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YOGA ALS THERAPIE

Entwicklung und Ziele der Yogatherapie

Als Bestandteil der altindischen medizinischen Heilkunde Ayurveda hatte Yoga schon seit langem auch eine therapeutische Ausrichtung. Und so finden sich in nahezu allen Veröffentlichungen zum Ayurveda Abschnitte mit Yogaübungen. Allerdings ist die empfohlene Āsana- und/oder Prānāyāma-Praxis eine adjuvante, also eine andere Maßnahmen begleitende oder unterstützende Behandlungsmethode, wie sie heutzutage auch in der westlichen Medizin als Ergänzung eingesetzt wird.

Bisherigen Informationen zufolge lag der Schwerpunkt des Yoga jedoch weniger auf dem Kurieren von Krankheiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen; vielmehr war es ein Weg der Besinnung, der Einsicht und der Erfahrung der Einheit, bei der die einzige relevante Haltung über Jahrhunderte der stabile Sitz auf dem Boden war.

Früheste Hinweise auf die gesundheitlichen Aspekte des Yoga finden sich in der Hatha-Pradīpikā (siehe S. 205 ff.), in der im Kontext der Āsanas immer wieder von Gesundheit, von Stabilität und Standfestigkeit24 und gleich zu Beginn25 von der Leichtigkeit der Glieder die Rede ist. Im zweiten Kapitel heißt es: »Durch einen Yoga, der mit Prānāyāma und den anderen Übungen verbunden ist, wird allen Krankheiten ein Ende gemacht.«26

Eine explizite Fokussierung der therapeutischen Möglichkeiten des Yoga zeichnete sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ab. In Indien waren es Sri Yogendra und Swami Kuvalyananda, die damit begannen, Yoga und Schulmedizin zu verbinden. Yogendra gründete im Jahr 1918 sein Institut, dessen Ausrichtung als wissenschaftlich und therapeutisch beschrieben werden kann. Kuvalyananda untersuchte bereits 1921 in einem Krankenhaus die Wirkungen der Hatha-Yoga-Praxis auf den menschlichen Körper.

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Paramahamsa Madhavadasaji

Beide waren Schüler von Paramahamsa Madhavadasaji27, dessen Lebensdaten vom Yoga Institut in Santacruz/Mumbai mit 1798-1921 angegeben werden. Andernorts werden als Alter 123 oder 119 Jahre genannt. Der Ashram, in dem Madhavadasaji unterrichtete, befand sich in Malsar (Gujarat); Madhavadasaji stammte jedoch aus Bengalen.

Jahrzehnte später erkannten Persönlichkeiten wie B. K. S. Iyengar und T. K. V. Desikachar das therapeutische Potenzial des Yoga und verknüpften es zum Teil mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ansprüchen westlicher allopathischer Medizin.

Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, existiert weltweit eine Vielzahl von etablierten Institutionen und Yogazentren, die sich auf Yogatherapie spezialisiert haben. (Eine Liste finden Sie im Anhang.)

Vom Rettungsfloß zum Sprungbrett

Die Ziele und Möglichkeiten der Therapie mittels Yoga, aber auch deren Grenzen hat Gary Kraftsow in seinem Buch Kraftquelle Yoga treffend zusammengefasst. Er hält fest, »dass die therapeutischen Methoden der Yogatradition auf den Vorstellungen von viyoga (Trennung von Dingen, die nicht wünschenswert sind) und samyoga (Verbindung mit Dingen, die wünschenswert sind) beruhen.«28

Welchen Zweck diese beiden Konzepte erfüllen, beschreibt Kraftsow in den folgenden Sätzen: »Bezogen auf unsere Emotionen bedeutet Viyoga den Abbau von rajasischen29 Zuständen der Erregung (zum Beispiel emotionale Zustände, die unter die Sammelbegriffe von Zorn und Ängstlichkeit fallen) sowie von tamasischen Zuständen der Trägheit (zum Beispiel emotionale Zustände, die unter den Sammelbegriff der Depression fallen), und Samyoga ist das anhaltende Bestreben, in uns selbst den sattvischen Zustand der Klarheit und Zufriedenheit zu entwickeln.«

Yogatherapie und Yoga zielen auf Folgendes ab: »Die Yogatherapie will Menschen darin unterstützen, ihrem emotionalen Leben neue Stabilität zu verleihen, so dass sie damit beginnen können, den Yoga als einen Prozess der spirituellen Transformation zu nutzen. Für Menschen mit sehr ernsten Problemen kann der Yoga das Rettungsfloß sein, das ihnen hilft, aus schwierigen Gewässern zu entkommen. Die Yogatherapie ist aber nur eine Vorbereitung auf das wahre Ziel des Yoga, das darin besteht, den Menschen als ein ›Sprungbrett‹ zu neuen Wegen der persönlichen Entwicklung zu dienen.«30

Ob die Yogatherapie als Reduzierung der ursprünglichen Intention des Yoga oder als Erweiterung des spirituellen Ansatzes wahrgenommen wird, hängt ganz von der Situation und der Perspektive ab: der Perspektive derjenigen nämlich, die dieser Therapie bedürfen, sowie derjenigen, die entweder mittels Yoga therapeutisch wirken oder aber ausschließlich auf die eigene innere Vervollkommnung bedacht sind. Prinzipiell muss sich beides nicht ausschließen. Ein vollkommen gesunder Mensch mit der Bereitschaft, auch anderen zu helfen, ist die beste Voraussetzung und Folge spiritueller Verwirklichung.

Anwendungsgebiete bei körperlichen Beschwerden

Was sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Yogatherapie herauskristallisierte, sind durchweg erfolgreiche therapeutische Wirkungen bei Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates (insbesondere bei Wirbelsäulensyndromen, Arthritis, Fehlhaltungen und daraus resultierenden Schäden, rheumatischen Beschwerden), bei Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems (insbesondere Hypertonie, Hypotonie, Angina Pectoris), bei Erkrankungen der Atemwege (insbesondere chronische Bronchitis und Asthma Bronchiale) sowie bei psychosomatischen und psychischen Erkrankungen.

Für viele – ob sie seit Jahren oder Jahrzehnten Yoga praktizieren oder gerade damit begonnen haben – war bzw. ist ein gesundheitliches Problem mit einer Symptomatik aus der eben angeführten Liste ein typischer Einstieg. In meinem persönlichen Fall waren es chronische, in Intervallen auftretende Kopfschmerzen und Migräneattacken, die von der Allgemeinmedizinerin mit Schmerztabletten und Zäpfchen »behandelt« wurden und als deren wahrscheinliche Ursache ein Orthopäde an der Berliner Charité eine altersbedingte degenerative Schlifffläche an der Halswirbelsäule konstatierte. Er gab mir ein Merkblatt mit Hinweisen für rückengerechtes Bewegen und Heben von Lasten und riet von Yoga ausdrücklich ab, da dies völlig »anormale und unnatürliche« Haltungen seien, denn mit verdrehtem Oberkörper oder auf dem Kopf stehend käme niemand auf die Welt. Die Krankenkasse BKK war da schon einen Erkenntnisschritt weiter und finanzierte ihren Mitgliedern Yogakurse, in meinem Fall zwei Kurse zu je zehn Unterrichtseinheiten. Es zeigten sich deutliche Besserungen, schmerzstillende Tabletten wurden zur Ausnahme.

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Inzwischen werden die prophylaktischen wie therapeutischen Potenziale des Yoga von Schulmedizinern zunehmend anerkannt, und auch die Anzahl der Kooperationen wächst. Dennoch bestehen Vorbehalte gegenüber Yoga fort, und reine Symptombehandlungen mit einer Vorliebe für pharmazeutische Rezepturen oder operative Eingriffe sind weiterhin eher die Regel als die Ausnahme. Daher empfiehlt es sich, dass sich jeder Patient neben dem ärztlichen Rat eines Schulmediziners auch stets über alternative Behandlungsmethoden informiert und die von beiden Seiten vorgeschlagenen Schritte prüft. Je nach Diagnose und Krankheitsbild kann ausschließlich die eine oder die andere Methode die richtige sein, aber auch eine Kombination von allopathischer Medizin und alternativer Yogatherapie ist oft sinnvoll und wird seitens der Yogalehrenden zumeist favorisiert. Orientierungshilfen gibt es – zumindest in der westlichen Welt – heute viele, ebenso wie alternative Therapeuten, die qualifiziert sind. Ein wichtiger Aspekt der eigenen Überlegungen sollte stets sein, die Risiken und Nebenwirkungen zu minimieren und die bewusste Mitwirkung am Heilerfolg zu maximieren.

Die messbaren, in Studien und Statistiken darstellbaren Erfolge bei der präventiven und therapeutischen Anwendung des Yoga sind mittlerweile umfangreich erforscht und wissenschaftlich dokumentiert, mit eindeutigen und überprüfbaren Resultaten. Auf der Website der National Library of Medicine, die zum National Institute of Health der USA gehört31, findet sich eine medizinische Datensammlung, die unter dem Suchbegriff »Yoga« 894 Einträge anzeigt, zum großen Teil internationale Studien und Forschungsprojekte, in denen unter anderem die Auswirkungen auf Rheuma, den Stoffwechsel, Bluthochdruck, Körpergewicht, Depressionen und Stressmanagement dokumentiert sind. Weltweit sind die positiven Auswirkungen der Yogapraxis auf die Gesundheit in bisher mehr als tausend wissenschaftlichen Studien überprüft worden.

In Deutschland hat der Indologe und Religionswissenschaftler Christian Fuchs im Auftrag des Berufsverbandes der Yogalehrenden in Deutschland e. V. (BDY) den Stand der deutschsprachigen Studien mit dem Schwerpunkt medizinische und psychologische Studien – unter anderem auch physiologische Studien zum Hatha-Yoga und psychologische Studien zur Meditation32 – zusammengefasst und im Jahr 2000 unter dem Titel »Im Spiegel der Wissenschaft« in einer Broschüre publiziert.33 Als »beispielgebend für den medizinisch-physiologischen Bereich« bezeichnet Christian Fuchs das Buch Physiologische Aspekte des Yoga und der Meditation34. Der Verfasser, der Humanbiologe Dietrich Ebert, erforschte unter anderem die Antistress-Wirkung der Āsanas und kam zu dem Ergebnis, dass Prānāyāma und Entspannungstechniken das Sauerstoffvolumen vergrößern und den Laktat- und Cortisolspiegel im Blut senken.

Gute therapeutische Wirksamkeit von Yogaübungen bei Asthma Bronchiale, Hypotonie und Hypertonie sowie bei koronaren Herzkrankheiten und vegetativer Labilität wurden bereits 1963 von dem indischen Arzt Gauri Shanker Mukerji und dem Mediziner Dr. med. Werner Spiegelhoff festgestellt.35

Angewandte Yogatherapie in der Arbeit mit Kindern und mit Drogensüchtigen

Yoga für Kinder mit Hyperaktivität oder Konzentrationsstörungen

Das Deutsche Arzteblatt konstatierte in der Juniausgabe 2006, dass Yoga als zusätzliche Therapie für hyperaktive Kinder hilfreich sei. Diese Meldung wurde in einer Untersuchung von Heidelbergern Forschern belegt, die in der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie36 veröffentlicht wurde. Demnach verbesserte sich die Aufmerksamkeit der Kinder, und ihre hyperkinetische Symptomatik verringerte sich signifikant. Die positive Entwicklung war fast ausschließlich auf das Yogatraining zurückzuführen. Die Wirkungen der Āsanas, der Atemübungen und der Meditation wurde den neurophysiologischen und den neuropsychologischen Ebenen zugeordnet, und es wurde festgehalten, dass die Wirkungen von Yoga der Kernsymptomatik bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) entgegengerichtet sind, das heißt, die Kinder werden ruhiger, konzentrierter, und der Muskeltonus verändert sich positiv.

Dass immer weniger Kinder ausgeglichen und selbstbewusst sind, liegt größtenteils an der allgemeinen Reizüberflutung, dem Schulstress und an dem auch unter Kindern und Jugendlichen inzwischen stark verbreiteten Bewegungsmangel. Während des Schulunterrichts stundenlang stillzusitzen und sich zu konzentrieren fällt vielen von ihnen schwer. Körperliche Fehlhaltungen führen zudem häufig zu Verspannungen in Hals, Nacken und Rücken. Mit Yoga lernen Kinder, ihren Körper besser wahrzunehmen. Fehlhaltungen werden korrigiert, und die verlorene Beweglichkeit kehrt zurück. Mit Atemübungen lernen sie, tief und bewusst zu atmen. Damit versorgen sie ihren Körper mit genügend Sauerstoff, was Müdigkeit vorbeugt und ihre Konzentration steigert.

Die Bedeutung der Problematik und die Möglichkeiten, mit Yoga zu intervenieren, hat auch die Lerntherapeutin Dr. Nicole Goldstein erkannt. Sie hat zu diesem Thema einen Materialordner Hyperaktiv – na und? Yoga-Übungen für überaktive Kinder zusammengestellt und konstatiert, dass es für hyperkinetische Störungen keine allgemein anerkannten und spezifischen Ursachen gibt und die Symptome ein vielfältiges Spektrum aufweisen.37 Die übliche Vorgehensweise besteht aus medikamentöser Therapie, zumeist mit Ritalin, und kognitiver Verhaltenstherapie. Übungen des Hatha-Yoga können jedoch helfen, die Anforderungen des (schulischen) Alltags auch ohne Medikamente besser zu bewältigen und impulsives Verhalten – mit dem mitunter eine Eigengefährdung einhergeht, da oft erst gehandelt und dann überlegt wird – selbst zu regulieren. Das breite Spektrum an möglichen Körperhaltungen und kombinierten Übungsfolgen kommt dem kindlichen Bedürfnis nach Bewegung entgegen, die Fähigkeiten, sich zu entspannen und sich zu konzentrieren, werden kontinuierlich entwickelt. Die Studie von Nicole Goldstein belegt und bestätigt, was auch in der im Deutschen Ärzteblatt angeführten Untersuchung festgestellt wurde: Yogaübungen verringern das impulsive Verhalten, mindern die Hyperaktivität und verbessern deutlich die Aufmerksamkeitsleistung.

Mittlerweile haben sich etliche Yogalehrende auf Yoga für Kinder spezialisiert. Einen Überblick zu diesem Thema erhält man unter www.kinderyoga.de. Die positiven Effekte des speziellen Kinderyoga kommen natürlich Kindern mit Konzentrationsproblemen ebenso zugute wie jenen, die keine solchen Probleme haben.

Auch außerhalb der Yogaschulen und -institutionen wird mitunter Yoga für Kinder vermittelt. So bietet zum Beispiel die Ergotherapie-Praxis Mahner in Oberursel Yoga für hyperaktive Kinder an. Das eigens dafür entwickelte Programm basiert auf den Ergebnissen der oben angeführten wissenschaftlich evaluierten Pilotstudie in Kooperation mit der pädagogischen Hochschule und der Universität Heidelberg, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Art der Therapie wird als ein ganzheitlicher Ansatz und als eine Maßnahme beschrieben, »die bereits im frühen Kindesalter (im Kindergarten) als Prävention, bei akuten Ereignissen als Intervention oder als begleitende Therapie eingesetzt werden kann«.38

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Das Besondere am Yoga für Kinder ist eine betont dynamische Praxis, die auf das Erklären von physiologischen und anatomischen Details oder zu erwartenden Wirkungen und langes, meditatives Verweilen in einer Haltung verzichtet. Freiräume, Fantasie und Dynamik in diesem speziell auf Kinder ausgerichteten Yogaunterricht kommen ihren Bedürfnissen entgegen, und die kindgerechten Yogaübungen verbessern ihren äußeren und inneren Halt.

Yoga an Schulen kann bei dieser Entwicklung einen wichtigen und nützlichen Beitrag leisten.

Die Yogalehrerin39 und Erziehungswissenschaftlerin Suzanne Augenstein hat ein Training auf der Basis von Yoga entwickelt, das auf die Schulung von Körperhaltung, Körperkoordination, Konzentration und sozialem Verhalten bei Grundschulkindern mittels körperlicher Übungen abzielt.40 Es wurde inzwischen unter der Bezeichnung »Körperorientiertes Programm, KOP, von speziell geschulten externen Trainern in einigen Schulklassen eingeführt. Dr. Suzanne Augenstein zieht folgendes Fazit: »In Zeiten des Umbruchs steigt die Offenheit für Neues, in Problemsituationen wird nach effektiven Lösungen gesucht. Yoga für Kinder hat sich daher in den letzten Jahren an Schulen stark ausgeweitet. Es bestehen gute Chancen für eine Positionierung von Yoga als anerkannter Fördermethode für Schulkinder, zumal mittlerweile wissenschaftliche Untersuchungen zum Kinderyoga vorliegen, die eine entsprechende argumentative Basis liefern.«41

Was in der Öffentlichkeit als neue Entwicklung wahrgenommen wird, ist jedoch bereits dreißig Jahre zuvor thematisiert worden, z. B. in der Diplomarbeit Yoga in der Schule von G. Bürmann, in der es schon 1976 um Yogaangebote für »lernbehinderte und bildungsschwache« Schüler ging, sowie in Yoga hilft dem Schulkind von Marianne Kohler, erschienen 1974.42 Und auch diesen beiden Texten ging bereits die Veröffentlichung des Lehrbuchs Yoga für Kinder – Leichte Atem-, Entspannungs- und Bewegungsübungen zur Lockerung und Kräftigung von Esther-Martina Luchs voraus, das 1970 im Goldmann Verlag erschien.

Yoga in der Drogentherapie

Eine der wichtigen Zielsetzungen des Yoga ist es, frei und ohne Anhaftung zu sein. Wenn man dieses Anliegen anders formuliert und auf die Suchtproblematik bezieht, heißt das, die Praxis des Yoga prädestiniert Praktizierende dazu, nicht abhängig zu sein. Dass sich Yoga somit auch bei Menschen mit Suchtproblemen und speziell bei Drogenabhängigkeit als Therapieform eignet, liegt auf der Hand.

Mitte der siebziger Jahre erschienen erste Beiträge zu dieser Thematik im amerikanischen Yoga Journal43 und in der Zeitschrift Yoga und unsere Welt. Dem dort abgedruckten Artikel Yoga als Therapie bei Drogenabhängigen44 von E. J. Kiphard und H. Hünnekens war ein fünfjähriges Projekt am Westfälischen Institut für Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik vorausgegangen. Auch in Indien wurden in den achtziger Jahren mehrere Beiträge zum Thema Yoga und Drogensucht publiziert.45

Ganz praktisch und ohne nähere Ausführungen zur Drogensuchtproblematik hat B. K. S. Iyengar in seinem Buch Yoga – Der Weg zu Gesundheit und Harmonie46 dreißig Haltungen (Āsana) zum Stichwort Drogensucht zusammengestellt (wie auch zu Alkoholismus; beides steht im Abschnitt »Geist und Gefühle« des fünften, mit »Yoga bei Beschwerden« überschriebenen Kapitels). Die Wirkung entfaltet sich laut Iyengar dadurch, dass die von ihm aufgestellten Āsana-Reihen die Hormondrüsen sowie das sympathische und das zentrale Nervensystem ansprechen, die Atmung wie auch den gestressten Körper und Geist beruhigen.

Bei einem Großteil der Āsanas kommen die für den Iyengar-Yoga typischen Hilfsmittel wie Gurt, Stuhl, Holzklotz, Polster und Hocker verschiedener Größe zum Einsatz. Die Übungen sind trotz der Hilfsmittel anspruchsvoll und zum Teil selbst für völlig gesunde und im Yoga erfahrene Menschen schwierig. Hierzu zählen beispielsweise Upavishta Konāsana (spagatähnliches »Sitzen im weiten Winkel«), Ardha Chandrāsana (»Halbmondstellung«) und Salamba Shirshāsana (Kopfstand). Doch auch vermeintlich einfache Haltungen wie Vīrāsana (»Sitzender Held«) oder Bharadvajāsana (»Rumpfdehnung durch Drehung«) bedürfen persönlicher Anleitung sowie Geduld und Disziplin. Und so rät Iyengar: »Gesundheit ist keine Ware, um die man feilschen kann. Man verdient sie sich mit harter Arbeit. (…) Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn der Heilungsverlauf nur langsam voranschreitet. Denken sie immer daran, dass Ausdauer die Essenz des Yoga ist.«47

Der tschechische Psychiater Karel Nespor48 arbeitet seit längerem mit Suchtkranken und setzt bei seiner Behandlung auch Yoga und Entspannungstechniken ein. Er bietet in der Regel nur einfache Übungen und Übungszeiten von dreißig bis sechzig Minuten an, da die drogen- und alkoholabhängigen Patienten zumeist in keiner guten konditionellen Verfassung sind. Nespor beschreibt den typischen Drogenabhängigen als bis zu einem bestimmten Grad depressiv, eher passiv und zu Beginn wenig interessiert. Erst wenn Yoga zu einem regelmäßigen Bestandteil der Behandlung wird, entwickelt sich seitens der Abhängigen die Bereitschaft zu kooperieren. Neben den klassischen Bestandteilen des Yogaunterrichts wie Āsanas und Prānāyāma bietet Nespor jeweils an, eine Geschichte zu erzählen, die anschließend kommentiert wird, damit der Bezug zur Situation des Patienten deutlich wird, und er verbindet das Ende der Entspannung mit speziellen Affirmationen wie »ich lebe gesund« oder »Abstinenz ist vorteilhaft«.49

Als größte Herausforderung in der Arbeit mit Drogenabhängigen sieht Nespor, auch unter dem spirituellen Namen Sannyasi Swaroopmurti bekannt, die Integration von Yoga in das Alltagsleben der Abhängigen. In diesem Punkt sind die Erfolgserlebnisse im Sinne einer Neuorientierung der Drogenabhängigen eher die Ausnahme.

Auch die deutsche Yogalehrerin Anke Suhnel hat mehrere Jahre lang Erfahrungen mit der Rehabilitation von Drogenabhängigen gesammelt. »Shortstep« war der Name und das Programm des Projekts, ein Drogentherapiezentrum im Raum Hannover, das im Rahmen des Bundesmodellprogramms »Kompakttherapie« Ende 1991 eröffnet wurde. Yoga wurde hier als Bestandteil bewegungstherapeutischer Arbeit mit der Fokussierung auf den Körper eingesetzt. Ziele waren die physische Stabilisierung und die Entwicklung einer bewussten Körperwahrnehmung. Da Drogenabhängige infolge des Drogenkonsums den eigenen Körper mehr und mehr als Fremdkörper empfinden, geht es zunächst darum, diesen Zustand zu kompensieren. Das Erleben von Wohlgefühl durch körperliche Anstrengung und die wiedergewonnene Fähigkeit, sich zentrieren und entspannen zu können, werden von ihnen oft als »Highlight« bezeichnet.

Unterschiede zum sonst üblichen »normalen« Yogaunterricht kristallisierten sich im Verlauf der Arbeit mit den Drogenabhängigen heraus. Der Yogaunterricht mit einer durchschnittlichen Dauer von dreißig bis fünfundvierzig Minuten wurde in der Regel mit Sporttraining verknüpft; entweder als Vorbereitung, zum Beispiel auf Volleyball und Krafttraining mit Geräten, oder als Entspannung, zum Beispiel nach ausgedehnten Radtouren.

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Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurden die Übungen von der Yogalehrerin jeweils vorgeführt, und es wurde gemeinsam geübt. Es wäre den Teilnehmenden nicht möglich gewesen, allein den Ansagen zu folgen – dazu fehlte es an Konzentrationsfähigkeit. Korrekturen wurden selten oder äußerst zurückhaltend vorgenommen, da dies von den Abhängigen oft als Abwertung eingeordnet wurde. Erst im Einzelgespräch wurden entsprechende Hinweise vorgebracht.

Der Part der Entspannung wurde stets ohne Imagination ferner Welten, von Traumlandschaften oder sonstigen inneren Bildern angeleitet, da diese zu sehr der für Drogenkonsum charakteristischen Realitätsflucht ähneln. Auf Meditation wurde gänzlich verzichtet, weil eine wichtige Voraussetzung für Meditation, nämlich die Fähigkeit, sich innerlich auszurichten, bei dieser Klientel äußerst eingeschränkt ist und die Folge der Meditationspraxis hier eher Unruhe und Frustration gewesen wären. Als Alternative wurden Konzentrationsübungen gewählt, die mit einem geäußerten Wunsch gekoppelt wurden.

Das Potenzial des Yoga, dass Praktizierende durch regelmäßiges Üben künftiges Leid vermeiden können, wie es im Yoga-Sūtra 2.16 formuliert ist (heyam duhkam anāgatam), ist also durchaus auch auf Drogensüchtige erfolgreich anwendbar, allerdings muss die Vermittlung bzw. Unterrichtspraxis den besonderen Bedingungen angepasst sein. Das kann auch zu einem Minimalismus bei der Auswahl der Übungen führen, wie im folgenden Beispiel. Doch auch Yoga bietet keine Erfolgsgarantie. Es ist als Methode und Unterstützung hilfreich und sinnvoll, aber Yoga mit Drogensüchtigen erfordert neben günstigen Rahmenbedingungen auch viel Disziplin und einen starken Willen.

Harmon Hathaway, Mitbegründer der American Yoga Foundation50, deren Retreat- und Meditationszentrum sich in den Catskill Mountains von New York befindet, und Autor der Bücher Yoga for Athletes (»Yoga für Sportler«) und Hathaway Alignment Sessions (»Hathaway-Lernabschnitte zur Ausrichtung«), hat in den 35 Jahren seiner Tätigkeit als Therapeut unter anderem mit Heroin- und Kokainabhängigen zu tun gehabt. Die Süchtigen reagierten auf Hathaways Anweisungen zumeist ablehnend, und eine Sitzung dauerte höchstens eine halbe Stunde. Die jeweilige Session bestand nahezu vollständig aus vertiefter Zwerchfellatmung in der Rückenlage und der Ermutigung des Therapeuten, trotz Panikattacken und Taubheitsgefühlen in Händen, Armen und mitunter auch im Gesicht mit der vertieften Atmung fortzufahren. Alle, mit denen Hathaway den Kontakt halten konnte, beendeten den Heroinkonsum, was Harmon Hathaway, der sein Wissen derzeit an professionelle Therapeuten weitergibt, vor allem auf die einschneidende Erfahrung vertiefter Atmung zurückführt. Auf seiner Homepage www.Alignment.com schreibt er unter den Stichworten Drug Addiction/Heroin and Cocaine: »Der Körper muss dazu gebracht werden, etwas zu tun, was ihm guttut. Diese Wohltat sollte nicht durch Drogen induziert werden, sondern durch eigene und echte Anstrengung. Atmen zu lernen und den Raum innerhalb des Körpers mit Lebenskraft in Anspruch zu nehmen, dies ist eine natürliche Lösung für ein unnatürliches Dilemma.«

Wie in diesen drei Beispielen sind weltweit Erfahrungen und beeindruckende Erfolge mit dem Einsatz von Yoga als unterstützende oder begleitende Therapie bei Drogensüchtigen belegt, selbst bei heroinabhängigen Kriminellen, wie auf www.ThisIsLondon.co.uk am 30.5.2002 gemeldet wurde. Der Bericht handelt von einem Resozialisierungsprojekt in Leicestershire und Rutland, bei dem alternative Methoden wie Yoga und Akupunktur erfolgreich eingesetzt wurden.

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Ken Wilber (links) und Harmon Hathaway (rechts)

Von der wirksamen Kraft des Yoga bei Drogensucht zeugen auch ehemals Süchtige, die ihre Abhängigkeit mit Hilfe des Yoga überwunden haben und inzwischen selbst als Yogalehrer arbeiten. Zu ihnen gehört zum Beispiel Nikki Myer, die das Cityoga Center for Yoga and Health in Indianapolis, Indiana, leitet und dort auch Rehabilitationskurse anbietet.

Bei Ana Forrest reichte die Palette der Süchte einst von Alkohol und Nikotin bis zu Drogen und Magersucht. Mittlerweile lehrt sie Yoga als integrative Praxis, die Menschen dazu anregen soll, jene Dinge, die sie verhärten und krank machen, genau zu lokalisieren und mit Atemlenkung und Bewusstheit zu bereinigen, um sich frei und leicht auf der Erde zu bewegen.

Mit deformierten Beinen und entstelltem Körper auf die Welt gekommen, traumatisiert durch Süchte und Krankheiten, fand die in Kalifornien lebende Ana Forrest ihren Weg der Heilung, den sie inzwischen auf vielfältige Weise weitergibt: Sie lehrt ihren eigenen Yogaansatz im In- und Ausland und schreibt für das Yoga Journal, sie gründete das Forrest Yoga Institute in Santa Monica und die Forrest Yoga Educational Library, sie lehrt Chiropraktik an der Universität des Bridgeport College und führt akrobatische Āsana-Sequenzen auf Konferenzen und in Workshops vor – Ausschnitte ihrer Vorführung auf der Boston Yoga Conference sind auf ihrer Webseite (www.forrestyoga.com) zu sehen, wo sich auch das folgende Zitat findet: »Wenn Sie Yoga benutzen wollen, um emotionalen Schmerz zu heilen, müssen Sie herausfinden, an welcher Stelle in Ihrem Körper er sitzt, und lernen, Ihren Atem dorthin zu bringen. Ich lehre Yoga nicht, um den Leuten zu helfen zu transzendieren. Ich will, dass das Bewusstsein der Praktizierenden in ihrem Körper bleibt. Ich will ihnen im wahrsten Sinne des Wortes helfen, ihren Geist zu ›verkörpern‹ und nicht gespalten durchs Leben zu gehen.«51

Die Erfahrung, durch Yoga die eigene, von Abhängigkeit geprägte Krise überwunden zu haben, hat Nikki Myer und Ana Forrest dazu motiviert, die Umstände ihres persönlichen Wandels und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse an jene weiterzugeben, die ihren eigenen Weg aus der Drogensucht heraus noch finden müssen. Ermutigend sind sowohl diese Beispiele als auch die Berichte der auf Drogensucht spezialisierten Yogalehrer.