1
2
TOUR DE FRANCE – TECHNO POP – ELECTRIC CAFE
Das Leben geht weiter. Number One Hit Single. Andy and Paul. Techno Pop. Sex Objekt. Interludium: Das Model in München. Emils Exit. Planet Rock. Resetting Kling Klang. Der Telefon Anruf. Sprachsynthese und das Sprachlabor. Tour de France. Tracklist. Kling Klang 1C 064–65087. Tour de France (Single). Britannia Row Studios, London. Power Station Mix. Die Neuerfindung von Techno Pop. Boing Boom Tschak. Filmaufnahmen am Rhein. Rebecca Allen und ihre virtuellen Kreaturen. Flüela Pass – 2383 m. Musique Non Stop. Die Klangspirale. Electric Cafe. Der Plan. Mix in New York City. Zwischenlandung Düsseldorf. Remix: The Telephone Call. Noch einmal UFA. Rezeption Electric Cafe. 1981–1986: A Techno Pop Odyssee.
Das Leben geht weiter
Meine White-Cube-Wohnung am Hofgarten war zwar an sich toll und auch günstig gelegen – sie hatte aber einen erheblichen Nachteil: Ich konnte dort nur sehr leise Musik machen. Wenn ich meine eigenen musikalischen Experimente weiterentwickeln wollte, musste ich mir einen anderen Raum suchen. Bettina lebte damals im Haus ihrer Eltern im Norden Düsseldorfs. Kein besonders angesagter Stadtteil, aber als im Parterre eine Wohnung frei wurde, zog ich kurzerhand dort ein. Immerhin waren wir damals schon fünf Jahre zusammen. Im zweiten Stock wohnte noch ihr Onkel Manfred mit seiner Mutter. Sie war schwerhörig
und deshalb eine ideale Nachbarin. Manfred kam erst abends von der Arbeit nach Hause, und Bettina studierte immer noch an der Heinrich-Heine-Universität, hier konnte ich Musik machen und würde niemanden stören. Im größten Raum meiner neuen Wohnung richtete ich mir mein Studio ein.
In jenen Tagen nahm ich mein Deputat an den Musikschulen Krefeld und Meerbusch wieder auf. Sowohl der Direktor als auch meine Kollegen begrüßten mich herzlich, ohne mir in irgendeiner Weise ein schlechtes Gefühl wegen meiner langen Abwesenheit zu geben. Als ich nach dem Unterricht in meinem roten Volkswagen nach Hause fuhr, bewegte mich ein Gedanke, der mir in dieser Form noch nicht gekommen war: Wie würde sich mein Leben entwickeln? Wie sah eigentlich mein Lebensentwurf aus? Damals war ich fast dreißig. Eine konkrete Vorstellung hatte ich nicht. Ich stellte mir vor, wie mein Leben als hauptberuflicher Musiklehrer verlaufen würde, wie ich täglich unterrichte, vielleicht einmal eine Reise mit meiner Klasse organisiere, ein Ensemble leite und hoffentlich würdevoll und ein wenig vertrottelt alt werde. Ein solcher Lebensentwurf wäre gar kein schlechter. Aber natürlich würde er nicht parallel zu meinem seltsamen Leben als Kraftwerker funktionieren.
Die Arbeit mit Kraftwerk nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Hatte die Autobahn
-Tournee 1975 noch während der Semesterferien stattgefunden, dauerte unsere letzte Konzertreise schon ein halbes Jahr. Ich ging damals davon aus, dass das so weitergeht. Nach der Tour ist vor der Tour! Der Gedanke, dass ich mein zukünftiges Leben als Teil dieser Gruppe verbringen werde, fühlte sich für mich ganz natürlich an. Wir hatten die Basis für eine wirklich eigenständige Bühnenshow gelegt, auf der wir aufbauen konnten. Diese absolut stimmige Inszenierung lag wie ein geöffneter Werkzeugkasten vor uns, alle Instrumente sichtbar angeordnet. Aus meiner Sicht war es nur eine Frage der Zeit, wann wir mit einem nächsten Album die nächste Stufe unserer
Entwicklung erreichen würden. Parallel dazu als Musikpädagoge zu arbeiten würde auf Dauer bestimmt nicht funktionieren, doch das Loslassen fiel mir schwer. Erst nach langem Zögern kündigte ich schließlich nicht ohne Bedauern meine bestehenden Arbeitsverträge mit den Musikschulen.
Mit der Gruppe Kraftwerk, dem Kling Klang Verlag oder dem gleichnamigen Label hatte ich keinen Arbeitsvertrag, noch nicht einmal eine handschriftliche Vereinbarung. Bisher waren alle unsere Absprachen mündlich getroffen worden. Im Grunde war unsere Geschäftsbeziehung provisorisch. Denn wir hatten nicht ausführlich über Konditionen gesprochen oder meine Tätigkeit definiert. Ich rechnete damals nicht mit einem regelmäßigen Einkommen. Aber ich ging davon aus, dass sich in absehbarer Zeit eine Regelmäßigkeit in unsere Konzerttätigkeit einstellen würde.
Die Konzerte waren eine potenzielle Einnahmequelle, die Copyrights der Lieder die andere. Meine Anteile der Autorenrechte von Mensch-Maschine
und Computerwelt
würden für eine gewisse Zeit meine Kosten decken, Techno Pop
war in der Pipeline. Meine Mitwirkung bei der wundersamen Elektro-Combo entwickelte sich absolut positiv. Allerdings war mein offizieller Status diffus. Obwohl ich beim Finanzamt als Selbstständiger meine Steuererklärung abgab, fiel es mir schwer, Ralf und Florian als meine Kunden zu sehen; das war zu abstrakt für mich. Schließlich war ich fast jeden Tag mit den Jungs im Studio, und wir verbrachten auch sonst jede Menge Zeit miteinander. Die Gruppe Kraftwerk war mein Lebensmittelpunkt. In jenen Tagen nahm ich mir aber vor, unsere Geschäftsbeziehung zu professionalisieren.
Während der letzten Monate hatte ich bei der einen oder anderen Gelegenheit mit Ralf über eine mögliche Beteiligung am Umsatz der Schallplattenverkäufe gesprochen. Solche Lizenzen wären die dritte Einnahmequelle. Jetzt im Januar hatten wir drei –
Ralf, Florian und ich – eine kurze Lagebesprechung. Ralf leitete das Gespräch ein und erklärte Florian mit wenigen Worten, was anlag. Es lief ähnlich wie bei der Co-Autorenschaft. Wieder hatte ich den Eindruck, dass die beiden das Thema bereits ohne mich erörtert hatten. Wir fanden einen passenden Lizenz-Schlüssel für mich, und als ein paar Tage später ihr Anwalt Marvin Katz aus New York im Kling Klang Studio eintraf, wurde er von unserer Vereinbarung unterrichtet.
Number One Hit Single
Dann kam der 3. Februar 1982. Zunächst war es ein x-beliebiger Mittwoch. Ich hatte in meinem Studioraum die Instrumente verkabelt, den ganzen Nachmittag Einstellungen ausprobiert und versucht, etwas auf die Reihe zu kriegen. Gegen Abend war ich gerade damit beschäftigt, etwas aufzunehmen, als das Telefon klingelte. Ralf war dran. Ohne große Einleitung brachte er nach einem Räuspern etwas hervor, was so oder so ähnlich klang wie: »Karl, in England ist ›The Model‹ auf Platz 1.«
EMI hatte im letzten Sommer zu unseren England-Gigs die Single »Computer Love«/»The Model« als Doppel-A-Single rausgehauen. Und wie es manchmal so kommt, spielten die Radiosender vornehmlich »The Model«. Nach und nach schraubte sich der Song bis auf den ersten Platz. 300000 Singles waren angeblich schon verkauft, hieß es. Vier Jahre nach ihrem Erscheinen kletterte The Man-Machine
ebenfalls wieder in den Album-Charts nach oben und würde voraussichtlich »Gold« einspielen, was in den UK damals 100000 verkaufte Schallplatten bedeutete.
Ralf wusste nicht so recht, was er weiter sagen sollte, und mir fiel auch nichts mehr ein. Es war ein seltsames Telefongespräch. Sicher, es war toll, wir freuten uns, aber es kam auch keine Euphorie auf. Ralf tendierte sowieso zur Sachlichkeit, und auch ich
wollte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mich schon über wesentlich weniger viel mehr gefreut. Aber naja, es war natürlich saucool.
Zum Schluss unseres Telefonats machte Ralf noch den Vorschlag, am Freitag nach Bochum zum OMD-Konzert zu fahren. »Okay, ich bin dabei, bin gespannt was die Briten so drauf haben«, erwiderte ich. Ich weiß noch genau, was ich nach dem Auflegen gedacht habe: Ja, was bedeutet denn eine Nummer 1 jetzt genau? Und wie geht es jetzt weiter?
Andy and Paul
Seit »Electricity« konnte man Orchestral Manoeuvres in the Dark nicht mehr überhören. Inzwischen waren die Jungs aus Liverpool eine der erfolgreichsten neuen Bands in Europa. Im Laufe der letzten Jahre war in Großbritannien die Synthi-Szene immer größer geworden. Überall im Land gab es Künstler, die elektronische Popmusik produzierten, und immer mehr davon war massentauglich und hitverdächtig. Das neue Album von OMD, Architecture & Morality
, verkaufte sich millionenfach, und die dritte Single-Auskopplung der LP, »Maid Of Orleans«, erreichte Platz 1 der deutschen Hitparade, die Top 10 in England. Keine Frage: OMD waren Anfang 1982 erfolgreicher als Kraftwerk.
Ralf und ich sahen uns das Konzert in der Zeche Bochum vom Balkon aus an, und ich war ziemlich verwundert. Während wir mit Kraftwerk eine Metropolis
-Schaltzentrale auf die Bühne stellten und eine audiovisuelle Medienkunst-Performance ablieferten, präsentierte sich OMD ganz selbstverständlich in der Tradition einer britischen Rock-Band mit Malcolm Holmes’ Drum Kit im Zentrum der Bühne. Die beiden Keyboards von Paul Humphreys und Martin Cooper waren links und rechts davon aufgestellt, und Andy spielte einen Fender-Bass, was die
traditionelle Rock-Optik verstärkte. Natürlich füllte Andy McCluskeys amtlicher Heldentenor von Anfang an den Raum, aber als Paul dann »Souvenir« vortrug, war der ganze Laden auf eine besondere Art glücklich. Seine Stimme passte einfach ideal zu diesem Song. Es hat Vorteile, wenn in einer Band nicht nur eine Person singt.
Bei diesem Gig war zu spüren, dass es in der Popmusik bei Live-Konzerten vor allem auf die Vocal Performance ankommt. Und es ist auch nicht entscheidend, ob Musik durch die Schwingung einer Saite oder durch einen Tongenerator entsteht. Bei »Maid of Orleans«, dem Knaller der Show, sah ich zum ersten Mal Andys ganz eigene Art der Körpersprache. Andy tanzte wie ein orientalischer Derwisch. Die Jungs von OMD hatten es drauf, ihre Mittel absolut effizient einzusetzen.
Schließlich konnten wir die beiden nach dem Konzert auch kennenlernen. Andy und Paul trugen Stoffhosen, Pullover mit V-Ausschnitt, Hemden und Krawatten. Sie sahen aus wie zwei junge Gentlemen aus einem Tennis-, Golf- oder Cricket-Club, die gerade ein Cucumber Sandwich zum Tee zu sich genommen hatten. In Wahrheit sind sie aber warmherzige Lads aus Nordengland mit großartigem Humor. Im Laufe der Jahre habe ich Paul und vor allem Andy besser kennengelernt. Wir wurden Freunde.
Techno Pop
Im Februar starteten wir mit den Aufnahme-Sessions für unser nächstes Album. Es war für mich wieder ein neuer Abschnitt in der Zusammenarbeit mit Ralf und Florian, denn von diesem Zeitpunkt an war ich nicht nur am Copyright der Musik, sondern auch an den Lizenzen der Tonträger beteiligt. Im Studio fühlte es sich aber nicht anders an als vorher. Die Arbeitsatmosphäre fand ganz im Geist unserer früheren Writing Sessions statt. Wir
sprangen zwischen Instrumenten und Mischpult hin und her, probierten alternative Motive aus, modulierten Klänge, paraphrasierten zum Schema der Musik, machten Aufnahmen – eine lebendige Anspannung lag in der Luft.
Akkorde sind das Baumaterial der Popmusik. Zum Einstieg in die neue Phase hatte ich mir eine Akkordfolge überlegt, die sich an den Kompositionen von Claude Debussy orientierte. Von den Komponisten des 20. Jahrhunderts war er immer eine meiner größten Leitfiguren. Seine eigenwilligen, unverbundenen Akkorde verlassen die überlieferte Harmonielehre, sie werfen sie mehr oder weniger über den Haufen. Ralf spielte sofort mit. Das Wichtigste war: Die Musik klang nach Kraftwerk. Florian – und das war die Nagelprobe – konnte auch etwas damit anfangen. Mit anderen Worten: Die Basis für den Titelsong des Albums war erfunden: »Techno Pop«.
Bereits Mitte der Siebzigerjahre hatten wir eine Methode entwickelt, verschiedene Klangperspektiven einer Idee darzustellen. Für mich ähnelte diese Herangehensweise immer dem in der klassischen Kompositionstechnik bekannten Prinzip, ein Thema in freier Weise zu verarbeiten. Auch von »Techno Pop« stellten wir in der Anfangsphase einige unterschiedliche Versionen her: eine instrumentale Popversion, einen Percussion-Mixdown, eine schwebende Version ohne Schlagzeug und eine, in der zahlreiche »florianeske« Klang-UFOs vorkamen. Die Längen der Aufnahmen variieren zwischen zwei und zehn Minuten. Wir variierten, kommentierten und ergänzten die Grundidee des Songs. Das war genau der richtige Weg.
Sex Objek
t
Damals gehörte zur Basiseinstellung meines Synthesizers ein unverkennbarer Twäng-Sound. Schon während der UK-Tour hatte ich immer wieder damit experimentiert, und irgendwann fiel mir ein Riff aus den Fingern, auf dem man alles aufbauen kann, was einen Popsong ausmacht. Ralf stieg irgendwo unterwegs mit einem Orgelsound ein, und vorübergehend klang der Song nach den Doors. Ralf spielte die Melodie und sang auch direkt dazu. Der Song war sofort da. Was die Musik angeht, hatten wir damals einen direkten Draht, eine intuitive Verbindung. Es schien, als lägen Popsongs für uns in der Luft und wir brauchten sie nur einzusammeln. Und wenn Florian dann noch an unserem »Gespräch« teilnahm, wurde daraus oft eine ganz brauchbare Idee. Die Musik, die bei unseren Improvisationen herauskam, war allerdings völlig unvorhersehbar. Selten wiederholte sich eine Anmutung. Immer wählten wir ein anderes Tempo, eine andere Tonart, eine andere Auffassung, einen anderen Kontext. Es gab keine Regeln, auch keine, die wir selbst aufgestellt hatten.
Als wir jetzt wieder an dem Song arbeiteten, fanden wir ein Tempo von ungefähr 132 BPM und nahmen Schlagzeug, Bass, Synthesizer, Orgel und die Guide-Vocals auf.
Ralf hatte den Text in der ersten Person Singular geschrieben, also in der klassischen Singer/Songwriter-Perspektive. Er fordert sogar jemand dazu auf, Gefühle zu zeigen. Und dann auch noch der Titel: »Sex Objekt«. Ich staunte nicht schlecht!
Interludium: Das Model in München
Es blieb kurzweilig. Durch den Hit in Großbritannien zuckte die Single auch im Rest von Europa, und EMI Electrola hatte für uns eine Fernsehshow akquiriert. Wir vier reisten nach München, wo
wir am 29. März mit dem »Das Model« in der ersten Ausgabe der von Thomas Gottschalk moderierten Sendung Na, so was
auftraten.
Vor schwarzem Hintergrund stehen wir vier vor unseren Instrumenten – Ralf am Polymoog, ich am Minimoog, Wolfgang an meiner nagelneuen TR-808 Schlagzeugmaschine, Florian am zweiten Minimoog – und mimen ganz in Schwarz gekleidet zum Playback. Auch heute finde ich den Auftritt ganz in Ordnung. Lediglich Ralf brauchte zu Beginn etwas, bis er Buster Keaton aus seinem Kopf verbannte, aber nur ein paar Sekunden. Wolfgang erinnerte an Bela Lugosi, und Florian wagte gegen Schluss einen ausdruckslosen Blick in die Kamera.
Das weitere Line-up der Sendung war mit Klaus Nomi, Johnny Hallyday, Dschinghis Khan und Wolfgang Joop bemerkenswert. Während der Fotosession mit einem Fotografen der Zeitschrift Bravo
waren wir keine Spielverderber und hängten uns ein paar schnell aus der Requisite herbeigeschaffte Kameras um. Unser Promotrip war erfolgreich. Nach der Sendung stieg »Das Model« noch im Frühjahr bis auf Platz 7 der deutschen Hitparade.
Emils Exit
Solange ich Emil kenne, reist er in der Welt umher. Schon in den Siebzigerjahren verschwand er hin und wieder für einige Wochen. Dann landeten Postkarten von überall im Briefkasten der Berger Allee. Irgendwann machte er sogar eine Expedition in den südamerikanischen Regenwald zum Amazonas. Bereits mehrmals hatte Emil die Karibik besucht. Vor unserer Welttournee war er auch wieder für längere Zeit dort abgetaucht. Und nach unserer Rückkehr machte er sich gleich wieder auf den Weg dorthin. Emil trug ein starkes Fernweh in sich, das ihn forttrieb. Offenkundig hatte er jetzt einen Ort gefunden, der ihm gefiel.
Dort verbrachte er nun die meiste Zeit des Jahres. Sein Zimmer auf der Berger Allee gab er allerdings nicht auf.
Im April ließ sich Emil mal wieder in Düsseldorf blicken und besuchte uns im Kling Klang Studio. Wir spielten ihm unsere rudimentären Versionen von »Tour de France«, »Sex Objekt« und »Techno Pop« vor. An seine Reaktion zum letzteren Song kann ich mich gut erinnern: Er fand, dass unsere Musik etwas Rituelles habe. Die nächsten paar Tage verbrachte Emil in Düsseldorf, und wir schrieben gemeinsam die erste Version der Lyrics von »Techno Pop«. Am 2. Mai verließ Emil Deutschland wieder in Richtung Bahamas.
Planet Rock
Meistens sieht man ein Unglück nicht auf sich zukommen. Als mich Florian an einem Sonntag zu Hause anrief, traf es mich ganz unerwartet. Ernst verkündete er mir, dass Ralf einen Unfall gehabt hatte. Er war bei einer Radtour gestürzt und hatte sich offenbar schlimm verletzt. »Und jetzt?«, fragte ich. Florian erklärte mir, dass wir abwarten müssten. Später erfuhr ich aus diversen Erzählungen, er sei auf seinen Vordermann, in dessen Windschatten er fuhr, aufgefahren, als dieser plötzlich sein Tempo drosselte oder bremste. Bei dem folgenden unvermeidlichen Sturz schlug Ralf mit seinem Kopf auf den Boden auf. Unglücklicherweise trug er an diesem Tag keinen Sturzring oder Helm. Und so war es ein Glück, dass der Aufprall nicht stärker war, der Unfall sich in der Nähe eines Krankenhauses ereignet hatte, und dass die Mitfahrenden geistesgegenwärtig das Richtige taten. Nach allen nötigen Untersuchungen war klar, dass keine Lebensgefahr bestand und Ralf sich höchstwahrscheinlich erholen würde.
Florian wirkte bald nicht mehr besorgt und auch Ralfs
Schwester, mit der ich eine Woche später telefoniert hatte, zeigte sich sehr erleichtert. Ihr Bruder käme schon bald wieder nach Hause. Wir waren heilfroh, dass Ralf und somit auch wir alle mit dem Schrecken davongekommen waren. Als ich mit ihm telefonierte, war er schon wieder ganz der Alte und ermahnte mich, ich solle auf gar keinen Fall ohne Helm fahren. Nachdem er sich erholt hatte, trafen wir uns in der zweiten Juni-Woche in Köln in Rolf Wolfshohls Profi-Fahrradgeschäft und kauften uns die besten Modelle, die es damals gab.
Nach dem Unfall fuhr ich das erste Mal wieder Ende Juni mit Ralf nach Köln ins Moroco. Wir standen mit einem Glas in der Hand in der Gegend rum, waren guter Dinge und ließen die geballte Ladung Drum Machines auf uns einhämmern: den grandiosen Track »The Message« von Grandmaster Flash & The Furious Five, der von der Gruppe ABC eingespielte und von Trevor Horn produzierte Popknaller »The Look Of Love« und die dynamische Human-League-Single »Don’t You Want Me«. Und dann lief auf einmal die extrem spartanisch produzierte Nummer »Planet Rock« von Afrika Bambaataa & The Soulsonic Force. Ich erinnere mich noch gut, wie wir uns beide anschauten, als die Nummer aus dem Lautsprecher kam und sich die Tanzfläche noch mehr füllte. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass der TR-808 Rhythm Composer, den ich auch zu Hause hatte, über die PA des Clubs dermaßen gut klingen würde.
Interessant an dem Track war allerdings, dass sein musikalisches Gerüst aus dem Beat von »Numbers« bestand und die »Orient Express«-Melodie von »Trans Europa Express« zitiert wurde. Bambaataa rappte über den Rhythmus. Dazu gab es Synthesizer und Vocoder-Sounds und noch so einiges mehr. Ich glaube, der Track dürfte den Lesern dieses Buches einigermaßen geläufig sein. Später erfuhr ich, dass der Producer und Mixer Arthur Baker und der Keyboarder John Robie für die zweitägige Aufnahmesession über eine Annonce im Village Voice
eine 808-
Maschine gemietet hatten und damit den »Numbers«-Beat programmiert hatten.
Natürlich kontaktierte Marvin Katz im Auftrag von Ralf und Florian das Label Tommy Boy Records. Als ich im Verlauf der Verhandlungen mit Ralf über die Sache sprach, erklärte er mir, dass sie sich mit dem Label finanziell geeinigt hätten. Denn die Autoren von »Trans Europa Express« seien bekannt und die Verlagsrechte des Titels lägen beim Kling Klang Verlag bzw. dessen amerikanischen Subsidary No Hassle Music Inc. Rhythmische Muster seien allerdings nicht Teil des Songwritings und vom Urheberrecht ausgeschlossen. Obwohl sich der gesamte Track »Planet Rock« auf dem Beat von »Numbers« aufbaute, bezog sich der Deal also lediglich auf die Tonfolge von »TEE«. Künstlerpech nennt man das. Ein Drum-Pattern ist Public Domain – auch ein so unverwechselbares wie der »Numbers«-Beat. Aber klar, was hätte der Kling Klang Verlag daran ändern können? Danach hörte ich nichts mehr von dem Deal mit Tommy Boy. Der Rhythmus erfreut sich seitdem einer großen Beliebtheit. Als ich Arthur Baker Jahre später einmal in London traf, erklärte er mir, das Label hätte den Preis der Schallplatte einfach um den Prozentsatz der Kompensation erhöht, um den Verlust auszugleichen. Das nenne ich kreativ.
Im Juli ging es wieder nach Saint-Tropez in die Bastide Blanche. Auch Volker Albus war mit von der Partie. Die Fahrt dorthin wurde unser letzter Soundride, an den ich mich erinnern kann. Unzählige Male hörten wir unsere Demokassetten der letzten Writing-Sessions. Aus Paris kam Maxime mit seinem schwarzen Mini Cooper angebraust.
Ralf und Florian verbrachten ihre Tage mit ausgedehnten Radtouren. Anfangs fuhr auch ich eine hügelige Strecke mit, aber die engen Straßen in der glühenden Sommerhitze der Côte d’Azur waren einfach nichts für mich. Und so verbrachte ich die nächsten Wochen einfach am Meer. Volker und Maxime fuhren
auch nicht jede Radtour mit, und ich hing mit ihnen ab. Am späten Nachmittag trafen wir uns alle wieder im Haus und bereiteten zusammen etwas zu essen vor. Beim Nichtstun am Strand machte ich mir auch ein paar Gedanken über unsere Strategie. Denn Ralf und Florian schienen unsere Nummer-Eins-Hit-Single völlig zu ignorieren. Scheinbar war es ihnen zu trivial, darauf einzugehen. Ich glaube, sie empfanden sich als Strategen mit der ruhigen Hand, wollten das Image vermitteln, nicht hungrig zu sein, und taten, als wäre nichts geschehen. Hit-Single? Alles easy, bloß keine Aufregung zeigen. Aber ich hatte natürlich erst recht keine Ahnung, was zu tun war.
Eine unvergessene Episode dieses Aufenthalts war die Übertragung des Halbfinales der Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen Frankreich, das die deutsche Nationalmannschaft nach Verlängerung im Elfmeterschießen 5:4 gewann. Die Abwehraktion des deutschen Torwarts Toni Schumacher, nach der Patrick Battiston bewusstlos mit angebrochenem Halswirbel am Boden liegen blieb, sorgte bei uns vor dem Fernseher für ziemliche Aufregung. Maxime schrie immer wieder: »Schü-ma-sche!«, »Schü-ma-sche!« Der Schuss ging am Tor vorbei, der Schiedsrichter erkannte kein Foul, der Ball wurde vom Tor abgestoßen und Battiston ausgewechselt. International machte der Sportunfall das Spiel unter dem Namen »Die Nacht von Sevilla« berühmt. L’Équipe
– Ralfs bevorzugte Sportzeitschrift – schrieb damals: »Toni Schumacher, Beruf Unmensch«. Zum Glück erholte sich Patrick Battiston und setzte seine Karriere fort.
Resetting Kling Klang
Am 9. August versammelten wir uns wieder im Kling Klang Studio. Die Firma R. Barth KG hatte eine neue MCI-JH-600-Aufnahmekonsole angeliefert und zusammen mit Joachim Dehmann
installiert – selbstverständlich nicht, ohne ihr vorher eine graue Sonderlackierung zu verpassen. Die Konsole war nicht sehr groß, aber unfassbar schwer, hatte gerade mal 16 Kanäle, ein nützliches Steckfeld, eine Automation und – das war das Wichtigste – erfüllte professionelle Qualitätsstandards.
Mittlerweile waren weitere Räume angemietet, die das Studio sinnvoll vergrößerten. Vom Treppenhaus, über das man nach oben zur Firma Elektro Müller gelangte, führte eine Tür links ins Kling Klang Studio und in den darunterliegenden Kellerraum, der in etwa dieselbe Größe hatte. Dort unten hin stellten Ralf und Florian einige geschlossene Metallregale, in denen die Multitracks aufbewahrt wurden, und ein großes offenes Regal, das für alle gerade nicht benutzten Instrumente wie Synthesizer, Glockenspiele, ein Kinderschlagzeug und jeden anderen Kram als Ablage diente. Durch eine Tür rechts im Treppenhaus gelangte man zunächst in die Werkstatt, dahinter lagen die Toilette und eine kleine Küche, deren wichtigstes Inventar der Kühlschrank war. Über einen sich anschließenden Flur erreichte man den mit dunkelgrauem Teppichboden ausgelegten Sozialraum. Einer der Sony-Bühnenbildschirme wurde angeschlossen, und wir konnten das Fernsehprogramm empfangen. Florian hatte eine riesige Ledercouch und einige Sessel mitgebracht, die uns eine völlig neue Qualität des Rumhängens ermöglichten. Die Jalousien am Fenster zum Innenhof blieben meistens heruntergelassen, die Lamellen wurden nach Bedarf leicht schräg gestellt. Hinter dem Sozial- und Fernsehraum schlossen sich zwei weitere kleine Räume mit Fenstern zur Mintropstraße an. Im ersten Raum befand sich ein Telefon mit Anrufbeantworter, eine elektrische Schreibmaschine und ein großes tiefes Holzregal für alte Poster und Konzertplakate. Ich vergaß zu erwähnen, dass das Regal grau gestrichen war. Im hinteren Raum richtete Florian sein »Sprachlabor« ein. Auf den an der Wand befestigten Arbeitsplatten stapelten sich schon bald die Synthesizer übereinander. Hier
befand sich auch sein Computer, mit dem er die unterschiedlichsten Maschinen testete und Wort-Sequenzen vorbereitete. Über eine Verbindung ins Treppenhaus gelangte man vom Flur direkt auf die Mintropstraße.
Florians neuestes Hobby war es, Kopien von Fotos aus Büchern über elektronische Musik zu machen, sie einzurahmen und überall aufzuhängen oder aufzustellen. In seinem Visier waren Motive aus den Anfängen der elektronischen Studios: Räume mit Tongeneratoren und Bandmaschinen, Komponisten, die mit ernster Mine auf Messgeräte starren oder Spulen mit Tonbändern in ihren Händen halten. Grafische Notationen auf Millimeterpapier vervollständigen die Bilder. Ich muss zugeben: Das brachte eine gute Atmosphäre in die neuen Räume.
Der Telefon Anruf
Meine Melodie mit dem Arbeitstitel »Italo-Disco« existierte bereits seit 1980, dazu machte ich später auch einige Aufnahmen in meinem Heimstudio. Irgendwann im Spätsommer 1982 arbeiteten Ralf und ich dann bei einer abendlichen Session im Kling Klang Studio daran weiter. Daraus entstand »Der Telefon Anruf«.
Bei diesem Song war ich auch Co-Autor der Lyrics. Ich sammelte bereits seit einer Weile Ideen für Songtexte und tippte sie in meine Reiseschreibmaschine. Jeden Tag und ohne lang nachzudenken. Die Gedanken, die gerade angeflogen kamen, landeten auf dem Papier. Es machte Spaß und ich fand den Sound, die Haptik und den Look der Buchstaben auf der Maschine irgendwie cool. Ein Textentwurf drehte sich ums Telefonieren, in einem anderen kam das Fragment »Zuneigung und Zeit« vor.
Im Studio verbanden wir die beiden Themen miteinander, und ich versuchte, den Rhythmus der Worte mit dem der Musik in Einklang zu bringen. Auf diese Weise kam ich zum Singen.
Ralf ermutigte mich und wollte so einen neuen Gesangsstil etablieren, der sich von seiner Art des Sprechgesangs unterschied. Während der Aufnahme wieselte die ganze Zeit Florian um mich herum und machte Faxen. Seine Bemerkungen waren sicher lustig gemeint, aber nicht wirklich geeignet, ein gutes Ergebnis herbeizuführen. Andererseits hatte ich damals noch keine Erfahrung mit der Artikulation meiner Stimme und war auf Feedback angewiesen. Eins kann ich mit Sicherheit sagen: Ralf und Florian halfen mir zwar auf ihre eigene Art und Weise bei meinem Vocal-Debüt, aber als Didaktik-Genies würde ich sie nicht bezeichnen.
Bei diesem Song erwies sich der neue Sampler von Florian als große Hilfe. Vermutlich wären wir bei der Materialsuche auch so auf den Gedanken gekommen, die Klänge eines Telefons zu verwenden und auf das Magnettonband aufzuzeichnen. Aber mit dem Sampler ging es dann doch um einiges einfacher. Der Emulator war das ideale Instrument, um ohne Einschränkungen mit Telefonklängen zu experimentieren. Florian sampelte die Ansage »Dü dü dü – kein Anschluss unter dieser Nummer«, und natürlich folgten Wählscheibe, Freizeichen, Rufzeichen, Klingelton und weitere Ansagen und Sounds. Möglicherweise sind die attraktiven Telefonklänge der Grund dafür, dass in dem Song kein Telefongespräch zustande kommt. Der ganze Aufwand des Protagonisten entpuppt sich lediglich als ein ergebnisloser Versuch, eine Verbindung herzustellen.
Während wir im Oktober an diesem Song bastelten, besuchte uns John Bagnell – ein Mitarbeiter von EMI London – auf der Mintropstraße. Wir spielten ihm die zu diesem Zeitpunkt bereits als Songs erkennbaren Musikstücke vor. Nach der Audition berichtete er von unserer beachtenswerten Reputation in Großbritannien und von den zahllosen Anfragen, die bei ihm eingetroffen waren. Sogar Elton John würde gerne mit uns arbeiten wollen, ließ er uns wissen. Nicht schlecht, aber vorstellen konnte
ich mir so etwas nicht. Schließlich hatte die Gruppe Kraftwerk so etwas noch nie gemacht. Ich glaube, es war Ralf und Florian wichtig, Autonomie und Kontrolle über die eigene Musik zu behalten.
Sprachsynthese und das Sprachlabor
Während unserer Writing Sessions zu Techno Pop
passierte in Bochum etwas ganz anderes. Zu dieser Zeit arbeitete an der dortigen Fakultät für allgemeine Elektrotechnik und Akustik der Diplom-Ingenieur Wolfgang Kulas als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Mit einem Kollegen und einem Studenten entwickelte er ein Programm, das Fließtext in Phoneme und Betonungsinformationen umsetzt. Das heißt, aus Schrift wurde hörbare Sprache, für die sie sogar eine Sprachmelodie modellieren konnten. Auch das Team um Kulas arbeitete wie Florian mit einem Votrax Sprachsynthetisator. Was natürlich für einen gewissen Ruf in der Sprachsynthese-Gemeinde sorgte: »Da gibt’s so ein paar Freaks in Bochum, die kümmern sich um eine Ansteuerung des Votrax«, hieß es.
Wolfgang Kulas: »Irgendwie hat auch Florian davon Wind bekommen. Er rief bei uns an und stellte sich als Florian Schneider von Kraftwerk vor. Er habe auch einen Votrax und interessiere sich für unsere Forschung, sagte er. Wir vereinbarten einen Termin, und schon wenig später stand Herr Schneider in unserem Studierzimmer. Florian war eher zurückhaltend. Ich glaube, er wollte erst mal herausfinden, was wir überhaupt draufhaben. Schließlich führten wir ihm stolz wie Oskar unseren 68000 Computer von South West Technical Products vor, den SWTPC. Dieser Computer sah so aus wie der auf dem Cover von »Computerwelt«
.
Florian meinte dann, sein eigener Votrax könne mehr als unserer. Er könne singen, trumpfte er auf. Aha, jetzt wurden wir ziemlich hellhörig. Denn unser Original-Votrax hatte nur vier Tonhöhen, und diese vier Stufen waren für Sprache schlecht brauchbar und zum Singen schon gar nicht. Schließlich machte uns Florian ein Angebot: Er würde uns zeigen, wie man den Votrax singen lassen kann. Und im Gegenzug sollten wir ihm dabei helfen, seine anderen Sprachsynthetisatoren – Dectalk und Infovox – zum Sprechen zu bringen. Wir sagten zu.«
Florian war damals, was die Sprachsynthese anging, mit Sicherheit der am besten informierte Musiker in Deutschland oder sogar in Europa. Das Thema war Neuland, und er engagierte sich auf diesem Feld mit großer Energie. Gleichwohl hing er sein Engagement nicht an die große Glocke.
Wolfgang Kulas: »Vielleicht drei Monate nach unserem ersten Treffen besuchte ich Florian in seinem Penthouse. Dort habe ich zum ersten Mal das riesengroße, moderne Dectalk mit allen Handbüchern gesehen. Er hatte es in Amerika gekauft. Von Infovox, ein schwedisches Gerät, besaß er auch alle Geräte mit allen Platinen für verschiedene Sprachen.
Zwischen 1982 bis 1984 gab es einige Treffen dort und auf der Mintropstraße im Sprachlabor. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mich beim ersten Besuch fürchterlich erschrocken habe, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass da die Schaufensterpuppen standen. Sie waren nicht abgedeckt und sahen gruselig wie Wachsfiguren aus. Wir haben Florian dann geholfen, den Dectalk, den Infovox-Sprecher und zwei, drei andere Maschinen zum Sprechen zu bringen.
Tour de Franc
e
Ende 1982 wollten wir uns für das Cover des neuen Albums mit Rennrädern fotografieren lassen. Aber bei der Fotosession, die wir eine Woche vor Weihnachten am Rhein machten, froren wir uns dermaßen den Arsch ab, dass wir das Shooting abbrechen und auf einen späteren Zeitpunkt verlegen mussten. Im Frühjahr 1983 nahmen wir uns dann den Song »Tour de France« vor.
Es lag nahe, dafür echte Fahrradgeräusche aufzunehmen. Ralf brachte eines seiner extrem leichten Fahrräder mit ins Studio, und wir versuchten, die Mechanik des Fahrzeugs zum Sprechen zu bringen. Eine Fahrradklingel, das Schallzeichen mit dem größten Wiedererkennungswert, spielt bei einem Rennrad bekanntlich keine Rolle. Daher ließen wir es außer Acht. Aber es gibt ja noch andere mechanische Geräusche, beispielsweise den Freilauf. Ralf hob das Hinterrad vom Boden ab und »pedalierte« mit der rechten Hand. Als er mit der Bewegung aufhörte, nahm Florian das Surren des Freilaufs auf. Außerdem waren da noch die schleifenden Geräusche, die beim Aufpumpen eines Fahrradschlauchs durch den Kolben einer Luftpumpe entstehen, sowie das Zischen, das beim Abziehen vom Ventil erzeugt wird: Pfff! Das Freilauf-Surren war attraktiv, aber viel mehr charakteristische Geräusche gab Ralfs Fahrrad nicht her. Jedenfalls nicht für ein Stück Popmusik. Wesentlich interessanter klangen die Atemgeräusche, die ein Mensch beim Radfahren von sich gibt. Schließlich lagen Atem-, Pump- und Freilaufgeräusche auf der Tastatur von Florians Sampler. Beim Arrangement folgten wir unserer bekannten Methode. Für diesen Song hatte ich vor langer Zeit eine einfache Akkordstruktur entwickelt, die uns als Schema diente und in die wir die Musique-concréte-Bausteine einbauten. Für mich besteht dieses Musikstück aus nur wenigen Elementen: Dem Rhythmus, der die Dynamik des Rennens repräsentiert, der Erzählstimme eines Reporters, der den Hörer informiert, den
akustischen Nahaufnahmen der Sportler auf ihren Fahrrädern und schließlich der »Filmmusik«, deren Klang in meiner Vorstellung die Projektion eines Alpenpanoramas »in Technicolor« enstehen lässt.
Als Maxime uns damals im Kling Klang Studio besuchte, schrieb er zusammen mit Ralf den französischen Text. Ralf hatte die Idee, den Titel als Antwort auf die Textzeilen zu wiederholen. Auf diese Weise wurden die Strophen gleichzeitig zum Refrain.
Tracklist
Mittlerweile hatten wir die Arrangements unserer Tracks auf die Multitrack-Maschine aufgenommen. So konnten wir flexibel die Bänder und damit zwischen den Songs wechseln. Das war erst einmal gut, aber so waren wir an die einmal festgelegte Struktur der Stücke gebunden, was sich noch als großer Nachteil erweisen sollte. Wir hatten für das Album die vier Titel »Techno Pop«, »Tour de France«, »Sex Objekt« und »Der Telefon Anruf« eingeplant. Außerdem gab es auch noch jede Menge Rohmaterial auf unseren Kassetten.
Damals machte ich mir erstmals Gedanken über die Anzahl und Zusammenstellung der Musikstücke auf unseren Tonträgern. Natürlich sagt die Anzahl der Tracks nichts über die Diversität, Komplexität und Qualität der Kompositionen eines Albums aus, aber es hatte den Anschein, als würden es bei uns im Lauf der Zeit immer weniger. Auf Mensch-Machine
gibt es sechs Tracks, auf Computerwelt
eigentlich nur fünf eigenständige Songs. Würden wir nun auf Techno Pop
vier Titel unterbringen, wäre das zwar logisch, allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir den Gedanken der Reduktion vielleicht etwas übertrieben.
In diese Zeit fällt auch mein erster Businesstrip mit Ralf. Wir hatten in London einen Termin bei unserem englischen Label
Parlaphone im legendären EMI-Gebäude am Manchester Square. Es ging um die Abgabe des Albums, Parlophone hoffte natürlich auf einen möglichst frühen Termin irgendwann im Frühjahr – allerdings ohne Druck zu machen. Das korrespondierte durchaus mit unseren internen Plänen, doch letztendlich blieb alles vage.
Kling Klang 1C 064–65087
Eines Abends spazierten wir in Düsseldorf auf der Graf-Adolf-Straße in Richtung Berliner Allee, da blieb Ralf plötzlich wie angewurzelt vor einem Spezialgeschäft für Briefmarken stehen. Im Vorübergehen hatte er aus den Augenwinkeln eine ungarische 20-Forint-Marke aus dem Jahr 1953 entdeckt, die ihm offenbar gefiel. Das Motiv waren zwei gezeichnete Rennradfahrer, die schräg von rechts oben nach links unten durchs Bild fahren und dabei sehr dynamisch aussehen.
Am nächsten Tag besorgte er sich die Briefmarke und malte sofort eine Skizze für das geplante Albumcover, indem er die Anzahl der Fahrer von zwei auf vier verdoppelte und den Schriftzug Techno Pop
in einer an Art Deco erinnernden Schrift erfand. Der nächste Schritt war, uns vier im Profil zu fotografieren und die Portraits von einem professionellen Grafiker nachzeichnen zu lassen und sie mit dem Briefmarkenmotiv zu verbinden. Die Reihenfolge der Fahrer entspricht unserer Bühnenaufstellung Ralf, Karl, Wolfgang und Florian. Auf der Rückseite waren unsere vier Einzelportraits zu sehen. Ralf ließ vom Cover-Artwork einen vierseitigen Andruck in Originalgröße anfertigen, der die nächste Zeit an der Studiowand in der Nähe der Tür hing. Dort hatten wir ihn immer im Auge, wenn wir an unseren Instrumenten standen. Mittlerweile geistert dieses erste Techno Pop
-Cover auch im Internet herum.
Die Fotos und Zeichnungen spiegeln für mich unsere
damalige Arbeitsweise. Die Fotos stehen für das Sampling und die Zeichnungen für die elektronischen Klänge. Auch das Fahrradfahren ist als Symbol des musikalischen Mensch-Maschine-Konzepts mühelos in die Gestaltung integriert.
Am 10. März wechselten wir ins Studio Rudas. Aber dort, wo wir mit Joschko im Februar 1978 erfolgreich Die Mensch-Maschine
gemixt hatten, fanden wir uns nicht mehr zurecht. Über eine Woche versuchten wir, den Telefon-Track zu mischen. Dabei waren wir ziemlich erfolglos – es klang schrecklich. Als Konsequenz beschlossen wir, im Kling Klang Studio einige Mixes zu produzieren, um sie dann auf ihre Dancefloor-Tauglichkeit zu testen. Ziemlich regelmäßig fuhren wir in dieser Phase nach Köln in die Discothek Moroco. Der Resident-DJ Carrol Martin spielte unsere mitgebrachten Kassetten mit den aktuellen Mixes, und wir hörten unsere Musik unter realen Bedingungen. Auch das schicke Düsseldorfer Malesh auf der Kö wurde zum Venue für unsere Tests. In dieser Arbeitsphase editierten wir mehrfach die Rhythmusgruppen von »Der Telefon Anruf« und »Sex Objekt«, um der Musik den richtigen Drive zu geben.
Trotz des Rückschlags im Tonstudio Rudas gingen Ralf und Florian offenbar davon aus, das Album noch im selben Jahr zu veröffentlichen. Denn im Mai schalteten sie eine Anzeige mit dem Cover von Techno Pop
in Weiß mit der roten Art-Deco-Schrift und den vier Radfahrern im damals angesagten Düsseldorfer Magazin Select.
Es war keine normale Anzeige. Man wusste nämlich noch nicht, um was es dabei eigentlich geht. Es war eine Art Guerilla-Aktion, die auf unser neues Produkt aufmerksam machen sollte, ohne es aber direkt zu bewerben. Ich kann mich nicht erinnern, vorher eine solche »geheime Vorankündigung« beim Produktmarketing bewusst wahrgenommen zu haben. Heute gehört ein solches Vorgehen zum Instrumentarium der Marketing-Profis, vor allem beim Viralen Marketing in sozialen Netzwerken
.
Auch unser A&R von EMI Electrola, Heinz-Gerd Lütticke, schaltete eine Anzeige: eine ganze Seite im Branchen-Magazin
Der Musikmarkt
. Er hatte uns im Februar im Studio besucht und bei dieser Gelegenheit das Cover-Artwork mitgenommen. Neben dem Cover warben der Slogan »Es wird immer weitergeh’n – Musik als Träger von Ideen« und die Katalognummer »Kling Klang 1C 064–65087« konkret für die neue Platte. Jetzt war die Katze aus dem Sack. Die Spannung stieg! Offenbar zu früh, denn Ralf erzählte später einmal der Presse, dass die Aktion nicht abgesprochen gewesen sei.
1
Tour de France (Single)
Immer wieder arbeiteten wir an »Tour de France«. Damals schlug Maxime vor, unseren Song der Amaury Sport Organisation (A. S. O.) – die neben anderen Radrennen auch die Tour de France organisiert und außerdem die Zeitungen L’Equipe
und Le Parisien
herausgibt – für die Berichterstattung in den Medien als Signature Tune anzubieten. Durch seinen Vorschlag und die scheinbar absehbare Veröffentlichung des Albums kam die Idee auf, eine Vorab-Single auszukoppeln. Vom 7. bis 15. Juni mischten wir im Kling Klang Studio die Single. Parallel dazu entwarf Ralf das Cover, indem er die Farben der französischen Flagge – Blau, Weiß, Rot – in die Radfahrer-Zeichnung integrierte.
Am 16. Juni 1983 schließlich transportierte er als Musik-Kurier unseren Mix nach Paris zu Pathé Marconi. Drei Tage später berichtete mir Ralf abends im Kling Klang Studio, dass in Frankreich alles gut über die Bühne gegangen sei und sich die Bänder an die anderen EMI-Filialen auf dem Weg befänden. In Deutschland kündigte EMI Electrola das Produkt wie folgt an: »TOUR DE FRANCE ’83 – DOCH MIT DEUTSCHER TEILNAHME. 4 schwarzgekleidete Herren aus Düsseldorf sind die einzigen
aktiven deutschen Teilnehmer der diesjährigen Rundfahrt. Der neue Titel der Musikarbeiter Kraftwerk wurde zur offiziellen Einleitungsmelodie dieser bedeutendsten Radsportveranstaltung gewählt: Sämtliche Berichterstattungen in den zahlreichen französischen TV- und Funkübertragungen sind mit Kraftwerks ›Tour de France‹ als Indikativ versehen.«
In Frankreich schaltete Pathe Marconi Anzeigen mit ähnlicher Message: »Die Hymne des Sommers, in diesem Jahr das offizielle Thema der Tour …«
2
Das klang nicht schlecht, aber leider war es dann doch zu spät für unseren Song. Das Timing des Marketings gehörte damals nicht unbedingt zu unseren Stärken. Nach dieser Aktion war für vier Wochen erst einmal Sendepause im Kling Klang Studio. Die Tour dagegen startete pünktlich am 1. Juli, und nach der 22. Etappe stand der Franzose Laurent Fignon als Sieger fest.
Ende Juli holte mich Florian zu Hause ab, und wir fuhren eine Runde mit unseren Rennrädern. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ein offeneres Gespräch mit ihm geführt zu haben. Wir unterhielten uns über die laufende Produktion. Zwar hatten wir die Single »Tour de France« veröffentlicht, aber wir wussten beide, dass irgendetwas mit unseren Mixes nicht in Ordnung war. Wir hatten das Gefühl, mit den aktuellen Produktionen nicht mithalten zu können, konnten uns aber auch nicht erklären, warum das so war.
Als Ralf aus seinem Urlaub zurückkehrte, ging es sofort wieder los. Offensichtlich lag eine Anfrage von EMI London vor, mit »Tour de France« in der Britischen Fernsehshow Top of the Pops
aufzutreten. Normalerweise spielten die Bands dort zum Playback. Auch wir hatten Jahr zuvor »Das Model« beim ZDF in München auf diese Weise abgeliefert. In diesem Fall aber schlossen Ralf und Florian eine Playback-Performance aus. Stattdessen wollten sie ein Video produzieren. Da uns nur wenig Zeit blieb, überlegten wir, wieder Archivaufnahmen zu besorgen, das hatte
ja schon früher gut funktioniert. Und so flogen Ralf und ich in aller Frühe nach Hamburg, um uns im Archiv der Deutschen Wochenschau
einige Filme von der Berichterstattung über die Tour de France
anzuschauen. Ralf wählte ein paar Sequenzen aus und kaufte die Nutzungsrechte. Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Von Freitag bis Sonntag editierte Ralf im Studio Rudas aus der Footage ein Promovideo für unseren Song. Der Schnitt dauerte ungefähr 30 Stunden. Ich blieb im Studio, so lange ich es aushielt. Das Ergebnis war ein Zusammenschnitt von Schwarz-Weiß-Sequenzen aus historischen Radrennen. Ob das historische Material geeignet war, die Platte zu promoten? Keine Ahnung, jedenfalls liebte es Ralf, wenn die Rennfahrer in eine Nebelwand fuhren. Am Montag sendeten wir den »Director’s Cut« nach London.
Für die Pressefotos posierten wir in schwarzen Trikots mit unseren Fahrrädern am Rhein. Auch Wolfgang war gekommen. Er sah aus, als hätte er in den letzten zehn Jahren nichts anderes gemacht, als mit dem Rad zu trainieren. Ein Phänomen.
Britannia Row Studios, London
Die »Tour de France«-Single war bereits erschienen, dennoch arbeiteten wir weiter an dem Stück und machten uns auf die Suche nach dem perfekten Sound. Wir probierten es im EMI-Studio in Köln – vergeblich. Also bastelten wir wieder im Kling Klang und testeten unsere Mixes im Moroco. Madonna erschien damals auf der Bildfläche, »Holiday« klang toll. Ich mochte diesen New York-Sound. Außerdem lief »Rockit« von Herbie Hancock, dessen Video mit Apparaten und Automaten eine lustige mechanische Atmosphäre erzeugte. Und dann hörten wir »Blue Monday« von New Order. Was für ein unglaublicher Dancefloor-Magnet! Der kombinierte Drums/Sequenzer-Groove und die passiven Vocals waren quasi eine Aufforderung, sofort auf der Tanzfläche
zu erscheinen. Ich hatte damals den Eindruck, der Track war so etwas wie eine grundlegende Lektion in Popmusik. Auf der 12″-Maxisingle war der Name des Toningenieurs Michael Johnson angegeben. Wenn der Mann so einen Sound hinkriegt, dachten wir, müssen wir ihn kennenlernen. Wir recherchierten etwas herum, packten das 16-Spur-Tape ein und brachen schließlich auf, um »Tour de France« dort abzumischen, wo auch »Blue Monday« produziert worden war: in den Britannia Row Studios in London. Das renommierte Studio wurde 1975 von Pink Floyd nach ihrem Album Wish You Were Here
eingerichtet. Nach der Fertigstellung nahmen sie Animals
und Teile von The Wall
dort auf.
Am 24. August trafen Ralf, Florian, und ich in den Britannia Row Studios den damals ziemlich jungen, ziemlich coolen Soundengineer Michael Johnson. Das wichtigste Gerät im Studio, so erklärte er uns, sei ein neuer Dreiband-Kompressor. Außerdem zeigte er uns in irgendeiner Ecke die Oberheim DMX Drum Machine, die auf »Blue Monday« zum Einsatz gekommen war. Michael war ein wirklich guter Toningenieur. Von 12:30 bis 6:30 Uhr morgens mischte er professionell und effizient unser »Tour de France«. Als wir das Studio verließen, waren wir wirklich fertig. Zurück im Hotel schlief ich mit den immer leiser werdenden Atemgeräuschen des Tracks in meinem Kopf ein.
Abends trafen wir den Londoner Producer und DJ Rusty Egan in seinem Club For Heroes
auf der Baker Street, wo er uns zu einem Live-Auftritt überreden wollte. Ich fand es schon interessant, wieder an Gigs zu denken, aber wir waren immer noch auf der Suche nach dem Sound für unser nächstes Album. Das hatte Priorität. Bevor wir am nächsten Freitag nach Düsseldorf aufbrachen, ließ Ralf noch eine Vinyl-Testpressung unseres Mixes anfertigen, während ich mir zusammen mit Florian im Musik-Fachgeschäft Turnkey das Wunderinstrument Synclavier anschaute. Der London-Trip war schon ein Aufwand. Und trotzdem
verwendeten wir am Ende den Britannia Row-Mix doch nicht. Warum nicht? Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Power Station Mix
Obwohl »Tour de France« Anfang August 1983 mit rund 70000 verkauften Schallplatten auf Platz 22 der Single-Charts in Großbritannien gestiegen war und es gegen Ende des Monats in Deutschland auf Platz 47 schaffte, arbeiteten wir immer weiter am Klangspektrum des Tracks und an den Sounds der einzelnen Instrumente wie der Bass Drum. Wir drehten uns im Kreis. Insgesamt fuhren wir im September vier Mal nach Köln ins Moroco, um unseren jeweils aktuellen Mix über die Anlage zu hören.
Mehr als 280 Album-Sessions hatten wir seit der Welttournee hinter uns gebracht, als Ende September die neuen Kopien von »Tour de France« im Tonstudio Rudas für Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA überspielt und versendet wurden. Natürlich würden wir es nicht mehr schaffen, in diesem Jahr unser Album fertigzustellen, aber eine »Tour de France«-Maxisingle für das Weihnachtsgeschäft in den USA sollte vielleicht noch möglich sein.
Doch wie sollte es jetzt mit unseren Mixes weitergehen? Im November 1983 lief sich die Studioarbeit tot. Auf der Suche nach einer Lösung brachte Ralf New York ins Spiel. Dort, schlug er vor, würde er unsere Tracks abmischen. Zu diesem Zweck recherchierte er auf Schallplatten, die in den Clubs gut klangen, nach Ingenieuren und stieß in den Credits auf den Namen François Kevorkian.
Anfang November 1983 flog Ralf mit unseren Multitrack-Bändern im Gepäck nach New York, um die vier Albumtracks mit Monsieur Kevorkian abzumischen. Aus den geplanten 14 Tagen wurden drei und schließlich vier Wochen. Einen Monat später
kam Ralf mit unseren Tracks im Gepäck nach Hause. »Techno Pop« befand sich auch darunter, aber, so erklärte er uns lapidar, es sei leider nicht fertig geworden.
Als wir uns schließlich gemeinsam die Stücke anhörten, herrschte eine seltsam melancholische Stimmung. Vielleicht hatten wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits zu lange mit dem Mix der neuen Songs beschäftigt. Jedenfalls waren wir nach dem Anhören des Tapes nicht in der Lage, so etwas wie eine Analyse durchzuführen und eine Strategie einzuleiten. Ich glaube, in unserer Wahrnehmung verwechselten wir damals Klangspektren mit musikalischen Inhalten. Klar ist: Wären die Inhalte auf dem Magnettonband überzeugend gewesen, hätten wir zu diesem Zeitpunkt ein fertiges Album gehabt. Ein Mix, der die Lautstärkeverhältnisse, Frequenzen und physikalische Umgebung der Instrumente und Stimmen manipuliert, verändert ja nicht die Idee, die der Musik zugrunde liegt, sondern das Klangspektrum der Mischung. Von extremen Eingriffen mal abgesehen. Ein Mix ist eben ein Mix – nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht wussten wir damals intuitiv, dass die Session im Grunde gescheitert war, doch wir befanden uns noch in einem unbestimmten Schwebezustand, etwa wie eine Comicfigur, die über einen Abgrund gelaufen ist und in der Luft stehend weiterläuft …
Die Neuerfindung von Techno Pop
Wir sprachen über die New Yorker Mixes. Irgendetwas musste passieren, doch eine Lösung war nicht in Sicht. Leider nahmen wir nicht unsere bewährte Methode der freien Improvisation wieder auf, sondern beschlossen, »Techno Pop« zu editieren. Einige Elemente wollten wir behalten, andere weglassen und dafür neue hinzufügen. Im Grunde orientierten wir uns an der damals modernen Remix-Praxis. Nachdem wir einige Zeit mit
den alten Spuren gearbeitet hatten, entschieden wir uns wieder anders. Wir legten ein frisches Band auf und fingen noch mal von vorne an. Ralf verbrachte eine Menge Zeit damit, die aufgenommenen Spuren live zu mischen und immer neue Kombinationen zu erzeugen. Die klangen für den Augenblick gut, waren aber flüchtig – wie Sand rieselten sie uns durch die Finger. Es bestanden zu viele Optionen.
Die nächsten Monate arbeiteten wir ausschließlich an der neuen Version von »Techno Pop«. Selbst am 24. und 31. Dezember, sogar am 1. Januar 1984, dem ersten Tag des Orwell-Jahrs, trafen wir uns im Studio und bastelten an dem Track. Über jedes neue Detail wurde debattiert, manchmal sogar gestritten.
Anfang Februar erfuhr ich, dass »Tour de France« in den US-amerikanischen Billboard Dance Charts auf Platz 4 gestiegen war. Natürlich brachte diese frohe Botschaft wieder etwas Rückenwind, aber schon bald tat sich wieder nicht mehr viel bei uns. Obwohl wir bis auf den Samstag jeden Abend arbeiteten, hatten wir keine Ahnung, in welche Richtung wir »Techno Pop« entwickeln wollten – drei Jahre nach dem Release von Computerwelt.
Unsere Nachtschicht im Kling Klang Studio begann immer öfter weit hinter dem Sendeplatz der Tagesschau. Wir konnten uns einfach nicht von »Techno Pop« lösen. Heute denke ich, wir hatten damals kein Mixing-Problem – das mochte vielleicht bei »Tour de France« der Fall gewesen sein –, sondern eher ein Problem unserer Kompositionstechnik, die sich durch das Sampling immer mehr in Richtung Montage entwickelte. Schon lange hatten wir aufgehört, miteinander zu musizieren. Wir hatten vergessen, dass genau so unsere Musik entstanden war.
Boing Boom Tscha
k
Ohne Zweifel galt Florians Hauptinteresse während unserer gemeinsamen Zeit bei Kraftwerk der Sprachsynthese. Dazu gehörten auch Experimente mit seiner eigenen Stimme. Als er damals bei einer Session ein paar Klang-Worte in den Emulator sprach, waren Ralf und ich nicht besonders überrascht. Boing, Boom, Tschak, Peng und Pssst und ähnliche Laute waren geradezu florianesque. Als er dann die gesampelten Boing Boom Tschaks rhythmisch auf der Tastatur des Samplers animierte, wurden die inhaltsfreien Worte zu klingender Form. Und das war sofort ziemlich funky. Dieses sprach-phonetische Material war der erste wirklich weiterführende Gedanke für unseren »Techno Pop«-Track seit Langem. Wir betrachteten zunächst Florians »Boing Boom Tschaks« als eine Art Intro und nahmen es am Anfang auf das Multitrack von »Techno Pop« auf. Es mischte sich gut mit der vorhandenen künstlichen Sprache.
Natürlich kamen auch die Boings, Booms und Tschaks nicht aus einem kulturellen Vakuum. Gerade in der jüngsten Vergangenheit hatte es einige Hits mit Nonsens-Worten oder Silben gegeben, die ich bis heute noch im Ohr habe: Das weltberühmte »Da da da« (1982) von Trio, »Din Daa Daa (Dum-Dum)« (1983) vom ebenfalls deutschen Künstler Georg Kranz und nicht zu vergessen »Beat Box« (1983) von The Art Of Noise mit seinen rhythmisierten Phonemen. Die Traditionslinie ließe sich ewig fortführen: die sogenannten Sprechgedichte von Ernst Jandl, Lautgedichte der Dadaisten und Futuristen bis hin zu Lewis Carrolls einflussreichen Nonsens-Gedichten und Wortschöpfungen. Auch der Rock ’n’ Roll hat sich dieser Methode bedient, man denke nur an »Womp-bomp-a-loom-op-a-womp-bam-boom«. Die Wurzeln dieser popvokalen Akrobatik liegen im Doo-Wop-Stil des Amerikas der Fünfzigerjahre und noch weiter zurück im Scat-Singing der Zwanzigerjahre
.
Im März und April wurde François Kevorkian zwei Mal zu uns nach Düsseldorf eingeflogen. Er versuchte sich im Kölner Soundstudio N an weiteren Mixes, aber vor allem arrangierte er mit Joachim Dehmann unser Equipment neu. Die beiden positionierten alle Signalprozessoren direkt um die Konsole. Unsere Schaltzentrale war ja im Grunde ein Design-Objekt, was zwar auf Fotos und auf der Bühne gut aussah, aber sich als denkbar ungeeignet erwies, Musik abzumischen. Mittlerweile hatte Florian auf François’ Empfehlung hin Yamaha NS-10-Speaker angeschafft. Die standen jetzt – mit abgeklebtem Hochtöner – direkt auf unserer MCI-Konsole und ermöglichten uns ein leises Abhören, unabhängig von der Raumakustik.
Leider musste François bereits am 14. April wieder zurück in die Staaten. Die beiden Sessions mit ihm verstand ich damals als Testläufe, in denen es mehr um Systemtechnik als um Musik ging. Vielleicht könnte man es als eine technische Feedbackschleife bezeichnen. Im April und Mai arbeiteten wir weiter an der avantgardistischen »Techno Pop«-Version, die jetzt auch das Formteil »Boing Boom Tschak« beinhaltete. Im Mai pegelte sich die Anfangszeit unserer Treffen auf 21 Uhr ein.
Filmaufnahmen am Rhein
Der Film mit den historischen Fahrradaufnahmen war offenbar nicht besonders gut für die Promotion von »Tour de France« geeignet gewesen. Interessanterweise entschlossen sich Ralf und Florian ein Jahr später dazu, einen weiteren Film zu drehen, in dem wir selbst Fahrrad fahren sollten. Die Tour de France findet bekanntlich im Juli statt, aber den Zeitpunkt für einen Film, der die Stimmung des sportlichen Ereignisses widerspiegelt – also Sommer, Hitze, blauer Himmel –, hatten wir leider verpasst. Es war Ende Februar und bewölkt, kühl und nebelig, als wir uns alle
am späten Nachmittag am Rheinstadion trafen. Die Stimmung: Grau in Grau.
Wir vier trugen eng anliegende schwarze Ganzkörperanzüge, die erkennen ließen, wie schlank wir alle waren. Unsere Sturzringe trugen wir über den Kopfteilen der Anzüge. Und obwohl wir nur kurze Strecken fuhren und Handschuhe und gefütterte Radschuhe trugen, froren wir wie schon bei der ersten Fotosession erbärmlich.
Der Song ist gerade mal 2:30 Minuten lang und lässt bei den Kameraeinstellungen und später beim Schnitt keine großen Experimente zu. Wenn man berücksichtigt, dass Günter Fröhling nur wenig Zeit bis zur Dämmerung blieb, holte er aus diesen Minuten heraus, was möglich war. In seinen Kameraeinstellungen geht Fröhling von den gezeichneten Portraits des Techno Pop
-Album-Entwurfs über Details der Fahrräder bis hin zum Filmen aus dem fahrenden Auto in diversen schrägen Perspektiven.
Fotografien der Session vom 5. August 1983, die uns in sommerlichen Trikos und sogar bei einer Rast als »vier Freunde« lachend unter Bäumen auf dem Boden sitzend zeigen, schnitt Fröhling in schneller Folge in den Film. Schließlich grüßt Florian bei etwa 2 Minuten die Zuschauer auf seine für ihn typische freundlichste Art – meine absolute Lieblingssequenz. Das Ende zeigt uns vier, wie wir die Abfahrt der Theodor-Heuss-Brücke hinunterfahren. Schwarzblende.
Rebecca Allen und ihre virtuellen Kreaturen
Mitte Mai reisten Ralf und Florian für ein Wochenende nach Paris. Ralf hatte den ehrgeizigen Plan, die 265,5 km des Frühjahrsklassikers Paris-Roubaix mit dem Fahrrad zu fahren. Ich erinnere mich zwar nicht an den Bericht aus der »Hölle des Nordens«, aber in Paris hatten die beiden auch ein Meeting mit der
amerikanischen Multimedia-Künstlerin Rebecca Allen. Rebecca war gerade an das Computer Graphics Laboratory des New York Institute of Technology (NYIT) gewechselt, das als der Geburtsort der 3-D-Animation gilt. Sie hatte bereits an mehreren Musikvideos mitgewirkt. Bei ihrer Recherche nach den Möglichkeiten der 3-D-Animation waren Ralf und Florian auf Rebecca aufmerksam geworden, die auf dem Gebiet der Simulation menschlicher Bewegungen und Gesichtsanimation arbeitete. Damals gehörte sie zu den absoluten Pionieren dieser digitalen Technik. Die Universität war zu einer Zusammenarbeit mit Kraftwerk bereit.
Von Paris fuhren Ralf, Florian und Rebecca nach Düsseldorf, wo auch ich Rebecca kennenlernte. Sie hatte etwa mein Alter, dachte ich, als wir uns in unserem Sozialraum begegneten. Offenkundig befanden sich Ralf und Florian seinerzeit in einer Charmeoffensive, die Atmosphäre war großartig. Ich selbst hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie sie uns in virtuelle Kreaturen verwandeln würde. Als Rebecca am 1. Juni wieder zurück nach New York reiste, hatte sie den beiden ihre grundsätzliche Vorgehensweise erklärt. Und für uns war klar, dass ihre ersten Arbeitsschritte einige Zeit in Anspruch nehmen würden.
Mitte der Achtzigerjahre war es noch ein großes technisches Problem, Gesichter und Körper mit dem Computer zu modellieren und zu animieren. Um die Avatare zu erschaffen, ließ sich Rebecca zunächst unsere Puppenköpfe schicken, um sie zu digitalisieren. Außerdem machten wir für sie bei Günter Fröhling ein paar Videoaufnahmen unserer Gesichter aus verschiedenen Winkeln. Dadurch konnte sie beim Übertragen der Puppenköpfe einige Elemente unserer physischen Gesichter – beispielsweise die Augen – hinzufügen.
3
Im Sommer 1984 zog ich Bilanz und schaute gleichzeitig zurück und nach vorne: Ralf hatte auf der Welttournee 1981 erstmalig davon gesprochen, unser neues Album Techno Pop
zu
nennen. Nachdem wir die vier zentralen Titel des Albums produziert hatten, annoncierten wir im Mai 1983 das Album geheimnisvoll im Select
Magazin. Etwa zur gleichen Zeit kündigte EMI Electrola das Album mit Katalognummer im Musikmarkt
an. Zur Tour de France im Juli 1983 veröffentlichte die EMI unsere Vorab-Single, die in Frankreich floppte – wir hatten den Termin des Radrennens verpasst –, in Großbritannien immerhin Platz 22 und in Deutschland Platz 47 schaffte. Im Februar 1984 befand sich »Tour de France« in den US Dance Charts auf Platz 4. Mittlerweile existierten so viele unterschiedliche veröffentlichte Versionen des Titels – Deutsch, Französisch, Instrumentals, Versionen mit verlängerten Percussion-Teilen etc. –, dass ich Mühe hatte, sie auseinanderzuhalten.
Zwar entwickelte der Song »Tour de France« eine unerwartete Dynamik – doch das geplante Album Techno Pop
hatte sein Momentum verloren. Auch das ursprüngliche Cover von Techno Pop
war durch die parallele Verwendung der Radfahrer auf »Tour de France« verbraucht und wirkte inzwischen auch nicht mehr wirklich zeitgemäß. Im Augenblick symbolisierte der neue Look der digitalen 3-D-Animation den Zeitgeist in Kultur und Technik. Und modern sein – gar als Synonym für Modernität zu gelten –, das war für die Gruppe Kraftwerk immer wichtig und mittlerweile ein zentrales Anliegen. Kraftwerk sollte innovativ und zukunftweisend wahrgenommen werden als ein Spiegel des technischen Zeitalters. Da kam es gerade recht, dass sich das Image der Modernität mit Hilfe eines von Rebecca hergestellten Clips nach außen kommunizieren ließ.
Flüelapass – 2383
m
Die nächsten vier, fünf Wochen arbeiteten wir weiter, wobei wir uns abends zwischen 21:00 Uhr und 22:00 Uhr meistens im Sozial- und Medienraum trafen. Ralf trainierte täglich mit dem Rad und war physisch in Topform. Und ein Jahr nach unserem ersten Versuch verwendete die A. S. O. unseren Track schließlich doch als Erkennungsmelodie für die Tour de France. Als sich an einem Tag das Peloton der Radrennfahrer verspätete, lief ein Loop unseres Songs eine Stunde nonstop.
Mich wunderte es überhaupt nicht, als Ralf uns vorschlug, im Juli für eine Woche zum Radfahren in die Schweiz zu reisen. Florian lehnte dankend ab, aber Willi Klein würde mit von der Partie sein. Ralf betrieb den Radsport inzwischen exzessiv, die Trainingseinheiten gingen im Sommer schon mal über 200 Kilometer täglich.
4
Nach meinem Empfinden ordnete er alles andere dem Sport unter. Damals hatte ich noch die Hoffnung, wir würden den Weg zum gemeinsamen Musizieren wiederfinden. Und so beschloss ich, ihn bei seinem Trip in die Alpen zu begleiten, um wieder einen besseren Zugang zu ihm zu bekommen. Normalerweise fuhr ich nur kurze Strecken mit meinem Rad und verfolgte damit kein Ziel. Das sollte sich jetzt ändern. Meine Vorbereitung begann drei Wochen vorher mit einem regelmäßigen Training: Ich schwamm im Rheinstadion einen Kilometer und fuhr täglich mindestens 50 Kilometer mit dem Rad, um einigermaßen fit für die Berge zu sein.
Die Stationen waren Zürich, St. Moritz, Levigno und Davos. Ralf hatte sich vorgenommen, ein paar Pässe zu fahren. Für Willi Klein war das auch kein Problem, aber ich hatte große Mühe, ihnen über Flüela- und Albulapass, immerhin beide über 2300 Meter hoch, zu folgen. Bergauf merkte ich, dass mein altes Koga Mijata fast zehn Kilo wog, und bei den Abfahrten kam es an die Grenze seiner Stabilität. Nach minutenlangem Dauerschütteln
hart an der Sturzgrenze zog ich es vor, mit angezogenen Handbremsen hinunterzurollen. Unten warteten die Jungs auf mich.
Mit Willi legte ich in Levigno einen Tag Pause ein, den wir im Hallenbad mit Blick auf die Berge verbrachten. Ralf fuhr stattdessen an diesem Tag mehrmals den gleichen Pass rauf und runter. Schließlich war der Zweck unserer Reise das Training! Nichtsdestotrotz herrschte während unserer kleinen, sportlichen Unternehmung eine freundschaftliche Stimmung. Natürlich hatte ich keine große Zukunft als »Bergfloh« vor mir. Das rot-gepunktete Trikot war eher etwas für Ralf. Damals wurde mir klar, dass ich ihn auch nicht besser erreiche, wenn ich ihn bei seinen Ausflügen begleite. Meine Vorstellung von Sport war allerdings auch eine völlig andere. Ich wollte den Sport dazu nutzen, mein Leben mit und in der Musik zu unterstützen und zu begleiten, und nicht umgekehrt. Im Schwimmbad von Levigno nahm ich mir vor, als Ausgleich zum wachsenden Stress der Produktion nun regelmäßig Sport zu treiben.
Zurück in Düsseldorf schien mir eine gemäßigte Ausübung des Triathlon am besten geeignet, mich in Form zu bringen, und ich begann täglich einen Kilometer im Rheinstadion zu schwimmen und danach zwei Stunden Rad zu fahren. Zusätzlich fing ich ganz langsam an zu laufen, bis ich zehn Kilometer ohne Probleme in ungefähr einer Stunde schaffte. Im Herbst schloss das Freibad, und Radfahren macht in der Kälte keinen besonderen Spaß. Das Laufen aber schon. Gegen Ende des Jahres wurde mir klar, dass »Running« mein Ding ist. Außer ein paar Schuhen brauche ich dafür kein Equipment – und auf ein schickes Trikot und einen Helm konnte ich ebenfalls verzichten. Im Wald oder auf der Straße am Rhein nach Kaiserswerth gab es keinen Autoverkehr, und der seltsam schwebende Bewusstseinszustand, der sich beim Laufen nach einiger Zeit einstellt und in dem ich eine neue Qualität des Denkens erlebe, gefiel mir immer besser.
Musique Non Sto
p
Für Florian war das Sprachlabor mittlerweile der zentrale Raum geworden. Mit der Hilfe von Wolfgang Kulas hatte er nicht nur die Sprachsynthetisatoren Dectalk und Infovox zum Sprechen gebracht, inzwischen arbeiteten sie regelmäßig zusammen.
Wolfgang Kulas: »Im Laufe der Zeit entwickelten sich verschiedene Arbeitsabläufe. Florian schickte mir zum Beispiel eine Musikkassette als Referenz. Auf der linken Spur war eine TR-606 Schlagzeugmaschine und auf der rechten ein vom Votrax gesprochener Text: ›Music Non Stop – Techno Pop‹ oder ›Es wird immer weitergeh’n – Musik als Träger von Ideen‹ oder ›Pop‹ oder ›Tekno‹. Mit seinem Demo konnte ich mich vorbereiten und verschiedene Einstellungen testen. Wenn wir dann in der Mintropstraße zusammen gebastelt haben, sah das immer so aus: Ich tippte die Worte ein, und Florian hat gesampelt oder die Sprachausgabe auf Kassette aufgenommen. Nach und nach verbesserten wir unsere Ergebnisse. Ich glaube, Florian profitierte von meiner Kenntnis der Geräte. Wenn er mir sagte ›Mach das mal ein bisschen spitzer, weniger spitz oder höher, tiefer‹, wusste ich, wie ich das erreichen konnte.
Ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob man auf dem Electric Cafe
-Album Samples hört, die ich eingetippt habe. Ich war ein Helfer und habe meinen Beitrag wirklich nicht besonders hoch eingeschätzt, deshalb war ich überrascht und freute mich riesig, als ich meine Credits auf der Platte las.«
Der Sprachsynthi Dectalk hatte einige eindrucksvoll ausdruckslose Stimmen im Programm. Die weibliche Stimme Betty
hatte eine dermaßen künstliche Präsenz, dass Florian sofort von ihr fasziniert war. Als er Betty
mit ins Studio A brachte und sie das
erste Mal die Lyrics von »Techno Pop« sprechen ließ, waren wir alle total begeistert. Betty
klang wie die perfekte weibliche Androidenstimme. Dazu wählte Florian auch noch einen französischen Bass oder Bariton aus. Schließlich erhielt das Stück den Namen »Musique Non Stop.«
Die Klangspirale
Im vierten Jahr der Produktion des Techno Pop
-Albums sah es immer häufiger trostlos aus. Vor dem späten Abend ließ sich niemand in den Räumen blicken, immer öfter blieb einer von uns zu Hause oder kam noch später ins Studio. Wenn wir alle drei da waren, blieben wir nicht selten im Sozialraum vor dem Fernseher kleben, versanken tief im Sofa und den Sesseln und fuhren nach ein paar Stunden unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Unsere Arbeitsmoral war auf einen Tiefstwert gesunken.
François Kevorkian kam noch drei Mal für einige Mixing Sessions nach Düsseldorf, die fünfte und vorläufig letzte endete am 15. September 1985. In seinem Gepäck befand sich diesmal auch ein Sony PCM-F1. Der Stereorekorder war für die damaligen Verhältnisse preiswert. Auf der kleinen transportablen Anlage ließen sich analoge in digitale Signale wandeln, auf einen Videorecorder aufzeichnen und natürlich wieder analog abspielen. Die Klangqualität (16 Bit, 44,1 kHz Sampling Rate) war erstaunlich gut.
Auf dem »Spielplan« standen »Techno Pop« und »Der Telefon Anruf«. Schon bald nistete sich François in Joachim Dehmanns Werkstatt-Büro auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes ein und rief von seinem Telefon aus irgendwelche Nummern in der ganzen Welt an, um Telefon-Signale aller Art aufzuzeichnen: Frei- und Besetzt-Zeichen, Ansagen von Warteschleifen und Fehlverbindungen. »The number you’ve called is wrong« oder »
Dial again« und Ähnliches. Mittlerweile hatte ich mein Mischpult, das ich mir für mein Heimstudio angeschafft hatte, ins Kling Klang geschleppt, um es als Submixer für unsere tausend Effektgeräte zu nutzen. Während dieser Tage erinnerte das Kling Klang Studio vorübergehend an einen Ameisenbau. François telefonierte und recordete in Joachims Werkstatt, Ralf und ich bastelten in Studio A, und Wolfgang Kulas schob mit Florian im Sprachlabor Phoneme an ihren Platz. Doch auch nach der fünften Session mit François hatten wir immer noch nicht das Gefühl, ein fertiges Album in der Hand zu halten.
Um uns herum explodierte damals der Markt der elektronischen Studio- und Instrumententechnik, das Geschäft brummte wie verrückt. Es herrschte Goldgräberstimmung. Man hatte das Gefühl, den Anschluss zu verlieren, wenn man sich nicht über den neusten Stand der Technik informierte. Seit 1982 gab es den Industriestandard MIDI, um alle Instrumente unterschiedlicher Hersteller im Studio wie in einem Telefonnetz miteinander zu verbinden. Das Potenzial war erheblich. Plötzlich öffneten sich fantastische Möglichkeiten in der Musikproduktion.
Am erstaunlichsten war damals die Methode, diese MIDI-Daten aufzuzeichnen, beispielsweise mit einem Gerät, das ich mir im September 1985 zulegte: einen LinnSequencer für sagenhafte 5800 Mark. Mitte der Achtziger galt diese neue Technik als revolutionär. Wenn man ein MIDI-fähiges Keyboard wie den DX7 – den ersten kommerziell erschwinglichen digitalen Synthesizer – mit einem Aufzeichnungsmedium wie dem LinnSequencer elektronisch verknüpfte, konnte man die Daten der Performance aufzeichnen. Als ich meinen Linn nun mit ins Studio brachte, ließen sich auf einmal mehrere Instrumente polyphon ansteuern und die eingespielte Musik arrangieren, ohne sie akustisch auf ein Magnettonband aufzunehmen. Das war neu.
Auch ein digitaler DX7 gehörte inzwischen zum Maschinenpark des Kling Klang Studios. Außerdem ein TX-816 Rack, das
aus acht DX7-Modulen besteht. Aus heutiger Sicht ist die neue Instrumentierung der meisten Albumtracks im Herbst 1985 interessant. Denn mit den Violinen-Presets des DX7 respektive TX-816 Racks bestimmte die digitale Imitation des Kulturorchesters vergangener Jahrhunderte auf einmal den Klang unserer Musik.
Die nächsten Wochen wurden wieder zäh. Als Ralf und Florian am 13. Dezember in den Weihnachtsurlaub aufbrachen, hatte auch ich nichts gegen einen Break. Ich arbeitete in meinem Heimstudio weiter.
Electric Cafe
Ende Februar tauchte Maxime bei uns im Studio auf. Er entwickelte gerade ein neues Musikprogramm für das französische Fernsehen und hatte sogar schon einen Titel für das Format: Electric Cafe
. Wie wäre es, wenn Kraftwerk dazu einen passenden Song schriebe, den er als Signature Tune anbieten könne? Als ich das hörte, dachte ich natürlich an Maximes großen Coup von 1976, als er schaffte, »Radioactivity« als Erkennungsmelodie für den Radiosender Europe n°1 durchzusetzen. Vielleicht ließ sich etwas Ähnliches wiederholen.
Der Track komponierte sich dann so schnell, dass ich mich kaum an Einzelheiten erinnere. Am besten gefielen mir damals schon Florians elektronische Seifenblasen, die zur Studiodecke aufstiegen und mit einem »Plop« zerplatzten. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in einem der leergeräumten Pulte ein paar analoge Synthesizer und einen Sequenzer aufeinandertürmte und die Geräte mit Patchkabeln miteinander verknüpfte. Florian entwickelte dabei eine ungeahnte Beweglichkeit. Emsig stöpselte er Patch Cords ein und schraubte an den Modulen der Synthis herum. Er ließ nicht locker, bis diese archetypischen Elektroklänge den Raum erfüllten. Florian hatte sein cleveres Set-up so gebastelt,
dass wir es zum Metrum der Musik synchronisieren und die Klänge in die musikalische Form einpassen konnten. Das Synthesizer-Riff entstand ad hoc, und für den zweiten Formteil verwendeten wir das Motiv einer früheren »Techno Pop«-Version.
Ralfs Entscheidung, den Text auf Französisch zu sprechen, war nachvollziehbar. Warum er ihn im weiteren Verlauf der Musik ins Spanische übersetzte? Ich denke, die Worte klangen in dieser anderen romanischen Sprache so gut, dass er auf Deutsch oder Englisch verzichten konnte.
Wir nahmen die Instrumente mit dem LinnSequencer auf und überspielten der Reihe nach die Loops auf das Multitrack. Obwohl wir weiterhin nur abends im Studio waren, dauerte die Aktion kaum länger als eine Woche. Heute kommt mir das Ganze wie eine Art akustisches Kommandounternehmen vor: Reingehen, Ausführen, Verschwinden.
Wie das Leben so spielt: Am Ende konnte Maxime sein Konzept leider nicht verkaufen, alle Fernsehsender lehnten es ab. Für uns hatte er aber den Anstoß für eine außergewöhnlich produktive Woche und einen Song gegeben, dessen Name dann Techno Pop
als Albumtitel ablöste. Wenigstens für eine Zeit.
Der Plan
Immer noch fuhren wir sporadisch nach Köln ins Moroco, um unsere Arbeit dort über das Soundsystem des Clubs zu hören. Danach unterhielten wir uns wieder einmal, wie wir mit unseren Mixsessions weitermachen würden. Der Gedanke kam auf, einen Toningenieur aus dem näheren Umfeld zu finden und mit ihm am Sound zu arbeiten. Ich erinnerte mich an einen Kommilitonen, den ich vor Jahren bei einer Semesterfete des Tonstudios im Robert-Schumann-Saal kennengelernt hatte, Henning Schmitz. Schnell hatte ich mir seine Telefonnummer besorgt, und schließlich
verabredeten wir uns Mitte April im Kling Klang Studio. Bei unserem ersten Treffen tauschten wir uns über die Arbeit im Tonstudio aus – Fachgespräche … Während unserer Unterhaltung gewann ich den Eindruck, dass wir gut mit Henning klarkommen würden. Ich empfahl Ralf und Florian, es mit ihm als Toningenieur zu versuchen. Schon eine Woche später mischten wir mit Hennig im Kling Klang in einer sechstägigen Session die neue orchestrale Version von »Sex Objekt.« Die Session lief gut, aber danach kam unsere Arbeit komplett zum Erliegen.
In dieser festgefahrenen Situation musste ich mich mental irgendwie über Wasser halten. Um meinen Frust abzubauen, brauchte ich ein Ventil, und Sport war in dieser Situation das einzig Richtige. Das Laufen hatte mich gepackt. Im Frühjahr lief ich fast täglich 10 Kilometer. Vielleicht können sich einige Leser noch an Ende April, Anfang Mai 1986 erinnern? Damals checkte ich regelmäßig vor dem Laufen die Nachrichten, die über möglichen Fallout informierten. Denn Ende April 1986 war es nahe der ukrainischen Stadt Prypjat in Tschernobyl zu einer der größten Reaktorkatastrophen der Zeit gekommen. Die Folgen und Konsequenzen bestimmten die Berichterstattung in den Medien wie keine andere Nachricht. Auch Deutschland war von den atomaren Niederschlägen betroffen. Und bei zu hohen Messwerten wollte ich nicht laufen gehen. Zum ersten Mal wurde allen Menschen konkret bewusst, welche Gefahren die friedliche Nutzung der Atomenergie wirklich mit sich bringt. Und natürlich sahen wir unseren Song »Radioaktivität« nun verstärkt im Licht dieses Ereignisses.
Aber irgendwann richtete sich unsere Aufmerksamkeit wieder auf unsere halb fertige Schallplattenproduktion. Wir stellten uns die Frage, welche Optionen uns noch blieben, das jetzt in Electric Cafe
umbenannte Album fertigzustellen? Durch die lange Produktionszeit waren wir ziemlich erschöpft. Ralf war schließlich der Meinung, wir kämen hier in Deutschland nicht
zum Ziel, und schlug erneut einen Mix in New York vor – zweieinhalb Jahre nach seinem ersten Versuch. Nun ja. Zu Beginn dieses Albums wäre eine Reise nach New York möglicherweise inspirierend gewesen, hätte unsere Kompositionen beeinflusst, aber jetzt? Wir hatten kaum noch Spielräume. Andererseits war hier im Augenblick Schicht im Schacht. Den Schauplatz des Geschehens nach New York zu verlegen stellte wenigstens sicher, dass es irgendwie weitergeht. Davon abgesehen gab es – zumindest für mich – einen noch viel triftigeren Grund, seinen Vorschlag zu unterstützen: Ralf würde in New York nicht Rad fahren können. Und dieser Umstand – so hoffte ich – würde ganz wesentlich dazu beitragen, die Arbeit an unserem Album abzuschließen. Ich glaubte fest daran, dass er in dieser Situation zwei Dinge brauchte: Fahrradentzug und Druck. Und der würde sich dort schon entwickeln. Allein weil damals ein Tag in einem Studio in New York unglaubliche Summen kostete.
Ich führte zwar meine Kalender, aber vermied es nachzuzählen, wie viele Tage wir bisher an diesem Album gearbeitet hatten. Bei der Niederschrift dieser Autobiografie stellte ich fest, dass wir seit dem Start im Oktober 1981 bis zur USA-Reise rund 750 gemeinsame Sessions im Kling Klang Studio auf dem Tacho hatten. Dabei ist der Monat, den Ralf in New York mit den ersten Mixen im Power Station verbracht hat, gar nicht eingerechnet. Am 31. Mai 1986, meinem 34. Geburtstag, machten wir uns zu dritt auf den Weg. Ich dachte: Werden nicht auch viele Etappensiege bei der Tour de France beim Endspurt auf der Zielgeraden entschieden?
Mix in New York Cit
y
Als wir am Sonntag, den 1. Juni um 15:30 Uhr auf dem J. F. Kennedy Airport landeten, war dort gerade ein heftiges Gewitter im Gange. Na gut, Elektrizität passt irgendwie. Seit meinem letzten Besuch waren ein paar Jahre vergangen, aber in der Limo auf dem Weg vom Flughafen zum St. Moritz Hotel stellte sich sofort wieder dieses merkwürdige »Ich bin in der heimlichen Hauptstadt der Welt«-Gefühl ein. Wir würden bestimmt länger als zwei, drei Wochen bleiben, dachte ich. Für alle Fälle hatte ich meine Laufschuhe und ein paar Sportklamotten eingepackt. Direkt am ersten Tag umrundete ich zwei Mal den Central Park in 110 Minuten.
An den nächsten Tagen fuhren wir mittags mit dem Taxi nach Downtown in François Kevorkians Axis Studio in der Nähe der Canal Street. Im selben Gebäude befand sich auch das Gramavision Studio, wo zu einem späteren Zeitpunkt Overdubs geplant waren. Denn es fehlten uns einige Sprach-Samples für »Sex Objekt« und »Der Telefon Anruf«.
Bei der Produktion half auch ein Kollege von François: Fred Maher. Der in Manhattan aufgewachsene Musiker hatte bereits mit Bill Laswell und Lou Reed gespielt, dabei war er damals gerade mal Anfang zwanzig. Aber für mich brachte er neben seinen tollen Referenzen noch etwas Interessantes mit: eine Software auf seinem Portable Computer. Fred erklärte, er sei Betatester für die Firma Octave Plateau Electronics, die 1985 eine Musik-Software namens Sequencer Plus entwickelt hatte. Er testete gerade deren Version 2.0. Das Programm konnte – ähnlich wie mein LinnSequencer – MIDI-Daten aufzeichnen. Doch während der LinnSequenzer die aufgenommene Musik in Zahlen darstellte und sie sich in Patterns organisieren ließen, unterstützte die neue Computersoftware die Arbeit durch eine grafische Benutzeroberfläche. Jedes musikalische Ereignis wurde auf einer
Zeitachse dargestellt. Was ich auf dem Bildschirm des tragbaren Rechners sah und gleichzeitig hörte, verschlug mir fast den Atem. Es war der Traum Igor Strawinskys: die klingende Partitur. Ich besorge mir das rote Handbuch der Software, um mich damit zu beschäftigen. Mir war sofort klar: Dieses Programm muss ich haben! Fred hatte eine extrem lässige Art, sich und seine Sequencer-Plus-Software einzubringen. Später sollte seine Mitwirkung als Operator auf dem Album Cover mit »Data Transfer« bezeichnet werden. Fred fand das cool.
In der ersten Woche trafen wir uns täglich am frühen Nachmittag in François’ Projektstudio. Das gab mir Gelegenheit, jeden Morgen meine Runde im Central Park zu absolvieren. Danach duschen, umziehen und im Coffee Shop direkt um die Ecke frühstücken. Eines Tages setzte sich plötzlich Donald Sutherland im grünen Army Jacket neben mich an die Theke und bestellte einen Kaffee. Normal. Für mich war es eine ganz neue Erfahrung zu erleben, wie sich der New Yorker Alltag so anfühlt.
Nach einer der Sessions besuchten wir den Area Nightclub auf der Hudson Street, damals einer der angesagtesten Clubs von Manhattan. Irgendjemand schleuste uns an den Menschenmassen am Eingang vorbei. Die Mischung der Gäste war nicht schlecht: anonyme Mittelklasse-Leute, in Taft aufgebrezelte Girls, Business-Ladies, College Kids, Gesichter aus der Medien- und Musikbranche, ein paar Künstlertypen – und in der Silver Bar trafen sich angeblich die Celebrities. Ich glaube, dort begegnete ich Hubert Kretzschmar zum ersten Mal. Hubert ist ein deutscher Künstler, der seit geraumer Zeit in New York lebte und arbeitete. Er hatte beispielsweise das Cover für das Rolling-Stones-Album Some Girls
gestaltet. Und auch beim Artwork von Electric Cafe
sollte er mitwirken.
Obwohl ich in Sachen Nachtleben eher ein Mitläufer war, lernte ich neben dem Area auch noch andere Clubs der Stadt kennen. Das Limelight in der Episkopalkirche an der Sixth
Avenue war einer der absoluten Hotspots. Dort ging die Post ab. Wahnsinn. Über den Köpfen der Club-Kids auf der Tanzfläche schwebten Käfige, in denen Go-go-Girls ihre Show ablieferten. Der schillernde, Augenklappe tragende Kanadier Peter Gatien war der unangefochtene »King of Nightlife« dieser Zeit. Neben dem Limelight betrieb er das Palladium – wo wir uns auch gelegentlich herumtrieben. Mit seinen unterschiedlichen Etagen war auch die Danceteria ein angesagter Laden. In der Video Lounge lief ein Mix aus Musikvideos, experimentellen Filmen und Found Footage. Was die New Yorker Clubs besonders auszeichnete, war der Sound. Der Hammer.
Am 11. Juni zogen wir in die Right Track Studios direkt am Times Square um. François hatte sich Ron Saint Germain als Unterstützung geholt. Für eventuelle Overdubs stand Fred Maher auf Standby. Der Mix lief an – inklusive Times-Square-Deli-Breaks, Delivery Service, »Powerdinner« und eingespielten Baseballübertragungen. Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, begannen François und Ron damit, »Sex Objekt« abzumischen.
Ende der Woche fuhren wir drei zum Computer Graphics Lab, das auf dem Campus des New York Institute of Technology untergebracht war. In den letzten beiden Jahren war Rebecca Allen mehrmals nach Düsseldorf gereist und hatte uns auf dem Laufenden gehalten. Nun wollten wir uns von ihr den letzten Stand ihrer Computeranimationen vorführen lassen. Bei der Besichtigung des Labs zeigte sie uns auch die riesigen Computerschränke, die vor sich hin summend Daten verwalteten. Mir kam es vor, als würde ich HAL 9000 in Kubricks 2001
begegnen.
In den Right Track Studios waren François und Ron immer noch mit »Sex Objekt« beschäftigt, als irgendjemand »Nasty« von Janet Jackson auflegte. Was für eine kalte Dusche. Im Vergleich klang unser Mix nicht überzeugend. Die Stimmung sank unter den Gefrierpunkt. Ein anderes Mal hörten François und
Ron gerade den aktuellen Hit »Sledgehammer« über die großen Speaker, als wir ins Studio kamen. Peter Gabriels Klangspektrum machte uns erst recht klar, wo wir mit unserem Mix standen. Die Stimmung wurde richtig eisig. Ralf verschwand erst einmal für ein paar Stunden. Wann würde dieser Albtraum endlich aufhören? Wir waren fast einen Monat in New York, da kreuzte Emil bei uns im Studio auf, mit Lothar Manteuffel im Schlepptau. Auch der Kling-Klang-Anwalt Marvin Katz ließ sich im Right Track blicken. Irgendwie waren alle bemüht, positive Energie und Lockerheit auszustrahlen, doch die Situation blieb zäh.
In unserer freien Zeit schauten wir uns gemeinsam den seltsamen Film Under the Cherry Moon
von Prince im Kino an, bei dem übrigens Michael Ballhaus die Bildregie führt, und machten uns danach wieder auf die Piste. New Order hatten einen Gig im 1018 Club angekündigt. Ich war gespannt, wie sie »Blue Monday« live rüberbringen würden. Ihr Equipment war auf der Bühne aufgebaut und summte leise vor sich hin, aber leider verspätete sich die Band um gleich mehrere Stunden. Wir zogen wieder ab. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis ich Bernard, Peter, Stephen und Gillian live erleben würde.
Die Zeit verging. Am 3. Juni, nach gut einem Monat Right Track flog Florian zurück nach Düsseldorf. Ich konnte ihn verstehen, wir hatten wirklich keinen guten Lauf. Aber die Ursache unseres Problems lag in Düsseldorf und nicht hier. Jetzt war es zu spät, um umzukehren. Wenn es mit dem neuen Album überhaupt noch etwas werden sollte, mussten wir durch das Nadelöhr. Alle Personen hier vor Ort waren mit Sicherheit qualifiziert, um ein sehr gut klingendes Album zu produzieren. Am Team lag es sicher nicht, dass wir uns so schwertaten. Ich war hin und her gerissen. Einerseits machte es natürlich Sinn, das Klangspektrum unserer Produktion mit anderen zu vergleichen. Andererseits hat unsere Musik ihre eigene Bedeutung. Sie ist von uns erfunden,
gespielt, programmiert, orchestriert und arrangiert – atmet auf ihre eigene Art und Weise.
Am 21. Juli, einem Montag, war es endlich geschafft. Wir beendeten unsere Session im Right Track – das Album war abgemischt. Letzte und allerletzte Edits an den Mastern würde Ralf in François’ Projektstudio erledigen. Beispielsweise die Montage der »Suite« auf der ersten Seite des Albums: »Boing Boom Tschak« – »Techno Pop« – »Musique Non Stop.«
Zwei Monate New York City lagen hinter mir. Im Büro der Lufthansa buchte ich mir einen Flug zurück nach Düsseldorf. Ralf wollte mich – in einer Stretch-Limo mit Chauffeur – zum Airport bringen. Vor meinem Abflug besuchten wir aber noch die Filiale von New England Digital, um uns noch einmal über das Synclavier zu informieren. Einen Fairlight CMI hatten wir uns bereits vorführen lassen. Während wir dann mit der Limo langsam vor den Eingang des Flughafens rollten, sagte mir Ralf, er habe sich entschlossen, ein Synclavier anzuschaffen. Auf dem neuesten Stand der Technik würde uns die Musikproduktion wieder leichterfallen. Sollte das wirklich die Lösung für unser Problem sein …? Ich stieg aus, und wir verabschiedeten uns. Bevor ich durch die Drehtüren das Terminal des J. F. K. betrat, schaute ich mich noch einmal um. Die Stretchlimo erschien mir wie der Besenwagen bei der Tour de France.
Zwischenlandung Düsseldorf
Auf dem Rückflug erwartete ich, dass die Spannung von mir abfiel. Vergeblich. Die Anstrengungen der letzten Wochen, der letzten Jahre lasteten auf mir. Bettina holte mich morgens am Flughafen Düsseldorf ab. Zu Hause feierten wir meine Rückkehr. Danach wurde ich erst einmal für eine komplette Woche krank. Bettina hatte, während ich in New York war, ihr Studium beendet
und schenkte mir ein Exemplar ihrer Magisterarbeit mit einer Widmung, die mir fast die Tränen in die Augen trieb. Um den Kopf frei zu kriegen, fuhren wir für eine Woche nach Berchtesgaden. Irgendetwas zog mich an meinen Geburtsort.
Als ich mit Ralf in New York telefonierte, erfuhr ich, dass er gerade wieder mit François im Studio saß, um einen verdächtigen Offbeat zu editieren. In Ordnung, dachte ich, es hätte schlimmer kommen können. Noch zwei Mal rief ich ihn im August an, um herauszufinden, was er da so lange trieb. Es müssten weitere Edits gemacht werden, ließ er durchblicken. Erst am 6. September kehrte Ralf zurück und wir verabredeten uns zu einer Audition bei Willi Klein. Als wir das fertige Album hörten, war mir klar: Uns war damit kein großer Wurf gelungen.
Trotzdem musste es weitergehen: Die Computermodelle aus Rebeccas Video bilden die Grundlage für das Artwork des Albums. Die Nahaufnahmen der polygonalen Flächen unserer Gesichter machen die besondere Ästhetik des Covers aus. Hubert Kretzschmar zeichnet für das Design der Schallplattenhüllen verantwortlich. Damit hatte er schon begonnen, als ich noch in New York war. Die Innenhülle stellt unsere Körper in der bei der 3-D-Computergrafik üblichen vorläufigen Abbildung als Drahtgittermodelle dar, die der endgültigen Modellierung der Objekte zugrunde liegt.
Wie wir heute wissen, war der Song »Musique Non Stop« kein großer Hit. Gleichwohl gilt Rebeccas Video, an dem sie und ihr Team zwei Jahre gearbeitet hatte, als ein Meilenstein der 3-D-Computergrafik. Es wurde mehrfach ausgezeichnet und lief bis in die Neunzigerjahre in den Programmen der Musikkanäle. Auch die Werbekampagne für das Album bestand ausschließlich aus Rebeccas 3-D-Grafiken.
Bei den Credits für das Albums vermieden Ralf und Florian größtenteils wie schon bei Computerwelt
eine fachsprachliche Benennung. Firmen, Namen, Wortschöpfungen und technische
Berufsbezeichnungen wechseln sich ab und geben den Credits eher den Charakter einer Danksagung in einem Buch als den offiziellen Credits eines industriellen Tonträgers. So sucht man beispielsweise auf der CD die Urheberangaben vergeblich. Ich ließ das jedoch unkommentiert. Nach den jahrelangen Anstrengungen war ich froh, dass wir überhaupt ein Produkt hinbekommen hatten.
Im Oktober 1986 wurde Electric Cafe
veröffentlicht. Es erreichte in Deutschland Platz 23 der Albumcharts und fiel im Januar 1987, nach zehn Wochen, wieder heraus. Zum Albumrelease lief in der damals wichtigsten Musiksendung Formel 1
Rebeccas Video »Musique Non Stop«. Fünf Wochen später gelang dem Track der Sprung in die deutschen Singlecharts. Er hielt sich zwölf Wochen und schaffte es sogar bis auf Platz 13. In den zwei Wochen, in denen sich Electric Cafe
in den britischen Charts aufhielt, erreichte es die Position 58.
In jenen Tagen besuchte ich Wolfgang in seinem Atelier GAF auf der Kaiserswerther Straße. Er und seine zwei Kollegen waren als Möbeldesigner und -bauer ziemlich erfolgreich. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte Wolfgang immer noch Interesse, mit Kraftwerk auf Tournee zu gehen, aber es wurde von Jahr zu Jahr unwahrscheinlicher, dass Ralf und Florian jemals wieder dazu bereit wären.
»Ralf verschob es immer wieder aufs nächste Jahr«, erinnert sich Wolfgang heute. »Ich wusste damals nicht, was ich sonst mit meinem Leben anfangen sollte, bekam Depressionen und schlechte Träume. Und genau die wollte ich nicht mehr haben. Deshalb ging ich einfach nicht mehr ins Kling Klang und ließ mich auf das Möbelatelier ein.«
Natürlich hatte Wolfgang das Video von »Musique Non Stop« bei Formel 1
gesehen. Er mochte Rebeccas Animationen. Vor allem die virtuelle Bühne hatte sein Interesse geweckt, sie erinnerte ihn an ein Miniaturmodell, das er einmal für unseren
Bühnenaufbau der Computerwelt
-Tournee gebaut hatte – mit allem Drum und Dran. Sogar vier kleine Plastikfiguren aus dem Spielwarengeschäft standen an ihren Pulten. Seit der Tour befand sich dieses Modell in unserem Medienraum. Die stilisierte Wireframe-Umgebung des Videos erinnerte in der Tat an Wolfgangs physikalisches Modell. Als er von mir wissen wollte: »Ist das jetzt Kraftwerk?«, konnte ich nur erwidern: »Da musst du Ralf und Florian fragen.«
Remix: The Telephone Call
Mitte November rief mich Ralf an. Die amerikanische Plattenfirma wollte einen Remix von »The Telephone Call«. Damit hatte ich nicht gerechnet. Für diesen Job schlug die Firma die im Augenblick heißesten Remixer Steve Thompson und Mike Barbieri vor. Es hörte sich toll an, dass die Jungs aus der Oberliga unseren Track remixen wollten. Schon eine Woche später saßen wir wieder im Flieger und überquerten den Atlantik. Die Media Sound Studios von Thompson und Barbieri waren exzellent. Allerdings arbeiteten sie nicht am Wochenende. Das bedeutete, dass Ralf und ich gezwungen waren, uns das Wochenende in den New Yorker Clubs um die Ohren zu schlagen. Was wir dann auch taten.
Nachdem Thompson und Barbieri Montag und Dienstag rumgebastelt hatten und sich einen tollen Bass haben einfallen lassen, synchronisierten sie noch eine 808-Cowbell zum Track. Das war zwar topaktuell, aber kein guter Gedanke … Vielleicht zum besseren Verständnis: Die TR-808 Schlagzeugmaschine konnte man damals auf unzähligen Hits hören. Ihr elektronisches Instrument »Cowbell« galt als total angesagter Mode-Sound mit einem hohen Wiedererkennungswert. Dieser Sound war mittlerweile Allgemeingut geworden und deshalb ein Tabu für un
s. Nach einer kurzen Zäsur entschied Ralf, die Arbeit mit den Remix-Stars nicht fortzusetzen.
Wir telefonierten mit Florian in der Heimat und überlegten, was jetzt zu tun war. François und Ron kamen wieder ins Gespräch. Als Ralf und ich am Sonntagmittag wieder im Right Track Studio einliefen, hatten François und Ron gerade damit begonnen »Telephone Call« anzulegen und einzurichten.
Ich schlug Ralf vor, den »Numbers«-Beat als rhythmische Formel für den Track zu verwenden, was wir dann auch umsetzten. Im Anschluss daran entwickelten François und Ron den Bass-Sound. Nach einer vierzehnstündigen Session hörten wir uns das Ergebnis spätnachts im Palladium an und wussten sofort: Wir sind auf dem richtigen Weg. Am nächsten Tag wurden es wieder 14 Stunden non stop. In dieser Nacht checkten wir den Mix im Area Club. Nach mehreren langen Sessions und diversen Clubtests war es dann nach knapp dreieinhalb Wochen geschafft.
Noch einmal UFA
Für die zweite Single »Der Telefon Anruf« wurde – Überraschung – auch wieder ein Videoclip benötigt. Ohne einen Film fand man in der MTV-Ära nicht statt. An weiteres Footage von Rebecca Allens Lab war anscheinend nicht zu denken. Es hätte sowieso nicht zur Thematik des Songs gepasst. Das Artwork der Maxi-Single entsprach jedoch der Ästhetik des Albumcovers. In diesem Moment erinnerte sich Ralf an die bewährte UFA-Optik. Gut. Aber irgendetwas fehlte noch … ach ja, wo ist eigentlich Wolfgang? Der ließ sich überzeugen, und so trafen wir vier uns noch einmal zu Filmaufnahmen bei Günter Fröhling.
Wie immer in solchen Momenten gelang es Wolfgang, bei uns allen die positiven Vorgänge und Abläufe unserer Gruppendynamik freizusetzen. Plötzlich waren wir wieder die Gruppe
Kraftwerk, locker und in ausgezeichneter Stimmung. Unsere Garderobe bestand aus schwarzen Rollkragenpullovern und Lederhandschuhen. Nur Wolfgang hatte seinen Rolli nicht gefunden. Zur »Handlung«: Wir telefonieren. Nein, eigentlich nehmen wir lediglich den Hörer ab, wählen, hören mit unbewegter Miene zu, legen wieder auf. Das war’s. Die Suche einer Nummer im Telefonbuch passte natürlich auch ins Drehbuch. Wir sehen Ralf ein Klaviertelefon spielen und später vor einem Mikrofon sitzend ein Tonbandgerät bedienen. Florian trägt in einer Szene einen Kopfhörer. In einer weiteren Rolle sehen wir das Fräulein vom Amt in der Telefonzentrale. In diesem Fall gibt sie die Information: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Fröhling filmte uns auch von einem kleinen Wagen aus, der auf Schienen gleitet. Dadurch werden die Kamerafahrten extrem glatt. Bei der Montage werden Bilder hart geschnitten, weich überblendet oder gewischt – ganz im Stil der alten Filmkunst.
Obwohl ich diesen Titel im Original singe – das erste und auch einzige Mal bei einem Kraftwerk-Song –, taucht das im Video nicht auf. Es blieb Wolfgangs Silhouette vorbehalten, an einer Stelle lippensynchron den Refrain zu singen. Immerhin tippe ich bei »You’re so close but far away« auf einer mechanischen Torpedo-Schreibmaschine – selbstverständlich mit Handschuhen. Es waren unsere letzten gemeinsamen Dreharbeiten.
Filmaufnahmen und Schnitt dauerten wirklich nicht lange, aber für eine sinnvolle Promotion kamen wir dennoch zu spät. Leider. Am 12. März war die Single in Großbritanien gestorben. Sie hatte gerade mal Platz 89 erreicht. Immerhin kletterte die 12″-Maxi-Single »The Telephone Call«/»House Phone« mit dem mittlerweile schon etwas in die Jahre gekommenen »Numbers«-Beat auf den 1. Platz der US Dance Charts
.
Rezeption Electric Cafe
Für mich hatte es den Anschein, bei keiner früheren Album-Veröffentlichung hätten wir weniger Rezensionen und Berichte bekommen als bei Electric Cafe.
Die großen Medien ignorierten uns. Auch das Timing der wenigen Interviews stimmte nicht. Die Promotion-Kampagne lief ins Leere. Wofür hatten wir eigentlich fünf Jahre gearbeitet?
Unsere Musik erfüllte nach der langen Zeit der Stille offenbar die hohen Erwartungen der Rezensenten nicht. In ihrer Plattenkritik stellte
Die Rheinische Post
lakonisch fest: »[D]ie vier aus Düsseldorf […] können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass ihnen die gelobten Ideen längst ausgegangen sind und sie sich heutzutage selbst von nachhinkenden Künstlern wie Rheingold oder Orchestral Manoeuvres In The Dark noch etwas vormachen lassen müssen.«
5
»Tolles Video, todlangweilige Platte«, urteilte
ME/Sounds
und bescheinigte uns Faulheit oder Unvermögen oder weltfremde Nostalgie oder alles auf einmal.
6
Für das Ruhrgebiets-Magazin
Marabo
klang Kraftwerks neues Album über weite Strecken »geradezu altmodisch«.
7
Ralfs doppelseitiges Interview im
Fachblatt
vom Mai 1987 ist mit einer Serie von Standfotos aus unserem Film »Der Telefonanruf« illustriert. Die Album-Ästhetik schien zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen.
1981–1986: A Techno Pop Odyssee
In den 1970er- und 1980er-Jahren war die Tanzfläche ein wichtiger Ort der Musikkultur. »Soft Machine Tests« – wie Chris Bohn es einmal genannt hat – waren durchaus üblich. Indem wir unsere Mixes von den DJs in den Discos vor Publikum testen ließen, befanden wir uns automatisch im Wettbewerb mit der Musik, die in diesem Kontext gespielt wurde. Das Feedback floss
in unsere Arbeit ein, es kam zu einer Wechselwirkung. Ich bin bestimmt nicht gerade verdächtig, etwas gegen rhythmisch geprägte Musik zu haben, aber im Nachhinein muss ich feststellen, dass die Fokussierung auf den Dancefloor unserer Entwicklung nicht besonders zuträglich war. Im Gegenteil, es begrenzte massiv das Spektrum unserer musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten.
Daniel Barenboim sagt: »Jedes Kunstwerk hat ›zwei Gesichter‹: Eines ist der Ewigkeit zugewendet, das andere blickt in die Zeit.«
8
Wenn ich seine Metapher auf die Popmusik anwende, dann haben wir bei
Techno Pop/Electric Cafe
zu sehr auf den Zeitgeist mit seinen Moden und technischen Innovationen geschaut, als uns mit der Gestaltung der ureigenen Elemente der Musik auseinanderzusetzen. In dieser Phase verwandelten wir uns unmerklich von unabhängigen Komponisten zu Musik- und Sounddesignern. Ein Rückblick auf die Entstehung des »Numbers«-Beat macht deutlich, wie wir vor dieser Produktion gearbeitet hatten. In keiner Sekunde dachte ich damals an ein bestimmtes Format, das es zu erfüllen galt. Ralf und ich setzten das Lebensgefühl, das wir in diesem Augenblick empfanden, in Musik um. Und wenn Florian nicht geistesgegenwärtig auf den roten Aufnahmeknopf gedrückt hätte, wäre jener Moment möglicherweise für immer verloren gegangen. Bei diesem Schöpfungsakt waren wir völlig frei. Wir fuhren damals auch nicht mit unserer Aufnahme nach Köln, um sie im Moroco zu testen. Vielleicht hätte das Drum-Pattern ja gar nicht in die damalige Klanglandschaft gepasst. Und was wäre gewesen, wenn bei einem der Tests alle »Softmachines« geschlossen die Tanzfläche verlassen hätten … hätten wir dann den Beat von »Numbers« verworfen?
Während der Produktion von Techno Pop
vergaßen wir die Methode unserer Writing Sessions, bei denen wir zu dritt frei improvisierten und immer wieder die unterschiedlichsten Musikstücke erfanden und aufzeichneten. Aus verschiedenen Sessions wählten wir Entwürfe aus – oft lagen Monate oder Jahre
zwischen den Aufnahmen – und verschmolzen sie in einer Synthese zu einem organischen Ganzen. Statt uns zu erinnern, wie unsere authentischste und aus diesem Grund wohl auch erfolgreichste Musik entstanden war, starrten wir wie gebannt auf den Zeitgeist des Musikmarkts. Aber unsere eigenen Ideen mit denen der anderen zu vergleichen war anti-kreativ und kontraproduktiv. Wir waren nicht mehr in der Lage, über den Tellerrand zu schauen. Da half es auch nicht, wenn wir Elemente unserer eigenen Musik-DNA bei anderen Künstlern wiederentdeckten. Es ging uns nicht mehr darum, unsere Musik zu erfinden – wir wollten nur noch besser klingen als andere bzw. nicht schlechter. Vergessen waren unsere nächtlichen Soundrides, bei denen es ausschließlich von Bedeutung war, ob die Musik zu uns sprach oder nicht.
Es gab noch einen weiteren Umstand, der diese Produktion zu einer Odyssee werden ließ. Neue Ideen zeichneten wir direkt auf die Multitrack-Maschine auf. Durch diese tonbandorientierte Arbeitsweise legten wir uns aber viel zu früh fest. Einmal aufgenommen ließ sich das Schema der Musik nicht mehr verändern. Als wir dann doch nacharbeiten mussten, hielten wir uns viel zu lange damit auf, Einzelheiten zu editieren. Das hatte aber wenig Einfluss auf das Ganze und blieb deshalb meistens wirkungslos. Auch konzentrierten wir uns auf wenige musikalische Einfälle, ohne Alternativen in Betracht zu ziehen. Und je mehr Zeit wir in unsere knappen Ressourcen investiert hatten, desto unwahrscheinlicher wurde ein Neustart.
Im Laufe der fünfjährigen Produktion hatten wir unser bewährtes Set-up der analogen Synthesizer und Schlagzeuge aus unserem Gesichtsfeld verloren. Das Gleiche galt für Synthanorma und Triggersumme. Unser Interesse war nach vorne, auf die vermeintlichen Innovationen der Technik gerichtet. Aber egal ob mit dem alten Set-up oder mit dem neuen digitalen Equipment: Was uns am meisten fehlte, waren die freien Improvisationen, bei denen wir zunächst kein anderes Ziel verfolgten,
als gemeinsam zu musizieren und dabei unsere Gedanken und Gefühle des Moments in Musik zu übertragen.
Durch die plötzlich leicht zugänglichen Klangfragmente der Sample-Technik änderte sich unser Zugang zur Musik. Natürlich waren konkrete Klänge und rhythmische Klangcollagen schon immer ein fester Bestandteil der Kraftwerk-Kompositionen. Aber bisher wurden sie entweder im Sinne des Hörspiels eingesetzt (»Autobahn«) oder als musikalisierte Geräusche in die Musik integriert (»Taschenrechner«). Auch die elektronische Imitation mit dem Synthesizer war ein wichtiges Gestaltungsmittel (»Autobahn«, »Die Roboter«). Die Nutzung dieser konkreten und elektronischen Klänge war aber immer an die Idee der Musik geknüpft und wurde dann in die Gestaltung einbezogen. Durch die Sampling-Technik wurden dagegen konkrete Klänge oft zum Ausgangspunkt der Gestaltung. Dadurch hatte sich unsere Musik in den letzten Jahren zu einer immerwährenden Reihung rhythmischer Muster von Sprache und Geräuschen entwickelt. Zu Geräusch-Strukturen im Sinne der Musique concrète, die uns fortwährend an die Wirklichkeit erinnern. Das führte zu Sinneinheiten der ganz besonderen Art: Freizeichen, Wählscheibe, Wählscheibe, Wählscheibe, Rufzeichen, Rufzeichen, Besetztton, Besetztton, Besetztton, Tastenton, Tastenton, Tastenton, Tastenton, Tastenton, Tastenton …
Unser musikalischer Ausdruck, der einst von Polyphonie geprägt war, wandelte sich zu einer Form der aneinandergereihten Events, die mehr mit dem seriellen System als mit der originären Idee unserer Musik gemein hatte. War nicht einmal unser Leitgedanke gewesen, die Technik zu musikalisieren? Jetzt fühlte es sich für mich streckenweise so an, als hätte die Technik unsere Gedanken absorbiert.
Die Odyssee von Electric Cafe
– das einst hoffnungsvoll als Techno Pop
mit einem authentischen Artwork begann – erscheint mir auch noch dreißig Jahre später wie ein unaufgelöstes
Rätsel. Nach einem vielversprechenden Start stolperten wir über die Vorab-Single »Tour de France« und verzettelten uns dermaßen, dass es uns nicht gelang, dem Album eine durchgängig kohärente Gestaltung zu geben. Dann gingen uns der wichtigste Track und die ursprüngliche Artwork mit der Vorab-Single für das Album verloren. Drei für die Promotion produzierte Filme – zwei »Tour de France«-Versuche und »Der Telefon Anruf« – waren stilistisch in der UFA-inspirierten Schwarzweiß-Ästhetik gedreht, die zum ursprünglichen Artwork des verlorenen Techno Pop
-Albums passte. Allerdings hatten diese Filme rein gar nichts mit der Ästhetik der Computeranimation von »Musique Non Stop« zu tun, die aber die Grundlage der Covergestaltung für das Album Electric Cafe
mit seinen beiden ausgekoppelten Singles bildete. Im Grunde war diese Veröffentlichung nach der jahrelangen Produktionszeit eine Bruchlandung, ein Totalschaden unserer Denkfabrik.
Was uns damals insgesamt fehlte, war eine objektive Analyse unserer Situation. Dazu, so scheint es, waren wir nicht in der Lage. Dinge wie Planung, Koordination und Organisation fielen uns extrem schwer. Wir bewegten uns ungeordnet, völlig konventionslos und ohne einen Kompass. Außerdem war uns auch der Prozess der gemeinschaftlichen Meinungsbildung abhandengekommen. Und leider hatten wir im Lauf dieser Produktion auch verlernt, uns völlig unabhängig in unsere wichtigste Tätigkeit, das Komponieren, zu vertiefen. Wir dachten noch nicht einmal darüber nach, wie wir das Gefühl des sogenannten »Flow« wieder erreichen konnten, weil wir nicht bemerkten, dass es uns abhandengekommen war. Stattdessen brachten die aktuellen Produkte des Musikmarktes, der Verlust unseres Alleinstellungsmerkmals wie auch die Technik, die sich rasant zu entwickeln begann, starke Irritationen mit sich, die uns den Blick auf unser konkretes Kapital versperrten: die autonome Phantasie.