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THE MIX
Zen und die Kunst, ein Synclavier zu warten. Baustelle Kling Klang – die Zweite. Rote Grütze mit Bob Krasnow. Wieder in der Warteschleife. Marathon. Die klingende Partitur. Robovox. Das Sakrileg. Neubeginn. Die Mauer fällt. Wake-up-Call. Schleudertrauma. Streitgespräch. Weihnachtsfeier. Italienische Reise. Ein Besuch in London. Utopia. Ursache und Wirkung. Totenmaske. Vorbei.
Zen und die Kunst, ein Synclavier zu warten
Als ich am Freitag, den 16. Januar 1987 die Tür des Kling Klang Studios öffnete, stand es da: Auf dem Metallständer, der früher Ralfs Chromgehäuse mit Minimoog, Polymoog und Orchestron trug, thronte jetzt das New England Digital Synclavier. Mit der grauen Sonderlackierung wirkte das Gerät auf mich wie ein kostbares Designer-Möbelstück. Als ich mich an die edle Klaviatur mit den 6⅓ Oktaven stellte, entdeckte ich das große Display und eine Bank mit zahlreichen rot leuchtenden oder blinkenden Druckknöpfen.
Der sagenhafte Ruf des computergesteuerten Audio-Systems begründete sich auf seine Klangqualität und vor allem auf seinen Preis: je nach Ausstattung mehrere Hunderttausend US-Dollar. Der mitgelieferte große und sehr schwere Monitor passt gerade noch in eines der grauen Pulte. Und für den riesigen Turm der Recheneinheit mit mehreren Festplatten sollte von Joachim Dehmann direkt neben der Studiotür ein eigener Raum mit Kühlung und Lüftung geschaffen werden .
Um das Geschäftsmodell von New England Digital (NED) zu verstehen, muss man sich in die 1980er-Jahre zurückversetzen. Die Achtziger waren die Dekade, in der im Westen die konservativen Parteien an der Macht waren und die Richtlinien der Politik und Wirtschaft bestimmten: »Weniger Staat – mehr Markt« war die Devise. Es war auch die Zeit der Digitalisierung, der Investment-Banker und Yuppies. Kokain war die angesagte Droge. Noch nie hatte man im Musikgeschäft so viel Geld verdient wie in der MTV-Ära, was auch auf den boomenden Markt der elektronischen Musikinstrumente zutrifft. Was lag da näher, als sich mit der neuesten Technologie in der Musikproduktion einen Vorteil vor der weniger solventen Konkurrenz zu verschaffen? Ich denke, NED wandte sich explizit an eine Klientel, für die Geld keine Rolle spielt.
Das Synclavier II war ein digitaler Synthesizer und Sampler mit einer »Direct-to-Disc«-Option. Sie ermöglichte das 16-Spur-Harddisk-Recording, den Traum aller Musikproduzenten. Ein wesentliches Verkaufsargument war die damals sehr hohe Auflösung bei Audioaufnahmen und bei der Wiedergabe. Nur die Kapazität der Festplatte begrenzte die maximale Länge der Samples. Das stellte zur damaligen Zeit die Grenze des technisch Machbaren dar und bestimmte den märchenhaften Preis. Die handgefertigte, anschlagdynamische Holztastatur vermittelte nahezu die Haptik und das Luxusgefühl eines Steinway-Flügels. Allerdings zeigte sich für mich in der Praxis, dass die Architektur der Maschine noch nicht ausgereift war, Updates lange auf sich warten ließen und natürlich empfindlich teuer waren. Der interne Sequenzer der Maschine entsprach auch nicht dem Entwicklungsstand eines Softwaresequenzers von 1987. Mit dem Kauf des Synclaviers fokussierten sich Ralf und Florian wie Unternehmer einer vergangenen industriellen Epoche auf die Produktionsmittel. Ließe sich mit besseren Maschinen nicht auch bessere Musik herstellen? 1
Seltsamerweise beeindruckte mich eine hohe »Samplingrate« beim Synclavier nicht. Die Ironie daran ist, dass sich eine hohe Auflösung vor allen Dingen bei der Aufnahme von akustischen Instrumenten bemerkbar macht und nicht unbedingt bei Instrumenten, die aufgenommen werden, ohne dass sie die Luft zum Schwingen bringen. Außerdem wurden viele unserer Sounds von den alten Multitrack-Tapes gesampelt – und dabei handelte es sich teilweise um 8-Bit Samples. Den Hype um diese angebliche Supertechnologie konnte ich also nicht nachvollziehen. Was noch viel schwerwiegender war: Die teure Technologie war schon bald überholt von ähnlich guten und deutlich kostengünstigeren Geräten. Die rasante Entwicklung im IT-Bereich brachte dann auch bald die Firma NED in Schwierigkeiten. Gegen Ende 1992 verschwand das Unternehmen vom Markt. Damals begann man langsam zu begreifen, dass sich die Entwicklung der elektronischen Informations- und Datenverarbeitung nicht linear sondern exponentiell vollzieht.
Baustelle Kling Klang – die Zweite
Nun stand die Wunderkiste also im Kling Klang Studio, das allerdings nicht mehr den neuesten Anforderungen entsprach. Ralf und Florian zögerten nicht lange und beschlossen, ihr Studio wieder einmal umzubauen. Denn wenn wir hier wieder produzieren und auch in Zukunft abmischen wollten, musste die Akustik besser werden. Joachim hatte jahrelang davon gesprochen, die Position der Lautsprecher und der MCI Konsole im Raum zu verändern – jetzt war es so weit. Eine Firma für Studiodesign wurde in den USA engagiert, und Joachim nahm nach einem Bauplan die nötigen Umbauten für das Studio in Angriff, unter anderem die Schallisolation, eine komplett neue Verkabelung des Studios und den Einbau eines Kühlraums für das Synclavier .
Durch das neue Produktionsgerät war eine neue technische Kompetenz gefragt. Die vielen umfangreichen Handbücher, die dem »Clav«, wie es von seinen Liebhabern zärtlich genannt wurde, beilagen, mussten gelesen, verstanden und angewendet werden. Nicht gerade eine intuitive Tätigkeit, eher eine Verwaltungsaufgabe. Ralf hatte aber eher einen intuitiven Zugang zur Musik. Das haptische und motorische Feedback seiner analogen Instrumente wie Minimoog oder Orchestron entsprach seinem natürlichen Zugang zum Klang. Die Interaktion mit diesen Instrumenten ermöglichte es ihm, seine musikalischen Fähigkeiten voll auszuspielen. Anders beim Synclavier: Der Umgang mit Klang war wesentlich distanzierter, denn zunächst musste man eine neue Logik und die Ordnungsprinzipien erlernen. Das waren eher bürokratische Tätigkeiten. 2 Also war damals klar: Für das Synclavier mit allen seinen Herausforderungen brauchte Kraftwerk einen Administrator.
Ich dachte wieder an meinen Studienkollegen Henning Schmitz, mit dem wir während der Produktion von Electric Cafe gearbeitet hatten. Henning hatte damals aber zahlreiche Studiojobs und keine Zeit. Dafür empfahl er mir seinen früheren Kommilitonen Fritz Hilpert. Als ich Fritz fragte, ob er sich vorstellen kann, regulär als Toningenieur und Synclavier-Operator für Kraftwerk zu arbeiten, zeigte er sich nicht abgeneigt. Schließlich trafen wir uns Ende Januar in der Mintropstraße: Ralf, Florian, Joachim, Fritz und ich. Ich erinnere mich nur noch an ein rundes Dutzend umfangreicher Handbücher, die irgendwo herumstanden und die sich Fritz reinziehen sollte. Damals arbeitete er noch als freier Toningenieur, kam aber im Lauf des Jahres immer wieder für ein paar Tage vorbei, um sich in die Materie einzuarbeiten. Gemeinsam mit Ralf und Florian nahm er auch an einem Synclavier-Workshop in den Vereinigten Staaten teil. Nach dieser Bildungsreise begann Fritz damit, im Studio B – dort befand sich mittlerweile das Equipment – Sounds von den 16-Spur-Bändern zu sampeln. So kam es, dass nun drei Absolventen des Studiengangs für Toningenieure der Fachhochschule Düsseldorf – Joachim Dehmann, Henning Schmitz und jetzt auch Fritz Hilpert – für Kraftwerk arbeiteten.
Ich selbst befand mich unversehens wieder in einem seltsamen Schwebezustand. Denn in den nächsten Monaten trafen wir uns eher sporadisch auf der Baustelle. Wir hingen in den Räumen, die zur Mintropstraße liegen, ab, lümmelten im Medienraum auf Ledercouch und Sessel herum, starrten auf den Sony-Bildschirm und kommentierten das Fernsehprogramm mit mehr oder weniger witzigen Sprüchen. Unser Jahreskalender strukturierte sich durch Sportereignisse: zu Beginn des Jahres Wintersport –, Skispringen und Abfahrtsläufe, im April Paris–Roubaix, es folgte der Mai mit dem Giro d’Italia und im Juli die Tour de France. Die Zeit verging. Als Ralf und Florian im August für vier Wochen in Urlaub fuhren – Ralf erkundete Korsika mit dem Fahrrad –, übernahm ich notgedrungen den Job des »Studiomanagers« und stellte Joachim und Fritz Schecks für ihre Tätigkeiten aus.
Rote Grütze mit Bob Krasnow
Nach ihrer Rückkehr trafen wir Ende September Bob Krasnow, den Chef unseres US-Labels Elektra, in einem Nobel-Hotel an der Kö zum Essen. Als wir den Nachtisch in Form von Roter Grütze zu uns nahmen, schlug er uns gut gelaunt vor, eine »Best of Kraftwerk«-LP zu veröffentlichen. Wir könnten mit einer solch geballten Ladung und einer begleitenden Tournee in den USA ziemlich viel erreichen. Aus meiner Sicht war der Vorschlag sinnvoll. Es schien mir ein probates Mittel zur richtigen Zeit, die Band endlich live in den USA zu etablieren. Und natürlich ließ sich auch das finanzielle Potenzial nicht von der Hand weisen.
Neben einer »Best of« hätte ich mir auch eine parallele Schallplatte mit einem Remix-Gewitter vorstellen können, die alle bisherigen Remixe von François wie »Tour de France« und »Housephone« und vielleicht noch weitere von den üblichen Verdächtigen dieser Szene versammelt. Eine Kollektion von 12″-Maxisingles in einer Box mit einigen beiliegenden Produkten. Vielleicht auch noch eine Box mit 7″-Singles und selbstverständlich diverse CD-Ausgaben.
Man könnte das Studio umbauen und parallel dazu auf Tournee gehen. Eine Welttournee mit einem The Best Of Kraftwerk -Album, zusätzlicher MTV-Präsenz mit allem Drum und Dran hätte der Gruppe Kraftwerk sicher nicht geschadet. Außerdem wäre es der ideale Zeitpunkt gewesen, die Arbeit der »analogen« Jahre in einer Retrospektive zusammenzufassen und dann gemeinsam in das digitale Zeitalter aufzubrechen, das ja schon längst begonnen hatte.
Aber Ralf und Florian konnten sich ein konventionelles Best-of-Album einfach nicht vorstellen. Vielleicht widerstrebte ihnen die retrogressive Geste, da die Gruppe Kraftwerk doch eher für Fortschritt stand – so wurde es zumindest immer wieder kommuniziert. Vielleicht war das Best-of-Konzept auch einfach zu wenig anspruchsvoll, nicht intellektuell genug. Wie auch immer, im Anschluss an Rote Grütze und Businesstalk mit Bob Krasnow trafen Ralf und Florian die Entscheidung, seine Idee zu akzeptieren – sie aber »leicht« zu modifizieren: Anstelle einer traditionellen Best-of-Kollektion entschlossen sie sich, ausgewählte Stücke des Kraftwerk-Repertoires in Form von selbst angefertigten Remixen zu produzieren.
Wieder in der Warteschleif e
Ob ein »Do It Yourself«-Remix-Album eine ähnliche Durchschlagskraft wie ein Best-Of- Album erzielen würde, konnte ich schwer einschätzen. Eines aber war klar: An neue Kompositionen war erst mal nicht zu denken. Während Joachim Dehmann das Kling Klang Studio umbaute, stellte Fritz Hilpert mit dem Synclavier die Kling Klang Library zusammen. Beides komplizierte Aufgaben mit hohem Zeitaufwand – also wieder in die Warteschleife. Nein, mit Euphorie lässt sich meine Stimmung damals nicht gerade beschreiben. Unsere gemeinsame Arbeit war wieder auf Eis gelegt. In der nächsten Zeit trafen wir uns sporadisch im Studio – um fernzusehen und um zu erfahren, wie die Baustelle und das Sampling liefen. Gelegentlich aßen wir in verschiedensten Besetzungen im Ristorante Da Bruno direkt um die Ecke am Mintropplatz. Unser Klassiker: Spaghetti aglio e olio mit Salat.
Ralf lebte damals völlig in seiner Fahrradwelt. In unserem Kreis zirkulierten Radsportsprüche wie »Die Form ist da«, »Wieder schön gerollt heute« oder »Muss noch Gewicht machen«. Mir kam es so vor, als würde Ralf die Radsport-Unterhaltungen wie eine Art verbale Tarnkappe tragen, um unsichtbar zu sein und über etwas sprechen zu können, ohne sich öffnen zu müssen.
Die Gespräche über Musik wurden immer seltener. Ich vermisste das. Wenn wir allein waren, unterhielten wir uns aber gelegentlich doch über den Stand der Dinge. Kurzzusammenfassung aus meiner Sicht: Wenn man in der Formel 1 mitfahren wolle, müsse man mit dem richtigen Auto an den Start gehen. Bessere Maschinen – bessere Sounds. Mit dem modernisierten Studio wären wir wieder in einer guten Position. Wir hätten zwar einen Ruf wie Donnerhall, aber Live-Auftritte ohne einen Hit am Start würden nichts bringen. Unser Vorteil: Die Leute im Business wüssten, dass wir nicht hungrig sind. Wir müssten nur die Ruhe bewahren und weitermachen .
Im Dezember wurde ich ziemlich krank. Ich konnte den Kopf nicht mehr bewegen, extreme Nackenschmerzen plagten mich wie bei einem Schleudertrauma nach einem Autounfall. Nur hatte ich keinen Unfall gehabt. Auch ein gründlicher Check-up mit Röntgen, EKG, Bluttests und allem, was dazu gehört, brachte keinen Befund. Mein Arzt verschrieb mir eine Fango- und Massagetherapie. Das lief von jetzt an im Hintergrund mit.
Ich erinnere mich noch gut an Silvester 1987. Ralf, Volker Albus, Willi Klein, Bettina und ich fuhren ohne Plan auf der Suche nach einer passenden Umgebung für den Jahreswechsel abends nach Köln. Florian war irgendwie, irgendwo verschollen. Zunächst irrten wir in Köln umher, wussten nicht wohin und landeten gegen Mitternacht in einem leeren türkischen Imbiss, saßen an einem braunen Plastiktisch und verfolgten den Jahreswechsel auf dem Fernsehgerät, das über der Theke unter der Decke hing. Es war ein trostloser Moment. Ich war froh, als Bettina und ich wieder zu Hause waren und eine Flasche Champagner öffneten.
Marathon
Es brachte nicht viel, 1988 ins Kling Klang Studio zu fahren. Nach der Odyssee von Techno Pop , pardon: Electric Cafe wollte ich mich auf gar keinen Fall wieder komplett den Dingen, die dort passieren oder vielmehr nicht passieren, ausliefern. In dieser Zeit hielt mich das Laufen aufrecht. Im Grunde war es die Konstante in meinem Leben – abgesehen von Bettina und der Musik natürlich, die mich in der Balance hielt. Der September war mit 460 Kilometer auf der Strecke der intensivste Trainingsmonat des Jahres.
Meine Langläufe hatte ich wie ein Ritual fest in meinen Tagesablauf integriert. Und dann kam es, wie es kommen musste: Eines Tages setzte ich mir in den Kopf, einen Marathon zu laufen. Es war mein Wunsch, wenigstens einmal die Distanz von 42,195 Kilometern zu schaffen. 20 Kilometer waren für mich damals kein Problem mehr, und ich suchte mir im Grafenberger Wald eine Strecke, die mich nach ungefähr zehn Kilometern wieder an meinen Ausgangsort zurückführte. Dort parkte ich mein Auto mit Wasser und Müsliriegel und allem, was man nach einer Runde braucht. Dieser Plan erschien mir durchführbar. Am 6. August 1988 war es endlich so weit: mein erster Marathon! Genaugenommen waren es 42,4 Kilometer, die ich in 3 Stunden und 55 Minuten lief. Nicht wirklich ein Ergebnis, mit dem ich groß angeben konnte, aber ich lief die Strecke nur für mich. Geschwindigkeit oder sportlicher Wettbewerb bedeuteten mir nichts.
Auch heute noch ist das Laufen für mich ein Moment, bei dem ich ganz bei mir selbst bin, in jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Natürlich gibt es gute gesundheitliche Gründe, diese Ausdauersportart auszuüben. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das doch bloß ein nützlicher Nebeneffekt. In Wahrheit sind für mich die unterschiedlichen Sinneseindrücke, die ich beim Laufen erlebe, entscheidend. Und auch, was sich dabei in meinem Kopf abspielt. Im Gegensatz zu vielen sportbegeisterten Musikern ist es mir beim Ausdauersport nicht gegeben, über Musik nachzudenken. Ich höre stattdessen auf meinen Körper: mein Atem, Pusten, gelegentliches Stöhnen und Keuchen – wie klingt denn mein Körper überhaupt, wenn ich mich anstrenge? Beim Laufen konzentriere ich mich auf den motorischen Rhythmus meiner Schritte und natürlich die wechselnden Klänge der Welt, die mich umgibt.
Ein derartiges multisensorisches Spektakel lässt sich für mich kaum noch steigern. Deshalb frage ich mich oft, warum so viele Läufer einen Soundtrack über einen MP3-Player und In-Ear-Kopfhörer dem Lauferlebnis hinzufügen. Ich würde wahrscheinlich wie angewurzelt stehen bleiben, weil ich immer das Bedürfnis hätte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Ich kann das nicht. Beim Musizieren trainiert schließlich auch keiner nebenbei auf dem Ergometer, oder?
Natürlich fliegen beim Laufen ständig Gedanken vorbei, aber meistens bleibe ich in einem monotonen Loop hängen, der mich dann für eine gewisse Zeit begleitet, oder an einer Idee, die aufblitzt und wieder verschwindet, als befände ich mich in einem Cut-up-Text von Burroughs, bevor ich, wenn ich lange genug laufe, wirklich an gar nichts mehr denken kann. Endlich.
Die klingende Partitur
Seit dem Aufenthalt in New York hatte ich begonnen, mich in das Programm Sequencer Plus einzuarbeiten. Ich war von der digitalen Weiterentwicklung der Musikautomaten begeistert, das war in den Achtzigern ein großer Schritt. Für mich jedenfalls war es eine Offenbarung: Wie bei einer Partitur waren vertikal untereinander die verschiedenen Klangquellen angeordnet und horizontal die Zeitachse. Pro Takt gab es ein Kästchen, in das man reinzoomen konnte, um sich diesen Takt genauer anzuschauen. Dort sah man vertikal die Tonhöhen und horizontal die Dauer der Events. Die aufgezeichneten MIDI-Daten ließen sich manipulieren, die Tonhöhe oder das Timing verändern – die Klangfarbe sowieso.
Musik auf der Timeline eines Computers zu gestalten empfand ich von Anfang an als eine absolut natürliche Tätigkeit, die Darstellung der Töne als Balken ebenfalls als sehr logisch und hilfreich. Aber die grafische Darstellung der Musik hatte mich ja schon immer interessiert, denn ohne die Notenschrift hätte sich die westliche Musik nicht so entwickeln können wie mit ihr. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, aber genau wie eine Partitur auch nur eine grafische Darstellung der Musik liefern kann, ist die Anordnung der Events auf der Timeline eines Computers nicht mehr als eine Sammlung von Daten, die sich erst noch zu Musik entwickeln müssen. Was beide Medien unterscheidet? Im Gegensatz zum Notenblatt klingt die Partitur im Computer und lässt sich darüber hinaus wie eine Textverarbeitung manipulieren.
Also besorgte ich mir nach unserem Mix in New York einen IBM Personal Computer XT, den cremefarbenen Klassiker mit einer damals unglaublichen 20-MB-Festplatte und einem Diskettenlaufwerk. Für diesen Kasten legte ich einen Scheck mit fünfstelliger Summe auf den Ladentisch – damals ein Vermögen. Die nächste Zeit verbrachte ich damit, jeden Tag wie Alice in den Schrank zu steigen, nach unten zu fallen und mich, dort angekommen, in einer völlig neuen Umgebung zurechtzufinden.
Ich brannte wirklich darauf, mit dieser neuen grafischen Darstellung von Musik im Computer zu arbeiten. Heute gibt es kostenlose Apps für jedes beliebige Mobiltelefon, die ähnliche Funktionen anbieten. Aber damals fühlte es sich wirklich sehr erhebend an, wenn ich mich auf die Zeitachse meines Computers begab, mich in eine Melodie zoomte und mit ein paar Tastaturbefehlen ihre Parameter editierte.
Im Juli 1988 begann ich damit, die Kraftwerk-Titel als Leadsheed – darunter versteht man die vereinfachte Notationsweise eines Musikstücks, bestehend aus Melodie, Text und Akkorden – aufzuschreiben und sukzessive in den Sequencer Plus einzugeben. Dabei orientierte ich mich an den Live-Aufnahmen unserer letzten Tournee. »Die Mensch-Maschine«, »Showroom Dummies«, »Tour de France«, »Sex Objekt«, »Der Telefon Anruf« und »Musique Non Stop« fügte ich ebenfalls hinzu, weil sie für mich in die mögliche Auswahl gehörten.
Als Abspielmedium besaß ich mittlerweile drei im Vergleich zum Synclavier preiswerte Sampler. Viele unserer Sounds – beispielsweise das Schlagzeug und die Elektroklänge – sampelte ich aus der Library des Synclaviers. Umgekehrt transferierten wir im Laufe der Produktion eine Anzahl von 8-Bit- und 16-Bit-Samples ins Synclavier. Im Lauf der Zeit stellte ich auf diese Weise unser Live-Repertoire mit meinen Samplern und Computern zusammen.
Robovox
Florian verbrachte damals die meisten Stunden seiner Studiozeit im Sprachlabor. Die Sprachsynthetisatoren waren nach wie vor seine Mission. Wie beim Fußball ist es auch in der Kunst extrem wichtig, freie Räume zu erkennen und in sie hineinzulaufen, bevor der Ball dorthin gepasst wird. Florian erkannte ganz früh diesen freien Raum der synthetischen Stimme in der Musik und besetzte ihn gekonnt und nachhaltig.
Als ich einmal mit meinem Sampler im Studio aufkreuzte, überredete er mich, eine Anzahl Phoneme seiner Stimme zu sampeln, um daraus das Rohmaterial für ein Sprachsynthese-Programm herzustellen. Wir setzten uns also mit Mikrofon und Sampler in sein Sprachlabor, und er sprach 32 Phoneme ein. Das war natürlich eine sehr rudimentäre Version der Sprachsynthese, die ziemlich strange klingt. Zu hören ist sie beim Remake von »Radioaktivität«: »Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield, Hiroshima«. Natürlich machte ich das auch mit meiner eigenen Stimme und nannte das Ganze »Neusprech«.
Florian trieb damals mit großem Einsatz die technische Entwicklung eines Verfahrens voran, dessen Ziel das synthetische Singen in Echtzeit war.
Wolfgang Kulas: »Florian gab Mitte der Achtzigerjahre ein Robovox-System in Auftrag, das er sich sogar für einen gewissen Zeitraum patentieren ließ: System for and method of synthesizing singing in real time. «
Eines Tages besuchte mich Florian mit seiner elektronischen Flöte in meinem Heimstudio. Neugierig schaute er sich bei mir um. Ich arbeitete gerade an einem neuen Track. Obwohl mir noch keine Lyrics eingefallen waren, hatte ich ihm den Arbeitstitel »TV« verpasst. Der Song lief gerade in einem Loop, jetzt stellte ich ihn aber aus, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Florian schaute sich mein Studio an und registrierte, was da inzwischen alles rumstand. Mein neuer digitaler Synthesizer war angeschlossen, und Florian klinkte sich mit der Flöte – die inzwischen midifiziert war – in mein System ein und spielte ein paar seiner typischen Tongebirge. Als er sich verabschiedete, sagte er lachend, der Synthi hätte ihn überzeugt, er würde sich auch so ein Ding besorgen. Das waren die Momente, in denen ich mich mit Florian gut verstand. Zumindest kam es mir damals so vor.
Das Sakrileg
Mein Verhältnis zu Fritz Hilpert würde ich als sehr kollegial beschreiben. Er war auf den Tag vier Jahre jünger als ich und schon damals ein prima Toningenieur. Außerdem ein angenehmer Mensch, der nicht unter Kontaktarmut litt und mit dem ich sofort gut klarkam. Fritz war in Augsburg geboren, was uns auch rein geografisch verband. Der Zeitpunkt für seinen Einstieg bei Kraftwerk war günstig, denn das Repertoire war bereits geschrieben, die Phase der Schöpfung – zumindest fast – abgeschlossen. Nun galt es, das Material zu verwalten. Die Kompetenz, die dafür bei Kraftwerk benötigt wurde, entsprach genau Fritz’ Portfolio. Jetzt waren bei Kling Klang Ingenieure zweckdienlicher als Musiker und Autoren. Durch seine technische Kompetenz wurde Fritz zu Ralfs Tutor am Synclavier. Aber auch seine menschlichen Qualitäten und seine Objektivität brachten ein Stück weit die Realität der Außenwelt ins Kling Klang Studio .
Irgendwann spielte ich Fritz meinen Song »TV« vor, an dem ich gerade in meinem Heimstudio arbeitete. Ich glaube, der Track gefiel ihm ganz gut. Spontan bot er mir an, einen Mix von dem Track zu machen. Im damals recht bekannten Düsseldorfer Tonstudio Klangwerkstatt von Stefan Ingmann mischte Fritz den Song an einem Wochenende im März 1988 – das Studio war nicht gebucht, und wir durften rein. Das war eine ziemlich tolle Session, alle hatten Spaß an der Sache. Es ging dabei um nicht viel mehr als um eine gute Zeit.
Als wir uns dann montags wieder im Kling Klang Studio trafen, berichtete Fritz freudestrahlend von unserer Mix-Session. Ich hatte schon während seiner Erzählung beobachtet, wie sich Florians Gesichtsausdruck veränderte. An die folgende Unterhaltung kann ich mich nicht mehr genau erinnern, aber ich hatte den Eindruck, dass es für Florian ein Verrat oder sogar ein Sakrileg von uns war, gemeinsam in einem anderen Studio an einem Song von mir zu arbeiten. Es schien seine Vorstellungskraft zu übersteigen, dass wir so etwas überhaupt in Erwägung gezogen hatten.
Fritz war damals noch nicht im vollen Maße mit dem inoffiziellen Verhaltenskodex der Kraftwerk GbR vertraut – der »stillschweigenden Abrede«, dass man für Kraftwerk nur exklusiv arbeitete. Die Situation hätte peinlicher nicht sein können. Ich hatte den Eindruck, für Florian war das in einem hohen Maße illoyal.
Nach einiger Zeit legte sich der Sturm wieder. Doch nach diesem Vorfall hat Fritz nie wieder einen Mix für mich gemacht. Der Rest des Jahres 1988 verstrich unspektakulär. Musikmachen war wegen des Umbaus immer noch nicht möglich. Die Bauarbeiten im Studio zogen sich hin.
Neubegin n
Im Januar 1989, nach der zweijährigen Sanierung des Studios, schloss Joachim unser Equipment im Studio an. Nun trafen wir uns wieder zum Basteln im Kling Klang. Es waren eher leichte Trainingseinheiten, in denen wir unser Arbeitsumfeld gestalteten. Ich installierte meinen IBM-PC, um mit der Sequenzer Plus Software flexibel Arrangements programmieren zu können.
Ralf beschäftigte sich mit dem Synclavier: Er lud die von Fritz produzierten Samples von der Library in den Arbeitsspeicher des Geräts, spielte auf der gewichteten Tastatur und testete die LED-Knöpfe des internen Sequenzers. Florians neues Set-up bestand aus seinem Robovox und einem Atari-Computer.
Während dieser ersten Sessions passierte noch etwas anderes: Nachdem Joachim die Sanierung und den Umbau des Studios geleitet und durchgeführt hatte, begann sich die Kommunikation mit ihm rapide zu verschlechtern. Ralf und Florian, so schien es, waren nicht mehr mit seinen Leistungen zufrieden. Es hatte schon sein Längerem gebrodelt, und schließlich kam es im März nach Beendigung der Baumaßnahmen zum Eklat.
Joachim Dehmann: »Für den Umbau von Studio A ab Januar 1987 wurde von mir verlangt, neue technische Hilfskräfte anzuleiten und einzuweisen. Obwohl sich Ralf und Florian mit mir nicht über eine Änderung oder gar Beendigung meiner Tätigkeit ausgetauscht hatten, drängte sich mir der Eindruck auf, dass ich diese von Ralf bezahlten Leute ausbilden sollte, meine Funktion im Studio zu übernehmen.
Nachdem bestimmte Umbaumaßnahmen im Studio A abgeschlossen und die Geräte angeschlossen waren, stellte ich am 15. März 1989 meine Abschlussrechnung. Dabei kam es zu Unstimmigkeiten, die schließlich zum Bruch zwischen mir und den beiden führten und die dann in einer Auseinandersetzung vor dem Landgericht endeten.«
Joachim hatte uns immerhin zehn Jahre lang rund um die Uhr zur Verfügung gestanden. Das abrupte Ende war für ihn eine verdammt bittere Pille, zumal sich seine Werkstatt und sein Büro direkt gegenüber den Kling Klang Studios befanden. Ich glaube, er hatte ziemliche Existenzangst. Die letzte verbale Auseinandersetzung auf dem Innenhof des Gebäudekomplexes endete sehr, sehr unschön. Was mich aber am meisten erschreckte, war zu erleben, wie wenig dieser dramatische Vorfall Ralf und Florian zu berühren schien.
Die Mauer fällt
Am Mittwoch, den 9. November 1989 waren Ralf, Florian und ich um 18 Uhr im Studio verabredet, um weiter an The Mix zu arbeiten. Als wir nach Mitternacht nach Hause fuhren, staunten wir nicht schlecht, wie ein nicht enden wollender Autokorso hupend seine Runden um den »Tausendfüßler« drehte und zunehmend die Innenstadt verstopfte. Die Menschen hingen aus den Fenstern der Autos und schrien und jubelten. Was war geschehen?
Seit August war nicht mehr zu übersehen gewesen, dass sich etwas Großes anbahnte. Tausende DDR-Bürger hatten in der Deutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht. Am 3. November ermöglichten die ČSSR-Behörden ihnen dann die unreglementierte Ausreise in den Westen. Die Rede des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Deutschen Botschaft in Prag am 30. September war ein historischer Meilenstein.
Weniger intensiv haben wir die Grenzöffnung der DDR am 9. November verfolgt. Es wäre gelogen, wenn ich jetzt eine sentimentale Geschichte erzählen würde, die meine Gefühle für ein wiedervereintes Deutschland nostalgisch verklärt. Nein, ich habe nicht geweint wie die Landsleute, die in den Westen reisen konnten, aber ich habe mich mitgefreut und war mit ihnen glücklich. Ein vereinigtes Deutschland gefällt mir viel besser als ein geteiltes. Am 9. November 1989 fühlte es sich auf jeden Fall richtig und gut an, und für die Zustimmung Russlands und unserer europäischen Nachbarn konnten wir Deutschen nicht dankbar genug sein. Niemals hätte ich in meiner Jugend geglaubt, das einmal zu erleben.
Wake-up-Call
Im gleichen Monat erhielt ich Post vom Finanzamt Düsseldorf. Eine Steuernachzahlung. In Verbindung mit meinen laufenden Vorauszahlungen brachte mich das ins Schleudern, und ich verlor für einen Moment den Boden unter den Füßen. Offenkundig war mir da etwas aus dem Ruder gelaufen. Zum Glück konnte ich die Forderung begleichen, doch mein grundsätzliches Dilemma war viel gravierender: Seit fast 15 Jahren war ich bei Kraftwerk, fühlte ich mich als fester Teil einer Gemeinschaft, hatte Zeit, Leidenschaft und auch Kreativität investiert, um dann eines Tages ernüchtert festzustellen, dass ich in einer Sackgasse gelandet war. Denn die Gemeinsamkeit im Kling Klang Studio endete meinem Empfinden nach da, wo es um geschäftliche Interessen ging: Ralf und Florian hatten den Hut auf, und ich musste im Grunde immer um alles bitten: Autoren-Credits, Lizenzbeteiligungen, Vorschüsse.
Solange wir Platten veröffentlichten und auf Tournee gingen, war ich zufrieden, aber die lange Produktionszeit von Electric Cafe und die letzten zwei Jahre in der Warteschleife waren zermürbend – und sie hatten auch in finanzieller Hinsicht Konsequenzen: Denn es machte einen großen Unterschied, ob ich für eine bestimmte Beteiligung an den Lizenzen zwei, drei, vier oder mehr Jahre exklusiv arbeitete.
Die ganze Situation war für mich wie eine Art Wake-up-Call. Ich wurde immer misstrauischer und begann mir Fragen zu stellen: Waren die Lizenzbeteiligungen überhaupt gerecht verteilt oder willkürlich? Von wie vielen verkauften Schallplatten war die Rede? Warum wurden auf den Alben die Leistungen der beteiligten Personen nicht eindeutig definiert, sondern mit Begriffen wie Hard- oder Software bezeichnet? Und war es eigentlich normal, dass viele Vereinbarungen nur mündlich geschlossen wurden? Einmal ins Nachdenken gekommen, wusste ich in dieser Situation keinen Rat mehr. Die Frage war: Wer kannte sich mit solchen Zusammenhängen aus?
Schleudertrauma
Mitte November 1989 flog ich nach Paris, um mit Maxime Schmitt über meine Situation zu sprechen. Er hörte mir aufmerksam zu, als ich ihm meine Probleme schilderte. Ich erklärte, dass ich mich einerseits als einen integralen Bestandteil der Gruppe betrachte und immer noch an unsere Musik glaube, aber auf der anderen Seite sehe, wie die Gesellschafter der GbR für mich überhaupt nicht mehr berechenbar sind. Sie hatten für ihre Konzepte und Arbeitsweisen ihre Gründe, aber ich verstand ihr Handeln nicht mehr.
Seine Antwort war nicht nur klug, sondern auch sehr hilfreich. Er war ja sehr gut mit Ralf befreundet und brachte es trotzdem auf seine intelligente und emotionale Art fertig, völlig neutral und objektiv zu bleiben und mein Problem in einen allgemeinen Zusammenhang zu stellen. Sein Rat war, hier in meinen Worten ausgedrückt: Das Einzige, worauf es im Leben ankommt, ist glücklich zu sein. Und wenn man sich in einer Umgebung – egal welcher Art – nicht wohlfühlt, muss man sie verlassen, sonst nimmt man Schaden und wird krank.
Tja, so langsam wurde mir klar, dass mein Schleudertrauma, mit dem ich mich ja schon seit einiger Zeit quälte, vielleicht einen psychosomatischen Ursprung hatte. Die Symptome waren nicht konstant, sondern kamen in Wellen. Die Massagen, die ich erneut verschrieben bekommen hatte, halfen nicht wirklich. Eigentlich brachten sie gar nichts.
Verzweifelt wandte ich mich direkt an Willi Klein. Mit Willi und Ralf hatte ich meine erste alpine Fahrradtour in der Schweiz gemacht. Jetzt begegnete ich ihm zum ersten Mal in seiner Funktion als Chefarzt der Abteilung Rheumatische Arthroskopische Chirurgie. Im weißen Kittel wirkte er anders als im Fahrradtrikot. Aber sein warmherziges Wesen war nicht verschwunden, zum Glück. Ich wusste schon immer, dass Willi eine Koryphäe war, aber hatte ihn natürlich nie bei der Ausübung seines Berufes erlebt. Prof. Klein untersuchte mein Schleudertrauma nach allen Regeln der Kunst und stellte schließlich fest: nichts! Willi sprach dann mit mir über meine seelische Verfassung und legte damit den Finger in die Wunde. Aber natürlich war auch Willi ein guter Freund von Ralf und Florian.
Schon wieder wurde mir bewusst, dass ich mich in einer ausweglosen Situation befand. Alle Menschen in meiner Umgebung, die ich respektierte und um Rat fragen konnte, waren auch mit Ralf und Florian befreundet. Sie waren befangen und gerieten in einen Interessenkonflikt. Nach meinem Besuch bei Maxime in Paris vor drei Wochen und dem Check-up bei Willi Klein war ich beruhigt und beunruhigt zugleich.
Streitgespräc h
Gerne hätte ich weiter an unsere »Sache« geglaubt, aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, die Dinge realistisch zu sehen. Am nächsten Tag fuhr ich wieder in die Mintropstraße. Das Studio war leer, also ging ich nach vorne zum Medienraum. Ralf und Florian befanden sich im Büro und beendeten gerade ein Telefonat. Es war für mich extrem anstrengend und sehr, sehr unangenehm, sie mit meinen Zweifeln an ihren Entscheidungen zu konfrontieren. Aber in mir hatte sich über die Jahre eine Menge aufgestaut. Sinngemäß wird das wohl so geklungen haben:
Wir hängen jetzt wieder seit drei Jahren fest und kommen nicht von der Stelle. Wisst ihr, was ich nicht verstehe? Warum können wir nicht wie alle normalen Menschen regelmäßig und tagsüber arbeiten? Wir verpassen komplett die Achtziger, und ihr lasst es locker angehen. Aber ich hänge mit meinem Lebensentwurf mit hier drin. Ich hätte nicht das geringste Problem mit eurer Unternehmensführung, wenn ihr nicht darauf bestehen würdet, dass ich exklusiv für Kraftwerk arbeite.
Die beiden zeigten sich überrascht, mein scheinbar plötzlich erwachtes Interesse an Programmatik und Politik des Unternehmens zu erleben. Meine Kritik prallte aber an ihnen ab. Ich glaube, sie fanden meine Äußerungen unangemessen deutlich und mussten – aus ihrer Sicht verständlich – ihre Autorität durchsetzen. Die GbR war schließlich ein erfolgreiches Unternehmen. Ich, Karl, hatte ein Problem, das sie nicht nachvollziehen konnten.
Florian machte emotional seinem Ärger Luft. Mir würde diese Art der Kritik nicht zustehen. Ich deutete seine Worte dahingehend, dass er mir Undankbarkeit vorwarf, nach dem Motto: Ein Prokurist einer Firma arbeite ja auch 40 Jahre lang und freue sich dann, mit einer goldenen Uhr in Rente zu gehen.
Ralf blieb kontrolliert und argumentierte sachlich. Ich glaube, er meinte Folgendes: Ein Mitarbeiter von Mercedes könne nicht gleichzeitig für Opel arbeiten. Die Platte ist dann fertig, wenn sie fertig ist. Im Kling Klang Studio würde gearbeitet, die Fortschritte seien erkennbar. Außerdem würden weltweite Verbindungen bestehen – und es sei das Schwierigste überhaupt, einen Markennamen zu etablieren. Kurz: Er zeichnete das große Bild eines Politikers oder Regierungssprechers.
Als wir unsere Argumente ausgetauscht hatten, sagte ich abschließend etwas wie: »Ich bin schon seit einiger Zeit anderer Meinung, was die Programmatik und die Organisation unserer Arbeit angeht, und unterstütze trotzdem alles, was wir tun, mit meiner ganzen Kraft. Aber wenn sich bei uns in nächster Zeit nichts ändert, lasst ihr mir keine Wahl: Ich springe ins kalte Wasser und steige aus.« Ich weiß noch genau, wie ich es hasste, das zu sagen. Danach gingen wir nach hinten ins Studio, wo uns Ralf ein paar kurze Tonfolgen vorspielte, die er mit dem Synclavier-Sequenzer für »Computerliebe« aufgezeichnet hatte …
Drei Dinge hätte ich mir damals gewünscht: Eine zeitnahe konstruktive Aufarbeitung meiner Kritik und die Einführung einer offenen Kommunikation, in der Abläufe, Vorhaben und Entscheidungsprozesse durch Hintergrundinformationen transparent gemacht werden. Einen Zeitplan für das aktuelle Album und die damit zusammenhängenden Live-Projekte, und schließlich eine verbindliche Auskunft über die ausländischen Lizenz- und Copyright-Finanzen der Vergangenheit. Stattdessen erhielt ich wieder einen überschaubaren Vorschuss auf meine zukünftigen Einnahmen bei Kraftwerk, die später einmal verrechnet werden sollten, begleitet von Durchhalteparolen. Eine Aufhebung meiner Exklusivität kam nicht in Frage. Alles lief also weiter wie bisher. Ich programmierte die Stücke auf dem Computer und wir arbeiteten an den Arrangements unseres Repertoires für The Mix .
Weihnachtsfeie r
Willi Klein bewohnte ein zweistöckiges Penthouse im Zooviertel und hatte »die alte Runde« zum Essen eingeladen: Ralf, Florian und seine Freundin, Bettina und mich. Alles normal. Als wir uns jedoch an den langen Tisch setzten, fühlte sich das nicht mehr so gut an. Da war nichts Konkretes, keine Worte oder Gesten. Aber die Stimmung wirkte auf mich gezwungen und verklemmt. Meine Kritik an Ralfs und Florians Geschäftsführung war vielleicht nicht ohne Wirkung geblieben. Irgendwie schienen dies auch alle zu spüren. Bettina und ich waren zwar Teil des Kreises – so wie immer –, aber irgendwie auch nicht. Etwas war anders. Deutlich fiel mir bei diesem Treffen die ungeheure Sprachlosigkeit hinter den allseits bekannten, immer wiederkehrenden Floskeln, die Fachsimpeleien über Rennradtechnik auf. Und weil wir es uns nicht anmerken lassen wollten, machten wir halbherzig mit. Ein wirkliches Interesse am Gegenüber fehlte aber. Und so wurde diese kleine Weihnachtsfeier nicht der erhoffte feierliche Abschluss des Jahres 1989.
Als wir nach Hause kamen, fühlten wir beide uns sehr angespannt, wie nach einer langen Prüfung. So sollte keine Party unter Freunden sein. Bettina schmiss sich in einen Sessel und sagte völlig genervt: »Ich will nie mehr zu so einer Veranstaltung mit Ralf und Florian gehen. Das ist alles so unlocker. Das ist nicht mehr lustig.« Sie hatte natürlich leicht reden. Nach ihrem Examen arbeitete Bettina als Journalistin. Sie war viel unterwegs und hatte ihren eigenen Freundeskreis. Ob sie nun bei Kraftwerk-Aktivitäten mitmachte oder nicht, war für sie nicht wichtig. Ich beneidete sie um ihre Unabhängigkeit.
Ich dagegen fühlte mich meiner geistigen Heimat entfremdet und war zunehmend verunsichert. Die geschäftlichen Gespräche mit Ralf und Florian waren extrem unangenehm gewesen. Das belastete mich. Und offenbar kamen wir nun auch im privaten Raum nicht mehr auf einen Nenner. Was sollte nun werden? Würde nichts von dem, was einmal gut war, wieder zurückkommen? Ganz im Stillen hoffte ich: Das kriegen wir irgendwie wieder hin.
Italienische Reise
Völlig überraschend hatte unser Booker Ian Floogs für uns ein paar Test-Gigs in Italien organisiert. Mit so etwas hatte ich nicht mehr gerechnet. Aber vielleicht würden die Konzerte wieder mehr Schwung in unsere Kapelle bringen – wer weiß? Ein paar Tage in Italien wirkten sich bestimmt positiv auf unsere Arbeitsatmosphäre aus. Gut war auf jeden Fall, dass wir dort unser neues System testen konnten.
Noch am selben Abend telefonierte ich mit Fritz, Maxime und auch mit Wolfgang, um ihnen die frohe Botschaft mitzuteilen. Wolfgang reagierte gelassen: »Ja, Tour, ich weiß«, sagte er ruhig. »Florian ist Anfang des Jahres schon bei uns im Atelier aufgekreuzt.« »Und was hat er gesagt?«, erkundigte ich mich. »Er war ganz aufgeräumt und sprach davon, dass ihr im Studio an einem neuen Album arbeitet und dass auch demnächst mal wieder eine Tour anstehen würde. Dann wollte er wissen, was ich davon halte, wieder mitzumachen.« »Und?«, fragte ich neugierig. »Ich erklärte ihm, dass mir das keinen Spaß mehr machen würde und ich jetzt lieber meine Designermöbel baue.« »Bist du sicher, Wolfgang?«, hakte ich nach. »Karl, mit den beiden rumzufahren, bringt mir nichts mehr. Da ist nichts mehr zwischen uns. Ich habe mittlerweile mehr Spaß mit meinen neuen Kollegen hier. Außerdem muss ich ja auch mal wieder Geld verdienen und kann nicht jahrelang auf die beiden Herren warten.«
Wolfgang hatte lange gezögert, sich von Kraftwerk zu verabschieden. Jetzt aber war er ganz eindeutig: »Ich werde da einfach nicht glücklich. Ich kann mir das nicht mehr vorstellen.« Heute frage ich mich, was passiert wäre, wenn er doch mitgefahren wäre …
Die folgenden Wochen bestanden im Wesentlichen aus der Vorbereitung der fünf Konzerte, die für uns gebucht waren. Vom 1. bis zum 4. Februar machten wir eine Stellprobe in Köln. Da Joachim Dehmann nicht mehr für Kraftwerk arbeitete, kümmerte sich Fritz um die technische Durchführung. Neben seiner Funktion als Toningenieur sollte er nun auch auf der Bühne stehen, links neben mir, dort, wo früher Wolfgangs Platz gewesen war. Mit diesen Auftritten würde sich Kraftwerk also nach außen sichtbar verändern.
Aber auch technisch standen wir vor großen Veränderungen. Für die Live-Auftritte versuchten wir, die manuellen Einflussmöglichkeiten der Analogtechnik in die digitale Umgebung zu übertragen. Die Idee kam auf, an bestimmten Stellen vorprogrammierte Loops in den Ablauf der Songs zu integrieren. Zu diesem Zweck hatten wir einige kurze Sequenzen gebastelt, die sich synchron ein- oder ausschalten ließen, beispielsweise bei »Computerliebe«, »Heimcomputer« oder »Metall auf Metall«.
Das war eine tolle Sache, aber naturgemäß führte die Entscheidung zwischen Klangbaustein A, B oder C nicht zu freien Improvisationen oder gar zu einer neuen Form des musikalischen Ausdrucks. Denn sobald in einem solchen Modellbaukasten eine gut klingende Reihenfolge gefunden wird, liegt es nahe, sie zu reproduzieren. Natürlich waren elektroakustische Klangkollagen immer schon ein wesentlicher Bestandteil unserer Musik. Jetzt wurden sie rhythmisch variiert und verlängert zu einem neuen, universellen Gestaltungsprinzip. Dadurch verlor unser Repertoire aber seine Dramaturgie, Diversität und Bandbreite.
Häufig wird im Zusammenhang mit Kraftwerk behauptet, dass mit der Digitalisierung die Technik endlich den Stand der Entwicklung erreicht hatte, um unsere musikalischen Ideen umzusetzen. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die Gruppe hatte bis zu diesem Zeitpunkt das gesamte Werk auf analogen Instrumenten komponiert. Jetzt beschäftigten wir uns seit Jahren mit dem Transfer ins Digitale, mit dem Verwalten und Katalogisieren der Daten und der Reproduktion und Umgestaltung unserer Musik. Aber beim Programmieren hörten wir einander nicht mehr zu. Wir sahen uns nicht mehr in die Augen, sondern auf den Monitor des Computers. Das Interface zwischen Mensch und Maschine war die Maus, die einer von uns in der Hand hielt, während die anderen mehr oder weniger passiv das Geschehen auf dem Computerbildschirm verfolgten.
In dieser Situation wurden »Copy and Paste«-Operationen zum Manifest. Das Kopieren und Vervielfältigen von Daten hatte allerdings nicht im Entferntesten die Kraft, den künstlerischen Geist der Komposition – also den Weg vom Chaos zur Ordnung – und die auf diese Art gewonnenen musikalischen Inhalte abzulösen.
Das Problem lag für mich einmal im schablonenartig konstruierten Musik-Design und zum anderen in den offenkundigen Nachteilen der Sampletechnik. Das Bassriff von »Autobahn« auf dem analogen Minimoog gespielt klang anders als die gesampelten Einzeltöne – ganz gleich ob sie manuell oder vom Computer angesteuert wurden. Denn die digitalen Moogsamples blieben immer dieselben, unveränderlich, statisch, tot. Mit digitaler Hilfe wurde unsere Musik zwar rhythmisch perfekt, aber steril. Die Songs verloren ihre Aura, ihre Poesie, sie verloren genau das, was sich nicht in Worte fassen lässt …
Am 5. Februar fuhren wir mit dem Bus in Richtung Bologna, hier gaben wir zwei Tage später unser erstes Konzert. Es folgten Gigs in Padua, Florenz und Genua, wo wir am 11. 2. 1990 im Sgt. Pepper’s Psycho Club unsere Minitour beschlossen. Es war mein letztes Kraftwerk-Konzert. Immerhin blieb mir der Name des Venues gut im Gedächtnis. Am 12. ging es zurück nach Düsseldorf. Das war’s.
Obwohl die Auftritte in Italien die letzten Konzerte der Gruppe waren, an denen ich teilnahm, kann ich mich nicht an viel erinnern. Aufgefallen ist mir vor allem, dass Florian live fast vollständig untergetaucht war. Seine Rolle bei diesen Konzerten war für mich nicht mehr auszumachen. Aber auch ich selbst fühlte mich bei alldem eher wie ein Besucher, nicht wie ein Akteur. Unsere Kommunikation beschränkte sich auf das Nötigste, Gespräche, die über das Funktionale hinausging, kamen nicht mehr zustande. Sendepause.
Ein Besuch in London
Nach unseren Test-Gigs in Italien hatte ich mehr und mehr das Gefühl, in einer ausweglosen Lage zu sein. Gab es für mich überhaupt eine Zukunft mit Ralf und Florian? Die beiden hatten ihre dezidierte Vorstellung davon, wie sie die Schritte ihrer Laufbahn planten – daran würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mehr ändern. Das war natürlich ihre Sache. Ich musste jetzt daran denken, wie ich mir mein weiteres Leben mit und in der Musik vorstellte. Aber anscheinend war ich immer noch der Meinung, ich hätte noch nicht alles versucht, eine Änderung unserer Arbeitssituation herbeizuführen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mein Netzwerk bestand damals aus wenigen Menschen: Wolfgang in Düsseldorf, Emil in der Karibik, Maxime in Paris und Michael Mertens, der inzwischen in London lebte. Ich hängte mich ans Telefon und tauschte mich mit ihnen aus. Spontan lud mich Michael zu sich ein. Er hatte es im Opernorchester nicht ausgehalten und war 1983 zusammen mit Claudia Brücken zu der deutschen Band Propaganda gestoßen, die bis dato aus Ralf Dörper, Andreas Thein und Susanne Freytag bestand. Das britische Label ZTT hatte die Band unter Vertrag genommen und 1984 ihren Song »Dr. Mabuse« herausgebracht. 1985 erschienen ihr sehr erfolgreiches Album A Secret Wish und das Remixalbum Wishful Thinking  – immerhin sechs Jahre vor The Mix.
Mein Bedürfnis, mich mit anderen Musikern auszutauschen, war damals sehr stark. Und so nahm ich Michaels Einladung nach London Ende Februar 1990 gerne an. Er arbeitete gerade an Propagandas zweitem Album in den Abbey Road Studios und wohnte auf dem Ladbroke Grove in North Kensington. Als ich dort eintraf, öffnete er mir gut gelaunt die Tür zu Flat E, und kurz darauf saßen wir uns in zwei Sesseln vor einem künstlichen Kamin gegenüber. Mit einer Tasse Tee und ein paar Biskuits in den Händen sprachen wir stundenlang über unsere Arbeit. Michael berichtete von seinen Erfahrungen mit Trevor Horn und dessen Label ZTT und von seiner aktuellen Produktion.
Natürlich hörten wir uns auch ein paar der neuen Tracks an. »Hör mal ›Only One Word‹, David Gilmour von Pink Floyd spielt das Gitarrensolo«, erzählte mir Michael. »Das macht der so einfach?«, fragte ich erstaunt. »Klar, an so was haben diese Jungs Spaß. Derek Forbes und Brian McGee – früher im Line-up der Simple Minds – sind jetzt auch bei uns in der Band«, sagte Michael, »die beiden Produzenten Ian Stanley und Chris Hughes – Tears For Fears, du weißt schon – produzieren das Album. Ich glaube, wir sind ganz gut aufgestellt, oder?«
Als ich an der Reihe war, berichtete ich von der merkwürdigen Stimmung auf unserer Italien-Tournee, und wir sprachen lange über das Musikgeschäft, wie es Michael erlebt hatte. Wie Deals ablaufen, wie Vorschüsse gezahlt werden, wie Musikverlage arbeiten, wie das Copyright einkassiert wird und so weiter und so fort. Er zeigte mir branchenübliche internationale Lizenz- und Copyright-Abrechnungen. »Aha, so sieht das also aus«, dachte ich.
Mit einem »Full English Breakfast« starteten wir in den nächsten Tag. Dann nahm mich Michael mit in die Abbey Road Studios, wo auch an dem neuen Album gearbeitet wurde. Staunend wie ein Kind erkundete ich die Räume, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nur von Bildern kannte.
Als ich mich am Donnerstag wieder in der Maschine zurück nach Düsseldorf befand, hatte ich meine innere Balance halbwegs wiedergefunden. Die Kommunikation mit einem Musiker wie Michael, der an der UdK in Berlin Musik studiert hatte, auf eine vergleichbare Klangbiografie wie ich zurückblickte, ähnlich dachte und der eine nachvollziehbare Einstellung zum Leben und zur Musik hatte, war sehr wohltuend.
Utopia
Im März besuchte uns Ian Floogs, unser Booker. Er brauchte für seinen Job Planungssicherheit und wollte wissen, wann unser Album fertig sein würde. Natürlich hatten wir immer noch kein Konzept, und Ralf und Florian blieben auch weiterhin unverbindlich. Es war für Ian Floogs unmöglich, einen Zeitplan aufzustellen. Adieu Tournee!
In den letzten zwei Jahren war nicht viel passiert – das Studio war umgebaut worden, und die Sample-Library fast komplett. Wann unser Remix-Album fertig sein sollte, blieb unklar. Und an neue Songs dachte im Moment keiner. Warum kamen wir damals nicht vom Fleck? Ich hatte immer noch die leise Hoffnung, etwas bewegen zu können, und war der Ansicht, wir brauchten einen Reset, im Grunde eine Rückbesinnung auf die Werte, die uns produktiv und erfolgreich gemacht hatten.
Am 8. Juni 1990 – rund dreieinhalb Jahre nach Electric Cafe  – ergab sich wieder die Gelegenheit zu einem Grundsatzgespräch. Es war ein warmer Sommertag, und Ralf und ich beschlossen spontan, zum Café am Hauptbahnhof zu gehen. Ralf sah damals blendend aus. Braungebrannt, exzellentes Wettkampfgewicht, ruhig. Das war kein Wunder, denn nach seinem täglichen Training mit dem Rennrad hatte er abends schätzungsweise einen Ruhepuls von unter 50 Schlägen in der Minute. Aber auch ich war ziemlich entspannt, denn ich war vormittags gelaufen.
Während wir unser zweites Stück Kuchen verdrückten, ließen wir noch einmal die Italien-Gigs Revue passieren. Ich erwähnte Florians »zurückhaltende« Performance, fasste mir ein Herz und sagte, ich könne mir nicht vorstellen, dass Florian in Zukunft noch große Lust verspüren würde, live aufzutreten. Der Job auf der Bühne machte ihm offenbar keinen Spaß mehr, und die Reproduktion musikalischer Inhalte sei ja auch nicht sein Ding – das hatte er schon oft zum Ausdruck gebracht. Außerdem hatte er sich schon während Electric Cafe und auch danach immer mehr in sein Fachgebiet der Sprachsynthese zurückgezogen und hielt sich aus den musikalischen Inhalten heraus. »Das wird nix mehr«, sagte ich zu Ralf. »Es gibt so gut wie keinen Austausch mehr zwischen uns.« Dann schlug ich Ralf vor: »Lass’ uns gemeinsam ein wirklich gutes Live-Konzept erarbeiten. Warum kann Florian nicht zu Hause bleiben, wie Brian Wilson?«
Ich versuchte Ralf noch zu vermitteln, dass ich ihn für einen außergewöhnlichen Künstler halte, der aber gerade im Begriff ist, sein Profil zu verlieren, weil er offenbar nicht mehr am Musikmachen interessiert ist. »Wir können zusammen klasse Songs schreiben, das haben wir bewiesen. Und wenn wir uns anstrengen, werden wir bestimmt noch zwei, drei Alben hinkriegen. Ich weiß das – also lass es uns versuchen und nicht noch mehr Zeit verlieren.« Fast im gleichem Moment realisierte ich, dass dieser Versuch nach hinten losgehen musste. Ralfs Reaktion war entsprechend: Er wäre, so verstand ich ihn, mit Florian geschäftlich »verheiratet«, und man könne ihre Firma nicht umstrukturieren. Außerdem, fügte er hinzu, wollten die Menschen Florian auf der Bühne sehen. Kraftwerk sei ohne Florian undenkbar – das würde nicht funktionieren und wäre auch nicht glaubwürdig.
Trotz unserer gegensätzlichen Meinung war das Gespräch völlig entspannt und in keiner Weise aufgeregt oder unangenehm. Danach gingen wir gemeinsam zurück auf die Mintropstraße und bastelten an »Taschenrechner« herum. Ralf hatte mit dem Sequenzer des Synclaviers ein paar coole House-Loops gebastelt, die er mir vorführte. Es ging weiter im üblichen Programm. Immerhin kann ich sagen, ich habe es damals noch einmal versucht. Florian blieb noch bis 2009, also für weitere fast 20 Jahre, bei Kraftwerk, bis er schließlich eine grundlegende Veränderung herbeiführte und offiziell die Gruppe verließ.
Ursache und Wirkung
Ich erinnere mich an einen anderen Nachmittag im Juli.
Wir treffen uns ausnahmsweise schon um 15:00 Uhr: Für eine Kraftwerk-Session eine unwirkliche Zeit. Ich betrete das Studio, sage »Hallo« zur Begrüßung. Fritz schaut auf und antwortet »Tach« oder so. Er hat alles für eine Vocal-Aufnahme von »Trans Europa Express« vorbereitet. Er erklärt mir, der Wohnzimmer-Algorithmus des neuen Hallgeräts eigne sich ausgezeichnet für Ralfs Sprechgesang. Ich glaube es ihm. Ralf sitzt in kurzen Hosen und rasierten, eingeölten Beinen auf seinem fahrbaren Stuhl in der hinteren Ecke des Studios und liest L’Equipe. Er scheint nichts um sich herum wahrzunehmen, so versunken ist er in seine Lektüre.
Ich denke an die Aufnahmesession von TEE mit Peter Bollig zurück. Wie hat sich die Stimmung seitdem verändert. Meine ersten Jahre bei Kraftwerk verliefen wie im Zeitraffer: Die Autobahn- Tournee, Radio-Aktivität , Trans Europa Express. Ab Mensch-Maschine erhielt ich Credits für meine Co-Autorenschaft. Es war eine gute Zeit gewesen, damals. Ralf und Florian waren komplett musikbegeistert und beeindruckten mich mit ihrer Dynamik. Wir lachten viel. Der Meinungsaustausch war schlagfertig und humorvoll. Die Höhepunkte unserer Kommunikation waren unsere Writing Sessions. Diese Art der Teamwork-Kompositionen hatte mich von Anfang an an Popmusik interessiert. Dadurch unterschied sie sich grundlegend von der klassischen Musik. Es war die Verbindung von musikalischer Arbeit und kulturellem Bewusstsein, die mir etwas bedeutete. Für mich hatte es manchmal den Anschein, das Kling Klang Studio sei ein Forum, in das wir unsere Fähigkeiten, Gedanken, Meinungen und unser Wissen einbrachten und jeden Tag etwas klüger rauskamen, als wir reingingen. In der Phase Computerwelt mit der dazugehörigen Welttournee erreichten wir als »Classic Line-up« unseren Höhepunkt. Doch dann hatte Kraftwerk sein Alleinstellungsmerkmal verloren, die elektronische Popmusik hatte sich in unzähligen Ausformungen etablieren und professionalisieren können. Die Arbeiten der anderen Künstler und Produzenten konnten wir nicht ignorieren. Im Gegenteil: Sie dienten uns als Referenz.
Ralf verschwindet fast vollständig hinter L’Equipe. Er besteht eigentlich nur noch aus der französischen Sportzeitung und seinen Radfahrer-Beinen. Er hat mich anscheinend immer noch nicht bemerkt. Fritz wieselt herum und bereitet weiter die Aufnahme vor.
Nach Computerwelt begannen wir mit der Produktion von Techno Pop. »Tour de France« – die unkoordinierte Vorab-Single – war eine totale Marketing-Katastrophe und warf das gesamte Konzept des Albums über den Haufen. Als »neue Brille, durch die das Ganze gesehen wurde« diente uns die Ästhetik von Rebecca Allens Computeranimation. Wir wurden zu Avataren. Rebeccas Video hatte uns in den virtuellen Raum gebeamt. Dort angekommen, wussten wir aber nicht, was wir anfangen sollten. Die unerwartete Rückkehr zur UFA-Ästhetik im Promofilm zu »Der Telefon Anruf« verdeutlicht auf anschauliche Weise unser Problem. Jetzt passte einfach nichts mehr zusammen. Auch die thematische Geschlossenheit der früheren Alben war uns abhandengekommen. Während der Odyssee von Techno Pop entwickelte sich Ralf vollends zum Extremsportler, der das Rennradfahren zu seinem Lebensmittelpunkt machte. Unsere Produktivität ließ nach, und unsere Arbeitsabläufe folgten mehr und mehr dem Wettbewerbsgedanken: In unzähligen Auditions verglichen wir unsere Musik in Nachtklubs mit den Produktionen der Konkurrenz. Dadurch veränderten sich zwangsläufig unsere musikalischen Inhalte. Der Dancefloor gab die Richtung vor. Wir wurden zu Musikdesignern, stellten Gebrauchsmusik her, die sich nur noch an den »Siegen« der anderen »Wettkämpfer« orientierte. Ohne dass wir es bemerkten, verlor unsere Phantasie ihre Autonomie. Nach »Tour de France« schafften wir mit letzter Kraft den Release des Albums Electric Cafe .
Ralf hält L’Equipe mit der linken Hand und ballt die rechte zu einer Faust. Mit dem etwas gebeugten, vorgestreckten dritten Finger massiert er seine Wadenmuskulatur. Fritz wieselt weiter hin und her und wirft mir einen freundlichen Blick zu. »Is’ gleich so weit«, sagt er im Vorübergehen. Ralf hat mich wohl noch immer nicht bemerkt.
Danach tauchten wir für den Rest der 1980er-Jahre ab. Waren wir auf Tauchstation, weil Ralf L’Equipe las – oder las er L’Equipe , weil wir auf Tauchstation waren? Hatte beides überhaupt etwas miteinander zu tun? Warum nahmen wir jetzt alle Songs noch einmal auf?
In der Rückschau war die Entscheidung, nach Electric Cafe/Techno Pop ein Album mit Remakes unserer Musik zu produzieren, für Kraftwerk ein logischer Schritt. The Mix markiert den Zeitpunkt, in dem sich Ralf vom unabhängigen Künstler zum Designer und Kurator des Kling-Klang-Œuvres wandelte.
Fritz wird das Mikrofon bald eingestellt haben. Ich verlasse das Studio A und gehe rüber in die anderen Räume, um Florian zu suchen. Ralf wird weiter L’Equipe lesen und seine eingeölten Beine massieren, bis er von Fritz an das Mikrofon gerufen wird, das ist klar. Florian sitzt mit Kopfhörern vor seinem Robovox und hackt auf seinem Atari-Computer herum. Ich kann nicht genau erkennen, an welchem Stück er gerade arbeitet. Florian schaut auf, grinst und begrüßt mich, er hat gute Laune. Der Robovox scheint ihm Spaß zu machen. Florian wendet sich wieder seinen Phonemen zu. Zu hören ist sein Robovox bei The Mix auf den Tracks »Die Roboter« »Dentaku«, »Autobahn«, »Radioaktivität« und »Heimcomputer«. Ich habe das Gefühl, ich werde heute hier nicht gebraucht. Ich möchte Ralf nicht bei der Lektüre von L’Equipe stören, verabschiede mich von Fritz. In meinem Heimstudio wartet Arbeit auf mich.
Totenmaske
Die Vorbereitungen der für einen unbestimmten Zeitpunkt geplanten Live-Shows liefen im Hintergrund. Da sich das Line-up geändert hatte, musste für Fritz ein Plastikdoppelgänger her.
Keine Ahnung, ob der legendäre Schaufensterpuppenmacher Heinrich Obermaier damals noch lebte, aber Fritz’ Kopf wurde nicht im Stil der anderen modelliert. Jemand hatte die Idee, von unseren vier Gesichtern einen Gipsabdruck machen zu lassen – wie bei einer Totenmaske.
Zu diesem Zweck fuhren wir in ein Atelier nach Mönchengladbach. Das Auftragen der Gipsmischung und das Gefühl des sich langsam erhärtenden Materials war eine außergewöhnliche Erfahrung. Nicht besonders angenehm, würde ich sagen. Augen und Mund blieben geschlossen, ich atmete durch Strohhalme in der Nase. Der Gips wurde schwer und – das ist auch der große Nachteil einer solchen Maske – zog die Gesichtszüge nach unten. Ein modelliertes Gesicht hat eine völlig andere Qualität. Während ich unter dem starr werdenden Gips lag, fühlte ich, wie eine undefinierbare Angst in mir hochstieg. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde ich von der Maske befreit – die Angst verflog. Nachdem ich alle Reste aus meinem Gesicht entfernt hatte, machte ich mich auf den Weg ins Kling Klang Studio.
Vorbei
In den letzten Monaten hatte ich mehrfach das Gespräch mit Ralf und Florian gesucht. Aber was ich auch sagte, es kam nicht bei ihnen an. Wie lange die beiden noch an den Remixen arbeiten wollten, war ungewiss. Open End. Aus meiner Sicht lief unsere Produktion aus dem Ruder – schon wieder. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich fühlte mich ohnmächtig, wurde immer unglücklicher.
Wir arbeiteten weiter an The Mix  – auch am 23. Juli 1990. Irgendwann während unserer Session nahm ich all meinen Mut zusammen und versuchte erneut, die beiden davon zu überzeugen, unsere Produktionsabläufe und -modalitäten zu verändern. Sie reagierten verständnislos. Wir steckten in unseren Positionen fest.
In all den Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre hatte ich loyal zu Ralf und Florian gehalten. Aber an diesem Tag machte mir die Art unserer Kommunikation endgültig klar, dass meine Zeit bei Kraftwerk abgelaufen war. Ich erklärte ihnen, dass ich aussteige, legte die Studioschlüssel aufs Mischpult, verabschiedete mich knapp und verließ ohne mich noch mal umzuschauen das Kling Klang Studio. Im Hof stieg ich in mein Auto, und als ich durch die Toreinfahrt steuerte und rechts auf die Mintropstraße abbog, fuhr ich zurück in meine eigene Biografie.