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Verwand’le dich (nicht): Ovids Metamorphosen
In diesem Kapitel
Die Verwandlung von Menschen in Spinnen und andere Gestalten
Pygmalion und Galatea
Wohlklingende Musik bei Orpheus und Eurydike
Pyramus und Thisbe (und ein Löwe!)
Alt werden mit Philemon und Baucis
Die Verschmelzung von Liebe und Seele bei Amor und Psyche
In der römischen Mythologie gibt es sehr viele wunderbare Geschichten über die romantische Liebe zwischen Göttern, Sterblichen sowie zwischen Göttern und Sterblichen. Die Römer besaßen ein echtes Talent dafür, Geschichten zu erzählen. Ihre Erzählungen über vergebliche Liebe, falsche Identitäten und magische Veränderungen sind oft so gelungen, dass sie heute berühmter als ihre griechischen Vorbilder sind.
Der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) konnte mit seinem Werk Metamorphosen einen großen Erfolg verbuchen. Das Buch enthält eine Reihe von Erzählungen, in denen Menschen ihre Gestalt verändern. Ovid entnahm viele seiner Motive der griechischen Mythologie, so zum Beispiel die Geschichte vom Raub der Persephone durch Hades oder auch Themen und Ereignisse aus dem Trojanischen Krieg. Auch der Held Odysseus (beziehungsweise Ulysses, wie er bei den Römern hieß) war als Vorlage sehr willkommen. Nicht alle Vorlagen und Anregungen zu seinem Buch waren griechischen Ursprungs. Am Ende aber hatte Ovid die griechischen Mythen und Geschichten in etwas authentisch Römisches verwandelt.
Die Metamorphosen beginnen mit der Erschaffung der Welt (als das Chaos der Ordnung weichen musste), gehen über zu Jupiter, der eine Sintflut über die Erde hereinbrechen lässt, die alle Menschen bis auf das tugendhafte Ehepaar Deukalion und Pyrrha tötet. Es folgt eine Reihe von Kapiteln, die sich den Abenteuern der Götter widmen, besonders ihren Liebesgeschichten. Daran anschließend folgen die Taten der Helden des Trojanischen Krieges. Am Schluss aber, und vielleicht ist dies der gelungenste Teil des Buches, wird erzählt, wie Julius Caesar sich nach seinem Tod in einen Stern verwandelt.
Ovid war nicht der einzige römische Dichter, der Mythen in unterhaltsame Literatur verwandeln konnte. Die Geschichte von Amor und Psyche stammt ursprünglich von Apuleius, einem Dichter aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Er erzählt sie in seinem ebenfalls Metamorphosen betitelten Buch. Auch die Gedichte und Epen Vergils, insbesondere sein großes Werk Aeneis, sind sozusagen bis zum Rand mit Mythen vollgestopft, wobei ihn natürlich die griechischen Vorbilder maßgeblich beeinflusst haben. Trotz seiner Vorbilder sind aber auch bei ihm die Mythen in originär römische Geschichten verwandelt worden.
Überraschende Verwandlungen und heldenhafte Jäger
Ovids Buch heißt deswegen Metamorphosen, weil es Geschichten voller magischer Verwandlungen enthält. Arachne etwa, von der im nächsten Abschnitt die Rede sein wird, verwandelt sich in eine Spinne. Nicht in allen Geschichten des Buches steht die Verwandlung selbst im Mittelpunkt, sondern sie ist nur ein Motiv unter anderen. In der Geschichte von der Jagd auf den Kalydonischen Eber fügt Ovid erst ganz am Ende sozusagen pro forma eine Verwandlungsszene ein.
Arachne war eine weit und breit für ihre Webkunst berühmte junge Frau. Sie beherrschte ihre Kunst so ausgezeichnet, dass die Menschen dachten, die Göttin Minerva selbst (die für ihre Webkunst bewundert wurde) müsse sie das Weben gelehrt haben. Arachne aber bestand darauf, dass nur sie selbst für ihr Können verantwortlich sei. Sie forderte am Ende sogar die Göttin Minerva heraus, um allen zu beweisen, dass niemand sie übertreffen könne. Ihr Hochmut ging so weit, dass sie ankündigte, die Siegerin könne mit ihr machen, was immer sie wolle, falls sie denn den Wettkampf gegen sie gewönne.
Die Göttin hörte von all dem und beschloss, die Herausforderung anzunehmen. Alle anderen Frauen waren furchtbar verängstigt; Arachne aber bestand darauf, dass alles so geschehen sollte, wie sie es angekündigt hatte. So setzten sich also beide hin und webten. Minerva wob einen Teppich, auf dem sie die großen Taten der Götter bildlich darstellte und außerdem die Sterblichen porträtierte, die töricht genug waren, die Götter herausgefordert zu haben. Arachne dagegen nahm auf ihrem Teppich alle Schwächen der Götter aufs Korn, besonders Jupiters Seitensprünge mit sterblichen Frauen. Ihr Teppich war ausgesprochen gelungen, so gut, dass niemand auch nur einen Makel entdecken konnte. Minerva bebte vor Zorn; sie schlug Arachne mit einem Weberschiffchen und zerstörte Arachnes Teppich. Arachne fühlte sich tief gedemütigt und wollte sich erhängen.
Die rachsüchtige Göttin Minerva aber hatte Erbarmen und sagte, Arachne müsse sich nicht umbringen, sondern dürfe weiterleben, allerdings müsse sie den Rest ihres Lebens in luftiger Höhe verbringen. Mithilfe von magischen Kräutern verwandelte sie Arachne in eine Spinne. Daher rührt unser Wort Arachnefaden für Spinnweben.
Venus und Merkur hatten einen Sohn, den sie Hermaphroditos tauften (im griechischen Original entstand der Name aus der Verbindung der Namen seiner Eltern »Hermes« und »Aphrodite«). Als er fünfzehn Jahre alt war, verliebte sich eine schöne Quellnymphe namens Salmakis in ihn. Hermaphroditos wollte aber nichts mit ihr zu tun haben. Sie ließ ihn also für einige Zeit alleine an dem Teich, in dem sie lebte. Sie ging aber nicht ganz fort, sondern versteckte sich im Laubwerk, um ihn heimlich zu beobachten. Der Knabe näherte sich dem Wasser und beschloss, ein erfrischendes Bad zu nehmen. Er zog sich aus (was Salmakis natürlich sehr erfreute) und watete ins Wasser.
Nun kam Salmakis hervor aus ihrem Versteck, sprang ebenfalls ins Wasser und schlang ihre Glieder um seinen Körper. Er aber schüttelte sie ab. All ihre Werbungsversuche schlugen fehl. So flehte sie schließlich die Götter um Hilfe an und bat, sie auf ewig mit ihm vereinen. Die Götter erfüllten ihre Bitte und verschmolzen beide zu einem einzigen Zwitterwesen, das sowohl weiblich als auch männlich war. So entstand der erste Hermaphrodit.
Hermaphroditos sah, was mit ihm geschehen war, und bat daraufhin seine Eltern um einen Gefallen. Jeder Mann, der in den Teich hineinstieg, sollte das gleiche Schicksal erfahren wie er. Voller Mitleid erfüllten Venus und Merkur ihm den Wunsch. Ovid zufolge verlor von da an jeder Mann, der in dem Teich badete, einen Teil seiner Männlichkeit und wurde zur Hälfte weiblich.
Die Jagd auf den Kalydonischen Eber
Eines Tages vergaß König Oineus von Kalydon bei seinen jährlichen Opfergaben, auch der Göttin Diana die ihr gebührende Ehre zu erweisen. Gekränkt, wie sie war, rächte sie sich, indem sie einen furchtbaren, riesengroßen wilden Eber im Land des Königs freiließ, der von da an die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Der Eber hatte die Größe eines Stieres; seine Stoßzähne glichen denen eines Elefanten und sein Atem war reines Feuer. Er trampelte die Ernte nieder, zerstörte die Reben und tötete ganze Schafherden – kurz, er war ungeheuer lästig.
Ein Mann namens Meleager beschloss, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er versammelte eine Reihe anderer Helden um sich (über deren heldenhafte Taten Sie schon in Kapitel 6 etwas erfahren konnten). Unter den Helden befanden sich: Jason, Theseus, Peirithoos, Peleus (der Vater des Achill), Nestor (der in der Ilias als alter Mann auftritt), das Dioskurenpaar Kastor und Pollux sowie die Kriegerin Atalanta. Meleager hatte sich in Atalanta verliebt.
Die Krieger verfolgten den Eber bis zu einem Wald. Es gelang ihnen aber nicht, ihn mit ihren Speeren tödlich zu verletzen. Einer der Angreifer wurde von ihm sogar getötet. Atalanta traf den Eber schließlich mit einem ihrer Pfeile, als dieser gerade fliehen wollte. Die anderen Helden waren deswegen ein wenig beschämt. Der Held Ankaios verfolgte das verwundete Tier und wollte es mit seiner Axt erlegen; dabei wurde aber sein Bauch von den Hauern des Ebers aufgerissen, sodass seine Innereien zu Boden fielen. Theseus und Jason warfen mit ihren Speeren nach dem Eber, konnten ihn aber auch nicht treffen. Dann versuchte sich Meleager. Der erste Speer verfehlte noch sein Ziel; der zweite aber durchbohrte den Nacken des Ebers. Alle stürmten auf das Tier los und erlegten es schließlich mit ihren Schwertern.
Meleager überreichte Atalanta den Kopf des Ebers, seine Hauer und das Fell. Zwei der Männer aber wurden ungehalten und nahmen ihr die Trophäen wieder fort. Was, so fragten sie, habe sie denn schon geleistet, dass sie eine solche Ehre verdiene. Dies erzürnte nun wiederum Meleager, der die Männer auch prompt mit seinem Schwert niederstreckte.
Wie das Schicksal so spielt, handelte es sich bei den beiden um seine Onkel, die Brüder seiner Mutter. Als Meleager gerade geboren worden war, erfuhr seine Mutter, dass ihr Sohn in dem Augenblick stürbe, in dem ein bestimmtes Holzscheit im Feuer ganz verbrannt sein würde. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um dieses Scheit aus dem Feuer zu ziehen, und verwahrte es danach an einem sicheren Ort auf. Nach den Morden an ihren Brüdern war sie sich aber nicht mehr so sicher, dass sie ihren Sohn jetzt weiter leben lassen wollte. Sie rang für eine Weile mit ihren Gefühlen. Am Schluss hatte die Liebe zu ihren Brüdern mehr Gewicht für sie als die Liebe zu ihrem Sohn. Sie warf das Scheit ins Feuer und kaum war es von den Flammen aufgezehrt, da starb Meleager. Nachdem sie ihn getötet hatte, nahm sie ein Schwert und beendete auch ihr Leben. Meleagers Schwestern vergossen bittere Tränen an seinem Grab. Diana entschloss sich, dass es nun der Rache genug sei. Sie verwandelte die Schwestern in Vögel und beendete alle Qualen.
Ovid liebte die romantische (oder wie immer man sie damals nannte) Liebe. Vor seinen Metamorphosen hatte er ein Buch mit dem Titel Die Kunst der Liebe verfasst, eine Art Handbuch bestimmt zum Gebrauch unter den Angehörigen der höheren Stände im alten Rom. Es ist also alles andere als überraschend, dass die Metamorphosen eine große Bandbreite von Liebesgeschichten enthalten.
Der Bildhauer Pygmalion hasste Frauen. Er wollte rein gar nichts mit ihnen zu tun haben. Nun ja, fast nichts. Sie anzuschauen bereitete ihm durchaus Freude, sodass er beschloss, die Plastik einer vollkommen schönen Frau zu erschaffen. Er arbeitete mit solcher Besessenheit an ihr, dass sie am Ende schöner war als alle lebenden Frauen auf Erden. Die Statue war so gelungen, dass sie fast wie eine lebendige Frau anmutete.
Die Statue wurde mit der Zeit zum Mittelpunkt von Pygmalions Dasein. Er liebkoste sie, zog ihr schöne Kleider an, ja, brachte ihr sogar kleine Geschenke mit, ganz so, als hätte er eine Frau aus Fleisch und Blut vor sich. Er nahm sie mit sich ins Bett, breitete eine Decke über ihr aus, so als könnte die Kühle der Nacht sie frösteln machen, und kam schließlich zu der Auffassung, dass er eine lebendige Gefährtin in seinem Leben brauchte.
Die Göttin Venus erfuhr von diesen recht merkwürdigen Begebenheiten und war doch beeindruckt davon, dass ein Sterblicher sich eine solch neue und ungewöhnliche Form der Liebe hatte ausdenken können. Am Tage des Venusfestes begab sich Pygmalion zu ihrem Tempel und erbat sich Hilfe von der Göttin bei der Suche nach einer Frau, die seiner Statue aufs Haar gleichen sollte. Die Flammen auf ihrem Altar loderten empor, als er sein Gebet sprach, was gemeinhin als gutes Omen gewertet wurde. Schließlich begab Pygmalion sich nach Hause.
Seine geliebte Statue stand unverändert, war nur noch begehrenswerter als zuvor. Wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, schlang er zur Begrüßung seine Arme leidenschaftlich um sie und küsste ihre Lippen. Da passierte es – die Statue bewegte sich und erwiderte seinen Kuss. Es durchfuhr ihn. Der zuvor kalte Stein wurde warm und gab unter seiner Berührung nach. Er schaute in die Augen der Statue und siehe da – sie lächelte ihn an.
Bald danach heiratete Pygmalion seine lebendig gewordene Statue. Sie hatten einen Sohn zusammen, den sie Paphos tauften. Später nahm eine von Venus besonders geschätzte Stadt den Namen dieses Sohnes an.
Orpheus war der Sohn einer der Musen. Er war der größte Musiker, der jemals gelebt hat. Hob er zu spielen an, so hielten alle Dinge – ob belebt oder unbelebt – inne, um ihm zu lauschen. Eine ihn darstellende Plastik finden Sie in Abbildung 12.1.
Orpheus heiratete eine Frau mit Namen Eurydike. Kurz nach ihrer Hochzeit wurde die Braut von einer Schlange gebissen und starb. Eurydike gelangte direkt in die Unterwelt. Orpheus aber wollte sie nicht einfach so gehen lassen. Er entschloss sich, hinabzusteigen und seine geliebte Eurydike wieder heraufzuholen.
Die Kraft der Musik half ihm dabei. Der die Unterwelt bewachende dreiköpfige Hund Kerberos schlief friedlich ein, als Orpheus seine Musik erklingen ließ. Sisyphus hörte auf, seinen Stein den Berg hinaufzurollen, Tantalos vergaß für einen Moment seinen unmäßigen Durst und selbst die Furien vergossen bei der Schönheit seiner Musik Tränen.
Nicht einmal Hades, der König der Toten, konnte der Süße von Orpheus’ Musik widerstehen. Er versprach ihm, dass er Eurydike wiederhaben könne, aber unter einer Bedingung: Sie müsse die ganze Zeit hinter ihm gehen; erst oben bei den Lebenden dürften sie sich wieder ansehen. Orpheus dürfe sich auf keinen Fall umdrehen, solange sie die Unterwelt noch nicht verlassen hätten.
Orpheus ging also voraus, Eurydike hinter ihm. Er konnte ihre Schritte hören, widerstand aber der Versuchung, seiner Geliebten ins Antlitz zu schauen. Bis, ja, bis er kurz vor dem Ausgang aus der Unterwelt – er konnte das Tageslicht schon sehen – dem Drang nicht mehr widerstehen konnte und sich umdrehte. Da sie aber die Unterwelt noch nicht ganz verlassen hatte, verschwand sie gerade in dem Moment, als Orpheus die Hand nach ihr ausstreckte. Alles, was er noch hörte, war ihre Stimme, die ihm ein »Lebewohl« nachschickte.
Darauf wanderte Orpheus allein in der Welt umher, spielte seine Musik sich selbst und den Tieren in der Natur vor. Eines Tages traf er auf eine Gruppe vom Wein berauschter Mainaden, also wilden weiblichen Gestalten, die als Begleiterinnen des Dionysos bekannt waren (vergleiche Kapitel 4). In ihrer Verzückung rissen sie den Unglücklichen kurzerhand in Stücke. Seine Gliedmaßen verstreuten sie; sein Kopf aber trieb singend einen Fluss hinunter bis ans Meer. Auf der Insel Lesbos trieb er schließlich an Land. Orpheus gelangte nach seinem Tod ein zweites Mal in die Unterwelt, wo er sich mit seiner Eurydike wieder vereinen konnte.
Pyramus war der bestaussehende Jüngling weit und breit; das Mädchen Thisbe stand ihm in dieser Hinsicht nicht nach. Sie lebten Tür an Tür; nur eine Wand trennte die beiden. Beide waren furchtbar ineinander verliebt, nur wollten ihre Eltern von einer Heirat partout nichts wissen.
Die Liebenden wussten sich nicht zu helfen, da sie nicht zueinanderkommen konnten. Sie fanden jedoch einen Spalt in der sie trennenden Wand in ihrem Haus. Jede Nacht nutzten die beiden diesen Spalt, um sich Liebesbotschaften zuzuflüstern. Bevor sie zu Bett gingen, küssten sie die Wand, die sie trennte.
Eines Tages beschlossen sie, sich heimlich außerhalb des Hauses zu treffen. Ihr Treffpunkt war ein Maulbeerbaum am Grabmal des Ninos. Dort wollten sie nach Sonnenuntergang zusammenkommen. Thisbe gelangte als Erste an den geheimen Treffpunkt. Sie wartete und wartete – Pyramus aber kam nicht. Plötzlich bemerkte sie einen Löwen, der gekommen war, um an einer Quelle in der Nähe zu trinken. Sie rannte fort und versteckte sich. Dabei verlor sie ihren Umhang.
Der Löwe hatte gerade ein Tier getötet; sein Maul war noch ganz blutig. Er stürzte auf den Umhang zu, packte ihn mit seinem Maul und schüttelte ihn hin und her. Dann trottete er von dannen. Gerade in dem Moment tauchte Pyramus aus dem Dunkel auf. Er bemerkte den zerrissenen und blutigen Umhang seiner geliebten Thisbe und gelangte zu dem Schluss, dass der Löwe sie getötet und verspeist haben musste. Verzweifelt und außer sich griff er sein Schwert und tötete sich selbst.
Nach kurzer Zeit kam Thisbe aus ihrem Versteck zurück. Sie fand Pyramus tödlich verletzt und sterbend vor. Sie nahm ihn in ihre Arme und sagte ihm Lebewohl. Darauf öffnete er seine Augen, sah ihr noch einmal in die Augen und tat dann seinen letzten Atemzug. Thisbe sah sein Schwert neben ihm liegen, ergriff es und erstach sich ebenfalls. Im Tod vereint, lagen beide Seite an Seite.
Der Widerstand ihrer Eltern legte sich nach ihrem Tod. Sie beschlossen, die Asche ihrer tragisch gestorbenen Kinder in einer gemeinsamen Urne zu bestatten. Die blutroten Beeren des Maulbeerbaumes, deren Farbe von Weiß nach Rot gewechselt war, nachdem Pyramus’ Blut von den Wurzeln des Baumes aufgenommen worden war, sollten von da an zum Ausdruck ihrer ewigen Liebe werden.
Eines Tages beschlossen die Götter Jupiter und Merkur, die Gastfreundschaft der Menschen auf der Erde zu testen. Dazu verkleideten sie sich als arme Reisende und klopften an die Türen der in Phrygien (im heutigen Kleinasien) lebenden Menschen.
Sie baten um eine Mahlzeit und Obdach. Niemand aber wollte sie aufnehmen oder auch nur bewirten. Die meisten schlugen ihnen einfach die Tür vor der Nase zu.
Ganz zum Schluss ihrer Reise kamen sie an ein Haus, das diesen Namen eigentlich gar nicht verdiente. Sie klopften an die Tür und baten die Bewohner des Hauses um Speis und Trank. Dieses Mal wurden sie auch wirklich hereingebeten. Die Hausbewohner waren ein altes Ehepaar mit Namen Philemon und Baucis (auch Baukis geschrieben).
Philemon schob eine Bank in die Nähe des Feuers und lud seine Gäste ein, Platz zu nehmen. Baucis bereitete derweil eine eher kärgliche Mahlzeit zu. Als sie fertig war, bat sie die Götter, am Tisch Platz zu nehmen, und bewirtete sie mit gekochtem Kohl und Wein. Das alte Ehepaar war entzückt über seine Gäste und plauderte während des Essens lebhaft mit ihnen.
Da bemerkten sie etwas Seltsames: Obwohl ihre Gäste große Mengen gegessen und getrunken hatten, wollten der Kohl und der Wein nicht weniger werden. Philemon und Baucis erkannten, dass ihre Gäste nur Götter sein konnten. Sie entschuldigten sich für das allzu frugale Mahl und erklärten, dass sie sich gleich daran machen würden, ihre Gans zu Ehren ihrer Gäste zu schlachten und zu kochen.
Die Gans aber wollte sich nicht fangen lassen. Sehr zur Unterhaltung der Götter mühte sich das alte Ehepaar eine Weile ab. Schließlich gaben sie erschöpft auf.
Das alte Ehepaar wird für seine Gastfreundschaft belohnt
Nun war für Jupiter und Merkur die Zeit gekommen, ihre Gastgeber zu belohnen. Sie ließen sie wissen, dass sie Götter seien und dass alle außer ihnen beiden sterben würden. Philemon und Baucis schauten daraufhin um sich und sahen, dass alles Land ringsum plötzlich unter Wasser stand. Ihre kleine Hütte aber hatte sich in einen marmornen Tempel mit einem goldenen Dach verwandelt.
Jupiter versprach ihnen, er würde ihnen jeden Wunsch erfüllen, was es auch sei. Das alte Ehepaar überlegte eine Weile. Worum sie die Götter schließlich baten, war wie ihr ganzes Leben ein Zeugnis ihrer Bescheidenheit. Sie ersuchten sie lediglich darum, die Priester des neuen Tempels zu Ehren Jupiters werden zu dürfen. Außerdem wollten sie beide gleichzeitig sterben dürfen. Sie hatten so viele Jahre gemeinsam verbracht, dass der Gedanke, auch nur einen Tag ohne den anderen auskommen zu müssen, sie erschreckte.
Philemon und Baucis lebten noch viele weitere Jahre in dem Tempel. Eines Tages saßen sie zusammen und unterhielten sich über die glückliche Zeit in ihrer kleinen Hütte. Während sie noch sprachen, da wuchsen ihnen plötzlich Blätter aus dem Körper und ihre Haut wurde zu Baumrinde. Sie hatten gerade noch Zeit, sich voneinander zu verabschieden, bevor sie sich schließlich ganz in Bäume verwandelt hatten – eine Eiche und ein Lindenbaum, die aus einem einzigen Stamm wuchsen.
Diese Geschichte stammt ursprünglich von dem römischen Dichter Apuleius. Sie ist einer der bekanntesten römischen Mythen und schildert, wie die Liebe und die Seele vereint wurden.
Die schöne Psyche und die geflügelte Schlange
Psyche, deren Name übersetzt »Seele« bedeutet, war die schönste von drei Königstöchtern. Sie war so schön, dass die Menschen begannen, sie mit der Göttin Venus zu vergleichen, und ihr sogar die Ehre erwiesen, die die Göttin für sich alleine beanspruchte. Venus geriet über all dies in Wut.
Venus rief ihren Sohn Amor herbei und bat ihn darum, einen seiner Pfeile auf Psyche abzuschießen, damit sie sich in irgendein Scheusal von einem Sterblichen verliebte. Amor versprach zu tun, was sie verlangte. Psyches Anblick aber lenkte ihn so sehr ab, dass er, statt sie zu treffen, sich versehentlich selbst mit einem seiner Pfeile durchbohrte. Nun war er es, der sich unsterblich in sein Opfer verliebt hatte.
Venus erfuhr zunächst nichts von diesem Missgeschick. Sie ging weiter davon aus, dass Psyche alsbald einem scheußlichen Rohling in die Hände fallen müsste. Dies geschah aber nicht. Überhaupt nichts geschah. Auch Psyches Eltern waren schon ganz verzweifelt, da sich einfach kein Heiratskandidat einstellen wollte. Ihr Vater machte sich auf, um das Orakel von Delphi zu befragen, woran es lag. Amor hatte derweil Apoll seine Liebe zu Psyche gebeichtet. Apoll wollte ihm helfen. Das Orakel gab also Psyches Vater einige Anweisungen mit auf den Weg. Psyche solle sich Trauerkleidung anlegen und alleine einen felsigen Hügel hinaufsteigen. Sie solle dort warten, bis ihr zukünftiger Ehegatte dort erscheinen würde (das war die gute Nachricht). Ihr Ehemann aber würde eine geflügelte Schlange sein (dies war die schlechte Nachricht; wer will schon einen Drachen zum Ehemann?).
Psyches Familie erschreckte dies sehr. Sie fürchtete, die Schlange würde ihre Tochter töten. Psyche aber sagte, sie stürbe lieber, als ihr ganzes Leben lang alleine und still vor sich hin leidend zu verbringen, nur weil Venus neidisch auf ihre Vorzüge sei. So zog sie also die Trauergewänder über, verabschiedete sich von ihrer Familie und wartete auf der Kuppe des Hügels auf ihr Ende.
Da saß sie nun auf der felsigen Anhöhe, als plötzlich Wind anhob, sie erfasste, durch die Lüfte davontrug und auf einer grünen Wiese wieder absetzte. Dort überfiel Psyche eine große Müdigkeit und sie schlief ein. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie ein prächtiges Haus vor sich, das eines Gottes würdig gewesen wäre. Es schien leer zu stehen.
Psyche betrat das Gebäude und hörte sogleich Stimmen, die zu ihr sprachen. Sie sagten, dies sei ihr Haus und sie ihre Diener. Auch wenn sie sie nicht sehen könne – sie seien immer zugegen und ihr stets zu Diensten. Sie verbrachte den Tag alleine und ging am Abend in Erwartung ihres Ehemanns zu Bett. Ihre Furcht aber war nicht mehr ganz so stark, wie sie es noch am Tage zuvor gewesen war.
Nachdem sie in ihr Bett gestiegen war und das Licht gelöscht hatte, da beschlich sie ein Gefühl, als wäre noch jemand mit ihr im Bett. Sie konnte zwar nicht sehen, wer oder was es war – wie ein scheußliches Ungeheuer aber fühlte es sich nicht an. Die beiden Bettgenossen liebten sich die ganze Nacht.
Zu sehen bekam Psyche ihren Liebhaber aber nie. Den Tag verbrachte sie alleine in dem großen Haus; nachts vereinte sie sich mit ihrem unsichtbaren Ehegatten. Sie fragte sich, wer er sei und wie er wohl aussehe.
Eines Nachts erzählte er ihr, dass ihre Schwestern den Hügel hinaufsteigen würden, um an ihrem Grab, dort, wo sie verschwunden war, Blumen abzulegen. Er bat sie, bei ihm zu bleiben. Sie aber bettelte und flehte ihn an, sie gehen zu lassen, weil sie ihre Schwestern unbedingt wiedersehen wollte. Er gab schließlich nach, warnte sie aber, sich ja nicht überreden zu lassen, herauszufinden, wer er sei. Dies würde das Ende ihres Glückes bedeuten.
Am nächsten Tag ging sie zu ihren Schwestern und lud sie ein, gemeinsam ihr neues Zuhause anzuschauen. Sie waren beeindruckt von der Pracht des Gebäudes und wollten natürlich unbedingt wissen, wer denn ihr Mann sei. Psyche erwiderte einsilbig, dass er jung sei und sich gerade auf der Jagd befinde. Zum Abschied gab sie ihren Schwestern Geschenke.
In der folgenden Nacht teilte ihr unsichtbarer Ehemann Psyche mit, dass sie ihre Schwestern von nun an nicht mehr sehen könne. Sie weigerte sich jedoch, dies zu akzeptieren, und beschwerte sich bei ihm darüber, dass es ungerecht sei, so etwas von ihr zu verlangen, müsste sie ihr Leben doch schon mit einem unsichtbaren Geliebten teilen. Wieder gab er nach. Am nächsten Tag erschienen die Schwestern erneut zu Besuch.
Dieses Mal bedrängten die Schwestern Psyche ein wenig stärker. Sie erklärten, ihre knappen Erläuterungen hätten sehr zu wünschen übrig gelassen, und sie äußerten den Verdacht, dass Psyche ihren Mann vielleicht noch gar nicht gesehen habe. Sie sagten, sie hätten von Apolls Orakel gehört, ihr Gatte sei in Wirklichkeit ein Drache, der sich nur vorübergehend verstellen würde. Er könne sich jederzeit gegen sie wenden und sie einfach verspeisen.
Psyche bekam Angst. Zweifel stellten sich ein und begannen, an ihr zu nagen. Was, wenn die Schwestern recht hatten? Sie befolgte den Rat, den sie ihr gegeben hatten, nahm eine Lampe und ein Messer und verbarg beides neben ihrem Bett. In derselben Nacht noch, kaum dass ihr Gatte neben ihr eingeschlafen war, nahm sie das Messer in die Hand und entzündete die Lampe.
Im Bett aber lag kein scheußliches Ungeheuer, sondern der schönste und anmutigste Jüngling, den sie jemals erblickt hatte. Ihre Hand fing an zu zittern und etwas von dem heißen Öl der Lampe tropfte auf seine Schulter. Er erwachte, schaute ihr ins Antlitz und verschwand noch in derselben Sekunde. Psyche rannte ihm ins Dunkel der Nacht hinterher. Sie konnte ihn aber nicht sehen; nur seine Stimme war vernehmbar. Er sagte, sein Name sei Amor. Ihr mangelndes Vertrauen habe alles zerstört.
Amor ging nach Hause zu seiner Mutter, um seine Wunde behandeln zu lassen. Als Venus erfuhr, wie sie zustande gekommen war, machte sie sich auf, um sich an Psyche zu rächen.
Überall suchte Psyche nach ihrem verschwundenen Mann. Schließlich suchte sie Venus selbst auf. Voller Verachtung trug Venus ihr verschiedene erniedrigende Aufgaben auf. Sie schüttete einen Eimer mit winzigen Getreidekörnern auf dem Boden aus und befahl ihr, sie solle sie bis zum Abend fein säuberlich wieder von Boden aufklauben und sortieren. Kleine Ameisen kamen herbeigeeilt und halfen der armen Psyche bei ihrer Arbeit. Als Nächstes sollte sie die goldenen Vliese der am Flussufer weidenden Schafe herbeiholen. Sie ging dort hin und wartete, bis die Tiere wieder nach Hause getrottet waren. Dann sammelte sie die von den Tieren am Buschwerk abgeriebene goldene Wolle ein.
Als Nächstes wurde Psyche von Venus in die Unterwelt geschickt, wo sie von der Göttin Persephone eine Schönheitssalbe besorgen sollte. Psyche stieg hinab und Persephone übergab ihr eine Schachtel mit dem gewünschten Inhalt. Auf dem Weg zurück zu Venus öffnete sie aber aus Neugier den Behälter, um zu sehen, was sich innen befand. Als sie den Deckel beiseite klappte, fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Amors Verbrennung an seiner Schulter war schließlich verheilt, sodass er das Haus verlassen konnte. Er fand die schlafende Psyche, weckte sie auf und sagte ihr, dass er alles zum Guten wenden würde. Er ging zu Zeus und bat ihn darum, Psyche zu einer Göttin zu machen. Zeus erklärte sich einverstanden damit und berief eine Versammlung der Götter ein, bei der Psyche und Amor feierlich miteinander verheiratet wurden. Die Liebe und die Seele hatten sich miteinander vereint.