Filme in den Siebzigerjahren etwas aus der Mode gekommen waren, traf Star Wars den Zeitgeist. Der weltweite Erfolg des Films überstieg die Erwartungen aller Beteiligten bei Weitem. Wenn man die Einspielergebnisse der folgenden Star-Wars -Filme und der von ihnen abgeleiteten Produkte in Betracht zieht, handelt es sich um eine der erfolgreichsten Unternehmungen der Filmindustrie.
Für die Filmmusik verfolgte Lucas allerdings kein futuristisches Konzept. Der Komponist John Williams erschuf vielmehr einen Kontrast zur abgebildeten Science-Fiction-Welt. Mit dem traditionellen Klang der klassischen Musik sollten die Zuschauer (und Hörer) in eine vertraute, »non-futuristische« akustische Umgebung geführt werden. Das war damals bis auf wenige Ausnahmen üblich.
Was aber Star Wars auch zu etwas Besonderem machte, war der Sound: Lärmende Jets schießen über die Köpfe des Publikums hinweg, Laserschwerter zerschneiden zischend die Luft, und Roboter sprechen in einer nie zuvor gehörten Sprache. Der Sounddesigner Ben Burtt hatte C-3PO und R2-D2 zum Sprechen gebracht. Er gestaltete ihre elektronischen Stimmen und die mechanischen Geräusche ihrer Bewegungen. Burtt verbrachte ein Jahr damit, Sounds aufzunehmen und sie nach allen Regeln der Kunst zu manipulieren, um Lukas’ Film lebendig werden zu lassen. Erstmalig tauchte die Berufsbezeichnung »Sound Designer« auf. Ben Burtt revolutionierte mit Star Wars den Kino-Ton.
Obwohl Lucas’ Film Krieg der Sterne erst 1978 in die deutschen Kinos kam, konnte sich niemand der Promotion in den Medien entziehen. Von Bedeutung waren für uns, wie ich meine, die beiden Roboter. C-3PO war unschwer als die männliche Version der Maschinen-Dame aus Fritz Langs Metropolis zu erkennen, der kleinere R2-D2 ein sympathisch vertrotteltes Modell einer anderen Produktlinie. Die beiden standen wohl in der Tradition des amerikanischen Komiker-Duos Laurel & Hardy und waren die heimlichen Helden des Films.
Schon vor Star Wars gab es, wenn es um Kraftwerk ging, zahlreiche Assoziationen zu Robotern. Auf der Autobahn -Tour durch die USA wurden wir auf Plakaten und Anzeigen im nachempfundenen Art-Deco-Stil von Metropolis als »Die Mensch-Maschine« angekündigt. Auch die Presse bezeichnete uns als Maschinenmenschen, Roboter, Androiden oder auch Schaufensterpuppen. Solche Vergleiche waren aber keineswegs positiv gemeint. In einer Review zu einem unserer Gigs wird moniert: »Unglücklicherweise hat Kraftwerk, um zu dem synthetischen Produkt zu gelangen, seine Mitspieler zu Robotern entmenschlicht.« 7 In anderen Artikeln ist die Rede von einer »roboterähnlichen Distanziertheit« 8 . Ein deutscher Journalist erklärte erschöpft nach dem Hören von Trans Europa Express: »Nach zwei Seiten Kraftwerk fühle ich mich allerdings mehr als Roboter.« 9
Star Wars und insbesondere C-3PO und R2-D2 veränderten diese negative Sichtweise. Die mystischen Maschinenmenschen hatten sich zu freundlichen Robotern entwickelt und waren genau wie die Klangästhetik der Musik-Automaten im Mainstream der Popkultur angekommen.
Im Mai 1977 hatten wir zwar von Star Wars gehört, den Film aber natürlich noch nicht gesehen. Noch lieber als ins Kino gingen wir zu dieser Zeit in Clubs und Discotheken zum Tanzen. In Mora’s Lovers Club lief damals die neue Funknummer von Johnny »Guitar« Watson: »A Real Mother For Ya«. Ich hatte keine Ahnung, worum es in dem Song eigentlich ging, die Keywords, die ich aufschnappte, klangen gut, doch von dem Dreh mit dem verklausulierten »Motherfucker« (»Mother For Ya«) erfuhr ich erst viel später. Im Song kreist das Gitarrenriff synkopisch um die kleine Septime, Sexte und Quinte. »A Real Mother For Ya« funktionierte perfekt auf der Tanzfläche.
An einem Abend im Mai – den letzten Clubbesuch noch im Ohr – kamen wir wieder im Studio zusammen und jammten ein wenig. Ralf schraubte am Synthanorma und am Minimoog herum, bis er die zweitaktige Phrase entwickelt hatte, die später einmal als das Riff von »Die Roboter« bekannt wurde. Mit einem Tempo von 116 Beats per Minute wirkt es trotz seiner geraden Sechzehntelnoten erstaunlich rhythmisch. Der besondere Sound entsteht durch eine Veränderung der Klangfarbe am Minimoog. Durch Ralfs manuelle Manipulation wurde die maschinelle Ästhetik des Musikautomaten lebendig, erhielt einen »Human Touch«. Das von Ralf herbeigeführte rhythmische Öffnen und Schließen des Filters erzeugt einen ähnlichen Effekt wie bei einer Gitarre, die durch ein Wha-Wha-Pedal geschliffen wird. Wer dabei nicht auch an das »Theme from Shaft« von Isaac Hayes oder Jimi Hendrix’ »Voodoo Child« denkt, hat kein musikalisches Gedächtnis.
Auf jeden Fall war das Riff von Anfang an der Knaller, als wir es über die großen JBL-Boxen im Studio hörten. Die Töne schienen wie unsichtbare Ping-Pong-Bälle durch den Raum zu fliegen und von einer hauchdünnen Gummihülle umgeben zu sein, wie auch ein Wassertropfen eine Haut hat, die ihn einschließt und zusammenhält.
Sieht man einmal von der Periodizität beider Riffs ab, haben »A Real Mother For Ya« und »Die Roboter« nicht viel miteinander zu tun. Aber für mich gehören sie zusammen. Denn Johnny Guitar Watsons Track lief damals ständig im Mora’s, und wir alle tanzten zu seiner Musik.
Wir selbst waren mit Robotern verglichen worden, während im Kinofilm Stars Wars die Maschinen menschliche Eigenschaften erhielten und so die Herzen der Zuschauer im Sturm eroberten. 1977 lag es für uns also in vielfacher Hinsicht in der Luft, einen Song über Roboter zu komponieren. Und das Synthesizer-Riff war der erste Schritt in diese Richtung. Es klang wie die Übersetzung der mechanischen Bewegung ins Musikalische.
Aber wir wollten unseren Maschinenmenschen akustisch noch deutlicher abbilden und erfanden ein klingendes Roboter-Portrait. Es besteht aus elektronisch imitierten Sounds von Elektromotoren, Mechanik und Sonifikationen, die wir in einer Miniatur-Klangcollage anordneten. Gemeinsam übten wir das rhythmische Muster »Ui Ui Ui Ui – Dröhn, Klang, Braaat, Dididoing«, bis wir es draufhatten, und nahmen es auf.
Irgendwann im Lauf der Session erinnerte sich der polyglotte Ralf an seine Grundkenntnisse in Russisch und machte uns darauf aufmerksam, dass das Wort Roboter 10  – rabota – ursprünglich aus dem Slawischen stammt und Arbeit bedeutet. Dann hatte er die Idee, als Antwort auf unsere Klangcollage den Roboter einen Text auf Russisch aufsagen zu lassen: »Ja tvoi sluga, ja tvoi Rabotnik« – »Ich bin dein Sklave, ich bin dein Arbeiter«. Das baute in unseren Gedanken die Brücke nach Russland weiter aus. Ralf und Florian brachten daraufhin eine Reihe von russischen bildenden Künstlern ins Spiel, die Assoziation zum Konstruktivismus lag nah. Ich glaube, schon am nächsten Tag zerfledderten wir ein Buch über das Werk von El Lissitzky, das Ralf auf unserem Mischpult ausgebreitet hatte. Und wirklich: Die dynamischen Konstruktionen Lissitzkys erschienen mir damals wie ein Programm für die Form unserer Musik.
Mit den Gedanken bei Lissitzkys abstrakt-geometrischer Formensprache entwickelte sich unser Kopf-Arrangement, das wir mit unserer bewährten Methode auf das Magnettonband übertrugen. Für die Drums schlug ich einen Marschrhythmus vor, der während der Sound-Rabotnik-Collagen sein Pattern wechselt. Ralf hatte noch die Idee, eine getunte Snare Drum zu verwenden, die dem Akkordschema folgt – wie die Gitarre bei zahlreichen Rhythm-&-Blues- oder Soulnummern aus der Ära von James Brown oder Motown.
Wir ahnten, dass dieser Song nicht der schlechteste Song aller Zeiten war, und arbeiteten äußerst zielstrebig und konzentriert. Wirklich alle Aktionen gelangen uns und führten zum Ziel. Für mich sah es ganz danach aus, dass »Die Roboter« der Titeltrack unseres neuen Albums werden würde .
Doch nicht nur wir hatten mitbekommen, dass Roboter damals angesagt waren: Im Juni erschien das neue Album von The Alan Parsons Project, I Robot , benannt nach den Science-Fiction-Kurzgeschichten I, Robot von Isaac Asimov. Ich erinnere mich gut daran, wie wir es das erste Mal über die Anlage im Studio hörten und darüber sprachen. Die Musik, die unterschiedlichen Sänger, der Titel, das Cover – alles war sehr bewusst produziert und exzellent gestaltet. Es stand völlig außer Zweifel: Das Album würde mega-erfolgreich werden, ein Riesenhit. Uns war sofort klar, dass ein Album-Titel, der in irgendeiner Weise den Begriff Roboter enthält, für uns jetzt nicht mehr in Frage kam. Ein Kraftwerk-Album mit dem Titel Die Roboter hätte wie ein Plagiat gewirkt.
Das betraf aber nicht den Song selbst. Mit ihm beschäftigten wir uns noch einige Wochen weiter. Am Songtext gefällt mir besonders das »Nicht-Pathos« von Ralfs Dichtung, das daherkommt wie ein Sprechblasentext in einem Comic-Magazin. Den Text sprach Florian mit seinem Vocoder. Nach rund 50 Sessions zwischen Mai und September war »Die Roboter« schließlich im Kasten. Bereits damals sagte Ralf voraus, dass wir für immer mit dem Image der Roboter in Verbindung gebracht werden würden.
Filmaufnahmen für Schaufensterpuppen
Trans Europa Express und die gleichnamige Single waren seit März auf dem Markt. Um dem Album etwas Aufwind zu geben, sollte im August als zweite Single »Schaufensterpuppen« ausgekoppelt werden. Für das Marketing wurde wieder ein Film produziert. Zu diesem Zweck trafen wir uns alle Ende Juli in Günter Fröhlings Atelier. Frau Hartkopf, die Maskenbildnerin, war auch wieder mit ihrem Köfferchen vorbeigekommen. Gekonnt trug sie unser bekanntes Make-up auf. Wie mich diese Prozedur an die Maske im Opernhaus erinnerte … Die flauschige Quaste für den Puder war angenehm, aber das Augen-Make-up brachte mich um.
Das Storyboard unseres Films folgt den Lyrics des Songs, der für die Medien auf Single-Länge gekürzt wurde. Es lag nahe, Schaufensterpuppen zu verwenden. Ich glaube, Ralf und Florian äußerten schon vor dem Dreh den Gedanken, dass diese Puppen eigentlich unsere Gesichter haben müssten. Aber woher sollten wir auf die Schnelle vier modellierte Köpfe bekommen? Die Idee war in der Kürze der Zeit nicht umsetzbar. Also wurden einige Industrie-Schaufensterpuppen organisiert. Im Film nehmen sie unsere Positionen an den Musikinstrumenten ein und sind durch die Neonschrift mit unseren Namen als unsere Stellvertreter ausgewiesen.
Der absolute Höhepunkt des Films kommt bei der Textstelle »We start to move, and we break the glass«, bei der wir vier uns zombiegleich mit ausdruckslosen Gesichtern in einer gespielten Zeitlupe auf die Kamera zubewegen und passend zum Soundeffekt eine über das Bild kopierte Trick-Glasscheibe zersplittert.
»We step out and take a walk through the city« fiel der zeitlichen Effizienz zum Opfer und hinterließ eine kleine Narbe beim Schnitt, doch schließlich waren wir mit den Lyrics im Club angekommen und fingen an zu tanzen. Und wie. Florian – der Meister der Pirouetten und geschüttelten Barmixerhände – bleibt todernst. Unglaublich, aber wahr: Ralf und Wolfgang lächeln, wie es im unsichtbaren »Drehbuch« steht. Und ich … naja, lassen wir das. Es war halt die Disco-Periode, und ich gab alles …
Ich hatte den Streifen jahrelang nicht mehr gesehen und war ziemlich überrascht, als ich ihn mir noch einmal aufmerksam anschaute. Natürlich sind die Kameraeinstellungen für heutige Verhältnisse sehr lang. Auch die Schnitte sind nicht immer optimal im Timing. Trotzdem wirkt der Film auf mich im Zeitalter des Smartphone-Film-Editing immer noch sehr kurzweilig .
Maxime Schmitt regte an, von »Schaufensterpuppen« auch eine Version für den französischsprechenden Markt zu veröffentlichen. »Les Mannequins« ist der erste Song, bei dem Maxime als Co-Autor der Lyrics genannt wird. Die 7″-Single von Pathé Marconi sieht klasse aus: Auf der Vorderseite des Covers befindet sich das Gruppenbild von J. Stara, und auf der Rückseite ist ein Foto von Fröhling auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof im Stil des expressionistischen Films der 1920er-Jahre abgebildet. Auf der B-Seite befindet sich »The Hall Of Mirrors.« In Großbritannien erreichte »Showroom Dummies« mit »Europe Endless« auf der B-Seite im August 1977 Platz 25 der Charts. Der Song wurde zwar kein wirklicher Hit, trotzdem spielt »Schaufensterpuppen« für viele Kenner unseres Repertoires eine wichtige Rolle in der Diskografie der Gruppe Kraftwerk.
Das Model
Im Sommer 1977 tönten synthetische Wellenformen und der Sound elektronischer Schlagzeuge aus allen Lautsprechern in unserer Umgebung. Auch im Nachbarland Frankreich konnte sich mittlerweile eine Elektro-Szene etablieren. Die Band Space Art mit ihrem Hit »Onyx« war nicht zu überhören, und Jean Michel Jarre hatte in diesem Jahr seinen großen Durchbruch mit dem Album Oxygene . Damals erregte aber »Magic Fly«, der Sommer-Hit der französischen Band Space, meine größte Aufmerksamkeit. Ihr Instrumental war wie alle damaligen Elektro-Hits gut produziert und klang, als käme es aus einer französischen Kling-Klang-Filiale. »Magic Fly« erreichte in diesem Sommer Platz 6 in Großbritannien und im Juli Platz 1 in den deutschen Charts. Der Song wurde fast ununterbrochen im Radio gespielt. Wie die meisten Elektro-Produkte hängte sich auch die Gruppe Space in ihrer visuellen Kommunikation an den von Star Wars ausgelösten Science-Fiction-Hype. Aus heutiger Sicht betrachtet, wirken sie rein optisch mit ihren Raumfahrerhelmen mit verspiegeltem Visier wie eine frühe Version von Daft Punk.
Damals schauten wir uns die Frequenzen von »Magic Fly« im Spektrumanalysator an. Ich fand es interessant, dass die Bass Drum auch in den oberen Mitten eine Ausprägung hatte. Es klang wie ein »Nück«. Der pulsierende Bass und die Tonfolge der Melodie erinnerte mich an »Radioaktivität.«
Emil gab schon immer Hefte und Bücher mit seinen Arbeiten heraus, die er in kleinen Auflagen drucken ließ. Bei dem Songbook 10 Lieder , das er 1977 produzierte, half ich ihm bei der Transkription der Musik. Einer seiner Songs trug den Titel »Sie ist ein Model«. Eine Kopie des Songbooks landete auf dem Mischpult des Kling Klang Studios. Auch Ralf und Florian gefiel sein Text. Schließlich liefen uns Models in der Modestadt Düsseldorf ständig über den Weg: im Mora’s, im Rocking Eagles, im Café Bagel oder in der Mata-Harie-Passage. Neben den futuristischen Tracks fügt sich »Das Model« auch deshalb ganz selbstverständlich in das Konzept von Die Mensch-Maschine , weil es im Grunde die Geschichte von »Schaufensterpuppen« aus Trans Europa Express weitererzählt: Wir gehen in den Club und treffen dort … das Model.
Die aktuellen Hits dieses Sommers waren fast ausschließlich Instrumentals. Bisher hatten keine anderen Künstler elektronische Popmusik mit einer Songstruktur und Vocals veröffentlicht, für einen Elektropop-Song gab es keine internationalen Referenzen. Gut für uns, denn dadurch hatten wir noch freien Raum für unsere Vorstellung. »Radioaktivität«, »Trans Europa Express« und »Schaufensterpuppen« wiesen zwar schon in diese Richtung, aber bis zur Veröffentlichung von OMDs »Electricity«, Gary Numans »Are Friends Electric« und Reproduction von Human League würden noch zwei Jahre vergehen. Die wichtigsten Elemente des dritten Songs für unser Album lagen ausgebreitet vor uns: Emils unvollendete Dichtung, und die elektronische – größtenteils instrumentale – Popmusik dieses Sommers. Die Basis des Songs ergab sich damit wie von selbst. Trotzdem war es gar nicht so einfach, deutsche Popmusik zu erfinden, die nicht nach Blues klingt oder versucht, den Jazz der Zwanziger- bis Vierzigerjahre zu imitieren. Ich denke, alles was auf der »To-do-Liste« steht, um aus dieser Perspektive einen Popsong zu schreiben, erfüllten wir damals halbwegs. Alles, außer einen Refrain zu komponieren. Irgendwann sagte ich in die Runde: »Oh Mann, wenn wir jetzt noch einen Mitsing-Refrain hätten, wäre die Nummer ein todsicherer Hit!« Ich irrte mich. Vielleicht macht gerade das Fehlen eines Refrains den Song außergewöhnlich. Die fehlenden Lyrics in Deutsch und Englisch schrieb Ralf wie ein routinierter Singer-Songwriter.
Warum der Song funktioniert, lässt sich vielleicht damit erklären, dass sein glamouröses Sujet vielen zugänglich ist. Wir hatten natürlich auch Glück: Die Elemente der Musik fügen sich organisch zusammen, und Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre klang unsere Musik wohl irgendwie vertraut, aber dennoch modern, und war mit seinen durchgängigen Vocals radiotauglich.
Manuskripte
Anfang August hatten wir noch nicht alle Songs für das Album zusammen, nervös wurden wir aber nicht. Denn mit »Metropolis«, »Die Roboter« und »Das Model« im Kasten gab es überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Es lag für mich damals näher, Melodien, Akkorde und Rhythmen in Form der Notenschrift festzuhalten, als sie akustisch aufzuzeichnen. Auch ohne die akustische Aufzeichnung in Echtzeit zu hören, lassen sich in der grafischen Darstellung von Musik alle relevanten »Daten« auf einen Blick erkennen. Durch diese überschaubare Anordnung wird beispielsweise die Polyphonie sichtbar. Jedenfalls war es für mich von Vorteil, unsere Musik nicht nur zu hören, sondern sie auch in ihrer grafischen Gestalt zu sehen. Ich begann, einen musikalischen Skizzenblock zu führen.
Darin sammelte ich auch Schlagworte, die mir etwa in den Medien auffielen und die ich im Zusammenhang mit der Arbeit im Kling Klang Studio sah. Zu Hause, aber auch bei unseren Sessions hatte ich immer ein Notenbuch oder einen Schnellhefter mit ein paar Notenseiten griffbereit, um Rhythmen, Töne oder Akkorde handschriftlich festzuhalten. Die Titel wählte ich spontan, sie gaben lediglich einen Hinweis auf den stilistischen Kontext der Aufzeichnung. In Verbindung mit meinen Musikkassetten, Taschenkalendern und anderen Aufzeichnungen entstand auf diese Art ein Klangtagebuch, das mir beim Schreiben dieses Buches eine nachvollziehbare Zeitachse lieferte.
Was mich damals sehr interessierte, waren die Voyager Golden Records. Diese berühmten Klang-Aufzeichnungen befinden sich an Bord der NASA Raumschiffe Voyager I und II, die im August und September 1977 zur Erforschung des äußeren Planetensystems und des interstellaren Raums von Cape Canaveral aus ins Weltall geschossen wurden. Die Raumschiffe führen eine 30 Zentimeter große Schallplatte aus goldüberzogenem Kupfer mit sich, auf der Töne und Bilder zur Diversität irdischen Lebens und seiner Kultur gespeichert sind. Die Platte enthält Grüße des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und eine Auswahl von natürlichen Tönen: Brandung, Wind, Donner, Vögel, Wale und andere Tierstimmen. Und natürlich Musikbeispiele aus verschiedenen Kulturen und Epochen, darunter peruanische Pan-Flöten, Nachtgesänge der Navajo-Indianer, Werke von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Igor Strawinsky und »Johnny B. Goode« von Chuck Berry. Voyager I ist immer noch unterwegs und sendet Daten zur Erde .
In meinen Manuskripten tauchte 1977 neben den Raumsonden Voyager auch das Raumlabor »Spacelab« das erste Mal in einer Schlagwortsammlung auf.
Spacelab
Am 12. August 1977 machte die Enterprise – ein Prototyp der Raumfähren aus dem Space-Shuttle-Programm der NASA – ihren ersten Freiflug in der Atmosphäre. Der Name geht auf die Science-Fiction-Serie Star Trek zurück. Die Enterprise wurde mit einer modifizierten Boeing 747 in die Luft gebracht und dort ausgeklinkt. Anschließend glitt die Raumfähre, genau wie nach einem Raumflug, antriebslos zur Landebahn. Das Ziel dieser Unternehmung war es, ein wiederverwertbares Raumlabor in den Orbit zu transportieren, um dort wissenschaftliche Experimente in der Schwerelosigkeit durchzuführen – das Spacelab. Die Huckepack-Filmaufnahmen gingen weltweit durch die Medien. Das Projekt traf den Nerv der Zeit, und auch wir im Kling Klang Studio reagierten auf das Ereignis und überlegten, wie wir für den vierten Track des Albums das Thema Raumfahrt in Musik umsetzen könnten.
Der Titel ist auf einem rudimentären Disco-Beat aufgebaut und dementsprechend straight forward . Aus Ralfs Verschaltung von Sequenzer und Minimoog ergab sich ein perkussiver Sound, den er hier erstmalig einsetzte und der auf unserem nächsten Album Computerwelt den Klang des elektronischen Schlagzeugs prägen sollte.
Übrigens, ohne dass ich Notiz davon nahm, fand nach mehreren Verschiebungen am 12. April 1981 der erste Einsatz eines Space Shuttle und der Jungfernflug der Raumfähre Columbia statt .
»Best European Group, Male«
Die aktuellen Aufnahmen waren großartig. Ich konnte mir unsere gemeinsam verbrachte Zeit und den Inhalt unserer Gespräche nicht besser vorstellen. Auf unseren Tourneen, während der Film- und Fotoaufnahmen und im Studio hatte sich eine Art Teamgeist entwickelt. Immer öfter verbrachten wir auch unsere Freizeit zusammen, etwa bei Kino-, Café- und Restaurantbesuchen. Die WG auf der Berger Allee trug ebenso zu diesem »Wir-Gefühl« bei wie unser gemeinsames Nightclubbing und die Partys. In dieser Atmosphäre der Verbundenheit erfanden wir unsere Musik.
Dem Teamgeist besonders zuträglich waren unsere nächtlichen Schwimmveranstaltungen, unsere ersten gemeinsamen sportlichen Aktivitäten, zu denen Florian einlud. Im Hause seiner Wohnung befand sich für die Bewohner ein privater Pool, den man nachts um 3 Uhr gefahrlos nutzen konnte. Hin und wieder leisteten uns ein paar Freunde und Freundinnen dabei Gesellschaft. Zugegeben: Es war schon ein wenig dekadent, wenn wir in Florians Mercedes aus einer Discothek mit unseren Freundinnen in die Tiefgarage fuhren und uns rund um den Pool niederließen. Das Ganze wurde getragen vom Geist der Sechzigerjahre und hatte bei aller Freizügigkeit aber auch etwas Unschuldiges. Wenn sich während dieser lustigen »Sportfeste« Momente der Nähe ergaben, wirkten sich auch diese absolut positiv auf das Gruppengefühl in unserem kleinen Kreis aus – wie auch sonst? Nach einigen Bahnen Kraulen, Brust, Rücken oder Delphin – immer in sicherer Entfernung zum Leistungssport – fuhren wir mit dem Fahrstuhl nach oben in Florians Penthouse und machten zu viert oder sechst oder mit noch mehr Leuten ein, zwei Flaschen Champagner leer. Während der Mensch-Maschine -Sessions wechselten wir stilsicher zu rotem Krimsekt.
Irgendwann bei der Recherche zu diesem Buch fiel mir eine seitengroße Anzeige im Billboard vom 22. Oktober 1977 mit der Headline »Kraftwerk Story …« in die Hände. Die Anzeige bezieht sich auf die Verleihung eines Awards im Beacon Theatre am Broadway. Kraftwerk war bei den »Popular Music Disco Awards« zur »Best European Group, Male« gekürt worden. Unter unserem Pressefoto – aufgenommen am Düsseldorfer Hauptbahnhof – steht die Bildunterschrift: »Florian Schneider, Ralf Hütter, Karl Bartos und Wolfgang Flür von Kraftwerk. Sie sind überrascht von ihrem Erfolg in der Disco-Szene!« 11
Mittlerweile hatte es sich herauskristallisiert, dass unser neues Album Die Mensch-Maschine heißen könnte. Der Begriff, der seit unserer USA-Tournee 1975 immer mitschwang, schien eine gute Alternative zu den inzwischen von Alan Parsons besetzten Robotern zu sein. Als nächster Schritt waren Gruppenfotos geplant. Am 29. September nahmen wir im Treppenhaus von Günter Fröhling auf der Herzogstraße 46 das Coverfoto auf. Dresscode: rotes Hemd, schwarze Krawatte, graue Hose. Wieder für unser Make-up zuständig: Maskenbildnerin Frau Hartkopf. Die Fotosession ging schnell, ich weiß noch, dass Wolfgang und ich danach mit vollem Make-up in die Berger Allee zurückfuhren. Wir waren noch aufgekratzt vom Shooting und machten Unsinn in der Küche. Ich hatte völlig das Gefühl für die Zeit verloren und wunderte mich, als es klingelte und Bettina vor der Tür stand. Fassungslos starrte sie diesen weiß geschminkten Kerl im roten Hemd an. Bettina Michael war damals gerade 18 geworden und besuchte ein Gymnasium in Kaiserswerth. Wir hatten uns ein paar Wochen vorher im Peppermint Club kennengelernt und uns bereits mehrfach getroffen …
Am nächsten Tag gab Klaus Schulze ein Konzert im Robert-Schumann-Saal. Das wollten wir uns nicht entgehen lassen. Von der Berger Allee rollten wir in Florians Mercedes 600 direkt vor den Haupteingang und stiegen aus: Ralf und Florian mit ihren Freundinnen, Bettina und ich – die Mädchen aufgebrezelt bis unter die Haarwurzeln. Ich versuchte unseren Auftritt im sogenannten »Kessel«, wie der 600 intern genannt wurde, als eine Art Parodie zu begreifen. Es war lustig. Bettina berichtete mir allerdings später, dass einige ihrer Bekannten, die sich in der wartenden Menge aufhielten, unseren Popstar-Auftritt eher peinlich fanden …
Drinnen saß Klaus Schulze im Schneidersitz auf seinem Flokati zwischen zahlreichen Keyboards vor einer riesigen Moog-Wand. Er strahlte Gelassenheit aus. Über ihm war ein Spiegel angebracht. Dadurch konnte er das Publikum sehen, obwohl er ihm den Rücken zuwandte. Schulze spielte einen Akkord – vielleicht sollte ich für die Fachleute besser »eine Fläche« sagen – mit einem String-Ensemble. Kiloschwer lag seine Hand auf den Tasten. Und dann: Ganz langsam fadete ein Sequenzer ein! »Sobald die Sequenzen losratterten, waren die Leute einfach voll aus dem Häuschen« 12 , erklärte Klaus Schulze einmal. Sie hätten die klassische elektronische Musik erst berühmt gemacht. Es folgte eine minutenlange Improvisation – wie es kosmische Kuriere eben so tun. Ich muss sagen, Klaus hatte seine Hausaufgaben gemacht.
Deutschland im Herbst
Unser Arbeitsrhythmus war konstant. Aber während wir hinter dem Rolltor im klimatisierten Raum des Kling Klang Studios arbeiteten, wurde Deutschland vom Terror der zweiten Generation der RAF erschüttert. Am 5. September entführte die Rote Armee Fraktion den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, um die im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Wortführer freizupressen. In der Folge etablierte das Bundeskriminalamt (BKA) hochmoderne Fahndungsmethoden, die wir heute als Rasterfahndung kennen.
Nachrichtensperre, Kontaktsperregesetz und Etablierung eines Großen Krisenstabes, der für die Bundesregierung Entscheidungen fällt – diese einschneidenden Maßnahmen rührten an den Grundfesten des deutschen Rechtsstaates. Auch wir kamen in unserem Alltag mit den Auswirkungen des Terrors und seiner Bekämpfung in Berührung. Die RAF-Fahndungsplakate prägten wie überall in der Bundesrepublik auch in Düsseldorf und Köln auf Jahre das Stadtbild. Die Studierenden der Robert-Schumann-Hochschule wurden in der Mensa schon einmal einer polizeilichen Großkontrolle unterzogen. Und vier junge Männer in dunkler Kleidung, die nachts im Mercedes durch die leeren Straßen Düsseldorfs cruisten, fielen genau in das Raster, nach dem gefahndet wurde.
Es war in einer dieser Nächte im Herbst 1977, wir kamen – dieses Mal in Ralfs Mercedes – gerade von einem unserer Soundrides langsam zurück auf die Mintropstraße gerollt und stoppten an der Nummer 16. Noch bevor Florian aussteigen konnte, um das Rolltor zu öffnen, stellte sich wie aus dem Nichts ein ziviler Pkw vor uns. Zwei junge Männer in Jeans und Lederjacke stiegen aus und bewegten sich auf uns zu.
Die Mintropstraße liegt nahe am Hauptbahnhof mitten im kleinen Rotlichtviertel von Düsseldorf. In den Nachbargebäuden waren Striplokale, Privatclubs, Spielsalons und Pokerbuden, nachts schlich die eine oder andere dunkle Gestalt durch die Straße. Wir hatten noch nie Probleme mit diesem Umfeld gehabt. Und jetzt? Der eine Typ stellte sich ein paar Schritte hinter unseren Wagen und hielt eine Hand merkwürdig in seiner Jackentasche versteckt, während der andere sich zu Ralf ans Fahrerfenster lehnte: »Verkehrskontrolle, Ausweispapiere, bitte!«
Dumme Sprüche oder kleine Witze verkniffen wir uns natürlich aus eigenem Interesse. Zu nervös waren in dieser Zeit die Polizisten, die ja auch zur Zielscheibe der Terroristen geworden waren. Ralf hatte eine gute Strategie zur Vermeidung unliebsamer Reaktionen: Sofort schaltete er das Licht im Innenraum ein und legte beide Hände demonstrativ aufs Lenkrad, auch wir Beifahrer sorgten dafür, dass die Beamten unsere Hände sehen konnten.
Im Gespräch kam dann auf, dass wir hier in unserem Studio arbeiteten, dass wir die Gruppe Kraftwerk sind. Die kannten die beiden und freuten sich, als wir sie einluden, kurz mit ins Studio zu kommen. Also marschierten wir mit ihnen über den Hinterhof die Treppe hinauf – und noch immer waren die beiden Zivilfahnder etwas nervös: Einer ging mit Ralf vor, der andere sicherte als Schlusslicht die Truppe ab. Erst als sie im Studio die blinkenden Instrumente und die farbigen Neonleuchten sahen, waren sie beruhigt, schauten sich alles ein paar Minuten lang an und verabschiedeten sich freundlich. Ich glaube, auch die Polizisten waren erleichtert.
So war das in dieser Zeit. Nicht gerade locker. Übrigens: Im Frühling 1998 gab die RAF ihre Auflösung bekannt.
Phasenhafte Verstimmungen
Ein paar Tage später saß ich frühmorgens im Wartezimmer des Kreiswehrersatzamtes Düsseldorf. Damals gab es in Deutschland eine allgemeine Wehrpflicht, und seit meinem ersten Semester am Robert-Schumann-Konservatorium schwebte der Wehrdienst wie ein Damoklesschwert über mir. Den Aufforderungen zur Musterung war ich bis dahin noch nicht nachgekommen und hatte mithilfe von Studienbescheinigungen einige Aufschübe bewirkt. Nach meinem Examen wurde es jetzt allerdings eng – ich wurde zur Musterung vorgeladen.
Das Wartezimmer im Kreiswehrersatzamt war brechend voll mit jungen Männern, alle um die 18 Jahre alt. Einige von ihnen spielten mit dem Gedanken, sich für ein paar Jahre als Berufssoldat zu verpflichten. Ich nicht. Ich hatte überlegt, was zu tun ist, um nicht eingezogen zu werden. Zu allem entschlossen hatte ich einen Facharzt für Psychiatrie und Neurologie besucht und ihm von meinen Drogenexperimenten und der Unruhe, unter der ich zeitweise litt, berichtet. Nach einer gründlichen Befragung konstatierte er in einem Gutachten, dass ich zeitweilig unter depressiven Verstimmungszuständen litt. Und er fügte hinzu: Bei diesen phasenhaften Verstimmungen käme es häufig zu Drogenmissbrauch. Von dem Patienten, also mir, würden außerdem Konfliktsituationen durch homosexuelle Bindungen geschildert. Sein Ergebnis: Eine längere psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung dürfte unumgänglich sein. Homosexualität war damals wirklich noch ein No-Go in der Bundeswehr.
Als ich aufgerufen wurde und vor dem Musterungskomitee – Uniform- und Weißkittelträger – stand, war ich etwas nervös. Ich hatte mich besonders adrett gekleidet und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Einer der Ärzte las in meinem Gutachten, zeigte sich aber nicht sonderlich beeindruckt von meinen »phasenhaften Verstimmungen« und »homosexuellen Konflikten«. Ich versuchte, seine Gedanken zu lesen: Musiker, Drogen, schwul, Depression klingt logisch – weg mit dem Mann! Der Doc lächelte mich an – ja, er lächelte – und bat mich, wieder im Wartezimmer Platz zu nehmen. Außer »Guten Tag« und »Vielen Dank« hatte ich kein Wort gesagt. Einige Minuten später wurde mir von einer Schreibkraft formlos ein Umschlag mit meinem Ausmusterungsbescheid überreicht. Mir fiel buchstäblich ein Stein vom Herzen. Noch nie hatte ich mich so über eine Ablehnung gefreut.
New Musick
»Sag mal Karl, bist du noch bei Kraftwerk?«, fragte mich Bettina am Telefon. »Warum, wie kommst du denn auf so was?«, antwortete ich verdutzt mit einer Gegenfrage. »Gerade habe ich im Vorbeigehen die neue Ausgabe der Sounds 13 gesehen – darauf sind Ralf und Florian abgebildet, von Wolfgang und dir keine Spur!« Ich machte mich auf den Weg zum Hauptbahnhof und besorgte mir am Stand der internationalen Presse ein Exemplar des britischen Magazins.
Vielleicht kann sich heute niemand mehr vorstellen, welchen Stellenwert die britische Musikpresse zu jener Zeit hatte. Aber NME, Sounds, Melody Maker, Smash Hits  – ab 1980 The Face  – waren die einflussreichsten Printmedien der Musik- und Popkultur in Großbritannien und somit für ganz Europa relevant. Ich weiß nicht, wie oft ich Ralf zum Bahnhof begleitet habe, weil er sich einen beachtlichen Stapel der ausländischen Musikpresse kaufte. Regelmäßig informierte er sich über den Stand der Dinge auf der Insel.
Von mir unbemerkt kursierte im Herbst 1977 der neue Begriff »New Musick« in der britischen Szene, die begonnen hatte, sich von der Punkbewegung zu lösen. Das Magazin Sounds publizierte dazu im November einen über zwei Ausgaben laufenden Artikel.
Für das Titelbild der Ausgabe der Sounds vom 26. November hatte Caroline Coon Ralf und Florian am Rheinufer mit der im Nebel liegenden Nordbrücke in Düsseldorf fotografiert. Beide souverän in lockerer Haltung – sie blickten sogar freundlich in das Objektiv von Carolines Kamera. Wie der NME war das Magazin auf Zeitungspapier gedruckt. Das Cover war extrem minimalistisch gehalten. Die Textinformation bestand lediglich aus dem Titel des Magazins, Datum, Preis und der am unteren Ende des Covers in den Boden geschriebenen Headline: »New Musick – The Cold Wave.« Mikroskopisch klein, außerhalb des Rahmens der Fotografie, am linken unteren Ende: »Kraftwerk’s Ralf Hütter & Florian Schneider« Innen noch ein Foto von den beiden und zwei Pressefotos aus dem Schaufensterpuppen-Film.
Im Interview selbst spricht Ralf über seine Lieblingsthemen: das angebliche kulturelle Vakuum im Deutschland der Nachkriegszeit, die Rückständigkeit der Klassischen Musik und vor allem der klassisch orientierten Musiker, Kraftwerk als Mensch-Maschinen-System (»Wir haben auch Kassettenrekorder in unseren Kopf eingebaut. Das nennt man Tape Consciousness « 14 ) – und das Thema der akustischen Umwelt: »Geh auf die Straße und du befindest dich mitten in einem Konzert. Autos instrumentieren Sinfonien. […] Heute geht es vor allem um das Aufspüren von Klangquellen. Es ist ein neues Bewusstsein über die Klangquellen, das wir mit unserer Musik hervorrufen.« 15
Offenbar traf der Artikel den damaligen Zeitgeist. Als ich neulich Andy McCluskey und Paul Humphreys in Hamburg traf, erzählte mir Andy, wie sie ihn damals empfunden hatten:
Andy McCluskey: »Ich hatte euch ja schon im September 1975 gesehen, zwei Jahre vor jenem Artikel. Schon damals war ich bekehrt. Der Artikel war quasi das Manifest von Ralf und Florian und steigerte meine Bewunderung für das Ethos von Kraftwerk. Ich habe ihn regelrecht verschlungen. Paul und ich haben alles darangesetzt, das Wesentliche von Kraftwerk zu übernehmen, denn ihre Absage an anglo-amerikanische Clichés des Rock ’n’ Roll war etwas vollkommen Neues. Wir versuchten, den Sound einer Telefonzelle zu erzeugen, schrieben Songs über Flugzeuge, Kriegsführung und Ölraffinerien, indem wir konkrete Sounds verwendeten. Das konnten wir nur, weil wir die Theorie von Kraftwerk verinnerlicht hatten. In den folgenden fünf Jahren haben wir auch ganz bewusst auf typische Rocktexte verzichtet, vor allem auf das Wort ›Liebe‹.«
Neonlich t
Zu jener Zeit entstand oft ein musikalischer Inhalt aus einer bestimmten Anwendung von Technik. Und wenn plötzlich eine neue Anwendung zu einer neuen Spielweise und Phrasierung führte und ein neuer Klang den Raum erfüllte, war das ein großer Moment. So sollte sie sein, die Interaktion von Mensch und Maschine.
Ein Beispiel: Als wir zu einem relativ langsamen Rhythmus von 108 BPM improvisierten, hatte Florian einen Gedankenblitz: Er schliff den Audioausgang des Polymoog in den externen Eingang des Minimoog. Und plötzlich war da ein neuer, aufregender Klang. Was war passiert? Weil der Minimoog vom Synthanorma Sequenzer angesteuert wurde und Florian ihn mit dem Polymoog verknüpfte, konnten wir nun auch die Klänge des Polymoog rhythmisieren und sie mit einem genauen Timing zum Multitrack synchronisieren.
Der getriggerte Polymoog erzeugte eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre – fast wie eine synthetische impressionistische Landschaft. Ich konnte mich nicht erinnern, zuvor etwas Ähnliches gehört zu haben. Dieser flimmernde Klang hatte scheinbar keine Vergangenheit. Und so entwickelte sich aus Florians Trick die Anmutung des Songs, den wir nach und nach ausbauten.
Lange hatte unser Track keinen Titel, aber irgendwann kam Ralf mit der bekannten Textzeile ins Studio. Das war’s. Eine zweite Strophe hätte vielleicht zu mehr Coverversionen geführt, aber immerhin: »Neon Lights« wurde 1991 von OMD auf dem Album Sugar Tax gecovert. Die Simple Minds nahmen den Song 2001 auf und gaben sogar ihrem Album diesen Namen. 2004 fügten U2 einigen Releases ihrer Single »Vertigo« eine Version von »Neon Lights« hinzu.
Weihnachten in Pari s
Am 23. Dezember 1977 hatten wir über 100 Album-Sessions auf dem Tacho – »Neonlicht« war halb fertig. Die Stimmung der Komposition trägt in sich die Atmosphäre des nächtlichen Düsseldorf, das während unserer Soundrides wie in einem Film an uns vorüberzog: erleuchtete Schaufenster, Neonschriften, die Scheinwerfer anderer Autos …
Heute habe ich das Gefühl, auch die Stimmung im Kling Klang Studio war noch nie so gut wie zu diesem Zeitpunkt. Und so beschlossen wir, Weihnachten gemeinsam in Paris zu verbringen. Maxime, so hieß es, würde uns im Namen von Pathé Marconi ins Hotel Le Royal Monceau einladen – der Rest würde sich schon finden.
Wolfgang hatte an diesem Tag etwas anderes vor und so waren wir eine recht kleine Gruppe: Ralf und seine Freundin, Florian, Bettina und ich. Für Bettinas Eltern war es natürlich nicht leicht, sie mit ihrem neuen Freund am Heiligabend nach Paris fahren zu lassen. Sie kannten mich damals noch nicht einmal persönlich. Stress war also unvermeidbar, aber wie Mädchen mit 18 Jahren halt sind, setzte sie ihren Kopf durch und stand nachmittags am 24. ziemlich hübsch gemacht und mit einer kleinen Reisetasche ausgerüstet vor mir in der Berger Allee und strahlte mich an. Ich strahlte zurück – wir waren ganz schön verliebt.
Als Florian um 19 Uhr mit seinem anthrazitgrauen Mercedes-Coupé, das er sich neben dem 600er angeschafft hatte, vorfuhr, sprangen wir mit unseren Reisetaschen fröhlich zu ihm ins Auto. Florian war – genau wie wir – ziemlich aufgekratzt und freute sich auf den Trip. Als dann auch Ralf mit seinem Mercedes eintraf, machten wir uns auf den Weg. Die rund 500 Kilometer waren in weniger als vier Stunden zu schaffen. Noch vor Mitternacht erreichten wir unser Hotel Royal Monceau, wo uns Maxime bereits an der Bar erwartete. Ohne viel Zeit zu verlieren, nahmen wir zwei Taxen und fuhren zu unserer Stamm-Brasserie La Coupole.
Beim Betreten des Saals war ich erneut von seiner Pracht beeindruckt. Die Luft war erfüllt vom Klang der unzähligen Stimmen. Kurz: Der ideale Ort für unser Weihnachtsessen – Réveillon de Noël –, wie ich fand. Florian orderte souverän für alle am Tisch Champagner und zwei Etageren mit Austern.
An diesem Abend – es kann allerdings auch ein anderer Abend gewesen sein, aber es passt halt hier so gut – saßen ein paar Tische weiter in einer größeren Runde die Ramones aus New York. Offenbar hatten sie uns erkannt, und ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Joey Ramone, wie immer etwas vornübergebeugt, auf den Weg zu unserem Tisch machte. Er begrüßte uns wie ein perfekter Gentleman und übermittelte den Respekt der Ramones. Ralf bedankte sich höflich, und der lange superdünne Sänger drehte sich auf dem Absatz um und ging an seinen Tisch zurück. Für das La Coupole war das mit Sicherheit ganz normal, aber für mich war es wirklich eine ganz besondere Begegnung.
Die Stimmung unserer kleinen Weihnachtsfeier hätte besser nicht sein können. Das lag nicht zuletzt an Monsieur Schmitt. Nicht nur hatte er einen wesentlichen Anteil am Erfolg der beiden letzten Kraftwerk-Alben in Frankreich, bei Maxime spürte man eine große Souveränität und menschliche Wärme. An diesem Abend lachten wir viel. Irgendwann rotteten sich irgendwo im Raum einige Garçons zusammen und liefen mit Wunderkerze und Kuchen auf einen Tisch zu – im nächsten Augenblick schmetterte eine Opernsängerin eine italienische Arie in den Raum. Das ganze La Coupole applaudierte, bravo, bravo, bravissimo!!!
Später im Royal Monceau beschlossen Bettina und ich, das Weihnachtsfest mit einem Piccolo aus der Minibar und steckten schon bald unter einer Decke. Samstag und Sonntag erkundeten wir beide auf klassische Art und Weise die Champs-Élysées, saßen in Cafés herum, bis wir wieder auf die anderen trafen und gemeinsam etwas unternahmen. Die Zeit verging wie im Flug. Am 27. Dezember kreisten wir zwei Mal um den Arc de Triomphe und bretterten anschließend auf der Autobahn in Richtung Düsseldorf.
Zu Hause bekam ich irgendwie den Weihnachts-NME mit einem Interview von Ralf und Florian in die Hände. Offensichtlich hatten sie es in New York gegeben, als sie im September den Disco-Award entgegengenommen hatten. »Für Kraftwerk begann die Welt in den 1920ern, als Fritz Lang Visionen von Maschinenlandschaften für das Kino entwarf«, erklärt Toby Goldstein dem Leser. »Wo Wissenschaftler und Künstler Hand in Hand arbeiten«, ergänzt Ralf. Dann führt er weiter aus: »Wir sind die Kinder von Wernher von Braun und Fritz Lang. Ausgehend von den 20ern springen wir in die 70er und 80er. Dabei geht es uns nicht um Geschichtsunterricht, sondern ums Hier und Jetzt. Ich glaube, es ist einer der zentralen Fehler der Gesellschaft, andauernd zurückzuschauen und sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das ist, als ob man in einem verdammt schnellen Wagen so oft und so lange in den Rückspiegel schaut, bis man vorne in etwas reinkracht. Deswegen konzentrieren wir uns lieber auf die Gegenwart, auf das, was wir heute und morgen tun können.« 16
Zwischen den Jahren schraubten wir wieder im Kling Klang Studio an einigen Tracks herum und trafen uns mit unseren Freundinnen am 31. Dezember in Florians Penthouse, um mit rotem Krim-Sekt und einer symbolischen Portion Kaviar angemessen ins Jahr 1978 zu feiern.
Die Mensch-Maschine (Song )
Der sechste und letzte Track des Albums – es waren in der Tat nur sechs Titel geplant – sollte auch seinen Namen tragen: der Titel, der das akustische Konzept Kraftwerks beschreibt. Ich verstand es so: Wir Musiker, will sagen: Menschen, klinken uns ein in die komplexe Maschine – das elektronische Musikstudio – und bilden ein interaktives Mensch-Maschine-System. Na klar.
Eines Abends brachte ich vom Besuch eines Clubs ein Drum-Pattern mit ins Studio, ungefähr 120 Schläge in der Minute. Der Walkman war noch nicht erfunden, also blieb mir nur die Notenschrift. Was heißt »nur«? Das klappte damals und klappt auch heute noch ausgezeichnet. Am Rande der Tanzfläche hatte ich mir den Rhythmus auf einem kleinen Zettel notiert – das war zu jener Zeit meine altmodische, aber praktische Methode, mir Musik zu merken.
Das Pattern war die Basis für den Song, den wir nach und nach aufbauten. Ein wesentliches Element der Komposition ist das minimalistische Synthi-Motiv in der hohen Lage. Ralf entwickelte die Sequenz Ton für Ton am Synthanorma zum laufenden Rhythmustrack. Die Tonfolge ließ sich gut transponieren und erlangte durch das elektronische Echo eine fließende Qualität.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie Ralf die Sopranstimme im Refrain mit dem neuen Vocoder aus Japan einspielte. Florian besaß damals eine große Auswahl an Vocodern wie zum Beispiel den EMS- oder den Sennheiser-Vocoder, die ziemlich wertvoll waren und sehr gut klangen. Aber das japanische Gerät hatte offensichtlich genau den richtigen Sound für den Refrain.
Die Idee kam auf, einen Kontrapunkt mit einer zweiten, tieferen Vocoder-Stimme zu komponieren. Ich glaube, eine solch klassisch-anmutende Stimmführung der Vocoder hatte es bis zu diesem Zeitpunkt bei Kraftwerk noch nicht gegeben. »Mensch-Maschine, halb Wesen und halb Ding – halb Überding« klingt auf Deutsch irgendwie nach Nietzsches Übermensch, oder? »Semi-human being« – halbmenschlich – trifft den Sachverhalt auf Englisch besser. Jedenfalls repräsentiert der Vocoder durch sein Funktionsprinzip – menschliche Stimme und Elektronik – perfekt das Zusammenwirken von Mensch und Maschine.
Übrigens war für den Futuristen-Chef Marinetti der »mechanische Mensch mit Ersatzteilen« bereits im Jahr 1912 denkbar. 17 Und 1914 erklärte er in »Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine« 18 , »die unmittelbar bevorstehende Identifikation des Menschen mit der Maschine vorzubereiten«. Marinetti war so berauscht vom Mythos der Maschine, dass er davon träumte, mit ihr zu verschmelzen. Der Glaube an den Fortschritt, an den Prototyp des beliebig multiplizierbaren und somit unsterblichen Maschinenmenschen nahm vieles vorweg, was heute im Zeitalter der Genforschung und des Klonens Wirklichkeit wurde.
Zuletzt bauten wir wieder eine rhythmische Klangcollage ein. Zu jener Zeit war auf einigen Tonträgern ein neuartiger elektronischer Schlagzeugsound zu hören: »Dodlidoo«, oder so ähnlich, klang er auf den meisten Platten. Florians Recherche ergab, dass er von der sogenannten Syndrum stammte – einem der ersten kommerziell erhältlichen elektronischen Schlagzeuge. Es versteht sich fast von selbst, dass er das Syndrum-Quad-Modell bestellte. Wolfgang konstruierte für die vier Pads, die wie akustische Trommeln aussehen, ein retro-futuristisch anmutendes Plexiglas-Gehäuse, in das er die Pads nebeneinander einbaute und sie mit einer runden Neonröhre einrahmte. Mit diesen vier Neonkreisen hätte das Gerät mühelos in den Film Metropolis gepasst.
Wir werden zu Skulpture n
Die Idee, für jeden von uns einen künstlichen Doppelgänger zu schaffen, hatte sich in den Köpfen von Ralf und Florian festgesetzt. Damit würden sich neue Möglichkeiten für unsere Außendarstellung eröffnen, das lag auf der Hand. Wir mussten nur einen Bildhauer finden, der Skulpturen unserer Gesichter herstellen konnte. Florian übernahm die Recherche. Schließlich kam es zu einem Kontakt in München: Heinrich Obermaier galt schon zu Lebzeiten als eine Schaufensterpuppen-Legende. Genau der Richtige für diesen Job. Bereits im Dezember 1977 waren wir mit dem Rheingold -Zug von Düsseldorf nach München gefahren, um von eben dieser Legende unsere Köpfe in Ton modellieren zu lassen. Es war, wenn auch ein wenig verspätet, unser erster und einziger gemeinsamer Trip mit einem Trans-Europ-Express.
Gut gelaunt empfing uns Heinrich Obermaier in seinem Einfamilienhaus: ein freundlicher Mann mit liebenswertem Gesicht in seinen Sechzigern, vielleicht war er damals auch schon 70 Jahre alt. Sein bayerischer Akzent war nicht zu überhören. Natürlich war er gut vorbereitet, und schon kurz nach der Begrüßung folgten wir ihm in sein Atelier unterm Dach. Obwohl der Raum hell war, hatte er etwas Gruseliges. Eine seltsame Mischung aus dem Bildhaueratelier der Düsseldorfer Kunstakademie, Dr. Frankensteins Labor und einer Werkstatt für medizinische Prothesen. In großen Regalen stapelten sich Arme, Beine und Köpfe aus vergangenen Jahrzehnten, geformt aus allen erdenklichen Materialien. In und auf Schränken und Tischen waren unzählige Köpfe aus Ton, Holz oder Plastik, deren Augen oder Augenhöhlen in alle Richtungen starrten. Kartons mit Glasaugen, nach Farben geordnet, standen gestapelt auf einer Kommode. Das Besondere an Obermaiers Puppenkollektion war, dass er die Gesichter lebender Menschen nachempfand. Bis heute gelten seine Schaufensterpuppen als Klassiker, Original Obermaier-Puppen werden im Netz als Schätze gehandelt. In den nächsten Tagen sollten nun auch wir ihm Modell stehen.
Endlich kam ich an die Reihe. Herr Obermaier hatte bereits einen Rohling aus Ton auf einem Ständer mit einem drehbaren Oberteil vorbereitet. Ich stellte mich daneben, er vermaß meinen Schädel mit einem großen Zirkel aus Holz und übertrug dann die Maße auf den Rohling, formte und bearbeitete das Material, bis die Proportionen stimmten. Schicht um Schicht, Spachtelstrich um Strich entstand so langsam aus einem Klumpen Ton mein Ebenbild. Ein spannender Prozess.
Herr Obermaier zog es vor, bei der Arbeit zu schweigen. Doch das Radio lief leise im Hintergrund und verhinderte, dass die Atmosphäre allzu magisch wurde. Ich hörte die Senderkennung des Münchner Verkehrsfunks und dann die Meldung, der Verkehr staue sich gerade am Stachus. Alltag. Zum Schluss der ersten Session im Dezember suchte er noch die passenden Glasaugen heraus – blaue in meinem Falle. Herr Obermaier erklärte uns, er würde die vier Rohlinge aus Ton finalisieren und Formen aus Silikon fertigen.
Anfang Januar 1978 fuhren wir zu viert wieder nach München, dieses Mal mit Ralfs Mercedes. Heinrich Obermaier hatte die Tonköpfe fertig modelliert, Silikonformen angefertigt und Positive gegossen. So konnte man theoretisch tausende Plastikköpfe herstellen. Jetzt sollten wir ihm noch einmal Modell stehen, damit er die Farben der Glasaugen und den Teint der Gesichter, Mund, Augenbrauen und Haare bestimmen konnte. Haare waren bei Obermaiers Puppen für diese Zeit außergewöhnlich: Denn den Figuren wurde nicht bloß eine Perücke aufgesetzt, sondern er modellierte die Frisur wie bei den klassischen Puppen der 1920er-Jahre und malte sie in der Originalfarbe nach.
Am Sonntagabend kehrten wir zurück ins Rheinland und arbeiteten die nächsten vier Wochen durch, um das Album fertigzustellen.
Mix im Tonstudio Rudas
Februar 1978. Für die Mix-Session hatten Ralf und Florian das Düsseldorfer Tonstudio Rudas gebucht. Es befand sich damals ziemlich zentral in der Nähe der Börse. Im Rudas Studio stand auch eine MCI-Multitrack-Maschine, allerdings mit 24 Spuren, dem damals üblichen Standard.
Multitrack? Okay, sagt Ihnen der Name Lester Polfus etwas? Nein? Gut, er ist auch wesentlich besser bekannt unter dem Namen Les Paul. Der berühmte US-amerikanische Musiker war nicht nur ein brillanter Gitarrist, sondern hatte offenkundig auch eine ausgeprägte Affinität zur Technik. Von Anfang an war ihm klar, dass Musik und Elektronik keine Gegensätze darstellen, sondern eine positive Verbindung eingehen können. Fasziniert von der Möglichkeit, seine Musik aufzunehmen, hatte er schließlich eine geniale Idee: Indem er an seiner Ampex-Bandmaschine einen vierten Aufnahmekopf hinzufügte, gelang ihm, was er »sound-on-sound tape recording« nannte. Und in der Tat war das die Einführung dessen, was viele Jahre unter Record Production verstanden wurde. Zu einer bereits existierenden Tonbandspur konnte eine weitere Aufnahme hinzugefügt werden. Diese kombinierte Spur bildete dann wieder die Grundlage einer neuen Aufnahme – und so weiter. Die in seinem Heimstudio aufgenommene Version von »How High The Moon« erreichte 1951 Platz 1 der Billboard Charts. Eine Sensation!
Vor Les Pauls Erfindung war es bei einer Musikaufnahme lediglich darum gegangen, ein akustisches Ereignis unverändert abzubilden. Eine passive Übertragung, die wenig Raum zur Gestaltung bot. Der Klang auf »How High The Moon« hingegen war nicht natürlich, sondern synthetisch. Selbst die Stimme von Mary Ford hatte in ihrer Mehrstimmigkeit eine bisher noch nie gehörte künstliche Qualität. Viele erkannten damals das Potenzial, das in der kreativen Nutzung der Elektronik lag.
Bis in die Mitte der Sechzigerjahre waren Dreispurrekorder in Gebrauch, beispielsweise bei Phil Spectors Wall-of-Sound-Produktionen oder einigen der frühen Motown-Hits – aber als sich das Konzept durchsetzte, ging es weiter: Von den vier Spuren, auf denen beispielsweise noch Sgt. Pepper’s produziert wurde, führte die Entwicklung über acht zu sechzehn Spuren, was die Breite des Tonbandes bei jedem Schritt verdoppelte. 19
Die Mehrspurtechnik hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Popmusik. Viele betrachteten die Ergebnisse jener Jahre sogar als eine eigene Kunstform. Jedenfalls wurde mit dieser Maschine die Zeit ausgetrickst: Ein vervielfältigter Ausschnitt der Zeit lief im Uhrzeigersinn von einer Spule auf die andere. Gleichzeitig oder an einem x-beliebigen Zeitpunkt ließen sich auf einer oder mehreren Spuren Signale aufnehmen. Wenn etwas gelang, behielt man es, und wenn nicht, versuchte man es eben noch einmal. Um die synchrone Aufnahme von noch mehr Spuren zu ermöglichen, nahm man einen Verlust der Klangqualität in Kauf und presste bis zu vierundzwanzig Spuren in die damals übliche Zwei-Zoll-Bandbreite.
Weil aber der Klang von Sechzehnspur-Aufnahmen auf Zwei-Zoll-Bändern wesentlich besser war, hatten sich Ralf und Florian bei der Anschaffung des Aufnahmemediums für das Kling Klang Studio für eine Sechzehnspur-Maschine entschieden. Zum Glück ließ sich auf der MCI im Rudas Studio problemlos ein 16-Spur-Kopf anbringen. Wobei … wir konnten in Wahrheit nur 15 Spuren für Instrumente und Stimme nutzen – eine Spur ging immer für das Sync-Signal des Synthanorma Sequenzer drauf.
Joschko Rudas, der Betreiber und Toningenieur des Studios, war ein lustiger Vogel mit langen, dunklen Haaren, gern trug er Stiefel aus Schlangenleder. Sein Geld verdiente er mit Produktionen für die damals in Düsseldorf prosperierende Werbeindustrie, was für einen ständig steigenden Umsatz sorgte. Deshalb war Joschko nicht auf Popgruppen wie uns angewiesen, er hatte einfach Spaß an der Sache. Sein Studio hätte überall auf der Welt sein können: fensterloser Aufnahme- und Kontrollraum, an den Wänden befand sich die damals übliche braun-beige Holz-Stoff-Verkleidung, die für eine akustisch tote Umgebung sorgte. Ferner dimmbares Licht, Klimaanlage, das Equipment, ein kleiner Aufenthaltsraum mit Obstschale.
Durch ihren langfristigen internationalen Record Deal spielten Ralf und Florian mittlerweile in der Oberliga des Musik-Business. Und damals gehörten gewisse Statussymbole zum Geschäft, zum Beispiel Mix-Sessions in einem namhaften Studio wie das Record Plant in Los Angeles. Ralf und Florian wählten dieses Mal einen anderen Weg: Als besonderen Clou hatten sich die beiden überlegt, zusätzlich einen renommierten Toningenieur einzufliegen, der unser Album in Düsseldorf mischen sollte. Der Detroiter Engineer Leonard Jackson vom Disco-Label Whitfield Records war Ralf und Florian empfohlen worden. Er traf in der Karnevalswoche Anfang Februar im verschneiten Düsseldorf ein.
Unsere Arrangements waren damals ziemlich übersichtlich. Meistens kamen wir mit den zur Verfügung stehenden 15 Spuren aus, nur gelegentlich befanden sich auf einer Spur unterschiedliche Instrumente oder Stimmen. Beim Mix wurden die Spuren auf dem Mehrspurband durch die Kanalzüge des Mischpults geführt und auf eine Stereospur abgemischt. Dabei ging es zunächst darum, mit einem Panoramaregler für jede Spur die Position im Stereospektrum zu bestimmen. Unter diesen Drehreglern befanden sich die Fader, mit denen sich die Lautstärke der Spuren zueinander einstellen ließen. Equalizer, mit denen man die Frequenzen der Spuren manipulieren konnte, waren darüber angebracht. Außerdem befanden sich in jedem Kanalzug weitere Regler, um ggf. Signal-Effekte wie Hall oder Echo hinzuzufügen. Allerdings waren im Kling Klang Studio die Einstellung des Klangspektrums mit einem Equalizer und die Verwendung von Effektgeräten wie Echo, Hall, Phasing oft schon in den Gestaltungsprozess eingeflossen und zum integralen Bestandteil der Komposition geworden.
Das Wichtigste beim Mischen von Popmusik ist es, das »Storyboard« eines Songs, den roten Faden der Komposition, die Klang-Dramaturgie herauszuarbeiten und die verschiedenen Elemente – Rhythmusgruppe, Melodieinstrumente, Klangeffekte, Vocals – gut hörbar abzubilden und wenn nötig zu »fahren«. Das bedeutet, im Mix die Lautstärke bei verschiedenen Spuren nachzuregeln. Dabei sind oft Nuancen entscheidend. Natürlich gibt es noch wesentlich mehr Faktoren, die man beachten muss – denn es ist wirklich ein sehr komplexer Vorgang. Aber die Details sind in der Theorie nur schwer zu vermitteln. Jedenfalls war die Arbeit im Tonstudio damals in den Siebzigern eine spannende Sache.
Verglichen mit dem dynamischen Mischen unseres nächsten Albums, bei dem wir mit sechs Händen am Mischpult rumschraubten, verlief der Mensch-Maschine -Mix noch relativ statisch. Bei »Metropolis« wurde es aber doch noch lebendig. Als Joschko den Track auf die 1-Zoll-Maschine abmischte, führte ich auf jeden Schlag der Snare Drum manuell eine Filterbewegung aus.
Während der Mixing Sessions kamen auch einige Gäste vorbei. Rupert Perry, der Chef-A&R von Capitol hatte seinen neuen Mitarbeiter John Dixon zum »International Director of A&R« ernannt. Seine Aufgabe war es, »das europäische Produkt« für das Label zu kontrollieren und zu filtern. John Dixon tauchte also mitten im rheinischen Karneval im Rudas Studio auf und kontrollierte und filterte. Wolfgang schaute vorbei, und auch Maxime Schmitt war aus Paris angereist und unterstützte uns konstruktiv.
Neben dem Mix wurden im Rudas Studio auch Ralfs Vocal Parts von »Neonlicht« und »Das Model« auf Deutsch und Englisch aufgenommen. Übrigens sang Ralf die Vocals in nur einem oder zwei Takes kurz vor dem Mixdown ein.
Im Rudas Tonstudio gab es eine aus Goldfolie gefertigte Hallplatte, durch die die Tonsignale gesendet wurden. Als wir »Spacelab« abmischten, hatte Joschko vergessen, das Hall-Gerät einzuschalten und holte das nach, als die Lautsprecher bereits eingeschaltet waren. Knack! Seitdem beginnt »Spacelab« mit diesem Geräusch.
Ralf und Florian zeichnen als Produzenten für das Endprodukt verantwortlich, Leonard Jackson und Joschka Rudas tauchen in Credits auf der Platte als Toningenieure und auf der englischen Fassung mit dem Hinweis »Mixed by« auf. Ich saß im Kontrollraum, hörte zu, trug zur Meinungsbildung bei. Und gelegentlich, wenn es nötig wurde, legte ich Hand an. Als wir nach nur elf Tagen im Rudas Tonstudio das Album fertig gemixt hatten, standen insgesamt rund 150 Sessions für »Die Mensch-Maschine« auf meinem Tacho.
Am 17. Februar 1978 schrieb ich morgens in meinen Taschenkalender: »Mensch-Maschine fertig – Nacht durchgemacht – Großmarkt, Café Bagel, Ralf bringt Master zum Kurier.«
Artwork
Für das Artwork engagierten Ralf und Florian auf Günter Fröhlings Empfehlung den Filmgrafiker Karl Kleefisch, der 15 Jahre bei der UFA-Filmproduktion als Trickfilmspezialist gearbeitet hatte. Als Ralf und ich Kleefisch Anfang 1978 im Grafik-Atelier seines Hauses besuchten, zeigte er uns seinen Entwurf der Vorder- und Rückseite. Damals wurden solche Grafiken noch manuell auf einem Zeichentisch mit Folien, Papiermesser und Klebstoff ausgeführt. Grafikprogramme mit einer »Undo«-Funktion konnte man sich noch nicht einmal vorstellen.
Die Fotografien, die im September 1977 entstanden waren, bilden die Basis für das Cover-Artwork. Ich denke, Ralf wählte damals das Foto aus, auf dem wir als Gruppe am besten aussahen. Dass ich dabei vorne an erster Stelle stand, war zweitrangig. Obwohl, ich erinnere mich, dass jemand behauptete, ich sähe irgendwie russisch aus. Vielleicht lag das auch ein wenig an meinem Mephisto-Haarschnitt, den mir der mit uns befreundete Düsseldorfer Frisör Teja verpasst hatte. Die Pflege der Frisur wurde aber schnell lästig, und ich verzichtete irgendwann wieder auf den Look. Kein großer Verlust für die Welt, denke ich. Ich glaube nicht, dass jemand bei den Fotoaufnahmen des Covers an die Himmelsrichtung gedacht hat, aber wir schauen alle nach Osten. Unsere freigestellten Körper vor einem roten Hintergrund – wir tragen die roten Hemden, die von Ralf ins Spiel gebracht worden waren, schwarze Krawatten, graue Hosen – und die maßgefertigte, mehrsprachige Typografie, die von parallelen Linien unterstützt in einem rechten Winkel aufeinandertrifft, erzeugt die Anmutung einer Foto-Grafik in der Tradition der Plakate der 1920er- und 1930er-Jahre.
Auf der Rückseite wendet Kleefisch bei der Typo einen ausgefuchsten Trick an: Er sequenziert das Wort Maschine untereinander und überträgt so – absichtlich oder unbewusst – unsere vom Minimalismus beeinflusste Musik in die visuelle Kommunikation. Unter den Namen der sechs Tracks und den Credits befindet sich der Ausschnitt einer Grafik aus dem 1922 erschienenen Kinderbuch Suprematistische Erzählung von Zwei Quadraten in 6 Spielen des russischen Konstruktivisten El Lissitzky. Der Künstler bemerkte dazu einmal, es gehe für Kinder um eine Anregung für ein Spiel und für Erwachsene um ein Schauspiel: » Die Handlung läuft filmartig ab. Die Worte bewegen sich in den Kraftfeldern der handelnden Figuren: – Quadraten.« 20
Die kyrillische Schrift Я твой слуга Я твой работник – »Ich bin dein Sklave, ich bin dein Arbeiter« –, die zu den Lyrics des Tracks »Die Roboter« gehört, stellt unter den Credits der Toningenieure auch typografisch einen direkten Bezug zu Sowjet-Russland her.
Für die Innenhülle der Schallplatte posierten wir Vier auf der Vorderseite in unserer »Uniform« in Fröhlings Treppenhaus. Die Treppe mit dem grau-roten Geländer und die Schatten unserer Körper geben dem Foto Räumlichkeit und Tiefe. Hier schwingt die Ästhetik des Bauhaus mit.
Die Credits zeigen wie beim Abspann eines Films, wer in welcher Position an dem Album mitgearbeitet hat. Oben sind genau wie auf dem letzten Album die Tracks und deren Autoren genannt. Unten folgen das Personal mit seinen Funktionen und die Namen der beiden Konzeptionisten und Produzenten, der Studios und Toningenieure. An den Seiten bekommen Fotograf und Grafiker ihre Credits, ebenso die Quelle der visuellen »Inspiration«, El Lissitzky. Auf der Rückseite der Innenhülle befindet sich dieselbe Fotografie von uns vieren, nur in einem herangezoomten Ausschnitt.
Der Gedanke liegt nahe, dass die Nutzung der Fotos von uns lebendigen Menschen eher eine Notlösung war. Denn die Schaufensterpuppen von Heinrich Obermaier waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt.
Copyrights
Viele Jahre nach der Veröffentlichung sprach mich ein Journalist einmal auf mein Mitwirken bei dem Song »Die Mensch-Maschine« an. »Funky Drum-Pattern« – so etwas in der Art sagte er anerkennend und trommelte auf einem imaginären Schlagzeug in der Luft herum. Offenkundig machte er mich für den Beat verantwortlich. Immerhin steht ja auch »Karl Bartos elektronisches Schlagzeug« auf dem Album. Mein Gefühl für Rhythmus ist sicher nicht unterentwickelt. Gleichwohl nahm ich Rhythmus nie losgelöst von den anderen Elementen der Musik wahr. Es ist ja auch gar nicht möglich, die Elemente voneinander zu trennen. Und so ist es sicher nicht verwunderlich, dass ich das Spielen oder Programmieren von perkussiven Mustern zwar für einen wichtigen, aber nicht für meinen wesentlichen Beitrag an der Musik von Kraftwerk halte.
Natürlich veranschaulicht das Label »elektronisches Schlagzeug« auch eine Abgrenzung zu den musikalisch inhaltlichen Elementen der Musik, aber mir selbst waren die Credits damals relativ egal. Die Pauschalierung meiner unterschiedlichen Beiträge als »elektronischer Schlagzeuger« betrachtete ich eher als etwas Nebensächliches. Da ab Die Mensch-Maschine meine Co-Autorenschaft ja dokumentiert wurde, dachte ich nicht weiter darüber nach. Wenn ich mir heute das Album anhöre, fällt mir seine klar umrissene Formsprache auf. Und genau dafür, für die Entwicklung der musikalischen Elemente zur klingenden Form, fühle ich mich mitverantwortlich.
Nachdem die sechs Titel fertig produziert waren, besprachen wir unbürokratisch, wie die Anteile an den Kompositionen aufgeteilt werden sollten. Auch für Ralf und Florian war dies eine neue Situation – zumindest, was die Musik anging. Auf allen früheren Kraftwerk-Platten hatten sie sich die Autorenschaft geteilt. Jetzt gehörte auch ich mit Credits für alle sechs Kompositionen zum Kreis der Kraftwerk-Autoren.
Was die Aufteilung der musikalischen Urheberrechte betraf, beschloss Florian, dass er auf diesem Album bei »Die Roboter«, »Metropolis« und »Neonlicht« als Mit-Urheber genannt werden wollte. Ralfs Name erscheint bei allen Titeln als Musik- und Text-Autor. Bei »Metropolis« und »Spacelab« beanspruchte er für die Namensgebung der Songs auch den vollen Textanteil, auch wenn die Lyrics nur aus einem einzigen Wort – nämlich dem Songtitel – bestanden.
Was es mit dem Kling Klang Verlag auf sich hatte, war für mich kein Thema, ging komplett an mir vorbei. Denn ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung, was ein Verlag eigentlich ist, was er tut, welche Rechte und Pflichten er hat und in welcher Beziehung er zu den Autoren steht. Da verließ ich mich ganz und gar auf Ralfs und Florians Erfahrung im Geschäft.
Mittlerweile hatte ich von ihnen – den beiden Gesellschaftern der Kraftwerk GbR – gelernt, dass die GEMA eine deutsche Gesellschaft ist, die die Rechte der Komponisten, Textdichter und Musikverleger vertritt, sie auswertet und für ihre Mitglieder abrechnet. Im März 1978 war es an der Zeit für mich, eine GEMA-Mitgliedschaft zu beantragen. Auf meinem Berechtigungsvertrag steht seitdem die Mitglieds-Nummer 80852.
Es gibt aber noch eine andere wichtige Organisation für Musiker in Deutschland, die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten. Die GVL nimmt die Leistungsschutzrechte von ausübenden Künstlern, Tonträgerherstellern, Videoproduzenten und Filmherstellern für alle Arten von Medien wahr. Ein befreundeter Musiker gab mir damals den Rat, meine selbstständige Tätigkeit bei Kraftwerk dort geltend zu machen.
Natürlich partizipierten Ralf und Florian als Inhaber ihres Kling Klang Labels und als ausübende Künstler von der Verwertung ihrer Rechte durch die GVL. Als Wolfgang und ich die beiden darüber informierten, dass auch wir der GVL beitreten wollten, kam auf einmal eine geschäftliche Stimmung auf. Obwohl wir dafür keineswegs ihr Okay brauchten, wurde das Gespräch zäh. Aber nach einigen Tagen stimmten sie zu.
Premiere: Die Roboter in Münche n
Der letzte Fernsehauftritt von Kraftwerk in Deutschland lag damals bereits fünf Jahre zurück. Seitdem hatte sich nicht nur das Line-up der Band, sondern auch das Konzept der Musik sowie die Art der Präsentation verändert.
EMI Electrola hatte für den Release von Die Mensch-Maschine einen Slot in der relativ neuen ZDF-Musiksendung Rockpop organisiert. Wir sollten unsere erste Single-Auskopplung »Die Roboter« aufführen. Uns war von den Verantwortlichen eine rote Kulisse und eine ausführliche Stell- und Kameraprobe zugesichert worden. Außerdem würden uns die modernsten Videoeffekte der Zeit zur Verfügung stehen, um den Auftritt zu einer Sensation werden zu lassen. Besser ließ sich zu dieser Zeit in Deutschland eine neue Schallplatte nicht promoten. Gleichzeitig sollte unsere Performance bei Rockpop die Premiere für die Schaufensterpuppen von Heinrich Obermaier – die mittlerweile zu Robotern befördert worden waren – sein.
Am Montag, den 20. März 1978 machten wir uns mit unseren vier Alter Egos auf den Weg nach München. Damals lernte ich auch Günter Spachtholz kennen, der unsere vier Duplikate transportierte. Günter war etwa Anfang zwanzig, lässig und gut aussehend. Darüber hinaus sehr sympathisch. Für Kraftwerk übernahm er – und tut das übrigens noch heute – unterschiedliche Aufgaben. In einem anderen Zusammenhang wäre er wahrscheinlich als Studio-Manager bezeichnet worden.
Unser Auftritt in der Sendung wurde mit folgenden Worten anmoderiert: »Seit fünf Jahren zum ersten Mal wieder in einem deutschen Fernsehstudio: Kraftwerk und ›Roboter‹. Guten Tag – [gibt Robot-Ralf die Hand] – ich hoffe, es geht gut. Es ist ein bisschen schwierig, die Musikrichtung einzuordnen dieser exzellenten Herren. Klassik- und Rockelemente haben ganz bestimmt Einfluss genommen, aber auch das passt nicht hundertprozentig auf die Musik. Vielleicht sollte man sagen ›Science-Fiction-Music‹ oder noch besser: ›elektronischer Rock‹.«
Tatsächlich hätte unser Set-up problemlos in einen Science-Fiction-Film der Sechziger- oder Siebzigerjahre gepasst. Die Requisite hatte es geschafft, ein improvisiertes Metallgerüst vor einem roten Hintergrund zu platzieren, dessen Schatten sogar Dreidimensionalität vermittelte. Das verbindende Element zu unseren Live-Auftritten waren die Aufstellung – Ralf, Karl, Wolfgang, Florian v.l.n.r. – und die vor uns stehenden Vornamen in Neonschrift. Die neue SciFi-Ebene manifestierte sich in der Halbtotale der Menschen, durch unsere Roboter-Replikanten in Großaufnahme, und durch die Uniformierung: rote Hemden, schwarze Krawatten, graue Hosen.
Wir stehen im Fernsehstudio an unseren Instrumenten – das elektronische Schlagzeug, Florians Elektroflöte und die Synthesizer, die damals auch in der Detailaufnahme mehr nach Science-Fiction als nach traditionellen Musikinstrumenten aussahen – und bewegen uns mechanisch zum Playback, das sich 1978 für die Zuschauer aber nicht wie ein solches angehört haben muss. Schließlich war elektronische Musik im Fernsehen damals nicht alltäglich. Die Kamera zeigt Ralf oder Florian in Großaufnahme im Profil, wie sie ihre Lippen synchron zur Vocoder-Stimme der Schallplattenaufnahme bewegen. In Großaufnahmen sind mein Roboter »Herr Karl«, mit digitalen Ziffernfolgen auf der Stirn, und Wolfgangs Roboter in einer Drehung zu sehen. In einer Halbtotale wird eine durchlaufende Sequenz kleiner roter Leuchtdioden sichtbar, die Hajo Wiechers auf unsere Krawatten montiert hatte. Bei »Ja tvoi sluga, Ja tvoi Rabotnik« schaffen es die TV-Techniker, Ralfs echte Lippenbewegungen mit einem Videoeffekt in den Plastik-Kopf von Ralfs Roboter zu »morphen«. Das hat mich damals ziemlich verblüfft. Der Clou der Videotechnik ist allerdings unsere Tanzeinlage in der Halbtotale vor einer Projektion der Lissitzky-Bauklötze .
Durch eine Folge von Nahaufnahmen und Teilansichten der Menschen und der Roboter, durch Videospiegelungen und vor allem der Großaufnahme von Ralf und Florian, bei der sie ihr Profil aus dem Bild drehen und dahinter das Gesicht ihres Roboters erscheint, entsteht beim Zuschauer ein Gefühl der Austauschbarkeit von Mensch und Maschine. Die Puppen sind zwar durch ihre modellierten Haare durchaus als Plastikfiguren zu erkennen, aber die frappierende Ähnlichkeit erzeugt eine erstaunliche Wirkung. Mit der Laufschrift »Wir sind die Roboter«, die das Bild nach und nach füllt, endet der Film nach 4 Minuten und 30 Sekunden.
Dieser heute legendäre Auftritt wurde damals beim Fernsehpublikum sehr positiv aufgenommen. Die Menschen in den Siebzigerjahren glaubten noch an den Fortschritt. Unsere Performance und die modern klingende Musik trafen den Zeitgeist. Viele Bekannte sagten mir damals, sie hätten sich direkt im Anschluss an die Sendung die Schallplatte gekauft. Ein weiterer Grund für den Erfolg ist für mich die Übereinstimmung zwischen unserer Musik und der visuellen Präsentation. Außerdem – und das ist meine feste Überzeugung – stimmte zu diesem Zeitpunkt bei uns die Mensch-Maschine-Balance.
Le Ciel de Paris
Der zweite Präsentationstermin auf der Agenda lag in Amerika. Ralf & Florian brachen wieder nach New York auf, um am 6. April 1978 das Album The Man-Machine bei einer von Capitol organisierten Release-Party vorzustellen. Rückblickend wird klar: Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Denn das ganze Land befand sich im Saturday Night Fever. Der Soundtrack der Bee Gees zum gleichnamigen Film mit John Travolta in der Hauptrolle überstrahlte alles. Außerdem war es das letzte Kraftwerk- Album bei Capitol in Amerika, vielleicht hatte die Firma zu diesem Zeitpunkt auch kein großes Interesse mehr an dem Produkt. Die beiden blieben nur kurz in den Staaten, denn schon wenige Tage später nahmen wir einen Flieger von Düsseldorf nach Paris.
Das Terminal 1 des Flughafens Paris-Charles-de-Gaulle sieht aus wie eine große fliegende Untertasse aus Beton, in deren Mitte sich – wie bei einer Vinyl-Schallplatte – eine zentrale runde Öffnung befindet, durch die eine Anzahl Transportröhren aus Plexiglas und Metall verschiedene Etagen der Untertasse miteinander verbinden. Die über Lautsprecher eingespielten elektronischen Klänge, die den Reise-Informationen vorangeschickt wurden, erinnerten an den Soundtrack zum Film Forbidden Planet. Der Flughafen glich damals einer Science-Fiction-Kulisse. Wie passend.
Für den nächsten Abend hatte Maxime die Release-Party für das neue Album The Man-Machine organisiert. Und was das für eine Party war! Knallrot wie unser Album-Cover war die Einladungskarte, die an die wichtigsten Medienvertreter in Frankreich und Großbritannien geschickt worden war. Und sie versprach Ungewöhnliches: »Soiree Rouge Invitation 2 Personnes, Ligne Generale, Vodka, Kino, Caviar – Tour Montparnasse 56. Etage«. Ein Angebot, das kein Journalist ablehnen konnte. Wer da nicht dabei war, gehörte nicht dazu. Noch heute wird von diesem Event gesprochen, es wurde zur Legende – zumindest in Frankreich. Für die Veröffentlichung von Trans-Europe Express in Frankreich ein Jahr zuvor hatte sich Maxime bereits die legendäre Champagner-Pressereise mit der Eisenbahn nach Reims einfallen lassen und dem Album damit zu einem medienwirksamen Start und 350000 verkauften Schallplatten verholfen. Nicht weniger sensationell war die Location für die Release-Party von The Man-Maschine .
Futuristischer wirkte zu dieser Zeit kein anderes Gebäude in Paris, nicht einmal der Eiffelturm. Wie ein Pilz aus Glas und Metall bohrt sich der Tour de Montparnasse aus den historischen Wohnhäusern hoch über den gleichnamigen Metroknotenpunkt empor. Noch bis 2011 war der Turm das höchste Gebäude Frankreichs. Nur 38 Sekunden benötigt der hochmoderne Aufzug – damals der schnellste Europas – für die Fahrt in den Penthouse-Club namens Le Ciel de Paris (»Der Himmel von Paris«) auf der 56. Etage. Im Aufzug herrschte eine hermetische Atmosphäre, fast wie in einer Raumkapsel, die lautlos in die Höhe schießt. Ein Ort der Superlative.
Als wir vier am 13. April 1978 gegen 21:30 Uhr oben ankamen, öffneten sich die Aufzugstüren mit einem leisen Surren. Wir schauten uns noch einmal kurz an, dann stiegen wir gut gelaunt aus dem Fahrstuhl. Maxime führte uns durch den komplett mit Menschen gefüllten Club. Wir schauten uns neugierig und vorsichtig um … Das Erste, was mir hier oben auffiel, war der Sound unseres Albums und Dutzende rote Scheinwerfer, die sich zur Musik bewegten und ihre Lichtkegel durch den Raum sendeten. Die Musik war laut – selbst Smalltalk fiel schwer. Wohin ich schaute, strahlte mir einer dieser roten Scheinwerfer direkt in die Augen.
Wir gingen weiter auf die Heimkino-Leinwand am hinteren Ende des Clubs zu, auf die ein Film-Projektor Metropolis projizierte. Die Transformation der Protagonistin Maria zum Roboter mit den magischen Energie-Ringen, die wie Laserstrahlen um den Körper laufen, war der visuelle Knaller und stellte unmissverständlich den Kontext zum Album Die Mensch-Maschine her. Und so wurden an diesem Abend – 50 Jahre nach der Uraufführung des Films in Berlin – die sechs Titel unseres neuen Albums dann doch zum Soundtrack des legendären Stummfilms: »Die Roboter«, »Spacelab«, »Metropolis«, »Das Model«, »Neonlicht«, »Die Mensch-Maschine«. Von Zeit zu Zeit zeigte eine Videoinstallation einen TV-Mitschnitt unserer Performance der ZDF-Sendung Rockpop. Die im Film gelungene Gegenüberstellung von Puppen und Menschen passte perfekt in die Inszenierung des Abends.
Eigentlich verstanden wir uns auch nur als Besucher dieser Soiree Rouge. Denn die wahre Attraktion befand sich direkt neben der Leinwand auf der Bühne: In roten Hemden, dunklen Hosen und schwarzen Krawatten standen unsere Schaufensterpuppen – pardon: Roboter – an ihren Instrumenten – auch unsere Neon-Vornamen waren an ihrem üblichen Platz. Die Plastikjungs waren uns auf unheimliche Weise ähnlich.
Die Gäste der Soiree Rouge entsprachen dem üblichen Mix aller Presse-Events überall auf der Welt: Medienleute, Plattenfirma-Menschen und Hardcore-Rumhänger. Man trug überwiegend schwarz, Männer bevorzugten Intellektuellen-Brillen, Frauen knallrote Lippen. Einige posierten im modischen Punk-Look, und natürlich trugen eine ganze Menge Kraftwerk-Klone rote Hemden und schwarze Krawatten. Wie auf einer Cocktailparty saßen und standen sie da, ein Gläschen in der einen Hand, die obligate Gauloise in der anderen – einige tanzten.
Die Journalisten, zu dieser Stunde mit Wodka und Kaviar schon in eine gute Stimmung gebracht, ließen uns in Ruhe. Irgendwann drückte uns jemand ein Glas Champagner in die Hand. Wir standen einfach nur so herum und wurden angestarrt. An diesem Abend trugen wir als Kontrast zu unseren Doppelgängern schwarze Hemden und Hosen, rote Krawatten und einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Als wir vor der Bühne ankamen, posierten wir vor der Robo-Band mit Maxime und Rupert Perry von Capitol Records.
Langsam ging der Wodka aus, und der Abend verlor seine Dynamik. Als nach dem Ende von Metropolis der Operateur das Kinoprogramm mit einem russischen Stummfilm fortsetzte, kamen die Dinge hier oben allmählich zum Stillstand, und wir verließen mit Maxime den »Himmel von Paris«. In der Berichterstattung konnte man später lesen: Die Deutschen, die nicht einmal »Guten Abend« sagen. Andere waren enttäuscht, dass wir tatsächlich persönlich erschienen sind, und bemerkten lakonisch, eine rein künstliche Darstellung – Puppen, Film, Tape – hätte besser zum futuristischen Konzept gepasst. Wie ich später erfuhr, behandelte man unsere Mannequins nach unserem Abgang etwas respektlos: Ralfs Doppelgänger stand mit geöffnetem Hosenstall herum, und an Florians Figur war die Hose auf geheimnisvolle Weise bis auf die Knöchel heruntergerutscht. Die Salon-Punks hatten gnadenlos zugeschlagen.
Wir ließen auch diesen Abend in der Brasserie La Coupole ausklingen. Als wir Freitag wieder im Flieger nach Düsseldorf saßen, wussten wir: Der Aufenthalt in Paris war ein voller Erfolg gewesen. Die Roboter, Ex-Schaufensterpuppen, transportierten uns auf eine neue Ebene – und da würde bestimmt noch viel mehr gehen.
The Man-Machine in the UK
Die Printmedien in Großbritannien berichteten überwiegend positiv über uns und das neue Album. Im Magazin Sounds gab es einen flotten »Reisebericht« von unserer Soiree Rouge mit dem Titel »We ARE Showroom Dummies«. Und der legendäre Musikjournalist John Savage besprach The Man-Machine : »Auf nahezu übermenschliche Art wird aus humaniodem Boogie das perfekteste, am präzisesten umgesetzte Konzept, inklusive Cover und Erzeugung einer allgegenwärtigen Grundstimmung, seit dem ersten Album der Ramones. […] Das ist aber nur ein Gegengift – kein Ernährungsplan. Konzept, Produktion, Technik und Ausführung sind vorzüglich und nahezu brillant.« 21
Der NME titelte auf dem Cover: »Kraftwerk The Music Machine«. Neben einem Bericht über die Release-Party gab es eine umfangreiche Album-Rezension, die unser Schaffen als » außergewöhnliche Vereinigung von Wissenschaft und Kunst, die den weithin akzeptierten Kant’schen Widerspruch zwischen Klassik und Romantik auf den Kopf stellt«, bezeichnete. Und weiter: »Es ist ein verdammt gutes Tanzalbum, aber seine Komplexität und Konstruktion […] macht es auch für jemanden zum Genuss, der sich gerade beide Beine gebrochen hat.« 22
Der Kultur-Kanal
Im Frühjahr 1978 hatte sich neben unserer Arbeit im Kling Klang Studio ein gewisser Lifestyle in unserem Kreis etabliert. Wir trafen uns am frühen Abend zum »Schaulaufen der Meister« im Café Bagel, besuchten gemeinsam ein Konzert und gingen danach etwas Essen. In jenen Tagen waren wir bei so unterschiedlichen Acts wie Tangerine Dream, den Commodores, Jonathan Richman, Patti Smith und den Ondekoza Drummern aus Japan. Oft beendeten wir den Abend in einer Discothek. Es waren unbeschwerte Zeiten.
Nach Autobahn , Radio-Aktivität und Trans Europa Express funktionierte unsere Gruppe, die »Mensch-Maschine« lief rund. Ralf und Florian harmonierten gut miteinander und bildeten zusammen mit Emil und meiner Wenigkeit das Autorenteam. Wolfgang war an der Entwicklung der Hardware der elektronischen Schlagzeuge, der anderen Geräte und natürlich an der Präsentation der Band nach außen beteiligt: Konzerte, Cover, Filme, Promotion. Für mich war es damals wichtig, einer Gruppe mit einer eigenen Identität anzugehören und dort nun auch meine musikalischen Ideen einbringen zu können. Die Aufmerksamkeit, mit der Kraftwerk international wahrgenommen wurde, wirkte auf mich wie ein Sog und war ebenfalls ein wichtiger Grund für meine Begeisterung.
Mein Einkommen durch meine Tätigkeit bei Kraftwerk war zu dieser Zeit zwar geringer als das, was ich vorher durch meine vielfältigen Jobs verdient hatte. Mich belasteten aber keinerlei Verpflichtungen. Unsere Tourneen, Plattenproduktionen, Filmaufnahmen, die Kommunikation mit dem ganzen Drum und Dran unserer Zusammenkünfte, die Urlaube in Saint-Tropez und auch der vorzügliche Spaß, mit Wolfgang und Emil in einer WG zu leben – dieses Leben war damals für mich äußerst faszinierend. Unsere Künstlergruppe, so schien es, wechselte mühelos zwischen Hochkultur und Pop. In dieser Atmosphäre des gedanklichen Austauschs entstand eine Dynamik, in der sich Kreativität entwickelte. Damals sah ich in Kraftwerk ein Medium, einen Kultur-Kanal, eine Band, für die es sich lohnte, zu komponieren. Es bestand kein Zweifel: Der Klang unserer Musik war für mich der Weg in meine Zukunft.
Etwas anderes wollte ich aber nicht mehr fortsetzen. Ich beschloss, mich am Ende des Wintersemesters 1978 zu exmatrikulieren. Mir fehlten die Ruhe und auch die Energie, um ein Programm zum Beweis meiner Virtuosität für das Konzertexamen einzuüben. Das langweilte mich zu Tode. Musik zu komponieren war für mich wichtiger geworden, als die Musik anderer Komponisten zu interpretieren.
Vielleicht wäre es schon aus Gründen der Promotion sinnvoll gewesen, nach der Veröffentlichung von Die Mensch-Maschine auch live aufzutreten. Wir sprachen auch immer wieder darüber. Doch vorläufig ergab sich leider nichts in dieser Richtung, und so verabredeten wir uns ab dem 22. Juni 1978 zur ersten Writing Session nach »Die Mensch-Maschine« .
Filmaufnahmen: The Robots und Neon Lights
The Man-Machine kletterte im Mai in Großbritannien auf Position 9 der Album-Charts. Fast drei Monate nach dem Release des Albums entschlossen sich Ralf und Florian, zwei weitere Promotion-Filme für »The Robots« und »Neon Lights« herzustellen.
Am 1. Juli, einem Montag, trafen wir uns mit Günter Fröhling im Kling Klang Studio zur ersten Einstellung der »Roboter.« Wie ein ordentliches deutsches Promo-Video beginnt der Clip mit dem Single-Cover und der rhythmisierten Lissitzky-Grafik auf den Roboter-Geräuschen zu Beginn des Songs. Als grobe Vorlage für das Storyboard diente unsere Performance bei Rockpop im März. Doch bei dem Dreh im Kling Klang Studio handelte es sich um keine inszenierte Kulisse, sondern um unseren Arbeitsplatz. Entsprechend hantieren wir mit den Produktionsmitteln: Wolfgang insertiert ein Patchkabel ins Steckfeld, ich bewege einen Gruppenfader am Mixer, Florian startet das Tonbandgerät, und Ralf schaltet am Aufspielpult herum.
Die Dreharbeiten zu »Neon Lights« auf der Dachterrasse von Florians Penthouse in Golzheim schoben wir dienstagabends ein. Dabei wurden unsere weißgeschminkten Gesichter beleuchtet und im Kontrast zum nächtlichen Himmel aufgenommen. Während wir wieder einmal von Frau Hartkopf eingepudert wurden, machten wir mit Florians Polaroid-Kamera ein paar Fotos. Es war eine warme Sommernacht, und von Florians Terrasse sah man die Brücken über den Rhein und das erleuchtete Düsseldorf. Diese Aussicht war schwer zu überbieten. Günter Fröhling filmte als Footage Düsseldorfer Neonreklamen, um diese in einer zweiten Ebene über unsere Gesichter zu legen. Die Schriftzüge 4711, Stockheim, Restaurant, Park Hotel, Klosterfrau, Ziem Optik, Universum waren damals wirklich jedem in der Stadt präsent. Das Gleiche gilt für die Tänzerin im Rotlichtviertel. Das UFA-Logo schafft eine Referenz zu den Themen unseres Albums. Und natürlich durften Mercedes Benz und die Deutsche Bank nicht fehlen.
Ich habe keine Ahnung, ob und wenn ja, wie oft dieser Film gesendet wurde. Die Single »Neon Lights« erreichte am 28. Oktober 1978 Platz 53 der britischen Charts. Doch schon nach drei Wochen verschwand sie wieder sang- und klanglos …
Saint-Tropez – Paris – ZDF-Hitparade
In diesem August lud uns Florian wieder in die Bastide Blanche nach Saint-Tropez ein. In den nächsten Tagen hören wir pausenlos Musik: Gut erinnern kann ich mich an das Debutalbum Suicide von der gleichnamigen New Yorker Band, »Rock Lobster« von The B-52’s, Jonathan Richmans »Pablo Picasso«, Greta Kellers »Eine blaue Stunde« – und jede Menge Isley Brothers.
Ich habe keine Ahnung, wie oft ich die erste LP von Suicide gehört habe. Irgendwie erschien mir das New Yorker Duo um ein paar Ecken mit uns verwandt. Ihre Musik war natürlich nicht vergleichbar mit dem, was aus unserer Werkstatt kam. Ihr Ausdruck war wild und expressionistisch, aber ich konnte sofort etwas mit ihrer Musik anfangen. Was mir gefiel, war die Verbindung von Alan Vegas Stimme und der Elektronik. Im Grunde war der Keyboarder Martin Rev eine unkontrollierte Mutation eines sogenannten »Alleinunterhalters«, der mit Orgel und Rhythmusmaschinen im Tanzcafé aufspielt. Das Album begleitete mich eine ganze Weile. Eine Zeit lang besorgte ich mir alles, was sie veröffentlichten. Revs bruchstückhafte Melodien hatten es mir angetan. Er variiert seine Motive nicht, jedenfalls nicht merklich, er wiederholt sie. Und dann kommt das nächste.
Kaum wieder zu Hause angekommen, sahen wir am 21. August 1978, wie Dieter Thomas Heck die Single »Die Roboter« in der ZDF-Hitparade anspielte. Für den Schlagerfan Heck war das sicher nicht leicht, aber die Single war in den Top 10 der deutschen Charts und damit »Pflicht« für die Sendung. Selbstverständlich hatten Ralf und Florian die Einladung, dort aufzutreten, abgelehnt. Heck hielt also bloß das Albumcover in die Kamera, während der Song gespielt wurde. Einmal in der Hitparade vorzukommen – eines der erfolgreichsten TV-Formate mit durchschnittlich 27 Millionen Zuschauern –, das hätte ich mir niemals vorstellen können. Denn musikalisch bewegte sich das Programm in den Untiefen des deutschen Schlagers, der damals die Charts bestimmte. In der Sendung, in der »Die Roboter« erstmals gespielt wurden, war Vader Abraham mit »Das Lied der Schlümpfe« auf dem 1. Platz. Eine gnadenlose Konkurrenz. Immerhin hielten sich »Die Roboter« bis Dezember im Programm.
Die von EMI Electrola für Die Mensch-Machine in Deutschland organisierte Promotion hätte nicht besser sein können. Durch unsere Roboter-Performance in Rockpop und Hitparade war es uns gelungen, ein großes Publikum zu erreichen. Das Album stieg im September in Deutschland auf Platz 12 und blieb acht Wochen in den Album-Charts. In Frankreich kletterte die LP auf Platz 14, schaffte im Mai in Großbritannien die Position 9 und blieb dort 13 Wochen. In den USA erreichte das Album Position 130.
Die Berichterstattung in den deutschen Printmedien war zwar nicht sehr umfangreich, aber überwiegend positiv. Das Roboter-Image war ein gefundenes Fressen für die Medien, und häufig wurde ein Bezug zu Star Wars hergestellt. Das renommierte Sounds bezeichnete das Album als »Lieblingsplatte von Erzwo-Dezwo« und identifizierte »Die Roboter« als bestes Lied und »Elektronik-Ohrwurm«. »Das Model« wurde dagegen als dünnes »Disco-Liedchen« disqualifiziert. 23 Im sehr populären Jugendmagazin Bravo markierte Ralf einige Eckpunkte des Kraftwerk-Images und äußerte sich zu den Puppen und zur Rolle der Musiker als »Wissenschaftler«: »Wir Menschen sind völlig unwichtig, austauschbar. Das wollen wir mit unseren Puppen demonstrieren. […] Was über uns interessant ist, sagen wir mit unserer Musik. Wir halten uns auch nicht für Rockstars, bloß weil wir ’ne Menge Platten verkaufen. Wir sind Wissenschaftler. Wir experimentieren täglich mit unseren Maschinen. Wir forschen und liefern das Ergebnis – Musik – dann ab.« 24
Paris – Rom – Venedig
Mitte September verschaffte uns Maxime einen Slot in einer französischen Fernsehshow. Für ein Wochenende kamen wir wieder in die französische Hauptstadt, um »Radioactivity« und »The Robots« in einem leeren Theater aufzuzeichnen. Nach den Aufnahmen verbrachten wir den Sonntag gemeinsam in Paris: wohnten im Royal Monceau, spazierten über die Champs-Élysées, tafelten in der Brasserie La Coupole, tanzten in den angesagten Nachtclubs Le Palace oder Les Bains Douches.
Die Werbeaktivitäten für The Man-Machine führten uns auch nach Italien. EMI Italiana akquirierte für uns Interviews und TV-Auftritte in Rom und die Teilnahme an der Live-Sendung »Club Lido« aus dem Palazzo del Cinema in Venedig, an der viele namhafte internationale Künstler mitwirkten. Das Programm war eine bunte Mischung internationaler Acts, unter anderem waren Julio Iglesias, Ian Dury und die fantastische Average White Band mit ihrem Megahit »Pick Up The Pieces« dabei. Wir hatten wieder unser Mini-Set, bestehend aus Instrumenten, Studiogeräten und Neon-Namen mitgebracht. Natürlich auch unsere Roboter, die dieses Mal in der ersten Zuschauerreihe saßen und so in die Sendung einbezogen wurden.
Nach der Show versammelten sich alle in der Discothek im Untergeschoss des Grand Hotels. Wir feierten bis in den Morgen, die Barkeeper hatten alle Hände voll zu tun. Bellini, ein fruchtiges Mixgetränk aus Champagner und pürierten Pfirsichen, floss in Strömen und machte die meisten von uns im Handumdrehen betrunken. Ian Dury erschien zu später Stunde, steuerte auf die Bar zu und schüttete schottischen Whiskey in sich hinein. Er erkannte Wolfgang, und ich sah, wie die beiden anfingen zu tanzen. Plötzlich stellte sich Ian Dury wie eine Puppe auf Wolfgangs Füße, hielt ihn fest umklammert und ließ sich von ihm tanzen. Irgendwann tauchten dann die Gentlemen der Average White Band mit abgeschraubten Klobrillen um ihre Hälse auf der Tanzfläche auf. Nicht schlecht.
Der Rest der Nacht verliert sich im Nebel der Geschichte, beziehungsweise in der Unendlichkeit der Bellini-Loops. Als ich am nächsten Morgen, ohne ein Auge zugemacht zu haben, mit den anderen im Taxiboot in Richtung Flughafen fuhr, machten sich völlig überraschend starke Kopfschmerzen bemerkbar. Außerdem war mir übel, was durch den Wellengang in der Lagune noch verstärkt wurde. Ralf war wie immer. In diesem Augenblick beneidete ich ihn darum, nie die Kontrolle zu verlieren – aber nur in diesem Augenblick. Aus sicherer Entfernung sage ich heute: Was für eine Nacht, welch unglaublicher Spaß! Wie öde, wie langweilig wären meine Erinnerungen ohne diese Momente.