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COMPUTERWELT
Gespräche. Kling Klang Writing Sessions 1978–80. Veränderungen. Die Radsportgruppe. Die Konzeption der Schaltzentrale. Lehrer an der Musikschule. EDV-Arbeitsplätze. Rheingold. Elektronischer Alltag. Schlagzeug-Maschinen. Das fliegende Wohnzimmer. Die Triggersumme. Die Kling Klang Tonaufnahmen 1980. Computerwelt. Computerliebe. Taschenrechner. Heimcomputer. It’s More Fun To Compute. Nummern. Computerwelt 2. Mix mit sechs Ohren und sechs Händen. Artwork. Reflexion.
Gespräche
Der Jahreswechsel 1978/79 vollzog sich für uns fast unbemerkt. Denn abgesehen von unseren Promotion-Aktivitäten trafen wir uns nach unserem Aufenthalt in Saint-Tropez im August 1978 regelmäßig im Studio. Gewöhnlich war Samstag unser Ruhetag, aber schon sonntags kamen wir abends für ein paar Stunden zusammen, bevor wir uns im Malesh auf der Kö ins Nachtleben stürzten. Damals gingen wir sehr oft zusammen essen, manchmal vor unserer Session, manchmal nachdem wir zwei, drei Stunden gearbeitet hatten. Meistens steuerten wir einen Italiener an. Das gemeinsame Dinner war in dieser Zeit wie ein Ritual.
Wenn man die soziale Herkunft außer Acht lässt, unterscheiden wir Menschen uns in unseren Grundbedürfnissen nicht sehr voneinander. Wie in jeder anderen Firma, in der sich Kollegen täglich begegnen, sprachen auch wir über unser Privatleben. Damals war die Bandbreite unserer Tischgespräche groß, die Themen vielfältig und dementsprechend anregend. Neben aktuellen Debatten in Zeitungen und Magazinen ging es auch immer wieder um Innenarchitektur und Möbel. Unsere Freundinnen waren natürlich ein niemals versiegender Gesprächsstoff. Ralfs Freundin hatte gerade eine Ausbildung begonnen, Bettina ihr Studium – so etwas wurde thematisiert.
Manchmal kam Wolfgang ins Studio, und wir machten eine Jamsession. Wenn wir danach zusammen essen gingen, gab es immer viel zu lachen. Und obwohl ich das Thema Autos wirklich langweilig finde, nahm ich die endlosen Gespräche der drei anderen über ihre aktuellen Karossen gerne in Kauf, weil ich die Atmosphäre liebte. In diesen Momenten waren wir wunderbar sorglos.
Florians Faible für außergewöhnliche Kleidung gab das ein oder andere Mal Anlass für eine ausschweifende Diskussion in Sachen Stil, egal ob er in einem Klepper-Mantel aufkreuzte, einen seltsamen Anzug trug, eine neue Schiebermütze mitbrachte oder freudestrahlend erzählte, wie er in einem von der Welt vergessenen Laden einen Restbestand extrem spitzer Schuhe aus den Fünfzigerjahren aufgespürt hatte.
Wie Arbeitskollegen auf der ganzen Welt unterhielten auch wir uns über unsere gesundheitlichen Probleme, beispielsweise über einen drohenden Zahnarztbesuch, neue Kontaktlinsen oder über einen lange zurückliegenden Bandscheibenvorfall von Wolfgang, der mich, so schlimm er auch ursprünglich war, immer wieder zum Lachen brachte, weil er nur nach vorne übergebeugt laufen konnte.
Oft sprachen wir während des Essens über Filme, die gerade angelaufen waren. Eine kleine Auswahl? Unheimliche Begegnung der dritten Art, Nosferatu – Phantom der Nacht, Manhattan, Die Ehe der Maria Braun, Apocalypse Now, Shining, Blues Brothers, Cruising und The Fog – Nebel des Grauens! Ich erinnere mich daran, dass es 3-D-Themanabende in Düsseldorfer Programmkinos gab, die wir besuchten. Ralf hatte schon damals Spaß an der 3-D-Technik. Es kam häufig vor, dass wir uns am Wochenende mit unseren Freundinnen zu gemeinsamen Kino- und anschließenden Eisdielenbesuchen mit dem unvermeidlichen »Coupe Megalo« verabredeten.
Gleichzeitig, und das schwang immer mit, waren wir die Band Kraftwerk. Und natürlich sprachen wir auch über neue Songs in den Charts oder über schräges Zeug, seltsame Musik, unbekannte Klänge, die auf dem Radar aufgetaucht waren und bei denen es sich möglicherweise lohnen würde, näher hinzuhören. Ja, wir sprachen viel über Musik.
Kling Klang Writing Sessions 1978–80
Die Kultur unserer Writing Sessions empfinde ich in der Rückblende als das Wertvollste, was wir zu meiner Zeit bei Kraftwerk zustande brachten. Im Grunde war unsere Zusammenarbeit eine permanente Unterhaltung, in der wir unsere Gedanken in den Klang der Musik übersetzten.
Gewöhnlich lag mein Notenbuch immer offen im Studio herum, und ich notierte in einer Art Noten-Stenografie unsere Arbeit. Im Lauf der Zeit schrieb auch Ralf ein paar lustige Noten und Arbeitstitel dort hinein. Hier landeten auch einige seiner ersten Entwürfe der Lyrics. Denn es war ja damals völlig normal, Ideen auch handschriftlich festzuhalten. Diese produktive Phase mit annähernd 400 Kling-Klang-Sessions dauerte von Juni 1978 bis zum Mix von Computerwelt im März 1981. Viele Sessions haben wir damals auf Tonband aufgenommen. Währenddessen ergänzten wir auch unseren Maschinenpark: Florian legte sich den polyphonen Synthesizer Prophet-5 von Sequencial Circuits zu, ich mir einen ebenfalls polyphonen Korg PS-3100 Synthesizer, für den Wolfgang eine zusätzliche Klaviatur konstruiert hatte, auf der ich wie auf einem Vibraphon mit Mallets spielen konnte.
Anfangs verfolgten wir noch kein bestimmtes Konzept, hatten noch keinen Plan oder ein Ziel, außer natürlich Musik zu erfinden, die möglicherweise auch für ein nächstes Album zu gebrauchen war. In jener Zeit entstanden viele Motive für die Songs von Computerwelt , aber auch für Stücke, die später auf Electric Cafe/Techno Pop erscheinen sollten. Meine Sequenz mit dem Arbeitstitel »Die Welt der Arbeit« wurde zur Grundlage für »Heimcomputer«. Das Thema »Megalo« entwickelte sich zur Strophe von »Computerwelt«. Andere Stücke nannten wir »Technicolor« (aus dem später »Tour de France« wurde) oder »Trinidad«. Ein von mir getrommeltes Drum-Pattern, auf das Ralf sein e-Moll-Motiv von »Computerwelt« spielte, erhielt den Arbeitstitel »Dom« und wurde unter dem Namen »Numbers«-Beat bekannt. Dazu hatte mich das Schlagzeug-Intro des Songs »Do You Wanna Dance« von Cliff Richard and the Shadows aus dem Jahr 1962 inspiriert. Der Song war unzählige Male gecovert worden, unter anderem von den Beach Boys, John Lennon, T. Rex und The Ramones. Ich veränderte den Beat ein wenig, und das Ergebnis war irgendwie ziemlich funky und fühlte sich beim Spielen gut an!
Das ist natürlich nur eine kleine Auswahl der mehr als fünfzig Tonaufnahmen unserer Sessions. Zugegeben: Die technische Qualität ist nicht besonders gut, und auch die Musik – bis auf Schlagzeug und Sequenzer handgemacht – enthält gelegentlich ein paar unachtsam gespielte Töne, aber diese Tapes machen mir wieder einmal die erstaunliche Eigenschaft von Musik klar, die Zeit zu konservieren: Beim Zuhören kehre ich in die Atmosphäre des Kling Klang Studios zurück und spüre die Spielfreude, die uns damals erfüllte. Und obwohl ich in meinem Leben schon eine Menge gehört habe, fällt es mir schwer, unsere Musik in irgendeinen Kontext zu stellen. Erst heute wird mir langsam bewusst, wie wertvoll diese Momente des gemeinsamen Musizierens wirklich waren. Unsere Improvisationen, in denen wir aus dem Moment heraus Musik polyphon gestalteten, das Komponieren in der Gruppe, die Erfindung dieser ungezählten musikalischen Tableaux vivants  …
Veränderungen
In diesem Frühjahr kreuzte Florian öfter mit einem chromblinkenden Rennrad im Studio auf. Das Gerät sah unglaublich cool aus, es war sehr filigran, extrem leicht und erinnerte mich fast an den Körper einer Libelle. Florian erklärte uns, dass der Frisör Teja, der uns alle die Haare schnitt und in dessen Salon auf der Stresemannstraße unser Gruppenbild von J. Stara, Paris, hing – auch so ein Rad fuhr. Florian fand es toll und hatte sich eins gekauft. Teja war der erste, Florian der zweite Rennradbesitzer im Kraftwerk-Kosmos. Schließlich kaufte ich am 21. April bei Radsport Willi Müller mein erstes Rennrad: ein Koga Miyata für 875 Mark. Damals eine Menge Kohle für ein Fahrrad!
Auch Ralf konnte sich dem Hype nicht entziehen und besorgte sich ebenfalls ein Koga-Miyata-Rad. Selbst Emil hatte plötzlich irgendwoher eine Rennmaschine aufgetrieben. Gemeinsam fuhren wir damals die ersten kleinen Strecken. In der Anfangsphase unserer Fahrradbegeisterung war alles leicht und hatte etwas Verbindendes. Vor allem Ralf konnte sich für den Radsport richtig begeistern: Bis Mitte Juni hatte er sich in die Materie eingelesen und trainiert. Ich fuhr mit ihm zusammen in den Laden des Ex-Radprofis und Tour-de-France-Etappensiegers Rolf Wolfshohl nach Köln, um Reifen und Zahnkränze zu kaufen. Schon nach kurzer Zeit war ihm das Koga-Miyata-Rad nicht mehr genug, und er stieg auf ein superleichtes Profirad um.
Nun lebte ich bereits drei Jahre mit Wolfgang und Emil in einer Wohngemeinschaft. Gemeinsame Ausflüge mit unseren Freundinnen in den Grafenberger Wald oder die nahe gelegene Eifel hatten etwas Ähnliches wie Familiensinn aufkommen lassen und uns näher zusammengebracht. Wir sprachen und lachten viel miteinander. Ich fühlte mich wohl in ihrer Gesellschaft. Und durch unsere Konzertreisen hatten wir auch eine gemeinsame Vergangenheit.
Aber ich war jetzt schon etwas länger mit Bettina zusammen, und wenn sie mich besuchte, wäre ich lieber mit ihr allein gewesen, als in einer WG zu leben. Kurz: Ich wollte wieder unabhängig und auch mal für die anderen nicht erreichbar sein. Damals war es nicht weiter schwierig, in Düsseldorf eine Bleibe zu finden. Nach nur kurzer Suche wohnte ich ab dem 1. Juni 1979 in Niederkassel auf der Lerchenstraße in unmittelbarer Nähe der Theodor-Heuss-Brücke. Die Lage war nicht schlecht, das Haus vielleicht etwas anonym, aber ich wusste, dass ich hier nicht ewig bleiben würde. Vor meinem Fenster im zweiten Stock stand eine Birke und draußen vor der Tür mein roter VW Käfer, den mir Peter Bollig günstig besorgt hatte.
Ende Juli fuhren wir Jungs wieder für fast zwei Wochen nach Saint-Tropez in die Bastide Blanche, zum ersten Mal hatten wir die Rennräder dabei. Ich möchte mich lieber nicht an die waghalsigen Touren auf den schmalen Straßen erinnern, die wir damals unternahmen. Mit von der Partie waren neben uns vieren Emil und Günter Spachtholz. Außerdem Volker Albus, ein ehemaliger Kommilitone von Ralf an der RWTH 1 Aachen.
Ich glaube, bei diesem Trip habe ich die unglaubliche Wirkung des Weins erlebt, den Familie Schneider-Esleben dort anbaute. Ich erinnere mich, dass ich mich am Ende eines Dinners ein wenig alteriert vom La Croix Cru Classé in unserem kleinen Chalet verlief und mich auf einmal in Ralfs Zimmer wiederfand. Er war nicht besonders geschockt, blieb ruhig und schickte mich sanft wieder in Richtung meines Zimmers. An einem dieser lockeren, entspannten Tage bereitete Volker für uns einen Hummer zu, und wir diskutierten, angeregt durch Emil, über Sinn und Unsinn, Tiere zu essen. Nach dieser Reise wurden einige von uns zu Vegetariern. Ich verzichtete die nächsten fünf Jahre komplett auf Fleisch.
In unserem exklusiven Kreis wurde der Vegetarismus schon bald ausgiebig zelebriert. Wir lasen entsprechende Kochbücher, beschäftigten uns mit Bio-Anbau und der anthroposophischen Lehre, frequentierten recht ausgefallene Gastronomie. Nie werde ich Wolfgangs Gesichtsausruck vergessen, als wir ihm ein sehr abgefahrenes Kölner Diät-Restaurant, eine Mischung aus Sanatorium, Jugendherberge und Sektenzentrum empfahlen. Unseren Rat, sich dort einmal gedünstete Fenchel mit Béchamelsauce zu genehmigen – dazu ein Gläschen Sprudel vom Fachinger Heilbrunnen –, hielt er sicher für völlig abgedreht.
Die Radsportgruppe
Nach dem Urlaub begann in vielerlei Hinsicht eine neue Zeitrechnung. Ralf und Florian gründeten die sogenannte Radsportgruppe  – manche nannten sie auch Radsportgruppe Nord oder erfanden noch andere, wesentlich kuriosere Ableitungen. Florian organisierte in einer Tiefgarage einen fensterlosen Raum, in dem die Rennräder schon bald an Ketten an der Decke aufgehängt im Raum schwebten und eine Wartung in Augenhöhe ermöglichten. Er stellte auch ein paar Bänke hinein, wie man sie aus Umkleideräumen in Sporthallen oder Schwimmbädern kennt. Dort trafen wir uns, um gemeinsam Fahrrad zu fahren. Das neu eröffnete Eiscafé Galaxy auf der anderen Rheinseite wurde ein beliebter Zwischenstopp für Ralf und Florian und ein paar andere Fahrradenthusiasten. Mein Apartment in Niederkassel lag nur wenige Minuten entfernt, und deshalb schaute auch ich gelegentlich im Galaxy vorbei. Von hier aus konnte man kleinere Touren durch die typische Landschaft des Niederrheins machen.
Für mich persönlich waren unsere Fahrradausflüge am lustigsten, als Emil noch mitfuhr. Durch ihn war alles etwas poetischer, lockerer, und die Gespräche kreisten nicht nur um Profi-Fahrradtechnik. Das Rennradfahren machte mir zwar Spaß, aber ich hatte nicht den Ehrgeiz, ein besserer Fahrer zu werden, den runden Tritt zu trainieren oder mich mit der für das jeweilige Terrain idealen Übersetzung zu beschäftigen. Bald schlossen sich Ralf und seiner Radsportgruppe ein paar Jungs aus Düsseldorf an. Auch ich fuhr anfangs hin und wieder eine Runde über die Felder mit – das waren damals vielleicht 60 Kilometer. Doch wurden mir die Unternehmungen schnell zu ambitioniert und Radsport-ideologisch aufgeladen.
So organisierte ich meine Fahrradtrips selbstständig und bretterte nur noch gelegentlich in der Radsportgruppe mit. Wolfgang wurde als Einziger von uns nie ein überzeugter Radfahrer. Aber von der Radsportgruppe ging auch kein Gruppenzwang aus. Sie blieb zunächst ein Nebenschauplatz. Unser Zentrum und Hauptquartier war in jener Zeit das Kling Klang Studio.
Die Konzeption der Schaltzentrale
Die Sessions liefen wirklich rund. Wir sahen nach vorne. Der letzte Mix im Studio Rudas war gut gelaufen, keine Frage, aber das erklärte Ziel war es, unsere nächste Platte im Kling Klang Studio abzumischen. In dem ursprünglich 60 Quadratmeter großen Raum war das Equipment ähnlich wie auf einer Bühne aufgestellt. So bereiteten wir uns – wie alle Bands seit ewigen Zeiten – auf die Gigs vor. Dieses Konzept hatte sich auch für die Aufnahmen bewährt.
Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Ralf und Florian waren es gewohnt, unternehmerisch zu denken und ihre Entscheidungen in diesem Geist zu treffen. Eine ihrer bevorzugten Maßnahmen war die Investition in Maschinen. Ihre Philosophie war es, sich die jeweils modernsten Geräte auf dem Markt zu besorgen und damit innovative Sounds und ungewohnte Anwendungen für ihre Produktionen zu nutzen. Der Leitgedanke war: »Mit besseren Maschinen ist man in der Lage, bessere Arbeit abzuliefern.« 2 Dazu gehörte auch, dass sie im Laufe der Zeit einen nicht unwesentlichen Aufwand mit der Entwicklung neuer Instrumente und Software bis hin zur Anmeldung von Patenten betrieben – elektronisches Schlagzeug, elektronische Flöte, Sprachsynthese. Sie dachten damals in vielerlei Hinsicht in einem größeren Maßstab als andere. Ralf und Florian kamen zu dem Schluss, in ein mobiles Studio zu investieren, so ähnlich wie vorher Conny Plank. Der Unterschied lag natürlich darin, dass das Kling Klang Studio nur einen einzigen Klienten hatte. Der Kern der Überlegung war: Dieses mobile Studio würde uns auch jederzeit eine Live-Performance ermöglichen.
Das von Ralf in Interviews rhetorisch aufgebaute Image von Wissenschaftlern gab die Richtung vor, und wenig später tauchten im Studio die ersten Prospekte von Knürr auf. Die Firma baute – übrigens bis heute – Einrichtungen für technische Labore, Kontrollräume, Elektroniker-Arbeitsplätze und so weiter. Diese Laboratmosphäre des mobilen Studios würde auch bei unserer neuen Live-Show zum Tragen kommen. Aber offensichtlich waren die Anforderungen für unsere vier mobilen Arbeitsplätze sehr speziell und die industriell hergestellten Knürr-Pulte dafür nicht geeignet. So kam im August 1979 wieder Wolfgang ins Spiel.
Wolfgang Flür: »Ja klar, die Knürr-Pulte brachten die ersten Anregungen für das Design der Anlage. Wir übernahmen im Wesentlichen die ergonomisch schräge Bedienoberfläche mit 16 Höheneinheiten im 19-Zoll-Format. Daraus ergaben sich alle anderen Maße, wenn man die Geräte im Stehen bedienen wollte.
Die Werkstatt im Basement der Berger Allee diente mir in den nächsten Monaten dazu, die Hardware zu konstruieren. Zunächst leimte ich die Kästen aus Schichtholzplatten zusammen und strich sie grau. Dann brachte ich von mir eigens hergestellte schwenkbare Aluminiumlampen an, die die Geräte von oben beleuchteten. Alle Laborpulte ruhten auf fahrbaren Metallständern. Wir vier würden vor den Pulten an Instrumenten-Boards stehen. Jedes Keyboard war durch Kabel mit der Elektronik hinter uns verbunden. Diese Kabel liefen durch ein flaches Podest, auf dem wir uns nach links und rechts über die ganze Bühne bewegen konnten. Zusätzlich wurden Pedale zur Lautstärkeregelung in das Podest integriert.
Ein akustisches Monitorsystem für die Bühne kam noch hinzu, und die Neonlichtanlage – schon vor einiger Zeit von mir gebaut, überholte ich jetzt mechanisch und elektrisch.«
Der Umbau würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Das bedeutete, wir mussten unsere Writing Sessions unterbrechen, denn parallel zu arbeiten entsprach nicht Ralfs und Florians Modus Operandi. Wohin hätten wir auch ausweichen können? Nein, dieser Break war unausweichlich. Außerdem hatten wir in den vergangenen Writing Sessions schon einiges an neuem Material erarbeitet. Was wir da in der Pipeline hatten, war nicht gerade schlecht. Also stand zunächst der Umbau des Studios auf der Agenda und dann die Produktion des neuen Albums. Alle Beteiligten widmeten sich mit Begeisterung dieser neuen, gemeinsamen Sache. Nur ich selbst konnte leider nicht viel beitragen, denn außerhalb der Musik, ich gebe es zu, bin ich kein herausragender Handwerker. Die Großbaustelle war bei Wolfgang und den anderen deutlich besser aufgehoben.
Ehrlich gesagt, ich wusste zu dieser Zeit nicht so genau, wie es für mich weitergehen würde. Neben Fahrradfahren, meinen paar Privatschülern und gelegentlichen nächtlichen Besuchen im Studio – um dort vielleicht auf die Jungs zu treffen und mit ihnen in eine Discothek zu fahren – war nicht viel los. Naja, manchmal schon. Denn neben der Musik wurde mittlerweile etwas anderes in meinem Leben sehr wichtig: mit Bettina zusammen Zeit zu verbringen. Mit meinem roten VW Käfer fuhren wir manchmal für ein paar Tage nach Domburg an die holländische Nordseeküste, um dort am Meer spazieren zu gehen, dabei unsere Blicke Richtung Horizont schweifen zu lassen und abends »Schol met frieten« – Scholle mit Pommes Frites – zu verdrücken.
Was Kraftwerk betraf, war ich mir sicher, dass alles auf dem richtigen Gleis war und uns in eine aufregende Zukunft führen würde. Einerseits. Andererseits wollte ich nicht ewig im Standby-Modus in der Warteschleife hängen, sondern auch etwas Sinnvolles tun.
Lehrer an der Musikschule
Seit meiner Exmatrikulation hatte Ernst Göbler mir keine Jobs mehr an der Oper vermittelt. Es lief ab wie in der Mafia, wenn man die Familie verlassen will. Zwar wurde ich nicht mit Beton-Schuhen im Rhein versenkt, und Bettina erhielt auch keinen in Zeitungspapier eingewickelten Fisch. Aber es war klar, dass meine Entscheidung, mit der Gruppe Kraftwerk an elektronischer Musik zu arbeiten, nicht das war, was sich mein Lehrer und Mentor für mich vorgestellt hatte. Trotzdem bin ich ihm heute noch dankbar für seine beispiellose Unterstützung.
Die klassische Musik bedeutete mir sehr viel, aber ich konnte mir damals wirklich nicht mehr vorstellen, eine Laufbahn in einem Orchester einzuschlagen. Ich zog es auch nicht in Betracht, mich in einem anderen Zusammenhang – etwa in einem Ensemble – zu engagieren. Die Arbeit im Kling Klang Studio war mir wichtiger.
Während meines Studiums hatte ich Schlagzeugunterricht gegeben. Das war Teil des Systems. Fast alle meine Kommilitonen unterrichteten. Jetzt im Herbst 1979 kam mir die Idee, mich um eine nebenamtliche Stelle als Musiklehrer an der städtischen Musikschule zu bewerben. Das war möglich, denn die künstlerische Reifeprüfung gilt als Qualifikation für ein Lehrdeputat. An der Clara-Schumann-Musikschule in Düsseldorf waren die Schlagzeuger der Düsseldorfer Symphoniker beschäftigt, also versuchte ich es im näheren Umkreis. Ich erhielt jede Menge positiver Antworten auf meine Bewerbung und entschied mich, für den Anfang zwei Nachmittage pro Woche zu unterrichten.
Eher unspektakulär gab ich in Meerbusch in den Räumen einer Schule meinen Unterricht. Dagegen hatte sich die Musikschule der Stadt Krefeld eine wirklich herrschaftliche Location ausgesucht. Auch heute noch ist sie im Haus Sollbrüggen, einem imposanten Herrenhaus inmitten einer riesigen Grünanlage im Stil eines englischen Landschaftsparks untergebracht. Der Schlagzeugraum war in einen Pavillon mitten im Park ausgelagert. Vom Fenster im Inneren des Pavillons blickte ich auf Wiesen, Büsche und den alten Baumbestand. Dort gab ich nun freitags meine Stunden. An der kleinen Trommel wagte ich ein Experiment, indem ich die Schüler von der ersten Stunde an ein eigenes Notenbuch führen ließ, in das sie ihre Etüden eintragen konnten. Interessant war es zu beobachten, wie sie lernten, die grafische Notenschrift in die Zeit zu übertragen. Ich konnte förmlich hören, wenn der Groschen fiel. Einige der Schüler lernten von mir die Grundbegriffe am Drumset. Außerdem leitete ich ein von mir ins Leben gerufenes Percussion-Ensemble, für das ich kleine, einfache Stücke in den verschiedenen Tanzformen komponierte. In meinem Raum befand sich auch ein wunderbares Steinway-Klavier, auf dem ich in den Freistunden klimperte. Hin und wieder kam ich sogar eine oder zwei Stunden früher, um dort mit Blick in den Park zu spielen.
Schon nach ein paar Unterrichtstagen bekam ich in Krefeld eine volle hauptamtliche Stelle angeboten, lehnte die Offerte aber ab, weil ich mir einen solchen Fulltime-Job nicht vorstellen konnte. Es blieb dabei: Ich war mittwochs in Meerbusch, der Donnerstag war meinen Privatschülern vorbehalten, und freitags unterrichtete ich in Krefeld.
Da Ralf und Florian am liebsten nachts arbeiteten – wohl um mehr vom Tag zu haben –, würden unsere gemeinsamen Sessions im Kling Klang Studio meinen Jobs an der Musikschule auf keinem Fall im Wege stehen.
EDV-Arbeitsplätze
Die Schaltzentrale nahm immer mehr Form an. Im Kling Klang Studio würde der Raum die Aufstellung bestimmen. Auf der Bühne sollten die Pulte der Schaltzentrale symmetrisch in der Form eines vorne offenen rechtwinkligen Dreiecks angeordnet werden. Die linke und die rechte Reihe bestanden aus jeweils vier Doppel- und zwei Einzelpulten, die je 10 Meter maßen. Laut Herrn Pythagoras ergab das für die dem Publikum zugewandte gedachte Linie rund 14 Meter.
Die vier Arbeitsplätze mussten autark, aber elektronisch miteinander verbunden sein. Alles transportabel, versteht sich. Dafür war eine solide Verkabelung die Voraussetzung. Jetzt stellte sich die Frage nach der technischen Kompetenz. Wer könnte das für uns machen? Als ich mich im Studio mit Ralf und Florian darüber unterhielt, erwähnte ich meinen Kontakt zu den Toningenieuren der Fachhochschule. Ich bot an, mich darum zu kümmern, einen kompetenten Techniker aufzutreiben. Reinhold Nickel empfahl mir dann Joachim Dehmann, und Ende Oktober stand er das erste Mal im Kling Klang Studio vor uns.
Er war damals Ende zwanzig, schlank und einen halben Kopf größer als wir. Die dunkelblonden Haare waren mittellang und leicht über die Ohren gekämmt. Joachim trug eine große, leicht getönte Brille wie Peter Fonda. Kleidung: Verwaschene Jeans, rotes T-Shirt, Jeansjacke. »Vor meinem Toningenieursstudium habe ich fünf Jahre im Servicebereich für Tontechnik und elektronische Musikinstrumente gearbeitet – jetzt fehlt mir nur noch das Diplom«, erklärte er uns mit einem leichten Ruhrgebiets-Akzent, während er sich im Studio umsah.
Joachim Dehmann: »In einem Gebäude im Hinterhof traf ich auf Ralf, Florian und Karl. Im Raum verteilt waren jede Menge elektronische Instrumente, Mischpulte und einige 19-Zoll-Flightcases, in denen Effektgeräte untergebracht waren. Alle Geräte waren kreuz und quer miteinander verkabelt, und Ralf und Florian erklärten mir ihren Masterplan. Meine Aufgabe wäre es, die Geräte miteinander kompatibel zu machen, Interfaces zu bauen, die Anlage transportabel zu machen und professionell zu verkabeln. Die Arbeitsatmosphäre im Kling Klang Studio war damals toll. Es lag eine Art Aufbruchstimmung in der Luft, nach dem Motto: Die Zeit der Pappkisten ist jetzt endgültig vorbei. Wir wollen unser Equipment professionell herrichten und damit die Welt erobern!«
Damit war das Team in der Mintropstraße erst mal komplett: Wolfgang produzierte in den folgenden Monaten auf der Berger Allee die Anlage und transportierte die fertigen Teile in die Werkstatt der Mintropstraße, wo Joachim Dehman parallel mit dem Einbau der Geräte und der Verkabelung begann.
Wir trafen uns zwar hin und wieder nachmittags oder abends im Studio, doch irgendwann hatte ich den Eindruck, ich wäre irgendwo über eine Weiche auf ein paralleles Gleis gefahren und mein Wagon wird immer langsamer. Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Die vier vergangenen Jahre bei Kraftwerk waren ereignisreich gewesen. Die Stimmung in der Band war nach wie vor großartig, durch die neuen Leute im Team war Schwung in die Bude gekommen. Trotzdem kam ich mir zu dieser Zeit doch recht nutzlos vor, denn seit Mitte Juni hatten wir keine Musik mehr gemacht. So beschloss ich, mir ein Fender Rhodes anzuschaffen, damit ich wenigstens zu Hause weiterkomponieren konnte. Denn mein altes Klavier hatte ich vor dem Umzug verkauft. Bald schloss ich meine erste kleine Anlage an: Ein E-Piano, ein paar JBL-Boxen und einen Amcron-Amp. Es konnte losgehen!
Rheingold
Der Kontakt zu meinem Freund Bodo Staiger war in den letzten Jahren zwar unregelmäßig, aber wir hatten uns nie total aus den Augen verloren. Er hatte klassische Gitarre studiert, arbeitete jetzt als Gitarrenlehrer an der Musikschule und spielte außerdem mit Joe Stick, Peter Wollek und Nappes Napiersky in einer Pop-Rock-Band, deren Name Lilac Angels von dem Neu!-Track »Lila Engel« geliehen war. Ihre erste Platte hatten Conny Plank und Klaus Dinger produziert. Über die Lilac Angels wurde damals viel berichtet, sie waren richtige Lokalhelden. Jetzt startete Bodo ein Soloprojekt mit dem Namen Rheingold. Wir hatten in letzter Zeit häufiger telefoniert, und ich besuchte Bodo im November in seiner Wohnung.
Bodo sprudelte geradezu vor Energie. »Ich gehe mit 30 in die Achtziger«, verkündete er lachend, spielte mir seine Demos vor und fragte mich geradeheraus, ob ich nicht Lust hätte, an seinem Projekt mitzuarbeiten. Er braucht einen Co-Writer und Schlagzeuger – und überhaupt. Offensichtlich hatte er auch schon mit Conny Plank gesprochen und von ihm die Zusage erhalten, das erste Album in dessen Studio aufzunehmen und zu produzieren. Klasse, dachte ich, eigentlich kann man es sich nicht besser wünschen.
Klar, ich hatte zwei Alben mit Kraftwerk aufgenommen. Ein drittes auch als Co-Autor. Das stand zweifellos im Zentrum meiner Arbeit. Aber mit Sicherheit würde es der Gruppe Kraftwerk keinen Schaden zufügen, wenn ich ein Album mit Bodo und Conny Plank einspielte. Was konnten die Jungs schon dagegen haben? Ich wollte schließlich nur ein paar Songs mit Bodo schreiben. Also erzählte ich Ralf von diesem Angebot. Auf seine Reaktion war ich nicht vorbereitet. Lakonisch erwiderte er, er würde erwarten, dass ich exklusiv für Kraftwerk zur Verfügung stände. Zumindest was andere Popmusik-Projekte betrifft. Ich wäre schließlich auch auf den Covern der Schallplatten zu sehen, und meine Mitwirkung bei anderen Projekten sei nicht vorstellbar.
Aha, so war das also. Aus heutiger Sicht finde ich es seltsam, wie wenig ich damals über meine Zukunft nachdachte. Begriffe wie »Existenz aufbauen«, »Laufbahn« oder »Karriere« waren mir fremd. Natürlich hätte ich gerne mit Bodo gearbeitet – aber das nächste Kraftwerk-Album war ja auch schon in Vorbereitung. Kraftwerk war ein Name mit einem entsprechenden Marktwert – obwohl ich das damals bestimmt nicht so formuliert hätte. Was blieb mir anderes übrig, als Ralfs Prämisse zu akzeptieren. Danach hörten wir gemeinsam die erste Coverversion von »The Model«, die Ralf mitgebracht hatte. Snakefinger hatte unseren Song für Ralph Records (sic!) aufgenommen.
Also erklärte ich Bodo, dass ich sein Angebot nicht annehmen kann, so gern ich es auch machen würde. Aber ich legte ihm die Telefonnummer von Lothar Manteuffel auf den Tisch: Lothar sei ein ehemaliger Schüler von Emil Schult, als der noch an einem Düsseldorfer Gymnasium Kunst gelehrt hatte. Er habe auch gerade angefangen, Musik und vor allen Dingen Lyrics zu schreiben. Vielleicht würde sich eine Zusammenarbeit mit ihm und über ihn auch mit Emil Schult ergeben.
Als ich etwas später die Treppe runterging und auf dem Weg nach Oberkassel war, hatte ich die ganze Zeit ein Gitarren-Riff im Kopf, das Bodo mir vorgespielt hatte. Im Sommer 1981 würde »Dreiklangs-Dimensionen« – von Conny Plank und Bodo produziert – als einer der ersten großen Hits der Neuen Deutschen Welle bekannt werden: da-di-da-damm …
Zwischen 1980 und 1984 veröffentlichte Bodo unter dem Projektnamen Rheingold drei erfolgreiche LPs. Und in der Tat schrieb Lothar Manteuffel die Lyrics. Und auch Emil gehörte bei Songs wie »Rendezvous«, »Fan Fan Fanatisch«, »Augenblick« und »Via Satellit« zum Autorenteam von Rheingold.
Noch heute steht in meinem Bücherregal ein kleines Taschenbuch von Sri Chinmnoy, dem spirituellen Lehrer aus Indien, mit einer Widmung und einem Dankeschön von Lothar Manteuffel für den Kontakt zu Bodo.
Elektronischer Alltag
Nach der nun schon traditionellen Silvesterparty auf der Berger Allee begannen die Achtziger mit Fahrradfahren durch die niederrheinische Landschaft, gelegentlichen Treffs im Kling Klang und meiner musikpädagogischen Tätigkeit. Alles im grünen Bereich. Doch dann wurde ich eines Morgens in meiner Niederkasseler Wohnung von einem Höllenlärm geweckt: Baggerarbeiten vor dem Haus. Offensichtlich hatte sich ein mir unbekannter Bauherr entschlossen, weitere Apartment-Häuser zu errichten. Leider direkt vor meinem Fenster. Das machte mir unmissverständlich klar: Ich muss hier weg! Denn lange würde ich das nicht aushalten. Erstaunlicherweise hatte ich nicht die geringsten Schwierigkeiten, sofort einen Nachmieter zu finden. Ein paar Wochen überbrückte ich bei Bettina im Haus ihrer Eltern in Unterrath. Und dann las ich eine Annonce im Wohnungsmarkt der Rheinischen Post:
»Pempelfort, Nähe Hofgarten: 3 Zimmer KDB-Wohnung, ca. 100 m2, ZH, 2 Balkone, 4. Etage m. Aufzug, 1104,– DM kalt, 3 MM Kaution, zum 1. Mai 1980.«
Ich zögerte, denn mit mehr als 1000 Mark Miete lag die Wohnung in der Taubenstraße deutlich über meinem Niveau. Andererseits hatte ich die Nase voll von dem ganzen Hickhack der letzten Zeit. Die Jobs an den Musikschulen und meine Privatschüler, die hatte ich ja auch noch, brachten ein überschaubares, aber sicheres Einkommen und verbanden mich mit meinem früheren Umfeld. Das gab schon mal Sicherheit. Außerdem sorgte meine Mitwirkung bei der international immer bekannter werdenden Düsseldorfer Elektro-Combo für neue Dynamik auf meinem Konto. Ich würde schon irgendwie klarkommen.
Die Wohnung war hell und ruhig. Klassische Ausstattung. Ein großes und ein kleineres Zimmer nach vorne und ein Schlafzimmer nach hinten. Selbstverständlich Küche und Bad. Vom Schlafzimmer aus gelangte man auf einen Balkon. Mit Efeu und Knöterich bewachsen, eignete er sich hervorragend zum Abhängen. Dort haben Bettina und ich so manche Portion Spaghetti Napoli verdrückt. Mit den weißen Wänden, dem neu verlegten grauen Industrieteppichboden und den Jalousien erinnerte die Wohnung an das Bauhaus. Wenige Möbel wie zwei Stahlrohrstühle, Tisch und eine typische Kugellampe, die ich mir in einem »Bauhaus-Flash« zugelegt hatte – wahrscheinlich ausgelöst durch eine stundenlange Unterhaltung im Studio über Kunst, Design und Architektur –, unterstrichen das noch.
Das rund 50 Quadratmeter große Wohnzimmer erklärte ich zu meinem ersten Studio. Erkennbar zog mich der rein elektronische Klang immer mehr in seinen Bann. Aus der Bücherei der Musikhochschule beschaffte ich mir die Programme und Berichte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Ich war ziemlich erstaunt, was dort bereits zu Beginn der Fünfzigerjahre erörtert wurde. Beispielsweise behandelte Robert Beyer in der Vortragsreihe Die Klangwelt der elektronischen Musik das Thema: Der Raum als formbildendes Moment der Tonfotografie – seine Bedeutung für die elektronische Musik. Ich differenzierte damals nicht akademisch zwischen Elektronik und Musique concréte.
Töne von Geräuschplatten, die ich beispielsweise als Atmo beim Musizieren nutzte, wurden für mich auch zu einem elektronischen Klang. Ich fand solche Tonträger in der hintersten Ecke von Schallplattenläden. Das war eher etwas für Freaks. Mittlerweile hatte ich mir eine Sammlung von Geräuschplatten mit den unglaublichsten Covern der Welt zugelegt. Die Firma Polydor hatte Die HiFi Stereo-Kulisse auf den Markt gebracht, auf der sich »98 Geräusche für den Film- und Tonbandfreund« befinden. Immerhin 98! Irgendwann stellte ich zufällig fest, dass die Aufnahme »1 Anlassen von Automotor und abfahren v.l.n.r. 23"« aus der Kategorie »Verkehrsgeräusche II« verdächtig nach dem Anfang von »Autobahn« klingt.
Nicht nur Schallplatten mit realen Geräuschen besorgte ich mir damals, sondern auch sogennante Sound Effects, beispielsweise Holiday , Disasters , Death & Horror und selbstverständlich More Death and Horror . Manchmal ließ ich so eine Scheibe einfach stundenlang als Soundtrack laufen. Leise. Obwohl ich heute digitale Sound Libraries mit unendlich vielen Geräuschen, Klängen und Sound Effects besitze, befinden sich diese Vinyl-Schallplatten aus den Siebzigern noch immer in meinem Archiv. Romantisch? Hoffnungsloser Fall? Kann sein, aber vielleicht verhält es sich ja so wie mit den alten Fotos in diesem Buch, die selbst in digitalisierter Form immer noch die Zeit abbilden, zu der sie aufgenommen wurden. Außerdem habe ich die 98 Geräusche für den Film- und Tonbandfreund damals in Düsseldorf für 19,90 DM gekauft und in meine Plattensammlung integriert. Das ist doch wohl ein guter Grund.
Was mich an der elektronischen Musik faszinierte, war die Gestaltung. Analog zu einem Animationsfilm, in dem die ganze Welt aus Scherenschnitten, Knetgummi oder Zeichnungen besteht, war es damals das Ziel, ein akustisches Spektrum zu schaffen, das sich ausschließlich aus elektronischen Klangquellen zusammensetzt. So ähnlich hatte es Stockhausen formuliert. Beim Komponieren wollte ich Assoziationen zu bekannten Musikinstrumenten vermeiden, um einen neuen Zugang zur Musik zu ermöglichen. Nehmen wir das Elektroschlagzeug: In meiner Vorstellung saß da kein Schlagzeuger hinter seinem Drumset. Ich war nicht mehr an die traditionelle Spielweise gebunden. Auf diese Weise gab es auch keine Vorbilder mehr, sondern nur den Gedanken und den Klang der Musik.
Aus heutiger Sicht erscheint es sonderbar, doch während meines Studiums hatte ich kein Tonbandgerät besessen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, Aufnahmen von meiner Arbeit zu machen. Weder Etüden noch Proben oder Konzerte – nichts. Es gab offenbar keinen Grund, Musik aufzunehmen. Nicht zur Kontrolle, noch nicht einmal, um sie zu archivieren. Das gehörte für mich nicht dazu – übrigens auch nicht für meine Kommilitonen und Professoren. Die Musik, die wir damals erarbeiteten und aufführten, war flüchtig. Für die »Speicherung« gab es ja die Notenschrift. Musik war in meinem universitären Umfeld immer an Anlässe gebunden und ephemer.
Mittlerweile hatte sich meine Einstellung zu Tonaufnahmen natürlich verändert: Ich wollte meine Ideen auch aufnehmen, um sie mir anhören zu können, ohne selbst zu spielen. Dafür hatte ich mir einiges an elektronischem Equipment zugelegt. Noch war mein Instrumentarium jedoch bescheiden und beschränkte sich auf Kassettendeck, 4-Spur-Kassettenrekorder, Verstärker, Vorverstärker, Plattenspieler, Lautsprecherboxen, Minimoog, Schlagzeugmaschinen, ARP Analogsequenzer, Space Echo, Mikrofon und das Farfisa Professional Piano, das ich Ralf für einen Hunderter abgekauft hatte. Ach ja, mein Musser Pro-Vibe, auf dem ich immer noch spielte, stand auch noch im Raum.
Ich lernte, mit der Tontechnik umzugehen. Während unserer Aufnahmesessions hatte ich mir einiges von Peter Bollig und Florian abgeschaut, und ich war auch gut darin, Joachim Dehmann Löcher in den Bauch zu fragen. Darüber hinaus abonnierte ich deutsche, englische und US-amerikanische Fachzeitschriften für elektronische Musik und Studiotechnik. Ein gewisser Nerd-Faktor war sicher zu erkennen, aber wenn man sich für die technische Entwicklung interessierte, durfte man das nicht vernachlässigen. Florian, glaube ich, gehörte auch zu den Abonnenten solcher Blätter.
Mein elektronischer Alltag bestand darin, Schlagzeugmaschine und Analogsequenzer einzuschalten und auf Autopilot zu stellen. Es spielte. Natürlich hat irgendetwas immer gebrummt, geknistert oder gerauscht. Das Rauschen gehört halt zur Musik, redete ich mir ein.
Die Arbeit mit Musikautomaten unterscheidet sich schon deshalb grundlegend vom menschlichen Musizieren, weil Apparate eingegebene Parameter reproduzieren und nicht in der Lage sind zuzuhören und zu reagieren. Unterschiedliche Instrumente bieten unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten und bringen aufgrund ihrer Eigenarten auch unterschiedliche Ergebnisse hervor. Eine Improvisation auf dem Klavier führt beispielsweise zu einer ganz anderen Musik als eine Improvisation auf der Gitarre, obwohl beide verschiedene Arten der Mehrstimmigkeit ermöglichen. Streich- oder Blasinstrumente begünstigen wiederum eine andere Spielweise, und auch die Anwendung von elektronischen Klangerzeugern führt naturgemäß zu einer eigenen Qualität des musikalischen Ausdrucks.
Das Neue bei meinem damaligen Elektro-Setup war, dass mir die Automaten eine Art Grundfläche lieferten, auf der ich akustische Figuren aufbringen konnte. Ich hörte mir die Sequenz an, veränderte sie, spielte einen Akkord, eine Melodie, verließ den Raum, telefonierte, las eine Zeitung, kehrte zurück und ließ mir was einfallen, beispielsweise einen Tonartwechsel. Ich konnte sogar beim Spielen fernsehen. Meistens hatte ich dann aber den Ton abgestellt und improvisierte einen Soundtrack zu den Bildern. Gelegentlich drückte ich auf die rote Aufnahmetaste. Mein Leben fand in diesem Set-up statt, in der Tonart und dem Tempo eines Loops.
Die Arbeit mit Sequenzer und Drum Machines brachte eine neue Qualität in meine musikalische Wahrnehmung. Denn ich war von meiner Rolle als Instrumentalist befreit und konnte mich ausschließlich der Gestaltung der Musik widmen. Damals empfand ich es als ein Privileg, ganz allein ein komplettes Stück Popmusik komponieren und aufnehmen zu können. Die automatischen Tonfolgen des Sequenzers und die Loops der Schlagzeugmaschinen hypnotisierten mich. Diese Kisten brachten die Trance-Qualität der afrikanischen, indischen und asiatischen Musikkulturen in die Popmusik, die auch schon der Ausgangspunkt für das Konzept der Minimalisten war. Wo kamen diese elektronischen Schlagzeuge eigentlich her?
Schlagzeug-Maschinen
Zur Zeit der Stummfilme setzte man in den Lichtspielhäusern Kino-Orgeln ein. Diese riesigen elektrisch betriebenen Apparate sollten ein Orchester imitieren und besaßen demzufoge auch ein Arsenal von Schlaginstrumenten, die mechanisch bedient wurden. Es wurde aber auch mit Geräuschen gearbeitet. Dadurch wurde der Film lebendig. Effektregister brachten Donnergrollen, Huftrappeln, Vogelgezwitscher, Telefonklingeln, Eisenbahngeräusche oder Pistolenschüsse hervor. Die Organisten wurden auf diese Weise zu den ersten Foley Artists der Filmgeschichte. Als der Tonfilm 1927 einen neuen Standard setzte, verlagerte sich diese Live-Performance auf die Tonspur des Zelluloids. Die großen Theater-Orgeln und das Schlagzeug aber waren eine Verbindung eingegangen, die überlebte. In den nächsten Jahren wurde das mechanische Schlagzeug elektronisch. Die technische Evolution der Drum Machine durchlief erst die analoge Klangerzeugung, dann folgten digitales Sampling und die Steuerung mithilfe von Mikroprozessoren.
Die erste eigenständige Rhythmus-Maschine war aus meiner Sicht die 1949 von Harry Chamberlin in den USA konstruierte Chamberlin Rhythmate, deren Drum-Patterns auf 1-Zoll-Magnettonbandloops aufgezeichnet waren. Aber der Erfinder dachte weiter und entwickelte ein elektromechanisches, polyphones Tasteninstrument, das 1951 unter dem Namen Chamberlin 200 mit einer Auflage von rund 100 Exemplaren auf den Markt kam. In den Sechzigerjahren übernahm die Firma Streetly Electronics aus Birmingham, England, sein Konzept. Als die Beatles das Mellotron auf einigen ihrer Songs einsetzten, wurde es schlagartig populär.
1959 brachte die US-amerikanische Firma Wurlitzer die erste kommerziell erhältliche Rhythmus-Maschine auf den Markt, den Wurlitzer Side Man. »You play it sweet, Side Man gives the Beat« lautete der phantastische Werbeslogan. Das Gerät hatte eine Anzahl Preset-Patterns zu bieten, aber auch schon die Möglichkeit, die Schlaginstrumente mit Knöpfen manuell zu spielen. Der Side Man hatte den Look eines aus solidem Mahagoniholz gebauten Leslie-Kabinetts. Integrierter 11-Watt-Verstärker, drei Lautsprecher, Preis: 395 US-Dollar.
Die britische Firma Vox folgte 1967 mit ihrem Modell Percussion King. Die Maschine sah aus wie das von derselben Firma produzierte Bassverstärker-Topteil von Paul McCartney. Neben den Preset-Patterns ließen sich hier die Schlaginstrumente manuell auslösen: Castgnet, Clave, Block, Bongo I, Bongo II, Drum Roll, Snare Drum, Bass Drum, Brush Cymbal, Crash Cymbal. Die Konstrukteure hatten sich außerdem von der Ergonomie der akustischen Schlagzeuge leiten lassen und zum Spielen von Bass Drum und Hi-Hat Fußpedale vorgesehen.
Damals besorgte ich mir über eine Annonce in einer Fachzeitschrift den Rhythm King MRK-2 von Maestro, Baujahr 1971, Serial No. 15015. Auch bei dieser Maschine ließen sich alle Instrumente manuell spielen. Nach der Farfisa Rhythm 10 von 1972 kam 1976 die Maschine Korg Mini Pops 7 auf den Markt. Ist Ihnen »Oxygene« von Jean Michel Jarre ein Begriff? Genau, das ist sie. Mit der Roland CR-78 aus dem Jahr 1978 sind wir in der damaligen Gegenwart angekommen. Linn Drum, Roland TR-808 und TR-909 folgten dann später. Neben den genannten Drum Machines gab es natürlich noch jede Menge andere. 3
Ich entwickelte eine leichte Obsession für diese Maschinen: kleine furnierte Holz- oder Plastikkästen von Hohner, Farfisa, Maestro, Ace, Korg oder Roland mit Drehreglern und Knöpfen auf einer Frontplatte. Unter, über oder auf diesen Bedienungselementen standen die Namen der Rhythmen, die man abrufen konnte: Bossa Nova, Samba, Bolero, Rumba, Cha Cha Cha, Mambo, Tango, Slow Fox, Rock, Swing, Go-Go, Waltz, March, Western usw. Regelmöglichkeiten für Volume, Balance und Speed brachten eine gewisse Flexibilität in die Anwendung. Dazu kommt, dass die frühen Modelle alle eine eigene Methode hatten, die Zeit zu unterteilen. Das führte naturgemäß zu einem individuellen Timing und machte sie voneinander unterscheidbar.
Zielgruppe dieser Schlagzeugmaschinen waren anfänglich Amateure und Alleinunterhalter, die zum Tanz aufspielten und sich keinen Schlagzeuger leisten konnten oder wollten. Schließlich befreite eine ganze Reihe von Musikern die Geräte von ihrem Staub und benutzte ihre maschinelle Ästhetik als musikalisches Mittel ihrer Gestaltung, was die Familie der Schlaginstrumente ergänzte und enorm bereicherte. Genau aus diesem Grund fing ich jetzt damit an, die Maschinen zu sammeln und mit ihnen zu arbeiten. Ein- und Ausgänge, die ich nachträglich einbauen ließ, machten es mir möglich, neben den fertigen Preset-Rhythmen einzelne Instrumente anzuspielen und zu mischen. Es gab zu dieser Zeit natürlich noch keine Computer in der Musikproduktion, deshalb verwendete ich, genau wie im Kling Klang Studio, ein Spielbrett oder benutzte Triggereingänge, um einen Analogsequenzer zur Steuerung anzuschließen. Auf das Anfertigen von Spielbrettern für unsere elektronischen Schlagzeuge hatte sich Kollege Wolfgang spezialisiert. Bei ihm gab ich jetzt ein Percussion-Multipad und ein Vibrolux in Auftrag.
Die Anfangsphase meiner eigenen Elektro-Laufbahn war sehr inspirierend. Auf der Grundlage der Muster von Sequenzer und Drum Machine konnte ich meiner Phantasie freien Lauf lassen und komponierte am laufenden Band. Genau wie im Kling Klang Studio lag dabei mein aufgeschlagenes Notenbuch immer griffbereit. Einige dieser Ideen nahm ich mit auf die Mintropstraße, und manche davon wurden in unseren Produktionen verwendet und sind im Laufe der Zeit als Kraftwerk-Titel bekannt geworden.
Andere sind später unter meinem Namen oder von anderen Künstlern veröffentlicht worden, zum Beispiel »15 Minutes Of Fame«, »International Velvet«, »Without A Trace Of Emotion«, »Hausmusik« und »Kissing The Machine« – oder »How Long« von Electronic .
Das fliegende Wohnzimmer
Wolfgang hatte seit August 1979 in der Berger Allee unentwegt an den neuen Studiomöbeln gebastelt, die er dann in die Mintropstraße transportierte. Dort hatte sich Joachim mittlerweile in den beiden Kontor-Räumen, die zum Studio gehörten, eine professionelle Werkstatt eingerichtet. Auf einigen Arbeitsplatten befanden sich die aufgeschraubten Geräte, an denen er gerade arbeitete: Racks, Synthesizer, Pedale, Outboard-Equipment, Steckfelder, Taperecorder, Kabeltrommeln. Das sah manchmal verdammt kompliziert aus. Flightcases mit unendlich vielen Schubladen waren vollgestopft mit Schrauben, Muttern, Sicherungen, Lötzinn und anderen Kleinteilen, von denen man gar nicht wissen möchte, welche Funktion sie haben. Obendrauf: Bohrmaschine, Lötkolben, Schraubzwingen, Taschenlampe, Filzstifte, Werkzeugkasten.
Kataloge, Betriebsanleitungen, Handbücher, Leitz-Ordner, Glühbirnen, Spraydosen, Öl, Kabelbinder und anderer Studiokram quoll förmlich aus den Metallregalen an den Wänden. Helle Bürolampen hingen einen Meter über den Tischen. Alles, was für die technischen Arbeiten benötigt wurde, hatten Ralf und Florian mittlerweile angeschafft. Dazwischen stand Joachim Dehmann mit einem Lötkolben in der Hand, auf ein Oszilloskop starrend und vor sich hin murmelnd: »Wieso brummt das doofe Netzteil denn immer noch?«
Nach dem Verdrahten der schrägen Pulte wurden sie auf ihre fahrbaren Stahlgestelle im Studio gestellt. Aus Platzgründen entsprach die Anordnung eher einem U als einem rechtwinkligen Dreieck wie später auf der Bühne. Genau wie beim Live-Konzept waren die Neonröhren unter den Pulten angeordnet. Davor die etwa zehn Zentimeter hohen Laufpodeste, auf deren verchromten Oberflächen wir perfekt an unsere Keyboards »gleiten« konnten, die vor uns standen .
Unverändert befand sich an der Rückseite des Raums das Stahlgerüst mit unseren Monitorboxen. In zwei Seitentürmen links und rechts sowie auf einer zweieinhalb Meter hohen Traverse waren Teile der Live-PA und große JBL-Lautsprecher angeordnet. So konnten wir jederzeit zwischen Live- und Studiosound wählen.
Die ganz in Grau gehaltene Anlage sah toll aus, aber wirklich ergonomisch war sie nicht. Dieses Konzept wurde vor allen Dingen für den Livebetrieb entwickelt und folgte einer visuellen Prämisse. Bei unserer täglichen Arbeit wären ein Tisch und ein Stuhl zwar nicht besonders avantgardistisch, aber bequemer gewesen, jedenfalls für mich. Nicht unwesentlich für die Konzeption eines Studios sind bekanntlich Raumakustik und Position der Lautsprecher. Daran hatte sich aber auch nach dem Umbau nichts geändert – das Design stand im Vordergrund. Ralf erfand für das mobile Studio in Anlehnung an Erich Kästner den Namen »Das fliegende Wohnzimmer«.
Die Triggersumme
Für einen Besuch im Synthesizerstudio Bonn ging immer der ganze Nachmittag drauf. Meistens holte mich Ralf von zu Hause ab, und wir bretterten dann zusammen über die Autobahn nach Bonn. Bei einem unserer Besuche sprachen wir mit Hajo über die neuen Geräte, die Ralf und Florian in Auftrag gegeben hatten: einen zweiten Synthanorma Sequenzer, um 32 Schritte einstellen zu können, und die sogenannte »Triggersumme«, wie Hajo seinen Prototyp nannte: ein Musikautomat, mit dem Audiosignale getriggert wurden, in diesem Fall elektronische Schlaginstrumente.
Wolfgang und ich trommelten live das Schlagzeug mit den Stricknadeln über unsere Percussion-Multipads. Verglichen mit der mathematischen Präzision eines Sequenzers war das menschlich ungenau und ein Nachteil bei Studioproduktionen. Bei den Tonaufzeichnungen konnten wir die Schlagzeugklänge zwar mit dem Sequenzer ansteuern, allerdings nur ein Instrument pro Durchlauf. Ralf und Florian hatten Hajo nun die Aufgabe gestellt, eine zum Sequenzer synchron laufende Bedienmatrix für unser elektronisches Schlagzeug zu konstruieren, damit wir, während es läuft, alle Schlaginstrumente frei programmieren bzw. triggern konnten.
Die Elektronik war in einem von Wolfgang konstruierten, verchromten Kasten untergebracht: etwa 1,10 Meter lang, 25 Zentimeter breit, 15 Zentimeter hoch. Jedes Instrument hatte eine Reihe von Schaltern. Für jede der 16 Takt-Positionen existierte ein Schalter in Rot, Orange, Gelb, Weiß und Blau. Wenn ich ihn nach oben setzte, gab er ein Signal heraus. Das war wirklich neu, weil man damit Rhythmen jetzt manuell einstellen konnte – sie liefen dann in einem Loop weiter. Man konnte im Betrieb jeden Schalter umlegen und den Rhythmus verändern oder ein Fill-in programmieren. Vorne liefen die Leuchtdioden die 16 Schritte durch.
Die Kling Klang Tonaufnahmen 1980
Am 14. Mai 1980 setzten wir endlich unsere Sessions im Kling Klang Studio fort. Joachim Dehmann hatte sich gut bei uns eingelebt. Natürlich brachte das neue Equipment neue Möglichkeiten, aber auch jede Menge neuer Schwierigkeiten und Fehlerquellen mit sich. Es war äußerst hilfreich, wieder einen Inhouse-Toningenieur bei unseren Sessions zu haben.
Joachim Dehmann: »Während der Produktion des Albums bestand meine Funktion darin, das Equipment zu warten, Sounds einzustellen und als Toningenieur im klassischen Sinn darauf zu achten, dass die Signale einwandfrei auf die MCI-16-Spur-Maschine aufgenommen wurden. Die Jungs mussten sich an das neue Studiokonzept gewöhnen – durch die Verkabelung und vor allen Dingen die Steckfelder konnten jetzt alle Geräte miteinander kommunizieren, das eröffnete eine Menge Möglichkeiten. Ich half ihnen dabei, die Signalwege zu verschalten, das ging in der Regel bis spät in die Nacht. Florian und Ralf waren nicht die Typen, die um 8:00 Uhr oder um 9:00 Uhr morgens zum Dienst erschienen. Eine Beamtenmentalität konnte man ihnen wirklich nicht nachsagen. Sie waren eher unkonventionell. Bei dieser Produktion waren sie hochmotiviert und erschienen manchmal bereits mittags oder nachmittags im Studio. Im Laufe der Jahre haben sich aber ihre Arbeitszeiten wieder in die Nacht verlegt.«
Computerwelt
Aldous Huxley hatte 1939 in Schöne neue Welt ein beängstigendes Szenario entworfen, und auch George Orwell beschrieb in seinem 1949 veröffentlichten Roman 1984 einen totalitären Überwachungsstaat. 1973 beschäftigte sich Rainer Werner Fassbinder in seinem zweiteiligen Fernsehfilm Welt am Draht dann mit einer im Computer programmierten Welt, in der die Bewohner zwar ein Bewusstsein besitzen, aber nicht realisieren, dass sie ihre Existenz lediglich der Software eines Computers verdanken.Wie aber Computer unsere Welt tatsächlich verändern würden, war mir damals noch nicht klar. Zur Orientierung: Der Film Blade Runner 4 von Ridley Scott lag noch zwei, William Gibsons Debütroman Neuromancer 5 noch vier Jahre in der Zukunft.
Andererseits hatte die Zukunft ja schon begonnen, die Computertechnologie war längst ein Teil unserer Lebens- und Arbeitswirklichkeit geworden. Mikroprozessorgesteuerte Geräte wie die der Firma Eventide fanden in den Siebzigerjahren ihren Platz in der Musikproduktion. Auch bei uns im Kling Klang Studio verwendeten wir beispielsweise einen Instant Phaser, Digital Delays und andere Produkte der New Yorker, aber diese Apparate waren keine Computer-Terminals. Florian hatte sich zwar das SWTPC 6800 Computer-System von der South West Technical Products Corporation zugelegt, weil er den Rechner für seine Sprachsynthese-Experimente benötigte. Ansonsten hatten wir aber zu diesem Zeitpunkt noch keinen »richtigen« Computer im Studio. Als wir uns in das Thema vertieften, fuhren wir zu einer Düsseldorfer Filiale von IBM, um dort aus erster Hand zu erfahren, wie diese Rechner funktionieren. Denn es war klar: Die analoge Signalverarbeitung – wie wir sie seit langer Zeit kannten – würde bald durch die digitale abgelöst werden.
Seit einiger Zeit bestimmte in der Gesellschaft das Bundesdatenschutzgesetz als Folge der zunehmenden elektronischen Datenverarbeitung den Diskurs. Die mehrteilige Fernsehserie Computer können nicht vergessen wurde von der ARD ausgestrahlt und trug zur Meinungsbildung bei. Polizeiliche Ermittlungsmethoden wie die Rasterfahndung nutzten bereits seit dem »Deutschen Herbst« intensiv die EDV. Damals war die vorherrschende kritische Meinung, dass die Erfassung und Sammlung von persönlichen Daten eine Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft darstellt. Die Kontrolle durch den Staat war auf gar keinen Fall hinnehmbar, was sich natürlich mit der deutschen Geschichte erklären lässt. Das nahende Ende der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt und seiner sozial-liberalen Politik zeichnete sich ab. Widerstand gegen den Nato-Doppelbeschluss wurde organisiert. Anfang der Achtziger demonstrierten Hunderttausende auf den Straßen. Es war die Zeit der Friedens- und Umweltbewegung, der Atomkraftgegner und der Hausbesetzer. Damals hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass die Menschen einmal freiwillig ihre privaten Daten in elektronischen sozialen Netzwerken preisgeben werden.
Die vier Silben des Wortes »Computerwelt« ließen sich gut mit einem Orgelthema aus der ersten Phase der Writing Sessions singen. Es klang sofort überzeugend, als Florian das Wort mit seinem Vocoder intonierte. Und die im deutschen Text enthaltene Redewendung »Zeit ist Geld« war ein Geschenk. Keine Frage: Das war ein Refrain.
Bei der Suche nach der Strophe für den Song erinnerten wir uns an das Fragment namens »Megalo«. Eine Weile bastelten wir daran herum und schließlich spielte und sang Ralf unisono die Melodie. Mit der Attitüde eines Nachrichtensprechers vorgetragen, erinnert die erste Strophe der Lyrics an die Stimmung dieser Zeit:
»Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA, haben unsere Daten da.«
Den charakteristischen perkussiven Sound von »Spacelab« entwickelte Ralf für »Computerwelt« weiter. Es entstand die sogenannte Elektro-Snare, die später allgemein als »Zap« bekannt wurde. Mit einer um Millisekunden verzögerten Wiederholung verwendeten wir dieses Geräusch hier erstmalig in unserer Musik.
Neben den auf der Platte genannten Text-Autoren lieferte ein Pocket Language Translator von Texas Instruments einen weiteren, nicht weniger wichtigen Beitrag zum Text. Warum? Nun, es gab dort Kategorien wie: »Nummern, Zahlen, Handel, Leute, Reisen, Zeit, Medizin, Unterhaltung«. Das war erhellend, es machte deutlich, wie das Leben in der Gesellschaft organisiert ist.
Computerlieb e
Es war an einem frühen Abend im Studio: Ich stand an der Triggersumme und schaltete einen Rhythmus ein, eine Mischung aus Rumba, Bossa Nova, Twist. Später fügten wir noch eine Elektro-Snare hinzu. Mir kam plötzlich eine Idee. Ich ging die zwei Schritte zu Florians Keyboard und spielte in einem Glockenspiel-Register ein kleines Thema in g-Moll. Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete Ralf mit einer Bassfigur auf dem Minimoog und griff dazu einen liegenden Akkord auf dem Polymoog. Auch die Variation, die ich mir für das Glockenspiel-Thema ausgedacht hatte, passte perfekt. Die Melodien waren mir in der Musikschule Krefeld beim Improvisieren auf dem Klavier eingefallen.
Einerseits war die Arbeitsweise während unserer Writing Sessions organisch – wir spielten uns musikalisch die Bälle zu und gingen auf die Vorschläge der jeweils anderen ein. Andererseits war das Vorgehen aber auch synthetisch – denn wir kombinierten Elemente von verschiedenen Aufnahmen und entwickelten daraus eine neue Komposition. Diese Art des musikalischen Handwerks lag mir schon immer. Und die Kommunikation zwischen Ralf und mir funktionierte damals in beide Richtungen.
Wir brauchten einen Refrain oder einen anderen Gedanken und erinnerten uns an eine Session, die ungefähr ein Jahr zurücklag. Ralf hatte ein Thema in unterschiedlichen Variationen erfunden und ihm den Arbeitstitel »Ravel« gegeben. Wir verknüpften es mit meinem Glockenspiel-Thema. Schon bald hatte er die ersten Textstellen im Kopf und paraphrasierte mit seiner Stimme. Auf diese Weise entwickelten wir die Struktur der Musik.
Soweit ich mich erinnere, schrieb sich »Computerliebe« fast von selbst. Schließlich setzte Florian auch noch einen elektronischen »Überflieger« ins Spektrum, um auf die Welt der Computer hinzuweisen. Unter dem Begriff Überflieger verstehe ich das elektronische Äquivalent von bunten Luftballons – in diesem Fall auch gerne Datenströme –, die an strategisch wichtigen Punkten der Musik aufsteigen. So einen Sound zog Florian damals im Handumdrehen aus seinem Elektro-Werkzeugkasten.
Taschenrechner
Die Idee der Taschenrechner-Sounds hat ihren Ursprung in Florians Neugierde, die grundsätzlich der Treibstoff für seine Kreativität war. Auf der Suche nach klingenden Gegenständen, nach Audio-Fundstücken, streifte er durch die umliegenden Musikgeschäfte und Warenhäuser. Dabei entdeckte er noch weitere Modelle des Pocket Language Translator, den wir bereits bei »Computerwelt« eingesetzt hatten. Außerdem fand er einen tragbaren Kindercomputer namens Speak & Spell. Beide Geräte von Texas Instruments konnten sprechen. Neben ihren synthetischen Stimmen wurden die Operationen auf diesen Taschenrechnern mit Elektro-Sounds unterstützt.
Eines Tages tauchte Florian mit einem Plastikbeutel voller Gadgets im Studio auf. Joachim Dehmann öffnete die Gehäuse der Geräte, fand die Stellen, an denen man das Audiosignal abgreifen konnte, und verband sie mit unserem Audiosystem. Sie hörten sich über die Anlage ziemlich trashig und zugleich eindrucksvoll an. Die Dinger brachten die idealen Sounds für ein akustisches Portrait ins Spiel. Von da an entwickelte sich der Plan, eine Art Zirkus-Nummer mit Mini-Instrumenten für die nächste Show zu inszenieren. Florian begab sich weiter auf die Suche nach passenden Klangerzeugern. Und schon bald tauchten ein Kinderklavier – Mattel Bee Gees Rhythm Machine – und ein Stylophone auf. Beide waren handlich und tragbar und komplettierten unser Mini-Instrumentarium .
Ralf widmete sich dem Kinderklavier, und ich beschäftigte mich mit dem Stylophone, ein von einem gewissen Brian Jarvis 1967 erfundenes Miniatur-Keyboard, das in den 1970er-Jahren mit großem Erfolg weltweit vermarktet wurde. In Deutschland machte der Schlagersänger Bill Ramsey Werbung für die »Electronic-Pocketorgel mit dem Supersound«. Der Ausgangspunkt der Komposition waren also die Lo-Tech-Klänge dieser Taschenrechner und Gimmick-Instrumente. Bei der Suche nach einem passenden Motiv oder Riff, das zu einem Taschenrechner-Ensemble passen würde, landeten wir schließlich bei einem Thema, das Ralf in seiner Urform vor einiger Zeit erfunden hatte. Darauf konnten wir weiter aufbauen.
Dazu gab es die Wilhelm-Busch-artige Zeile »Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand«. Und Florian übernahm die Aufgabe, den Text mit den Tastentönen eines Taschenrechners komplementär zu ergänzen und auf diese Weise zu illustrieren. Für seine Elektro-Antwort entwickelten wir ein kleines rhythmisches Muster. Ich finde, der Taschenrechner spricht an der Stelle die Lyrics mit. Die Fortführung zählt auf, was der Musikant alles mit seinem Taschenrechner anstellen kann: »addieren, subtrahieren, kontrollieren, komponieren.«
Damals entwickelten wir die musikalischen Motive und Themen simultan. In diesem Teil wechselte ich zu handgespielten Glissandi auf dem Stylophone, und auch Ralf erfand parallel sein zweites Thema. Vermutlich entstand auf diese Weise der polyphone Charakter unserer Musik. »Taschenrechner« ist ein gutes Beispiel, wie sich die lebendige Polyphonie unserer Writing Sessions anfühlte. Denn wir improvisierten natürlich gemeinsam, um mit den Mini-Instrumenten und den Musik-Automaten die Phrasierung der musikalischen Bausteine zu erfinden .
Heimcomputer
Im August fuhren Ralf und Florian wieder zwei Wochen mit dem Rad durch die Hitze der Côte d’Azur. Sie liebten das. Wegen meiner Tätigkeit an der Musikschule blieb ich zu Hause. Nach dieser kurzen Unterbrechung machten wir sofort weiter. An einem der nächsten Tage kam Florian mit einer Textzeile ins Studio. Für mich hörte sie sich an, als wäre sie dem Drehbuch einer Episode von Star Trek entnommen: »I program my home computer to beam myself into the future.« Ralf half bei der Übersetzung ins Deutsche und kam auf folgenden Wortlaut: »Am Heimcomputer sitz’ ich hier und programmier die Zukunft mir.«
Ob wir schon an der Musik gearbeitet hatten, als uns Florian seinen Aphorismus vorstellte, kann ich nicht mehr genau sagen. Jedenfalls ergab sich ein Zusammenhang mit dem Musikfragment von Anfang 1978, das in meinem Notenbuch den Arbeitstitel »Welt der Arbeit« trägt.
Wir wollten musikalisch in die Richtung »Maschinen-Funk« gehen. Ralf startete den Synthanorma. Das Zeitmaß lag ungefähr bei 120 Schlägen pro Minute. Synchron zum Sequenzer lief die Triggersumme. Auf den oberen Schalterreihen in Rot, Orange und Gelb lagen die White-Noise-Instrumente mit den Funktionen Cymbal, offene und geschlossene Hi-Hat. Darunter in Weiß die Snare Drum und ganz unten in Blau die Bass Drum. Nach und nach entstand das Grundmuster unserer automatischen Rhythmusgruppe, und die Basis für den Song war gelegt. Wie bei »Computerwelt« verwendeten wir bei »Heimcomputer« Ralfs neue »Elektro-Snare«. Diese Art der Moog-Percussion hatte eine neue Qualität: Außer ihrer Funktion in der Rhythmusgruppe erinnerte nichts mehr an das akustische Schlagzeug, noch nicht einmal an die elektronischen Imitationen der Schlagzeugmaschinen.
Nachdem wir den Track weiterentwickelt und eine Zeit lang hatten ruhen lassen, wurden wir überrascht: Als Ralf bei einer der nächsten Sessions den Synthanorma startete, trauten wir unseren Ohren nicht. Da war sie, die aufsteigende Tonfolge, die für den Titel »Heimcomputer« so charakteristisch ist. Ralf wählte die Sinuswelle am Oszillator, veränderte die Hüllkurve und transponierte die Sequenz durch die Oktaven. Wir staunten. Es sind sechzehn Töne, aber mich erinnerte diese Reihe sofort an eine Zwölftonreihe. Wie die Reihen von Alban Berg klang auch diese durch die Verwendung von bekannten Akkordbrechungen nicht bizarr, sondern vertraut und zugänglich.
Um das Potenzial der Tonskala voll ausschöpfen zu können, legten wir ein weiteres Multitrack an. Wir bestimmten ein neues Tempo mit 128 BPM, erfanden einen neuen Rhythmustrack, und Ralf und Florian starteten eine Reihe von Experimenten, unsere fließende Tonskala elektronisch zu manipulieren. Von diesem »Klangstück« machten wir eine Abmischung. Es war Ralf, der die Idee hatte, die beiden Viertelzoll-Bänder bei 4′19″ aneinanderzukleben. Die Chancen standen nicht besonders gut, aber der Cut funktionierte wie ein Szenenwechsel im Film. Durch den Tempounterschied von 120 zu 128 BPM nahm ich das anschließende zweiminütige experimentelle Tonskala-Segment wie im Zeitraffer wahr.
It’s More Fun To Compute
Eines Tages stolperten wir über einen Schriftzug, der sich damals auf der Bedienoberfläche von Flipperautomaten der Firma Gottlieb befand: »It’s more fun to compete!« In den Siebzigerjahren waren diese Spielautomaten sehr populär. In Düsseldorf standen sie damals wirklich in jeder Kneipe. Gelegentlich konnte auch ich mich nicht der Gruppendynamik entziehen und nahm an »Flipper-Wettbewerben« teil, obwohl ich eigentlich mit Spielen aller Art rein gar nichts anfangen kann. Indem wir bei dem bekannten Werbeslogan der Flipper-Automaten ein »e« durch ein »u« ersetzten, verwandelte sich das letzte Wort in »compute«, und der Satz passte auf unser Album.
Nach den verschiedenen Elementen von »Heimcomputer« setzen wir einen Schlussteil an das Musikstück, eine sogenannte Coda, die mit einem ziemlich krassen Moog-Bass und einer leicht dissonanten Synthesizer-Antwort eingeleitet wird, auf den Florian mit dem Vocoder den oben besprochenen Pinball-Text intoniert. Es folgt die Reprise des Minimoog-Sequenzer-Riffs von »Heimcomputer«, dem Ralf mit Variationen und Echos eine einzigartige Intensität gibt. Das von ihm zu einem Thema erweiterte Orgelmotiv ist für mich einer der entrücktesten Momente dieses Albums.
Nummern
An einem der Abende hatte ich auf der Triggersumme den »Numbers«-Beat eingeschaltet, der bei mir unter dem Arbeitstitel »Dom« lief. Florian testete gerade ein neues Effektgerät, den Bode Frequency Shifter. Was konnte man mit dem Ding alles machen? Welche Art von Signal ließ sich am besten damit manipulieren? Er routete das Schlagzeugsignal hindurch und drehte an dem zentralen Einstellungsknopf des 19-Zoll-Geräts herum. Auf einmal legten wir die Ohren an. Grundsätzlich war der Beat ja sowieso nicht so schlecht, aber durch den Bode Shifter geroutet und manuell manipuliert war das Ergebnis ein Kracher. Florian konnte so das Klangspektrum verändern und dem Original hinzufügen. Verblüffend – was für ein Sound! Das hatten wir noch nicht gehört. Auf der Grundlage dieser Einstellung bastelten wir weiter. Das vielleicht Interessanteste an diesem Track ist das freischwebende rhythmische Klangobjekt am Anfang, für das mir kein anderer Begriff einfällt als »bizarre Psycho-Sequenz«.
Ich erinnere mich, dass Florian mithilfe seines Pocket Language Translators Zahlen eingab, die dann in eine andere Sprache übersetzt wurden. So entstand die Grundidee einer multilingualen Komposition, deren Text aus Zahlen beziehungsweise Nummern besteht. Das entsprach metaphorisch der Bedeutung und den komplexen Rechenvorgängen von Computern.
Die spannende Aufgabe war es, aus den Sprachen Patterns zu entwickeln, die funktionieren. Als weitere Klangquellen dienten der Vocoder und der Votrax Sprachsynthetisator. Intuitiv fanden wir Zählzeiten heraus, die für uns überzeugend klangen. Entscheidend war an dieser Stelle, dass wir gemeinsam arbeiteten und die komplementären Muster nach musikalischen Gesichtspunkten entwickelten und nicht dem Algorithmus eines Programms folgten.
Computerwelt 2
Uns wurde klar, dass es klug wäre, nach »Nummern« das e-Moll-Motiv des Eröffnungs-Tracks »Computerwelt« wiederkehren zu lassen und damit die erste Seite der LP zu beenden.
Ich glaube, in der Reprise erreichten wir einen Moment der Klarheit, der für unsere gemeinsame Musik einzigartig ist. Und wenn in den letzten Takten Florians Votrax in die ausklingenden Akkorde zählt, verdichten sich die musikalischen Gedanken dieses Albums auf eine Art und Weise, die auch heute noch nichts von ihrer Atmosphäre verloren hat.
Mix mit sechs Ohren und sechs Hände n
Das finale Abmischen der Musik von Kraftwerk war zu dieser Zeit keine einfache Angelegenheit. Es war ein lang andauernder Lernprozess. Der Mix von Computerwelt im Kling Klang Studio machte da keine Ausnahme.
Florian besaß von uns die mit Abstand besten Kenntnisse in Sachen Studiotechnik. Was ihm aber fehlte, war eine fundierte Ausbildung. Ganz zu schweigen von einer professionellen Erfahrung als Toningenieur. Gleichwohl förderte seine unorthodoxe Herangehensweise mitunter erstaunliche Ergebnisse zutage. Das Kling Klang Studio war mit den besten Equalizern, Kompressoren, Phasern, Flangern, Digital Delays, Spectrum Analysern und anderen Zauberkästen ausgestattet, an denen er unentwegt rumfingerte und Sachen ausprobierte.
Mit diesen Effekten konnten wir die Signale verarbeiten und dann auf das Multitrack aufnehmen. Sie standen uns aber auch für den Mix zur Verfügung und konnten jederzeit in den Signalweg eingeschliffen werden. Allerdings erschwerte die Verbindung über die Steckfelder der Pulte ein ergonomisches Arbeiten, weil die Effekte meterweit vom Mischpult entfernt waren. Wenn wir nicht mehr weiterwussten, war das oft ein Fall für Joachim Dehmann, der dann in seinem weißen Kittel wie Daniel Düsentrieb angerauscht kam.
Meistens saßen oder standen wir beim Mix zu dritt hinter der Konsole. Die Arbeitsteilung war ungefähr so: Ralf machte die nötigen Handgriffe an der Konsole, während Florian sich um die Signalverarbeitung mit Effekten kümmerte und ich meine Kommentare zum Klang der Musik gab. Den Tape Operator übernahmen wir alle mal, je nach Bedarf.
Es gab aber auch Musikstücke, bei denen hatte jeder von uns ein bis zwei Fader in den Fingern und dazu die Aufgabe, sie zu fahren , das heißt, sie ein- und auszuschalten, die Lautstärkeverhältnisse zu regeln, Effekte rein- und rauszudrehen und so weiter.
Zum Glück war die Orchestrierung des Albums sehr sparsam, was dabei half, die Signale möglichst transparent zu mischen. Rein technisch werden die 16 Spuren des Mehrspurrekorders auf 16 Kanäle des Mischpults gelegt, dort bearbeitet und das Ergebnis – der Mix – auf einem weiteren Tonbandgerät in Stereo aufgezeichnet. Wenn man in diesem Stadium den zeitlichen Ablauf der Musik verändern wollte, blieb nur die Möglichkeit, dieses Band – den sogenannten »Senkel« – physikalisch zu zerschneiden. Ralf hatte sich diese Edits an der Viertelzoll-Maschine draufgetan. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit seinen Händen die beiden Spulen der Bandmaschine am Abspielkopf vorbeiführte – vor und zurück, vor und zurück – bis er den Punkt für einen Edit gefunden hatte, die Stelle mit einem weißen Stift markierte und sie mit einer Rasierklinge zerschnitt, um ein anderes Stück – das er vorher an anderer Stelle entfernt hatte und das seitdem um seinen Hals hing – mithilfe eines Klebestreifens zu insertieren. Dabei hatte er oft einen vergleichbaren Gesichtsausdruck wie später beim Warten seines Rennrads.
Ralf und Florian waren in jenen Tagen absolut motiviert, unsere Zusammenarbeit war wirklich spannend. Wenn wir uns am frühen Abend trafen, um in der kommenden Session einen Mix zu verabschieden, sagte mit Sicherheit einer von uns die geflügelten Worte: »Heute ist die Nacht der langen Messer!« Wir übten die jeweiligen Handgriffe für einen Titel, bis wir schließlich eine brauchbare Mischung hinbekamen. Manchmal überkreuzten sich dabei unsere Arme, wie beim vierhändigen Klavierspielen. Auch die Soundrides gehörten wieder mit zur Meinungsbildung.
Vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung hat unser Computerwelt- Mix für mich eine ganz besondere Bedeutung. Denn er lässt wie kein anderer den Geist unserer Writing Sessions erkennen und steht für unsere produktivste musikalische Phase.
Artwork
Zwar hatten die Schaufensterpuppen von Heinrich Obermaier es nicht auf das Cover des Mensch-Maschine -Albums geschafft, aber immerhin in roten Hemden und schwarzen Krawatten mit uns erfolgreich die gesamte Promotion getragen. Sie wurden unsere Plastik-Stellvertreter und sind beim Cover-Design von Computerwelt der visuelle Kontrapunkt zum Terminal, das auf der Vorderseite abgebildet ist.
Gelb war das neue Rot. Gelb bildet die Grundfläche, auf die das freigestellte, hellgraue Terminal montiert ist und auf dessem schwarzen Bildschirm die wie Negative invertierten grafischen Portraits der Schaufensterpuppen-Köpfe abgebildet sind. Die Rückseite des Albumcovers zeigt sachlich einen Ausschnitt der Rückansicht der Schaltzentrale mit den kiloschweren Harting-Steckern, die die Module elektrisch miteinander verbinden. In unserer Mannschaftsaufstellung – Ralf, Karl, Wolfgang und Florian – stehen unsere stummen Stellvertreter mit dem Gesicht zum Betrachter vor den Pulten. Auf den Hemden der Plastikpuppen ist eine Platine angebracht, die die LEDs der Krawatten steuert. Ralfs Dummy hält als Einziger einen Multistecker in der Hand.
Unter der Fotografie von Günter Fröhling wird in Versalien die erste Strophe des Titelsongs »Computerwelt« zitiert. Dies setzt die Tonalität für das Verständnis des Albums, wobei sich die Bedeutung der Worte erst durch die eigene Interpretation ergibt – je nachdem, wo im politischen Spektrum man angesiedelt ist. Unter der Zeile stehen die Namen der sieben Tracks.
Auf der Vorderseite der Innenhülle posieren die Plastikpuppen wieder in unserer Standard-Aufstellung mit den Mini-Instrumenten, mit denen wir »Taschenrechner« eingespielt hatten. Am unteren Rand sind die Credits zu sehen, diesmal unterteilt in Hardware, Software und Kling Klang Studio. Die Unterteilung des Personals in diese drei Kategorien spiegelt das erwachende digitale Weltbild wider. Die Software/Hardware-Perspektive empfand ich damals als originelles künstlerisches Konzept. Da schwang das Mensch-Maschine-System mit.
Was bei den Credits aber fehlt, ist ein Hinweis darauf, wer was zum Produkt beigetragen hat. Also ganz klassisch: Schlagzeuger, Sänger, Produzent usw. Das ist nicht ganz unerheblich, denn Verwertungsgesellschaften sind Kunstkonzepte relativ egal. Und mit dem Begriff »Software« können sie in diesem Kontext nicht viel anfangen.
Zurück zum Artwork: Auf der Rückseite der Innenhülle stehen die Plastikpuppen vor den Pulten an der linken Studiowand mit den Kunststoff-Pyramiden. Rechts ist im Anschnitt das Gerüst, auf dem sich die Lautsprecher befanden, sichtbar. Als wir am Mix von Computerwelt arbeiteten, wurden die ersten Farbkopierer in den Copyshops aufgestellt. Ralf fand an ihnen Gefallen und beschloss, den Fotos eine andere Anmutung zu geben. Aus irgendeinem Grund liebte er es, dass die Fotografien durch den Farbkopierer wie durch einen Filter transformiert wurden. Eigentlich keine schlechte Idee, sollte man meinen. Erst Jahre später wurde die wahre Qualität der Fotos von Fröhling in einer revidierten Neuauflage sichtbar.
Reflexion
Mit den Writing Sessions für Computerwelt starteten wir am 22. Juni 1978. Der Umbau des Studios in die mobile Schaltzentrale dauerte vom 1. November 1979 bis zum 13. Mai 1980. Der Neustart der Sessions war am 14. Mai 1980. Und am 15. März 1981 beendeten wir nach knapp drei Jahren und annähernd 400 Sessions, Tonaufnahmen und anschließendem Mix die Produktion des Albums.
Für mich sind die aufeinanderfolgenden Konzeptalben Mensch-Maschine und Computerwelt in mehrfacher Hinsicht miteinander verknüpft, wobei Die Mensch-Maschine metaphorisch für das musikalische Konzept der Band steht und Computerwelt die Welt von 1981 beschreibt.
Die Schaufensterpuppen sehe ich als ein verbindendes Element. Zwar waren sie nicht rechzeitig fertig geworden, um uns auf dem Cover der Mensch-Maschine zu visualisieren. Aber während der Promotion-Kampagne trugen sie unsere »Dienstkleidung«. Neben grafischen Elementen enthält das Artwork von Computerwelt Schwarzweiß-Fotos. Machen Sie den Test und stellen Sie sich die abgebildeten Puppen einmal mit roten Hemden vor … ich denke, der Bezug zum Vorgängeralbum wird deutlich.
Natürlich unterscheiden sich die Produktionen auch in gewisser Weise, aber beide Alben spielten wir mit analogen Synthesizern, Vocodern und elektronischem Schlagzeug ein. Wenn ich ein Instrument hervorheben sollte, das den Klang unserer Musik wesentlich beeinflusste, so ist es der Synthanorma Sequenzer, der auf Computerwelt um die Triggersumme erweitert wurde. Erstaunlicherweise sind beide Geräte stumm.
Nicht ganz unwesentlich: die Poetik der Musik. Beide Alben wurden von denselben Autoren geschrieben – Hütter, Schneider, Bartos, Schult –, was möglicherweise zu vergleichbaren Gedankengängen und Ergebnissen führte.
Die Veröffentlichung der Doppel-A-Single »Computer Love«/»The Model« in Großbritannien hebt den musikalischen Zusammenhang noch einmal hervor. »The Model« stieg 1982 auf Platz 1 der Charts – der Song war dem Vorgängeralbum The Man-Machine entnommen und damals bereits vier Jahre alt .
Nachdem wir die Produktion von Computerwelt im Kasten hatten, nahmen wir während weiterer Sessions ein paar Demos auf. Es muss uns wohl Spaß gemacht haben, gemeinsam zu improvisieren. Auch Wolfgang kam damals häufig ins Studio, um ein paar Takte mit uns zu trommeln. Wenn ich mir die Tapes unserer Writing Sessions und auch das fertige Album heute anhöre, dann spüre ich wieder die großartige produktive Atmosphäre, die damals im Kling Klang Studio herrschte. Vielleicht ist es uns bei Computerwelt am besten gelungen, die Dialektik der Mensch-Maschine-Metapher, so wie ich sie verstehe, in Musik zu übersetzen.