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Die altnordischen Gottheiten

In diesem Kapitel

arrow Das Leben und die Liebe im kalten Norden

arrow Die nordischen Götter und Göttinnen aus der Nähe betrachtet

arrow Die Erschaffung und das Ende der Welt

Die nordische beziehungsweise nordgermanische Mythologie ist von Kälte und Dunkelheit geprägt und somit ein Spiegelbild der dortigen klimatischen Verhältnisse. Die mythischen Geschichten dieser Region stammen von den Wikingern, dem berühmten kriegerischen Seefahrervolk, das zwischen 780 und 1070 große Teile Nordeuropas eroberte. Sie kolonisierten auch große Teile der Britischen Inseln, Teile von Spanien, Frankreich, Russland, Island sowie Grönland. Wahrscheinlich schafften sie sogar noch vor Kolumbus den Sprung über den Atlantik bis nach Nordamerika.

Die germanischen Vorfahren der Wikinger erzählten sich sehr viele Mythen, die vom Streit zwischen Gottheiten und Ungeheuern berichteten. Den Göttern gelang es, die Unordnung, die die Ungeheuer und Giganten anzurichten versuchten, nach und nach in Ordnung zu verwandeln. Die Skandinavier bewahrten viele dieser Geschichten, die genau zu ihrem eigenen rastlosen, einem rauen Klima ausgesetzten Leben passten, für die Nachwelt auf. Die Menschen in Skandinavien hielten auch lange Zeit an ihrer ursprünglichen, »heidnischen« Religion fest. Während die Britischen Inseln und Kontinentaleuropa schon lange christlich waren, fasste das Christentum erst im elften Jahrhundert im Norden des europäischen Kontinents Fuß.

Die Völker Nordeuropas besaßen eine hoch entwickelte Dichtkunst und Dichter waren ein angesehener Teil der Gesellschaft. Die Mythen wurden wie in anderen Gesellschaften hauptsächlich in mündlicher Überlieferung weitergegeben. Man stelle sich die Menschen um ein Feuer herum sitzend vor, wie sie in einer der langen skandinavischen Nächte gebannt einem Erzähler lauschten, der stundenlang von den Abenteuern der Götter und Helden berichtete, die sie liebten und verehrten. Es war mindestens ebenso gut wie Fernsehen.

Mündlich tradierte Gedichte und Erzählungen ändern sich natürlich im Laufe der Zeit. Die mythischen Geschichten über die germanischen Gottheiten sind schon älter als 2000 Jahre. Die meisten Gedichte der nordischen Mythologie wurden erst ab dem zehnten Jahrhundert schriftlich festgehalten, und auch wenn sich langsam so etwas wie eine kanonisierte, endgültige Form herauskristallisierte, so gab es doch immer mehrere Versionen ein und desselben Mythos. Deshalb ist es unmöglich, ein in sich konsistentes, widerspruchsfreies Gesamtbild der nordgermanischen Mythologie zu liefern.

Unser Wissen um die Mythologie der nordischen Völker beruht auf verschiedenen literarischen Quellen. Die Prosa- oder Snorra-Edda und andere von dem isländischen Dichter Snorri Sturluson (1179 – 1241) verfasste Schriften sind hier besonders zu nennen. Eine weitere wichtige Quelle ist eine ebenfalls aus Island stammende Sammlung von Gedichten mit dem Titel Lieder- oder Sæmundar-Edda, der wir unsere Kenntnis zahlreicher nordischer Mythen verdanken. Auch die isländischen Sagen wie etwa die Wölsungen-Sage (vergleiche Kapitel 14) sind von großer Bedeutung. Erhalten geblieben sind uns auch die Texte von frühen Geschichtsschreibern aus dieser Epoche – oft Reisende aus Mitteleuropa –, denen wir wichtige Informationen entnehmen können. Alle diese schriftlichen Zeugnisse zusammengenommen helfen dabei, uns ein Bild davon zu machen, wie Skandinavien vor der christlichen Missionierung ausgesehen haben muss.

Asche zu Asche und Staub zu Zwergen: Die Erschaffung der Welt

Die nordischen Mythen sind voller witziger und interessanter Geschichten, die wir hier aber aus Platzgründen nicht in voller Breite wiedergeben können. Im Folgenden eine Kurzfassung ihrer Vorstellung von der Erschaffung der Welt.

Am Anfang gab es ein Gebiet leeren Raums, genannt Ginnungagap. Nördlich davon lag das eisige Niflheim; im Süden befand sich das sengend heiße Muspell. Ginnungagap war zu Beginn vollständig zu Eis gefroren, taute dann aber langsam auf. Das Eis schmolz und Wasser tropfte herab. Aus einigen der Tropfen entstand das Eisungeheuer Ymir. Es war der Ahn aller anderen Eisungeheuer.

Während Ymir lag und schlief, tropfte ihm der Schweiß aus den Achseln und verwandelte sich in eine Frau und einen Mann. Schweiß, der von seinem Bein rann, verwandelte sich in einen weiteren Mann. Noch mehr Eis schmolz und es entstand eine Kuh mit Namen Audumla. Ymir trank von ihrer Milch, und sie leckte am salzigen Eis, bis sie einen im Eis eingeschlossenen Mann freilegte, dessen Name Buri war.

Buri hatte (irgendwie) einen Sohn namens Bor. Bor heiratete ein Eisungeheuer mit Namen Bestla. Zusammen hatten sie drei Söhne: Odin, Vili und Ve. Diese drei Kinder hassten Ymir so sehr, dass sie ihn schließlich umbrachten. Seinem Körper entströmte derart viel Blut, dass alle Eisungeheuer bis auf eines mit Namen Bergelmir und dessen Frau ertranken. Beide entkamen der Flut in einem hohlen Baumstamm, den sie als Boot nutzten.

Odin und seine Brüder trugen Ymirs Leichnam bis ins Zentrum Ginnungagaps und erschufen aus seinem Körper die Welt. Aus seinem Fleisch machten sie die Erde, aus seinen heilen Knochen erschufen sie die Berge, seine gebrochenen Knochen wurden zu Felsen und Steinen. Aus seinem Blut machten sie einen Ozean und richteten es so ein, dass er die Erde ringförmig umgab. Ymirs Schädel hoben sie in den Himmel und setzten vier Zwerge unter ihn; ihre Namen waren Norden, Süden, Westen und Osten. Aus Glut und Funken erschufen sie die Sonne, den Mond, die Sterne und die Planeten. Das Gehirn Ymirs schleuderten sie in den Himmel und machten so die Wolken.

Auf der Erde legten die Götter ein Gebiet namens Jotunheim fest, das nur für die Riesen bestimmt war. Den schönsten Teil der Erde aber gestalteten sie aus Ymirs Augenbrauen und nannten ihn Midgard. Dort sollten die Menschen leben.

Nun machten sich die Götter an die Erschaffung des Menschen. Sie fanden zwei umgestürzte Bäume und verwandelten sie in einen Mann namens Ask und eine Frau namens Embla. Alle Menschen stammen von diesem einen Paar ab.

Einer der Riesen hatte eine Tochter, die auf den Namen Nacht hörte. Sie gebar einen Sohn, der Tag hieß. Odin gab jedem von ihnen einen von Pferden gezogenen Wagen und ließ sie jeden Tag einmal um die Erde reisen. Es gab noch einen Mann, der ebenfalls zwei Kinder hatte. Seinen Sohn taufte er Mond und seine Tochter Sonne. Odin nahm auch diese Kinder und setzte sie an den Himmel, wo sie die beiden Wagen auf ihrem täglichen Weg rund um die Erde lenken sollten.

Eines Tages bemerkten die Götter, dass sich die Maden in Ymirs verrottendem Fleisch vermehrten. Sie verwandelten sie in Zwerge und wiesen ihnen die Gänge und Höhlen in der Erde als Wohnort zu.

Schließlich bauten die Götter noch Asgard, eine mächtige Festung hoch über Midgard. Die beiden Regionen verband eine flammende Regenbogenbrücke, die Bifröst (nordisch »schwankende Himmelsstraße«, auch Bifrost geschrieben) hieß. Alle Asen, so hießen die Wächter über die Menschen, überquerten die Brücke und zogen nach Asgard. Es gab dort oben zwölf Götter, die gleiche Anzahl Göttinnen und eine Reihe von Asen.

Alles wurde von einem mächtigen Baum überspannt, der Weltesche Yggdrasill. Ihre drei Wurzeln gründeten in Asgard, Jotunheim und Niflheim; am Fuß jeder der drei Wurzeln befand sich eine Quelle. In den Zweigen des Baumes saßen ein Adler und ein Falke, ein Eichhörnchen lief seinen Stamm hinauf und hinunter, Rotwild knabberte an der Rinde und ein Drache am Fuß seines Stammes versuchte, ihn zu verschlingen. Yggdrasill war immer, ist immer und wird auf ewig sein.

Die Guten, die Bösen und die Sterblichen: Die Gottheiten des Nordens

Die nordischen Gottheiten gibt es in zwei Spielarten – die Vanen und die Asen. Die Vanen waren die älteren Fruchtbarkeitsgötter. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Freyr, Freya und Njord. Die Asen waren modernere, kriegerische Götter wie etwa Odin und Thor. Im Altnordischen wird die Geschichte eines Krieges zwischen den Vanen und den Asen nach der Erschaffung der Welt erzählt. Die Gottheiten schlossen einen Waffenstillstand und vermischten sich, was dazu führte, dass sie zu einem Geschlecht verschmolzen und nur noch als Asen bekannt waren. Die Mythenexperten sind heute der Ansicht, dass diese Geschichte wohl aus einer Zeit stammt, als die Kulte um beide Göttergeschlechter miteinander konkurrierten und sich schließlich zu einem einzigen verbanden.

Vor der Herrschaft der Wikinger waren es ihre direkten Vorfahren, die germanischen Stämme, die in weiten Teilen Mitteleuropas die Macht ausübten. Diese Völker besaßen ihre eigenen Mythen und Sagen, die dann später in der altnordischen beziehungsweise nordgermanischen Mythologie aufgingen. Dies ist auch der Grund dafür, warum die Namen der germanischen und altnordischen Gottheiten so ähnlich klingen und bestimmte Wesensmerkmale der Götter und erzählerische Details und Motive in den Geschichten sich wiederholen. Viele Figuren in der Mythologie beider Regionen sind im Wesentlichen gleich; sie tragen höchstens etwas abweichende Namen. Der Gott Odin beispielsweise hieß bei den Germanen Wodan; seine Frau Frigg hatte den Namen Freya.

Etwas ist besonders interessant an den altnordischen Göttern – sie sind nicht unsterblich. Sie sterben im Verlauf der mythischen Erzählungen, ganz anders als zum Beispiel bei den Griechen mit ihren unsterblichen Göttern (vergleiche Kapitel 4 und 5). Ihre Interessen deckten sich nicht mit denen der Menschen. Je nach Lust und Laune taten sie entweder Gutes oder Böses. Die Götter bei den Wikingern widmeten ihr Dasein dem Kampf gegen die Ungeheuer und die äußere Finsternis. Die Menschen waren insoweit für sie von Interesse, als sie unter ihnen Krieger rekrutieren konnten, die ihnen in der letzten Schlacht zur Seite stehen sollten.

Die altnordischen Götter: Ein Haufen recht rauer Gesellen

Schenkt man den Erzählungen Glauben, verbrachten die Götter die meiste Zeit damit, ziellos und ohne konkrete Aufgaben auf der Suche nach Herausforderungen durchs Land zu streifen. Sie hatten, anders als die Götter anderer Mythologien, die wir schon kennengelernt haben, keinen Job, der sie tagtäglich in Anspruch genommen hätte. Also konnten sie jederzeit für einige Tage verschwinden.

Göttervater Odin

Odin war der König unter den Göttern. Er war der Vater der meisten anderen Gottheiten und hat, wie in einigen Erzählungen berichtet wird, auch die gesamte Welt, Himmel und Erde und alles Leben darauf erschaffen. Dies erklärt auch seinen Beinamen »Allvater«. Er besaß einen speziellen Hochsitz, eine Art Aussichtsturm mit Namen Hlidskjalf, von dem aus er seine gesamte Schöpfung im Auge behalten konnte. Nur ihm und seiner Frau Frigg war es gestattet, dort oben Platz zu nehmen. Hin und wieder aber maßten sich andere Gottheiten dieses Privileg an, wenn er gerade nicht hinsah. Abbildung 13.1 zeigt eine Darstellung des Gottes.

Odin war ausgesprochen weise. Für seine Weisheit musste er aber einen hohen Preis zahlen: Für einen Schluck aus der Quelle der Weisheit hatte er ein Auge geopfert. Der Schluck machte ihn aber nur begieriger auf noch mehr Weisheit; deshalb hing er neun Tage lang, durchbohrt von einem Speer, am Baum Yggdrasill. Dabei starb er symbolisch und wurde anschließend wiedergeboren. Seine leere Augenhöhle verbarg Odin fortan unter einem breitkrempigen Hut oder einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Erscheint in einer Sage Nordeuropas ein alter Mann mit einer Kapuze, so handelt es sich in aller Regel um den Gott Odin.

Odin war der Gott des Krieges und der Schlacht. Er hatte diese Titel von zwei älteren germanischen Göttern mit Namen Wodan und Tiwaz geerbt. Er tat nichts lieber, als Menschen zum Krieg anzustiften. Getöteten Kriegern wurde die Ehre zuteil, in seiner Heimstatt Walhalla (altnordisch Valhöl: »Halle der Gefallenen«) ein Fest mit ihm zu feiern. Den Walküren kam dabei die Aufgabe zu, die Einherjer, die gefallenen Helden, von der Erde hoch in den Himmel zu Odin zu geleiten. Dazu wurden nur die allertapfersten Krieger ausersehen.

 

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Abbildung 13.1: Im Zentrum: Der einäugige Odin

Icon_Fragezeichen.jpgEs gab damals einen Kriegerkult, bei dem in Bärenfelle gehüllte Krieger in die Schlacht zogen. Sie kämpften wie von Sinnen und waren allseits gefürchtet, da Schmerz ihnen nichts auszumachen schien. Man spricht heute noch von blindwütigen Berserkern.

Odin war auch der Gott der Dichtkunst, was vielleicht erklären kann, warum er in so vielen Gedichten auftaucht. Seine Aufgabe war es auch, den heiligen Met der Poesie nach Asgard zu bringen. Ein Riese hatte den Met gestohlen und seine Tochter damit beauftragt, darauf aufzupassen. Odin schlich sich in Gestalt einer Schlange in ihre Höhle und verwandelte sich dort in seine eigene, recht ansehnliche Gestalt zurück. Er verbrachte drei Tage und drei Nächte bei ihr. Dann trank er den ganzen Met, schluckte ihn aber nicht hinunter, sondern behielt ihn im Mund. Er verwandelte sich in einen Adler, flog zurück nach Asgard und spuckte den Met dort schließlich in eine Schüssel, von dem nun alle Götter probieren konnten (Mmmh, lecker!).

Loki, der Schlaufuchs

Loki ist eine merkwürdige Figur in der Mythologie. Zum einen war er ein gewiefter, trickreicher Geselle, immer zu einem Spaß aufgelegt und äußerst einfallsreich, wenn es darum ging, sich selbst und den Göttern aus der Bredouille zu helfen. Auf der anderen Seite hatte er aber auch einen übel wollenden und boshaften Charakter. Er kämpft an der Spitze der Krieger in der letzten Schlacht am Ende der Welt. Man weiß nie so recht, ob man ihn mögen oder hassen soll.

Loki war der Sohn zweier Riesen, wuchs aber als Odins Stiefbruder auf. Die Erzählungen und Geschichten über Loki geben keinen eindeutigen Anhaltspunkt, ob er zu den Riesen oder den Göttern gehörte. Er benahm sich mal so, mal so; einmal war er ein freundliches und hilfsbereites Mitglied der Götterfamilie in Asgard, dann wieder wurde er zu ihrem Feind. Er war dynamisch und unberechenbar und brachte so ein gewisses Moment der Instabilität in ein ansonsten langweiliges Götter-Dasein. Es gibt viele nordische Mythen, in denen Loki sich oder die Götter in Schwierigkeiten bringt, nur weil er laufend den Drang verspürt, sich ständig irgendwo einzumischen.

Loki konnte nach Belieben seine Gestalt verändern. Er verwandelte sich gerne in Tiere, um seine Ziele zu erreichen. So stahl er zum Beispiel Freyas Halskette, indem er die Gestalt eines Flohs annahm. Nach dem Tod des Götterlieblings Balder, den er verschuldet hatte, entkam er dem Zorn der Götter in Gestalt eines Lachses. Einmal bot ein Riese seine Dienste an, um eine Mauer um ganz Asgard zu errichten. Als Gegenleistung wollte er Freya zur Frau. Kurz bevor der Riese seine Aufgabe beendet hatte, verwandelte sich Loki in eine Stute und lockte den Hengst des Riesen fort, sodass dieser sein Werk nicht vollenden und entsprechend auch nicht mehr seinen Lohn einfordern konnte. Loki verließ Asgard und kehrte einige Monate später wieder mit einem achtbeinigen Fohlen zurück, das er mit dem Hengst gezeugt hatte. Das Fohlen mit Namen Sleipnir übergab er Odin.

Dieses Pferd war nicht das einzige Kind Lokis. Obwohl er verheiratet war, hielt ihn dies nicht von gelegentlichen Techtelmechteln mit einer Riesin namens Angrboda ab. Gemeinsam hatten sie drei Kinder, die für die anderen Götter von großer Bedeutung waren:

check.gif Fenrir, ihr erster Sohn, war ein Wolf. Er wuchs heran und wurde schließlich so groß, dass die Götter sich entschlossen, ihn vorsichtshalber anzuketten. Der Kriegsgott Tyr spielte dabei eine entscheidende Rolle.

check.gif Jormungand, ihr zweiter Sohn, war eine riesenhafte Schlange. Odin warf ihn in den Ozean, der Asgard rings umschloss. Er wurde so groß, dass er am Ende die ganze Erde umfasste und sich in den eigenen Schwanz biss. Die Menschen nannten ihn die Midgard-Schlange.

check.gif Hel, ihre einzige Tochter, lebte von der Taille an aufwärts; die andere Hälfte ihres Körpers war tot. Odin warf sie nach Niflheim, in die unter einer Wurzel der Weltesche Yggdrasill liegende Unterwelt. Sie wurde zur Göttin der Toten.

Alle drei monströsen Kreaturen warten auf das Ende der Welt, genannt Ragnarök, wenn sie alle in die Freiheit entlassen werden und ungehindert am Zerstörungswerk mitarbeiten dürfen.

Thor, der Donnernde

Thor war der Sohn Odins und der Erde. Während Odin für Gewalt und Krieg stand, verkörperte Thor die Ordnung. Ihn riefen die Menschen in ihren Gebeten an, wenn sie wünschten, dass Ruhe und Stabilität wieder einkehren sollten. Er war außerordentlich stark und männlich und trug immer einen riesengroßen Hammer bei sich, der Mjölnir genannt wurde. Damit konnte er die Riesen in Schach halten. Egal wie weit er ihn warf, er kehrte wie ein Bumerang in seine Hand zurück. Thor hatte einen roten Rauschebart, einen enormen Appetit und ein reizbares Temperament. Er blieb aber nie lange böse. Er war der Schutzgott der Bauern. Am bekanntesten ist Thor als der Gott, der die Kontrolle über Blitz und Donner ausübte. Der Donner wurde von den Rädern seines Streitwagens erzeugt und der Blitz entzündete sich an den Donnerkeilen, die er zur Erde schleuderte.

Einmal gelang es dem König der Eisriesen, Thors Hammer zu stehlen. Er wollte ihn erst dann wieder hergeben, wenn man ihm Freya zur Frau versprochen hatte. Die Götter erklärten sich scheinbar einverstanden, überlisteten den Riesen dann aber. Thor verkleidete sich als Braut, und Loki spielte seine Brautjungfer. So gingen beide zum Palast des Königs. Die Riesen waren erfreut (scheinen wohl aber eine Brille bitter nötig gehabt zu haben) und luden die beiden ein, Platz zu nehmen. Dann legte Thor los: In einer Manier, die für eine Braut absolut unschicklich gewesen wäre, verschlang er die gesamten aufgefahrenen Speisen und trank allen Met. Loki erklärte sein Ungestüm damit, dass die »Braut« seit Tagen nichts mehr gegessen habe und außerdem so aufgeregt sei. Hingerissen vom Temperament seiner zukünftigen Braut rief der König nach Thors Hammer, damit sie darüber ihre Heiratsschwüre sprechen könnten. Als der Hammer gebracht wurde, ergriff ihn Thor und erschlug auf der Stelle alle versammelten Riesen.

Freyr, der Fruchtbare

Freyr war der Gott des Überflusses. Er scheint von der uralten Erdmuttergottheit abzustammen, die die Dänen vor Urzeiten schon anbeteten. Freyr entschied, wann die Sonne schien und wann es regnete. Die Fruchtbarkeit der Erde unterlag also ganz seinem Einfluss.

Die Menschen richteten ihre Gebete an ihn, wenn sie sich mehr Wohlstand oder Nachkommen wünschten. Die einst in der schwedischen Stadt Uppsala aufgestellte Statue Freyrs verfügte über einen sehr großen Phallus, woraus unschwer zu erkennen ist, was sich die Menschen von ihm erhofften. Seine typischen Attribute, ein magisches Schiff und ein Eber, waren für lange Zeit ebenfalls Fruchtbarkeitssymbole.

Tyr, der Tapfere

Tyr war Odins Sohn. Er war der tapferste der Asen, der Kriegsgötter. Ursprünglich handelte es sich bei ihm um den germanischen Kriegsgott Tiwaz. Er erschien zeitlich auch vor Odin auf der mythologischen Bühne, verlor aber im Laufe der Geschichte an Bedeutung.

Tyr hatte nur eine Hand. Seine rechte Hand hatte er verloren, als er den Wolf Fenrir, Lokis Sohn, fesselte. Fenrir war mit der Zeit immer größer geworden und die Götter fürchteten, er könne eines Tages Odin töten. So entschlossen sie sich, ihn an die Kette zu legen. Die ersten beiden Fesseln konnte der Wolf noch abschütteln. Die Zwerge aber schmiedeten eine dritte, viel stärkere Kette. Diese Fessel, die aussah wie ein Seidenband, nannten sie Gleipnir.

Als Fenrir sie sah, war ihm gleich bewusst, dass ihm Gefahr drohte. Er sagte, dass er sich nur dann fesseln ließe, wenn einer der Götter seine Hand in sein Maul legen würde. Nur Tyr hatte den Mut dazu. Mit Gleipnirs Hilfe gelang es den Göttern, den Wolf festzubinden. Alles Sträuben half nichts. Da biss er Tyrs Hand ab. Die Götter banden ihn schließlich an einen gewaltigen Felsbrocken, den sie tief in der Erde versenkten.

Andere Götter

Es gab noch eine Reihe weiterer Gottheiten im nordischen Götterhimmel. Im Folgenden sind einige wenige aufgeführt:

check.gif Njord regierte über das Meer und die Winde; er war der Schutzpatron der Schiffe und Seefahrer. Njord war der Vater Freyrs und Freyas.

check.gif Heimdall war der Wächter der Götter. Keiner weiß so genau, was für ein Gott er war; bekannt ist aber, dass er in Verbindung mit dem Meer stand. Er war der Sohn von neun Töchtern (oder vielleicht neun Wellen). Er besaß ein großes Horn namens Gjall, dessen Laute man in allen neun Welten hören konnte.

check.gif Balder, der Schöne, war der weiseste, liebreizendste und gütigste unter allen Göttern. Hatte er erst einmal eine Entscheidung getroffen, so konnte daran nicht mehr gerüttelt werden. Sein Tod beschleunigte die Ereignisse, die schließlich das Ende der Welt herbeiführen sollen.

Göttinnen: Stark, erotisch und gleichberechtigt

Die Frauen des Nordens besaßen vor dem Gesetz die gleichen Rechte wie Männer. Sie waren wohl von eher rauer Natur. In vielen Gedichten begegnen uns Frauen von freimütigem, unverblümten Wesen und Charakter. Die gleichen Zustände finden wir also auch in der Götterwelt des Nordens. Leider sind uns nur wenige Mythen überliefert, in denen Göttinnen eine zentrale Rolle spielen.

Freya, die Göttin der Liebe

Freya war die Göttin der Lust und der Liebe. Jedes männliche Wesen begehrte sie aufs Äußerste. Sie war wunderschön und mit Goldschmuck behängt. War sie traurig, so vergoss sie Tränen aus purem Gold. Wenn sie besonders heftig weinte, war der Boden rings um sie vollständig mit Gold bedeckt. (Dies geschah recht häufig, da Freya ständig irgendwelchen grässlichen Ungeheuern zur Frau versprochen wurde.) Sie besaß ein vollständiges Falkengefieder, das sie verwendete, um sich in einen Vogel zu verwandeln. In dieser Gestalt pflegte sie die Unterwelt zu besuchen. Abbildung 13.2 gibt einen Eindruck von ihrem Aussehen.

 

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Abbildung 13.2: Die schöne Göttin Freya

Ihr berühmtestes Attribut war die Halskette der Brisings. Sie erhielt die Kette von den vier Zwergen, die sie hergestellt hatten. Als Gegenleistung verlangten sie, dass sie mit einem jeden von ihnen eine Nacht verbringen müsse. Da sie die Halskette wirklich sehr gerne haben wollte, erklärte sie sich einverstanden. Als Loki davon erfuhr, erzählte er es gleich Odin weiter. Dieser befahl Loki, die Kette zu stehlen. Loki verwandelte sich in einen Floh (wie es scheint, einen besonders großen) und biss Freya in die Wange, dass sie abgelenkt wurde. So konnte Loki den Verschluss ungesehen öffnen. Odin weigerte sich, Freya die Halskette zurückzugeben, es sei denn, ihr gelänge es, Krieg unter den Menschen zu schüren.

Es überrascht ein wenig, zu hören, dass Freya auch eine Göttin des Krieges war. Sie zog in einem von zwei Katzen gezogenen Streitwagen in die Schlacht. Odin half ihr dabei, die auf dem Schlachtfeld tot daliegenden Krieger aufzuteilen; die eine Hälfte war ausersehen, mit ihm nach Walhalla zu kommen, die andere Hälfte begab sich mit Freya in ihr Reich Sessrumnir.

Frigg, Frau und Mutter

Frigg war Odins Ehefrau. Ihre Mutter war die Erde. Wie Freya entwickelte sie sich wahrscheinlich aus einer sehr alten Erd-/Muttergottheit. Wie Odin konnte sie das Schicksal der Menschen vorhersehen. In den Wehen liegende Frauen riefen sie um Beistand an.

Icon_techniker.jpgDie Mythenexperten halten gerne nach Ähnlichkeiten bei unterschiedlichen Mythen Ausschau. Was die Götter Nordeuropas anbelangt, so erkannten sie, dass die Göttinnen Frigg und Freya zwei Seiten der Weiblichkeit darstellen: Frigg verkörpert die Ehefrau und Mutter, während Freya als Geliebte und Verführerin erscheint. Diese Typisierung unterschiedlicher Rollen bei ein und demselben Geschlecht findet sich in ähnlicher Weise auch in der griechischen Mythologie. Dort sind es Hera und Aphrodite, die auf diese Weise symbolisch kodiert werden. Bei den Griechen stellt Artemis als selbstbestimmte Jungfrau eine weitere Variante dar. In der altnordischen Mythologie hat diesen Platz vielleicht einmal die Wintergöttin/Skigöttin Skadi eingenommen.

Hel – halb tot

Hel war die Göttin der Toten. Sie war die Tochter Lokis und der Riesin Angrboda. Ihre Erscheinung war ungewöhnlich: Von der Taille aufwärts war sie rosig und warm; ihr Unterkörper aber war von grünlicher Farbe und halb verfault. (Dies dürfte wahrlich kein schöner Anblick gewesen sein.) Hel hatte ihre Burg (die man ebenfalls Hel nannte) in Niflheim. Alle Toten kamen an diesen Ort.

Icon_Hand.jpgHel, der Ort der Toten, ist nicht vergleichbar mit der Hölle nach christlicher Vorstellung. Man musste kein »böser« Mensch zu Lebzeiten gewesen sein, um dorthin verfrachtet zu werden. Auch wenn es sicher nicht so gemütlich wie zu Hause gewesen ist, so war Hel doch auch kein Ort ewig währender Qualen. Nur sehr kalt war es dort.

Andere Göttinnen

Einige der anderen Göttinnen waren:

check.gif Idun, die Wächterin der Äpfel der Jugend. Die Götter mussten diese Äpfel essen, um jung zu bleiben. Loki half den Riesen, sie zu stehlen, und über Nacht alterten die Götter. Wiederum mit Lokis Hilfe holten sie die Äpfel aber wieder zurück.

check.gif Skadi war die Göttin des Skis und die Tochter des Riesen Thiazi. Sie heiratete den Meeresgott Njord. Ihre Ehe zerbrach aber, weil sie in den verschneiten Bergen leben wollte, er aber partout einen Wohnsitz an den milden Gestaden des Meeres vorzog.

check.gif Sif war Thors Frau. Loki schnitt ihr im (schlechten) Scherz ihre wunderschönen blonden Haare ab, machte es aber später wieder gut, indem er die Zwerge dazu brachte, ihr neues Haar aus Gold zu flechten. Gleichzeitig fertigten sie noch weitere Geschenke für die Götter, unter anderem Thors Hammer.

check.gif Die Nornen (nordisch »Raunende«) waren die altgermanischen Schicksalsgöttinnen und Geburtshelferinnen. Sie hießen: Urd (das Gewordene), Verdandi (das Werdende) und Skuld (das, was werden soll), das heißt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mitunter werden sie wie die Schicksalsgöttinnen in der griechischen Mythologie auch als Webende dargestellt.

Noch mehr übernatürliche Wesen

Die Götter und Göttinnen besaßen kein Monopol auf magische Fertigkeiten. In der nordgermanischen Mythologie gibt es noch eine Reihe weiterer fantastischer Kreaturen. Die meisten unterhielten keine besonders guten Beziehungen zu den Gottheiten in Asgard. Nur selten gab es friedliche Kontakte zwischen ihnen.

Riesen

Die Riesen waren meistens böse Geschöpfe. Ständig versuchten sie auf Kosten der Götter, einen Vorteil zu erringen. Trotz dieser Tatsache waren die Beziehungen zu den Göttern fast normal. Thor und Loki verbrachten viel Zeit damit, mit den Riesen herumzureisen und sich mit ihnen zum Feiern zu treffen.

Das Wort »Riese« vermittelt natürlich die Vorstellung von enormer Größe. Da die Götter mit den Riesen Nachkommen zeugten, waren die Götter wohl in etwa gleich groß wie die Riesen. Die schöne Freya wurde ständig von Riesen umworben, und Odin und Loki hatten Geliebte unter den weiblichen Riesen. Vielleicht gehörte Loki selbst zum Geschlecht der Riesen. Erst am Ende der Welt wird die Grenze zwischen Göttern und Riesen endgültig gezogen werden. Dann werden sie sich auf unterschiedlichen Seiten feindlich gegenüberstehen.

Zwerge

Zwerge waren in der Mythologie des Nordens unangenehme, kleine, menschenähnliche Wesen, die unter der Erde lebten. Sie mussten sich vom Sonnenlicht fernhalten, da es sie in Stein verwandelt hätte. Niemand konnte sie in der Metallverarbeitung schlagen. Sie waren in der Lage, magische Gegenstände herzustellen wie etwa Freyas großartige Halskette oder Thors Hammer. Da sie den Göttern entsprechend nützlich waren, standen sie sich einigermaßen gut mit ihnen.

Weitere fantastische Wesen

Die nordgermanische Mythologie wird noch von weiteren magischen Kreaturen bevölkert. Es gab zum Beispiel die Elfen, lichte und dunkle. Die dunklen Elfen scheinen den Zwergen zu ähneln; die lichten Elfen hatten ein gutes Wesen. Sie werden mitunter in Mythen erwähnt, spielen aber insgesamt eine nur untergeordnete Rolle. Außerdem gab es noch Trolle. Thor kämpfte manchmal gegen sie. Schließlich gab es noch die Drachen, denen wir uns in Kapitel 22 widmen werden.

Ein großes Baumhaus: Die Welt, in der sie lebten

Trotz ihres kriegerischen Rufes lebten die meisten Völker im Norden Europas friedlich nebeneinander und widmeten sich dem Ackerbau, der Jagd und der Fischerei; sie trieben Handel miteinander und dachten sich nebenher Geschichten aus, um sich so die langen Winternächte Skandinaviens ein wenig zu verkürzen. Ihre Mythologie spiegelt die Not und die Entbehrungen wider, die ein derart karges Leben mit sich bringt. Die Götter müssen lange Strecken durch schwieriges Gelände zurücklegen, um von einer Siedlung zur nächsten zu gelangen. Ihre ständigen Wegbegleiter sind Hunger und Schnee.

Wie die meisten Völker machten sich die Skandinavier eine Vorstellung von der Welt, die sich an ihren spezifischen Erfahrungen orientierte. In der nordgermanischen Mythologie hatten alle ihr eigenes Heim. Die Menschen kannten genau ihren Platz zwischen den Göttern und den Toten.

Nach der nordischen Vorstellung von der Welt ist das Universum in drei Hauptebenen aufgeteilt, die von einem magischen Baum namens Yggdrasill überspannt werden. An der Spitze von allem steht Asgard, Heimstatt der Götter und Göttinnen. Die Gottheiten besaßen ihre eigenen Häuser innerhalb der Mauern einer Burg. Vanaheim ist ebenfalls dort oben beheimatet; dort lebten die Vanen (alte Fruchtbarkeitsgötter), bevor sie mit den Asen verschmolzen. Auch das Zuhause der lichten, hilfreichen Elfen, genannt Alfheim, lag dort oben.

In der Mitte der Welt lag Midgard, das Reich der Menschen. Es war umgeben von einem Ozean, der von einer riesigen Schlange umschlossen wurde: Jormungand, die Midgard-Schlange. Jotunheim, das Land der Riesen, lag entweder auf der gleichen Ebene oder es befand sich jenseits des Ozeans. Die Zwerge lebten in Nidavellir; die dunklen, bösen Elfen in Svartalfheim. Zwischen Asgard und Midgard gab es eine brückenförmige, von Flammen eingeschlossene Verbindung mit Namen Bifröst.

Auf der untersten Ebene lag Niflheim, die Heimat der Toten, ein Ort bitterster Kälte und ewiger Finsternis. Hel, die Göttin der Toten, hatte dort ihr Haus gleichen Namens stehen.

All diese Orte zusammen ergeben die »neun Welten« der nordischen Mythologie. Die Achse der neun Welten bildet der Weltenbaum Yggdrasill, eine unsterbliche Esche, der Baum des Lebens. Yggdrasill hat keinen Anfang und wird selbst Ragnarök, das Ende der Welt, überleben. Er gründet mit einer mächtigen Wurzel jeweils in Asgard, Jotunheim und Niflheim. Seine tiefste Wurzel wird von einem Drachen beständig angeknabbert. Viele verschiedene Tiere leben auf ihm oder in seiner Nähe. Seine Früchte sollten für eine sichere Niederkunft der Frauen sorgen.

Ragnarök: Das Ende der Welt

In der nordgermanischen Mythologie gibt es eine genaue Vorstellung vom Ende der Welt. Die Geschichte ist ein wenig verwirrend, weil Ragnarök, die letzte große Schlacht und die Zerstörung der Welt noch nicht stattgefunden haben, wohl aber die Ereignisse, die bis zu diesem Punkt geführt haben. Abgesehen von dieser zeitlichen Inkongruenz ähnelt dieser Weltuntergangsmythos denen anderer Kulturen, die vom Tod allen Lebens auf Erden und der Wiedererschaffung der menschlichen Rasse durch zwei Überlebende künden.

Die Nordeuropäer waren sehr schicksalsbewusst und hatten eine Vorstellung von der Vergänglichkeit allen Lebens. Dieses Wissen spiegelt sich auch in diesem Mythos wider. Lange vor Ragnarök weiß der Gott Odin, was einstmals geschehen wird. Da Odin ein sehr wissbegieriger Gott war, fragte er einmal die Toten, wie er denn sterben würde; sie antworteten ihm, dass ihn der Wolf Fenrir zerreißen werde. Odin weiß auch, dass der trickreiche Loki ein Komplott ersonnen hat, mit dessen Hilfe er die guten Götter stürzen will. Dieses Komplott wird am Ende auch erfolgreich sein. Dies ist das Schicksal der Götter. Entrinnen können sie ihm nicht.

Der Tod Balders

Das Ende der Welt begann mit dem Tod des sympathischsten aller Götter, Balders, den jeder mochte. Balders Mutter Frigg hatte in der Absicht, ihn zu schützen und vor dem Bösen zu bewahren, die ganze Welt bereist und jedes Ding, das sie antraf, schwören lassen, dass es für ihren Sohn ungefährlich sei. Alle Dinge hatten den Schwur geleistet bis auf eines – die Mistel, die Frigg aber als zu harmlos einstufte, als dass sie sich deswegen Sorgen gemacht hätte.

Die Gottheiten machten daraus ein Spiel: Sie bewarfen Balder mit verschiedenen Gegenständen und lachten wie von Sinnen, wenn die Dinge an ihm abprallten, ohne ihn zu verletzen. Jeder hatte Spaß an diesem Spiel bis auf Loki, der Gott des Schalks und des Unfriedens. Er liebte es, wenn andere litten oder in Schwierigkeiten gerieten. Es machte ihn schier verrückt zu sehen, dass Balder nicht zu verwunden war. (Auch wenn Loki in anderen Mythen als hilfsbereites Mitglied der Götter in Asgard erscheint, an dieser Stelle erweist er sich als ihr Feind. Wie schon erwähnt – Loki ist als Figur nicht so recht fassbar.)

Loki besorgte sich einen Mistelzweig und schnitzte daraus einen kleinen Wurfpfeil. Er gab ihn Balders blindem Bruder Hod, der sich vom Spiel ausgeschlossen fühlte, und half ihm dabei, ihn auf seinen Bruder zu werfen. Der Pfeil traf ins Ziel und Balder fiel tot zu Boden. Der tapfere Gott Hermod begab sich zu Hel, der Göttin der Toten, und bat um seine Herausgabe. Sie aber lehnte ab.

Nun wollten sich alle an Loki rächen. Die Götter fingen ihn ein, verschleppten ihn in eine Höhle und ketteten ihn an einen Felsen. Die Göttin Skadi brachte eine lebende Schlange in die Höhle und hängte sie über Loki auf, sodass das Gift des Tieres auf sein Gesicht tropfte. Lokis treue Frau Sigyn blieb bei ihrem Gatten und versuchte mit einer Schale, das heruntertropfende Gift aufzufangen. Hin und wieder aber musste sie die Schale leeren; in diesen Momenten trafen Tropfen des Giftes sein Gesicht. Loki krümmte sich jedes Mal vor Schmerzen. Das Winden seines Körpers spürte man auf der Erde dann als Erdbeben. So bleibt es bis zum Tage von Ragnarök.

Balders Tod ist der Anfang vom Ende, da er die Götter zwingt, zu begreifen, dass Loki ihr Feind und ihre Macht nicht unbeschränkt ist. Die Fronten des Krieges stehen nun fest und es ist nicht schwer zu sehen, wer auf welcher Seite stehen wird. Nach der Gefangennahme Lokis ist klar, dass er und seine drei bösen Kinder (Fenrir, Hel und die Midgard-Schlange) sich gegen die Götter wenden werden.

Ragnarök, die Götterdämmerung – das Ende von allem

So wird die Welt an ihr Ende gelangen: Zunächst wird in drei aufeinanderfolgenden Wintern Krieg herrschen in Midgard. Die Familien werden zerfallen, Väter werden ihre Söhne töten, Bruder wird sich gegen Bruder erheben, Mütter werden ihre Söhne und Brüder ihre Schwestern verführen. Im Anschluss wird das Land nacheinander drei grimmige Winter ohne dazwischen liegende Sommer erleben.

Zwei Wölfe werden die Sonne verschlingen; der Mond und die Sterne werden am Himmel erlöschen. Die Bäume und Berge werden herunterstürzen und der Wolf Fenrir wird frei durch die Welt streifen. Die Meeresfluten werden ansteigen, wenn die Midgard-Schlange sich zu winden und nach trockenem Land Ausschau zu halten beginnt.

Die Riesen werden sich ein Schiff aus den Nägeln der Toten machen und darin fortsegeln. Auch Loki wird sich aufs Wasser begeben in einem Boot mit den Toten aus Hels Reich.

Fenrir und die Midgard-Schlange (Lokis Söhne) greifen Seite an Seite an. Fenrir wird sein Maul aufsperren und sein Unterkiefer wird die Erde aufreißen, während sein Oberkiefer den Himmel durchpflügen wird. Die Midgard-Schlange wird überall ihr Gift verspritzen und so die Erde vergiften. Alle Riesen, alle Toten und alle anderen bösen Geschöpfe werden sich zusammenrotten.

In der Zwischenzeit werden sich alle Götter gesammelt und mit den Kriegern aus Walhalla vereint haben. Gemeinsam werden sie mit Odin und Thor an der Spitze auf den Feind losmarschieren. Yggdrasill, der Baum des Lebens, wird sich schütteln und erzittern, wenn zwei Sterbliche sich in ihm verstecken.

Odin wird sich gleich auf den Wolf Fenrir stürzen. Nach einem langen Kampf wird der Wolf Odin hinunterschlingen und das Schicksal des Allvaters besiegeln. Die Midgard-Schlange wird sich auf Thor stürzen. Beide werden im Kampf umkommen. Der Feuerriese Surt wird Freyr töten. Tyr wird im Kampf mit einem grimmigen Jagdhund sterben. Loki wird gemeinsam mit seinem langjährigen Feind Heimdall im Kampf sterben. Odins Sohn Vidar wird Fenrirs Maul ergreifen, die Kiefer der Bestie auseinanderreißen und so seinen Vater rächen.

Der Feuerriese Surt wird mit seinen Flammen alle neun Welten in Brand setzen. Alles und jeder wird verbrennen und untergehen und die Erde wird im Meer versinken.

Alle werden beim Weltenbrand sterben bis auf die zwei Menschenwesen, die sich im Baum Yggdrasill verbergen konnten (sowie einige wenige Götter wie zum Beispiel Balder, die wieder auferstehen). Die überlebenden Menschen heißen Lif und Lifthrasir (nordisch »Leben« und »der nach Leben Strebende«). Die Erde wird sich wieder aus den Fluten erheben, üppig und grün; die Vögel und die Fische werden zurückkehren. Das Menschenpaar wird Kinder und Enkel haben und das Leben wird wieder seinen Gang nehmen.