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Zehn mythologische Orte

In diesem Kapitel

arrow Die elysischen Felder der Träume

arrow Walhalla

arrow Der Untergang von Atlantis

Jede Touristen-Führung in Mittelamerika, Japan, Griechenland oder Ägypten kann Sie zu Orten bringen, an denen der Sage nach Götter zu Menschen gesprochen oder Helden gegen Ungeheuer gekämpft haben. Einige dieser mythischen Orte sind im Laufe der Zeit selbst mythologisch geworden. Manche sind real und auf einer Landkarte lokalisierbar und haben ihre mythische Qualität durch die Geschichten erlangt, die über sie erzählt wurden, gewöhnlich von Menschen, die nie selbst dort gewesen sind. Andere dagegen haben vielleicht einmal existiert; das Wissen darüber, wo genau sie sich befunden haben, ist aber längst verloren gegangen, sodass nur noch der Mythos dieser Orte übrig geblieben ist. Wieder andere sind jedoch reine Erfindungen und nur »real« in dem mythologischen Kontext, dem sie entstammen. Um zu einem mythologischen Ort zu werden, muss noch nicht einmal besonders viel Zeit verstrichen sein.

Das Elysium

Das Elysium (auch Eleusium) ist derjenige Ort in der griechischen Mythologie, der unserer Vorstellung eines »Himmels« am nächsten kommt. Bei Homer war Elysium ein mystisches Land weit im Westen ganz in der Nähe des großen Flusses Okeanos, der die Welt umgab (siehe Kapitel 3). Auch bei Hesiod taucht diese Vorstellung wieder auf. Es war der Sage nach das Land der Seligen. Nur die Toten, die zu Lebzeiten ein tugendhaftes Leben geführt hatten, konnten dorthin gelangen. Nach Homer gelangten die sterblichen Söhne des Zeus auf direktem Wege (ohne vorher sterben zu müssen) ins Elysium und lebten dort fortan in vollkommener Harmonie. In Kapitel 3 und 4 können Sie mehr über die Griechen nachlesen.

Der Ort dagegen, an den in der Vorstellung der Griechen die meisten Menschen nach ihrem Tod kamen, war zwar nicht besonders schrecklich – es gab kein ewiges Höllenfeuer oder Teufelsgestalten mit Dreizack –, aber auch nicht allzu einladend. Als Odysseus einmal in die Unterwelt hinabsteigen musste, fragte er den großen (nun aber toten) Achill, wie ihm das »Leben« bei den Toten gefalle. Dieser antwortete: »Ich wäre lieber der Gehilfe eines Bettlers als König hier unten.« Am schlimmsten jedoch traf es die Sünder unter den Menschen, die nach ihrem Tode in den Teil der Unterwelt kamen, der als Tartaros bekannt ist. Dort waren sie nämlich dem ewigen Leiden überantwortet. In Kapitel 7 und 8 können Sie noch einmal die Geschichten über Odysseus und Achill nachlesen.

Bei den Römern hatte sich die Lage des Elysium ein wenig verschoben. Zwar war es auch in ihrer Mythologie der Ort, an den die Gesegneten unter den Toten kamen; jetzt lag das Elysium aber plötzlich irgendwo unter der Erde. Dem römischen Dichter Vergil zufolge führten die Menschen in diesem Totenreich ihre Tätigkeiten und Berufe, die sie als Lebende ausgeübt hatten, einfach bis in alle Ewigkeit weiter fort.

Brigadoon

Brigadoon ist ein verzaubertes, mythisches Fischerdorf in Schottland, das an nur einem Tag in einhundert Jahren erscheint, um anschließend wieder auf rätselhafte Art zu verschwinden. Jeder, der während dieses einen Tages von außen auf das Dorf stößt, wird von den Dorfbewohnern willkommen geheißen und kann, wenn er möchte, dort bleiben. Verließe aber auch nur einer der Dorfbewohner den Ort, wäre der magische Bann unwiderruflich gebrochen. Ein wirklich toller Mythos, der aber nicht einmal einhundert Jahre alt ist!

Im Jahre 1947 schreiben Alan Jay Lerner und Frederick Loewe ein Musical für den Broadway in New York, das sie Brigadoon nannten. Später entstand aus dieser Vorlage ein Film gleichen Titels mit Gene Kelly in der Titelrolle. Sowohl das Theaterstück als auch der Film waren sehr erfolgreich, sodass die Geschichte dieses verzauberten Dorfes in Schottland sich so sehr in den Köpfen festsetzen konnte, dass Brigadoon alsbald beinahe auf gleicher Stufe mit anderen »mythologischen Orten« stand, wie etwa Elysium.

Lerner und Loewe erfanden die Geschichte vollkommen neu und bezogen sich nicht etwa auf irgendeine alte schottische Volkssage. Auf der anderen Seite hat man immer vermutet, dass die Autoren ihre Geschichte doch nicht ganz aus dem Nichts schöpften. Auch wenn die Autoren dies zeitlebens bestritten, so war ihnen doch eine Kurzgeschichte des deutschen Schriftstellers Friedrich Gersacker wahrscheinlich nicht ganz unbekannt, die von einem Dorf namens Germelshausen handelt, das nur alle einhundert Jahre für einen Tag erscheint und dann wieder verschwindet. Zufall? Der Name ihres Stückes ist jedenfalls von einem realen Ort namens »Brig-o-Doom« (Bridge of Doom) abgeleitet, der in einem berühmten Gedicht des schottischen Dichters Robert Burns auftaucht.

Xanadu

Im Jahre 1797 zog der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge aufs Land, um sich dort von einer Krankheit zu erholen. Er wollte seinen Heilungsprozess mit der Einnahme von Laudanum beschleunigen, einer Flüssigkeit, die man aus Mohnkapseln gewann und die vielleicht so etwas wie das Aspirin des 18. Jahrhunderts war, in Wirklichkeit aber die Eigenschaften von Opium hatte. Eines Tages fiel er nach der Einnahme von Laudanum in einen Rauschzustand, als er gerade ein Buch über Asien las, und hatte eine Vision. Als er wieder zu sich kam, setzte er sich schnell hin und schrieb alles, woran er sich noch erinnern konnte, rasch auf.

Der Dichter beschrieb in seinem Text einen wundervollen Palast inmitten eines Parks, er schrieb von Kliffen und Höhlen, Flüssen, die ringsum von Wasserfällen gesäumt waren. Nachdem er etwa fünfzig Verse geschrieben hatte, wurde er von einem Besucher gestört. Als er den Störenfried schließlich abgefertigt hatte und weiterschreiben wollte, war seine Vision verblasst.

Obwohl sein Gedicht Kubla Khan unvollendet blieb, war der Ort Xanadu von nun an Teil der mythologischen Landkarte. Der Ort existiert aber tatsächlich – es handelt sich um die chinesische Stadt Shang-tu beziehungsweise Shangdu, die unter dem Mongolenfürsten Kublai Khan im Jahre 1256 gegründet wurde. Marco Polo soll sie im Jahre 1265 besucht haben. Das historische Shang-tu war eine große Stadt, deren wichtigste öffentliche Bauten von Mauern umgeben waren und in dessen Mitte ein großer Park angelegt war. Das mythische Xanadu aber – also das Produkt eines warmen Nachmittages, einer Dosis Opium und eines begabten Dichters – ist heute das berühmtere der beiden.

Shangri-la

Wie das Elysium ist auch Shangri-la ein mythologischer Ort vollkommener Glückseligkeit. Ähnlich wie Brigadoon sind die meisten Menschen mit diesem Namen vertraut, weil es ein im 20. Jahrhundert geschriebenes Stück Literatur gibt, in dem dieser Ort vorkommt. Und ebenso wie Xanadu ist auch Shangri-la asiatischen Ursprungs und (vermutlich) die idealisierte und mythisierte Fassung eines realen Ortes.

Im Jahre 1933 schrieb James Hilton einen Roman mit dem Titel Lost Horizon. Er handelte von einem Ort namens Shangri-la, der hoch oben im Himalaya-Gebirge in Tibet lag. Shangri-la war der Name eines geheimen, versteckten kleinen Königreiches, in dem die Menschen nicht alterten, harmonisch und glücklich zusammenlebten und über ihr altes und geheimes Wissen wachten. Hiltons Roman basierte auf einem buddhistischen Mythos aus Tibet namens Shambhala, dem »versteckten Königreich«, der Heimstatt vollkommmener Menschen, die die höchste Form des mystischen Buddhismus verkörperten. Der Ort liegt versteckt hinter hohen Bergen und wird gesäumt von Wasserfällen. Die Könige dieses Reiches herrschen für jeweils einhundert Jahre. Nach der Herrschaft von zweiunddreißig dieser Könige wird der Ort nicht mehr länger verborgen liegen und die Menschen dort werden sich der Welt zu erkennen geben.

Im Jahre 1998 startete der amerikanische Forscher Ian Baker eine Expedition mit dem Ziel, diesen geheimen Ort Shambhala in Tibet zu entdecken. Auch wenn er Gegenden fand, die den in den alten Texten beschriebenen ähnelten, konnte er doch nichts Konkretes finden. Er musste die Expedition frühzeitig beenden, sodass die Geheimnisse dieses Ortes auch weiterhin bestehen bleiben.

Arkadien

Arkadien ist ein wirklich existierender Ort. Er liegt auf der südlichen Halbinsel Griechenlands, der Peloponnes. Im antiken Griechenland war Arkadien eine gebirgige und etwas rückständige Region, die von armen Hirten bevölkert war, die gerade so über die Runden kamen.

Bei den Angehörigen der höheren Schicht im alten Rom hingegen war Arkadien der Inbegriff idyllischen Landlebens und der mit Sehnsucht besetzte Gegenpol zu dem aufreibenden Leben in der Großstadt Rom. Die römischen Dichter erfanden ein mythisches »Arkadien«, einen friedvollen, heiteren Ort, an dem einfache Menschen ein einfaches Leben in Harmonie mit der Natur führten. Der Dichter Vergil schrieb zahlreiche Gedichte über glückliche Schäfer, die mit ihren Gespielinnen durch die Hügel Arkadiens tollten. (Daraus entwickelte sich in der Neuzeit das bei Poeten beliebte Genre der sogenannten Schäferdichtung.) Das Arkadien des Mythos ist hügelig und mit üppigem Grün bewachsen. Es ist von untergeordneten Göttern und glücklichen Bauern und Schäfern bevölkert, die ein einfaches, aber glückliches Leben führen und malerische Feste feiern, wenn sie denn nicht gerade ganz in der Nähe ihrer grasenden Schafherden dösend auf einer Wiese liegen (und den Herrgott einen guten Mann sein lassen, würden wir heute sagen).

Die Vorstellung eines Arkadien als einer idyllischen Wildnis setzte sich fest. Philip Sydney nahm Arkadien als Grundlage für einen bekannten Roman aus dem Jahre 1578, der auch explizite Schilderungen erotischer Natur enthält. Vielleicht war dieser Roman die Vorlage für Christopher Marlowes 1599 verfasstes Gedicht The Passionate Shephard to His Love. In Walt Disneys Film Fantasia gibt es eine mit der Musik einer Beethoven-Symphonie (der Pastorale) untermalte Sequenz, die so gut wie jede andere ein Bild des mythischen Arkadien vermittelt.

Walhalla

Das in Asgard gelegene Walhalla (siehe Kapitel 13) war in der nordgermanischen Mythologie der Name der Halle für die toten Krieger. Die Krieger aßen dort das Fleisch eines Borgs (Ebers) mit Namen Saehrimnir, der jeden Tag geschlachtet und verzehrt wurde, nichtsdestotrotz aber am Ende eines jeden Tages wiedergeboren wurde, um am folgenden Tag das gleiche Schicksal erneut zu erfahren. Die Ziege Heidrun lieferte Met und Milch, sodass für das leibliche Wohl der hungrigen Krieger bestens gesorgt war. Wenn sie sich nicht gerade einem Fressgelage hingaben, so kämpften sie gegeneinander (Warum auch nicht? Passieren konnte nichts, sie waren ja schon tot.) und warteten im Übrigen auf die letzte Schlacht Ragnarök.

Atlantis

Der griechische Philosoph Plato erzählt die Geschichte von Atlantis in einem fiktiven Dialog (der also nur erfunden ist). Darin ist die Rede davon, dass es einst jenseits der Säulen des Herakles (beziehungsweise der Säulen des Herkules, dem antiken Namen für die Straße von Gibraltar) eine Insel namens Atlantis gegeben habe, die größer gewesen sei als Libyen und Asien zusammengenommen und Heimat eines mächtigen Königreiches gewesen sei. Nach einem verheerenden Erdbeben versank die ganze Insel im Meer.

Während des Mittelalters geriet ein Großteil des antiken Wissens der Griechen und Römer in Vergessenheit. Nicht so aber in der arabischen Welt. Auf dem Umweg über die Schriften arabischer Geografen gelangte der Mythos von Atlantis auch wieder nach Europa. Die Europäer fragten sich, ob nicht eigentlich die Kanarischen Inseln oder Skandinavien oder vielleicht sogar der amerikanische Kontinent gemeint sein könnte. Eine Theorie aus moderner Zeit besagt, dass die Geschichte von Atlantis möglicherweise auf die Insel Thera (heute Santorin) zurückgeht, die bei einer gewaltigen vulkanischen Eruption im Jahre 1500 v. Chr. fast ganz in Stücke gerissen worden war. Heute ist die Insel von sichelförmiger Gestalt; ihre Mitte ist völlig verschwunden.

Das Königreich des Priesters Johannes (Prester John)

Im Jahre 1071 eroberten die Türken Jerusalem. Die europäische Christenheit war in hellem Aufruhr, da sich nun ihre Heilige Stadt in den Händen der Ungläubigen befand. Damit begann die Epoche der Kreuzzüge, eine lange und traurige Periode in der langen und unglückseligen Geschichte einer Stadt, die drei großen Religionen heilig ist.

Die Europäer waren versessen darauf, das Heilige Land wieder zurückzuerobern und hielten nach Hilfe Ausschau, woher auch immer sie stammen mochte. Es war im Jahre 1145, als der Papst Kunde von einem gewissen Priester Johannes erhielt, der angeblich ein Nachfahre eines der Magi war, also einer der drei weisen Männer, die aus dem Osten kommend das neu geborene Jesuskind besuchten. Der Bericht behauptete, dass Priester Johannes ein christlicher König sei, Herr über ein mächtiges Reich in Asien, der sich nach Westen in Bewegung gesetzt habe, um an der Befreiung des Heiligen Landes mitzuwirken. Gleich lautende Briefe mit dem Versprechen, Unterstützung zu gewähren, trafen im Jahre 1165 an allen großen europäischen Höfen ein.

Papst Alexander III. antwortete zwar auf den Brief; Unterstützung aus Asien traf aber nie ein. In Europa stellte man trotz dieser Enttäuschung in der Folgezeit Vermutungen über das seltsame Königreich des Priesters Johannes an. Eine Reihe von Reisenden begab sich vor Ort in Asien auf die Suche nach diesem Reich, unter ihnen Giovanni da Pian del Carpini, Giovanni da Montecorvino und natürlich auch Marco Polo. Keiner war erfolgreich, auch wenn es ihnen gelang, Ertrag bringende Handelskontakte mit dem chinesischen Kaiserreich zu knüpfen. Als sich die Europäer daran machten, über den Atlantik zu segeln – in der Erwartung, auf Asien zu stoßen – hoffte man insgeheim noch immer, eine Spur des sagenumwobenen Königreiches des Priesters Johannes zu finden.

Avalon

Avalon war die magische Insel, auf die sich König Artus begab, um dort die Wunden seiner letzten Schlacht auszukurieren, und auf der er blieb, bis die Zeit reif für seine Rückkehr war. (Lesen Sie Kapitel 15, wenn Sie die ganze Artus-Legende interessiert.) Nach einer Auslegung der Sage ist Avalon in Wirklichkeit keine Insel, sondern die Stadt Glastonbury, die in einigen keltischen Mythen mit dem »Land der toten Helden« in Verbindung gebracht wird. Heute ist man aber der Auffassung, dass die dortigen Mönche die ganze Geschichte erfunden haben, um Touristen in ihre Gegend zu locken und so Geld zu verdienen. Avalon ist heute ein Symbol für jeden mythischen Ort, an dem die Menschen ein Leben in Glückseligkeit führen.