Auf dem Videocover von »Desert Grace Suite« formuliert Edward Clark das Credo von Tripsichore wie folgt: »Viele alte Yogatexte räumen ein, dass sie etwas zu beschreiben versuchen, was seinem Wesen nach unbeschreiblich ist. Dennoch haben ihre Beschreibungen die Suchenden über Jahrtausende inspiriert. Wir bemühen uns um ein ähnlich unmögliches Kunststück – etwas nicht Darstellbares darzustellen. Unsere Hoffnung ist, dass wir etwas von dem (leider noch zu geringen) Wissen, das wir uns angeeignet haben, mitteilen können und dass die Leute sich davon für ihre eigene Suche inspirieren lassen.«

Wie sehr Yoga und Tanz wesensverwandt sind und wie viele Berührungspunkte es offensichtlich zwischen beiden gibt, hat bereits das Beispiel von Chandralekha deutlich gemacht. Das Tripsichore Yoga Theatre ist ein weiterer, aus meiner Sicht höchst eigenwilliger Beleg dafür – eher akrobatisch als künstlerisch ausgereift, eher fortgeschrittene Āsana-Praxis als Tanzdramaturgie.

Vielfältige Verbindungen und Assoziationen – Akram Khan,Virpi Pahkinen und andere

Trotz der Unterschiede, was Ausrichtung und Ziel angeht, sind Yoga und Tanz vielfältig kombinierbar: meditativer Tanz oder Tanzen als Meditation (zum Beispiel Oshos Dynamische oder Natarāja-Meditation); Tanz, der als reine Yoga-Āsana-Choreografie bezeichnet werden kann (zum Beispiel Tripsichore Yoga Theatre London); Tanz mit Āsana-Elementen oder Assoziationen zur Yogapraxis (zum Beispiel Chandralekha, Akram Khan, Virpi Pahkinen, Saburo Teshigawara); Yoga-Āsana-Praxis mit tänzerischen Elementen (zum Beispiel Roswitha Maria Gerwin, Kali Ray) und – last but not least – Yoga und Tanz innerhalb einer Unterrichtseinheit als warming up oder zum Stundenausklang (zum Beispiel Karin Fuchs, Uma Krishnamurti).

Aktuelle Choreografen und Tänzer, die in Indien leben oder aus dem indischen Kulturkreis stammen und Yogaelemente in ihren Arbeiten erkennen lassen, sind die akrobatisch orientierte Daksha Sheth Dance Company, der die Zeitschrift India Today in der Aprilausgabe des Jahres 2001 einen mehrseitigen Beitrag widmete, sowie der 1974 in London geborene Tänzer und Choreograf Akram Khan, der vom klassischen Kathak-Tanz58 herkommt.

Auf dem Internationalen Tanzfest in Berlin 2000 erregte Akram Khan durch seine Verbindung von Kathak und zeitgenössischem Tanz Aufmerksamkeit, und sein zwölfminütiges Solo »Loose in flight« lobte Die Welt anschließend für die »atemberaubende Intensität« und sprach von dem »Punkt, wo die Herkunft der Bewegung keine Rolle mehr spielt und nur noch die Auseinandersetzung mit Form und Struktur zählt«. Eben solche magischen Momente in den Aufführungen von Akram Khan ließen mich an die Praxis des Yoga denken; aber auch beim Resümee der FAZ59 zur Aufführung Akram Khans dachte ich an Yoga: »Erstaunlich die Ruhe, mit der immer wieder die Mitte gesucht wird, bevor der nächste Wirbel losbricht.«

Drei Jahre später präsentierte Akram Khan das Solostück »Ronin«, klassischer Kathak-Tanz mit gleichzeitiger Rezitation aus der Bhagavad Gītā durch einen Sänger. Im Mittelpunkt dieser Tanzchoreografie steht Arjuna, der auf dem Schlachtfeld von Gott Krishna überzeugt wird, seiner Pflicht als Krieger nachzukommen und im Zuge dieser Pflichterfüllung auch seine eigenen Verwandten zu töten.

Anlässlich der Berliner Aufführung am 25. April 2003 hatte ich die Gelegenheit, Akram Khan vor seinem Auftritt zu interviewen. Auf sein aktuelles Stück bezogen sagte er, dass er in erster Linie ein Geschichtenerzähler sei und dass ihn als Muslim der Hinduismus fasziniere. Die Bhagavad Gītā sei für ihn allerdings kein heiliges, sondern ein historisches Werk, mit dessen kriegerischer Ethik er nicht übereinstimme; seine Aufgabe als Tänzer sei es, die darin enthaltene Geschichte auszudrücken.

Am Ende des Gesprächs bestätigte er meine Vermutung, dass sowohl seine klassischen Tanzstücke als auch modernen Choreogafien jeweils mit Yoga zu tun haben, denn er praktiziert regelmäßig Yoga, angeregt durch befreundete Tänzer, die aus Ashtānga-Yoga und Elementen des Tanztrainings eine eigene Übungspraxis entwickelt haben. Darüber hinaus ist stille Meditation für ihn wichtig. Die Yogapraxis erlaubt es ihm, seinen Körper auch in der Tiefe auszuloten und zu fokussieren.

Nach »Ronin« entstanden die Stücke »Ma« (in Anlehnung an eine Episode aus dem Mahābhārata) »Zero Degree« (2005) und »Sacred Monsters« (2006), allesamt zeitgenössische Stücke. Die letztgenannte Choreografie ist eine Zusammenarbeit mit der herausragenden Ballett-Tänzerin Sylvie Guillem. Gemeinsam ist beiden der Respekt vor der Tradition, mit der sie verbunden sind (Kathak und Ballett), sowie vor der Moderne, die sie mitgestalten. Die Auseinandersetzung mit den beiden Zeitepochen und die darin zum Ausdruck gebrachte Körpersprache prägen das Stück.60

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Akram Khan

Nicht unmittelbar, aber dennoch deutlich erkennbar ist die Verbindung oder zumindest die Assoziation zum Yoga – genauer: zu einer ganzen Reihe von Āsanas – in Aufführungen solcher Tanz-Ensembles wie des Cloud Gate Dance Theatre und des Tai-Gu Tales Dance Theatre aus Taiwan oder des japanischen Solotänzers Saburo Teshigawara. Der 1953 in Tokyo geborene Tänzer, Choreograf und Bühnenbildner Saburo Teshigawara setzte sich »die Kreation eines Tanzes der Luft« zum konzeptionellen Ziel und entwarf suggestive Tanzstücke, die Slow-Motion und High-Speed, Kampfkunst und Entspannungstechniken miteinander dergestalt kombinieren, dass immer wieder ein Moment entsteht, »in dem sich die physische Materialität in der Bewegung zu verflüchtigen beginnt«, wie Michaela Schlagenwerth treffend schrieb.61

Die aufwendigen Inszenierungen aus Taiwan haben dagegen eher meditativen Charakter und bestehen aus konkreten Bildern und Stimmungen, so zum Beispiel das Stück »Songs of the Wanderer« des Cloud Gate Dance Theatre mit Bergen von »goldenem« Reis, der in den Tanz mit einbezogen wird, oder einem Mönch, der anderthalb Stunden in Meditationspose auf der Bühne steht und auf den unentwegt Reis herabrieselt. Nach der Vorstellung im ausverkauften Berliner Haus der Kulturen der Welt blieb das Publikum – rund 2000 Menschen – minutenlang gebannt und still sitzen, ehe allmählich großer Beifall einsetzte. Bei Aufführungen in anderen Orten Europas, so war zu lesen, kam es zu ähnlich außergewöhnlichen Reaktionen.

Über den Auftritt der finnischen Solotänzerin Virpi Pahkinen im Rahmen des internationalen Tanzfestivals »Tanz im August« in Berlin schrieb der Kritiker des Tagesspiegel: »Verkauert hockt sie zu Beginn am Boden und beginnt ihren Körper zu entfalten. Sie verbiegt ihn zu yogaartigen bizarren Positionen, mischt Gesten hinein, die an traditionelle Tempeltänze erinnern. So präzise sie auch sein mag, mehr und mehr verflüchtigt sich ihre Choreographie in einen seltsamen Mystizismus.«62

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Virpi Pahkinen

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Was da zum Ausdruck kam, waren nicht nur die Vorbehalte und Abgrenzungen des Kritikers, da war auch die Ahnung, dass im Tanz von Virpi Pahkinen mehr steckte als in anderen Solodarbietungen und dass die Art, wie sie sich bewegte und mit welcher Energie sie sich ausdrückte, auf Yoga verwies.

Später, als ich herausgefunden hatte, wie und wo ich Virpi Pahkinen erreichen konnte, schrieb ich an das Management im Dansens Hus in Stockholm. Da die Managerin gerade verreist war, antwortete mir Virpi Pahkinen persönlich. Auf meine Frage zum Yogabezug schrieb sie: »Ende 1997 begann ich, Hatha-Yoga zu praktizieren, die ersten beiden Jahre ziemlich unregelmäßig, später habe ich hier in Stockholm Ashtanga-Vinyasa praktiziert (bei Maria Boox und Lotta Bertilsson an der Södermalm Yogashala) und an Workshops mit Pattabhi Jois teilgenommen, in Lille 2000 und in Helsinki 2001. Momentan mache ich viel Ashtānga-Vinyasa. Als ich jünger war, hatte ich dafür nicht die Geduld und Ausdauer und wollte mit dem Tanzunterricht anfangen …«

Inzwischen sind ihre Erfahrungen mit Yoga in ihre Tanzstücke eingeflossen, sind Bestandteil ihrer Choreografien, was auch dazu führte, dass Virpi Pahkinen am 3. September 2005 auf dem vom BDY veranstalteten »Pranayama-Kongress« in Bensberg bei Köln auftrat. Zum Teil deuten bereits die Titel ihrer Choreografien auf den transzendenten Bezug hin: »Bardo 010«, »Prayer for the one whose trembling hands are still«.63

Bei der »Ladies Night« im Podewil, Zentrum für aktuelle Kunst in Berlin, bewegte sich Virpi Pahkinen mitunter amöben- und insektenhaft oder wie eine Außerirdische. Sie wirkte oft wie ein Wesen, das nicht von dieser Welt ist. Dass dies einen Kritiker (wie auch jeden anderen Zuschauer) mehr irritieren kann als eine nackte Frau, die sich zwanzig Minuten lang zu einem Textfragment von E. E. Cummings über Josephine Baker überhaupt nicht bewegt und dies dennoch Tanz nennt (Vera Mantero, die mit ihrem Stück die Ladies Night eröffnete), überrascht nicht.

Es entspricht den Sehgewohnheiten und Wertmaßstäben unserer Zeit und Gesellschaft, dass eine bemalte Nackte mit Glitzer-Make-up den meisten Mitmenschen näher ist als eine Tänzerin, deren Bewegungen traditionelle Tempeltänze und »seltsamen Mystizismus« assoziieren.

Die Auftritte der in den USA ansässigen Tanzgruppe The Yoga Garden Dancers würden den Kritiker des Tagesspiegel wohl ebenfalls ziemlich irritieren oder befremden. Diese 1992 von Gay White gegründete Gruppe besteht aus zehn Tänzern und Tänzerinnen und drei bis fünf Musikern; sie leben in Berkeley. Ihre Aufführungen beschreiben sie selbst als »energetisch, humorvoll und akrobatisch«, und ihr Credo lautet: »Unsere Berufung besteht darin, als Tanzgruppe solche Choreographien zu entwickeln und aufzuführen, die auf der uralten Praxis des Yoga basieren und Haltungen des Hatha-Yoga als Vokabular nutzen, um unsere Art Spiritualität auszudrücken. (…) Es geht um Haltungen, die handwerklich beachtlich sind, künstlerische Integrität haben und sich an ein breites Publikum wenden, während sie dem Wesen des Yoga, was Union bzw. Vereinigung bedeutet, treu bleiben.«

Gay White studierte Ende der siebziger Jahre am Naropa Institute in Boulder Choreografie, zehn Jahre später begann sie Yoga zu unterrichten und eine Verbindung zwischen beiden herzustellen, was sie »Yoga Movement« nennt. Aufgrund einer Tanzverletzung begann sie mit Hatha-Yoga als Weg der Heilung – ein geradezu klassischer Einstieg. Das B. K. S. Iyengar-Zitat auf ihrer Homepage64 und der Hinweis, dass sie kürzlich nach Indien reiste, um bei Geeta Iyengar ihr Verständnis von Yoga zu vertiefen, zeigt, welchen Stil sie bevorzugt.

Auch die Fotos der Yoga Garden Dancers weisen auf das klassische Repertoire des Iyengar-Yoga: die Bogenhaltung (ūrdhva-dhanurāsana), der Handstand (shayanāsana), der Kopfstand (shirshāsana) mit Variationen und die Hand-zum-Zeh-Standhaltung (utthita-hasta-pādangushtāsana). Das Attribut »akrobatisch« in der Selbstbeschreibung der Company trifft da durchaus zu und ist auf einer Bühne sicher von hohem ästhetischem Wert.

Was all diese Aufführungen meines Erachtens eint, ist das hohe Maß an Selbst- und Körperbeherrschung, die Qualität von sthirasukha in fast allen Ausführungen und die Rücknahme des Ego als Basis der Inszenierungen.

Shiva Rea und der Yoga Trance Dance

Keine Künstlerin im eigentlichen Sinne, wohl aber eine Lebenskünstlerin, die Yoga und Tanz zu etwas Eigenem und Eigenwilligem verbindet, ist Shiva Rea. Dank des Internets und einer ebenso informativen wie auch inspirierenden Homepage (www.shivarea.com) erfuhr ich schnell mehr über die in Malibu, Kalifornien, lebende Yoginī und Yogalehrerin, die auch regelmäßig für das Yoga Journal schreibt und mehrere CDs produziert hat. Ihren Namen erhielt sie von ihrem Vater, angeregt von einem kraftvollen Bild eines Natarāja. Dieser (große) Name war es auch, der sie im Alter von vierzehn Jahren dazu brachte, sich mit Yoga zu beschäftigen. Sie sah darin eine Möglichkeit zu verstehen, was es mit ihrem Namen auf sich hat.

Das Eigene, Besondere, das Shiva Rea seit 1994 entwickelt hat, ist Yoga Trance Dance. Eine kurze Definition umreißt dies als »eine hochenergetische Bewegungsmeditation zur Befreiung deiner schöpferischen Lebenskraft«.65 Shiva Rea beschreibt Yoga Trance Dance als eine Begegnung zweier großer Flüsse, die beide von einer Quelle kommen und dort verbunden sind. Diese unendliche schöpferische Quelle ist das Eine, das uns alle verbindet, die beiden Flüsse sind – Yoga und Tanz. Diese sind Wege, um uns zurück in unseren Körper zu rufen, um unser Dasein mit Lebensenergie zu durchspülen: Lebensenergie, die wir im Yoga als »Prāna« bezeichnen. »Beim Flow66 Yoga lassen wir die Intelligenz unseres Atems die Bewegungen leiten, so wie ein Seemann mit dem Wind segelt. Trance Dance hat eine ähnliche Ausrichtung.Viel mehr als bei einer betont nach außen gerichteten Vorstellung ist es Ziel des Trance Dance, dass sich die Lebensenergie durch uns hindurchbewegt, geführt vom Geist (spirit) oder auch spiritus, der lateinischen Wurzel für Inspiration, jenem Bereich, in dem sich Lebensatem und belebende Schöpfung treffen.« So weit Shiva Rea.67

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Shiva Rea

Der tanzende Mahāyogi: Yogeshvara Shiva Natarāja

Der bereits zu Beginn des Kapitels im Kontext von Yoga und Tanz erwähnte Bezug auf Shiva als Natarāja, »König des Tanzes«, findet sich – natürlich!, möchte man bei diesem Namen fast sagen – auch bei Shiva Rea. Sie schreibt: »Das ganze Zusammentreffen von Yoga und Tanz hat tiefe Wurzeln innerhalb des Yoga selbst wie auch quer durch alle Kulturen. Innerhalb des Yoga sind alle unterschiedlichen Energien des Einen, der Götter und Göttinnen als tanzend dargestellt, und das Universum wird als der kosmische Tanz des Shiva Nataraja betrachtet.«68

Shiva als Natarāja steht in der Tanzkunst über all den Göttern; er ist Meister der 108 Tanzformen. Wie in den heiligen Schriften beschrieben, sind neun der Tanzarten des Natarāja wirklich berühmt.

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Shiva als Natarāja, Bronzeskulptur, Indien, 20. Jh.

Doch um das Konzept des Natarāja zu verstehen, müssen wir die Idee und das Konzept des Tanzes verstehen. Nitin Kumar69 führt dazu Folgendes aus: »Genau wie Yoga bewegt Tanz etwas, er vermag Trance, Ekstase und die Erfahrung des Göttlichen herbeizuführen. Konsequenterweise blühte der Tanz in Indien Seite an Seite mit der Nüchternheit und der Enthaltsamkeit der Meditationsrefugien (wozu Fasten und komplett introvertiertes Verhalten gehörten). Von daher ist Shiva, der Erzyogi der Götter, nowendigerweise auch der Meister des Tanzes.«

Die ersten Darstellungen des Shiva als Natarāja sind Bronzeskulpturen aus Südindien, die auf das 10. bis 12. Jahrhundert datiert werden. In diesen Skulpturen stützt sich sein rechter Fuß auf eine sich bückende Figur, während sein linker Fuß angehoben ist. Eine Kobra gleitet von seinem rechten Unterarm, und auf seinem Scheitel befinden sich ein Halbmond und ein Schädel. Er tanzt innerhalb eines Bogens aus Flammen; es ist ein Tanz, der Ānanda Tāndava genannt wird – Tanz der Glückseligkeit.

Das Natarāja-Bildnis zeigt Shiva mit vier Händen und zwei Beinen in Tanzposition stehend. Er hält eine Trommel (damaru) in der oberen rechten Hand und Feuer in seiner linken. Die untere rechte Hand befindet sich in der Stellung des Abhaya-Mudrā (schutzgebende Geste und Zeichen von Furchtlosigkeit). Die linke Hand weist auf den erhobenen linken Fuß. Sein linker Fuß steht auf dem Dämon Apasmāra. In der Regel wird diese bildliche Darstellung von einem Feuerkreis umgeben. Shiva tanzt jeden Abend, um die Leiden der Lebewesen zu lindern und um die Götter zu unterhalten, die sich am Kailash-Berg einfinden.

Shivas Tanz symbolisiert einen unaufhörlichen Prozess von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung. Die Trommel repräsentiert den Schöpfungston, und das Feuer (pralayagni) versinnbildlicht die Flammen, die am Ende eines Weltenzyklus (kalpa) die manifeste Welt zerstören, und so ist ein weiterer Name für Shiva Pralayakāra, das heißt: Auflösung verursachend.

Natarājas dritte und vierte Hand, die Segen, Wohltaten und Schutz gewähren, wenden sich an die Anhänger und ermuntern sie, Schutz zu den Füßen des Herrn zu suchen. Wer sich vollständig überantwortet, hat nichts zu befürchten. Der Dämon, auf dem Shiva steht, symbolisiert die Unwissenheit, die uns unser Gleichgewicht und unsere Bewusstheit verlieren lässt. Shivas Tanz führt uns zu einem Himmel der Seligkeit, in dem sich das Ego auflöst und wir Frieden finden. In seinem Tandava-Tanz70 zerstört Shiva den Dämon der Unwissenheit zum Wohl der Anhänger, die sich ihm ganz hingeben. In jedem Herzen tanzt er. Shivas Tanz repräsentiert den Herzschlag. Er wird auch Chidambaresha genannt, was so viel wie »Herr am Firmament des Bewusstseins« bedeutet.

In Der Weg des Yoga – Handbuch für Übende und Lehrende71 wird am Ende des Abschnitts »Gleichgewichtshaltungen am Beispiel von Shivas Tanzhaltung« (natarājāsana) der Indologe Heinrich Zimmer72 zitiert: »Wie Yoga führt der Tanz einen Trancezustand herbei: Ekstase, Erlebnis des Göttlichen, Realisierung der eigenen verborgenen Natur und endlich Verschmelzung mit dem göttlichen Sein … Tanzen ist ein schöpferischer Akt. Es schafft eine neue Situation und zitiert in den Tänzer eine neue und höhere Persönlichkeit hinein. … Auf universeller Skala ist Shiva der kosmische Tänzer. In seiner ›tanzenden Offenbarung‹ (nrityamurti) versammelt er die ewige Energie in sich und bringt sie zugleich zur Manifestation.«

Es ist nicht nur so, dass Shiva sowohl den Tanz als auch – als Yogadakshinamūrti – den Yoga repräsentiert, sondern auch die nach ihm benannteHaltung Natarājāsana ist zugleich Tanz- wie auch Yogahaltung und in beiden Fällen eine Gleichgewichtsübung.

Der Zusammenhang und die gemeinsame Basis lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Tanz und Meditation sind zwei unterschiedliche Wege zu Ekstase, geistiger Wiedergeburt und Vereinigung mit dem Absoluten.«73

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Natarāja-Skulptur am Gangaikondacholishvara-Tempel in Gangaikondacholapuram, Tamil Nadu