Der Raum war gut gefüllt, etwa dreißig Frauen und Männer, Inder und Praktizierende aus dem Westen waren anwesend. Der Unterricht begann mit dem Rezitieren einer Sanskrithymne im Lotossitz. Wohl wurden die klassischen Iyengar-Standhaltungen geübt und auch Hilfsmittel (Props) wie Decken, Bänder und Stühle benutzt, dennoch waren die Übungen fordernd und auf Dauer richtig anstrengend. Der Unterricht wich vom üblichen Iyengar-Schema ab, denn wir begannen mit Sitzhaltungen, zuletzt Sitzen zwischen den Unterschenkeln, Rückwärtsbeugen aus dieser Position unter Zuhilfenahme von Decken als Polster, dann erst kamen verschiedene Standhaltungen hinzu, insbesondere Drehungen aus der Dreieckshaltung (trikonāsana) heraus. In der zweiten Stunde übten wir Prānāyāma mit vorgegebenen Atemzügen, -pausen und -rhythmen. Nach rund zwei Stunden intensiven Unterrichts verwies Shivkumar auf eine andere Art Yoga. »Jetzt werden wir etwas Karma-Yoga zusammen machen«, sagte er und forderte alle Teilnehmer auf, sich draußen am Unkrautjäten und Säubern des Innenhofes zu beteiligen. Eine gute Gelegenheit, andere Teilnehmer kennen zu lernen und Kontakte zu knüpfen. Ein Grüppchen aus Belgien war dabei, Engländer, Japanerinnen und Deutsche; Anfänger ebenso wie Fortgeschrittene.
Ich erinnerte mich an den Aufenthalt in Rishikesh vor vier Jahren und an den Yogaunterricht im Omkarananda-Ashram, der direkt am Ganges liegt und von westlichen Praktizierenden bevorzugt wird. Lehrerin und Leiterin war Usha, eine Schweizerin, deren blinder Mann spiritueller Kopf dieser Einrichtung war und deren langhaariger Sohn Siddharta hieß.
Der Unterricht in dem relativ kleinen Raum war anstrengend, die Art des Unterrichtens angestrengt. Zittern und Erschöpfung ringsum. Nachgeben in der Haltung wurde nicht geduldet, Alternativen wurden nicht angeboten. Der Umgangston entsprach dem auf einem Kasernenhof. Jemand wurde beim Kaugummikauen erwischt und auf das Schärfste gemaßregelt: »Noch ein Verstoß, und du verlässt den Raum!« Nach einer Reihe von Standhaltungen wurden die Standhaltungen wiederholt, und anschließend ging es weiter mit Standhaltungen, bei denen Hilfsmittel wie Stuhl, Gurt und Block genutzt wurden. Yoga grausam. Meine Vorstellung von Yoga war eine andere. Aber ich übte Disziplin und nahm mir fest vor, mindestens eine Woche durchzuhalten. Am Abend kamen mir dann doch Zweifel, was mir diese Yogapraxis außer Muskelkater bringen sollte, auch verstand ich nicht, was das mit Sthirasukhamāsanam zu tun haben sollte. Weder in den Haltungen noch im Unterrichtskonzept sah ich Festigkeit, Stabilität und Angenehmes. Im Verlauf des Abends rebellierten dann auch noch Magen und Darm. Damit hatte sich der weitere Besuch erübrigt.
Wieder in der Gegenwart: Mehrfach schon waren wir am »First Aid Center« vorbeigegangen. Heute wollte ich wissen, was für Leute das waren, die da am Straßenrand unter einer alten, am Rand zerfetzten Plane »Erste Hilfe« mit Yoga anboten. Das Team bestand aus drei Personen: Im Mittelpunkt stand Baba, ein Yogalehrer aus Delhi, der kein Wort Englisch verstand und deshalb von Mohan aus dem Punjab übersetzt wurde. Mohan erinnerte mich an den Jamaikaner Bob Marley. Über den beiden wachte der Vater von Baba, ein zahnloser Greis. Zunächst wurde uns Milchtee serviert. Im Verlauf der Unterhaltung mit Mohan erzählte Thomas, mein mitreisender Schulfreund, von seinem Rückenleiden im Lendenwirbelbereich, was den Baba aus Delhi herausforderte. Er zeigte Thomas wortlos einige Āsanas, die dieser täglich ausführen sollte, damit sein Rücken wieder in Ordnung kam. In der Rückenlage die angewinkelten Beine abwechselnd zum Oberkörper ziehen und auch den Drehsitz hielt er für eine geeignete therapeutische Übung, ohne jedoch auf die dringend erforderliche Vorbereitung durch Aufwärmung, vorherige Aufrichtung der Wirbelsäule und behutsames Vorgehen hinzuweisen.
Nach der gut gemeinten therapeutischen Beratung am Straßenrand besuchten wir den Ayurveda-Arzt Dr. Bheemsain Purohit gegenüber dem Madras Café. Er untersuchte zunächst Thomas per Puls-, Augen- und Zungendiagnose, stellte ihm einige Fragen und kam zu dem Ergebnis, dass alles in Ordnung sei, was nicht zutraf, da Thomas neben dem Rückenproblem seit Jahren an Bluthochdruck litt.
Bei mir nahm er sich etwas mehr Zeit und stellte fest, dass ich ein Problem mit den Nieren und eine ganz ähnliche Konstitution wie der deutsche Yogabuchautor Volker Christmann habe, mit einer starken Kapha-Ausprägung, die durch Schwere und Festigkeit gekennzeichnet sei. Die erste Feststellung war eine Untertreibung, da meine rechte Niere aufgrund einer angeborenen Harnleiterabgangsenge ihre Funktion fast vollständig eingestellt hatte. Dr. Purohit mixte sogleich eine Paste zurecht. Für diese Paste und fünfzig Nahrungsergänzungspillen zur Stärkung zahlte ich – eher unfreiwillig – 1800 Rupien (etwa dreißig Euro).
Den Abend verbrachten wir am Ghat76 vor dem Geeta-Ashram. Die zweistündige Gangā-Pūjā bestand aus Livemusik, gemeinsamen Gesängen und einer Feuerzeremonie (homa), bei der Swami Chidanand, Leiter des Parmath Niketan Ashrams, einen großen Messingleuchter schwenkte. Die Stufen zum Ganges hinunter waren mit Einheimischen und zahlreichen Touristen besetzt. Ich nahm einzelne Musiker und das Schwenken des Feuers mit meiner Kamera auf.
Da ich ohne Blitzlicht fotografierte, fragte mich eine junge, langhaarige Frau, welche Art Film ich benutzen würde. Offenbar war sie von den Feuerritualen ebenso fasziniert wie ich und hoffte, etwas von dieser Stimmung einfangen zu können. Sie kam aus New York, stammte eigentlich aus Israel (einem Dorf östlich von Akko), bezeichnete sich als »Ethno Dancer« und hatte in Bombay einen Yogakurs besucht. Eine betagte Engländerin aus Yorkshire setzte sich dazu, schimpfte mit lauter, knarziger Stimme über die Unsitten der Inder, insbesondere auf das ihrer Meinung nach scheußliche matschige indische Essen, das sich durch seine Konsistenz auf das Wesen der Inder auswirken würde. Die Yoga praktizierende Tänzerin aus New York verabschiedete sich, und auch wir traten den Rückweg an über die schmale, für Fahrzeuge gesperrte Brücke Ram Jhula, vorbei an den Ständen und Miniboutiquen mit »Holy Sticks«, Japa-Mālās77 und safrangelben OM-Tüchern, ein kurzes Stück die dunkle Straße südwärts, zurück zum Omkaranada-Guesthouse, unserem Domizil. Von den Stufen, die in den Ganges führen, warfen wir noch einen Blick hinüber zum anderen Ufer und hinauf zu den Sternen – funkelnden Lichtpunkten in der Finsternis.
Rudra Dev, Gründer und Leiter des
Yoga Study Centre Rishikesh
Rishikesh, Sonntag, 11. April. Rudra Dev, der Leiter des Yoga Study Centre, war zurückgekehrt. Bevor ich seine Art zu unterrichten kennen lernte, traf ich ihn an einem sonnigen Nachmittag zu einem Gespräch. Lediglich bei Fragen zu seiner Person war er zurückhaltend. Zweimal versuchte ich, etwas über seine Herkunft zu erfahren. Beide Male erhielt ich die gleiche Antwort: »Body from South, mind from North, the Soul is everywhere« (»Körper aus dem Süden, Geist aus dem Norden, die Seele ist überall«). Auf die anderen Fragen ging er bereitwillig und ausführlich ein. Hier das Gespräch:
Mathias Tietke: Was bedeutet Yoga für dich?
Rudra Dev: Yoga ist eine innewohnende Essenz. Du kannst ihn nicht als Teil von etwas nehmen, Yoga ist allumfassend, er ist einmalig, einzigartig. Für wichtig halte ich Disziplin und Selbstreinigung. Letzteres ist ein fortwährender Prozess – ein Prozess der allumfassenden Reinigung. Als zweite Aufgabe des Yoga sehe ich Kontinuität und Charakterbildung. Vermeide Extreme. Sei einfach normal und nicht so emotional. Manche Touristen kommen und wollen von allem etwas: ein bisschen Musik, ein bisschen Yoga, etwas Trekking – und das alles in kürzester Zeit. Sie kommen aus dem Westen hierher, sind ziemlich konfus, und sie kehren völlig konfus zurück. Umgekehrt, wenn Menschen aus dem Osten den Westen besuchen, geschieht das Gleiche.
Wenn jemand herkommt und sagt: »Ich gebe dir ein paar Dollar, gib mir Trance!«, dann geht so etwas einfach nicht. Das wäre unseriös, und es würde dem Yoga nicht gerecht werden. Der Weg des Yoga ist sehr langsam, das ist kein Purzelbaumschlagen. Im Yoga heißt es: Schau auf die Grundlage anstatt zum Gipfel.
MT: Würdest du Yoga eher als eine Art Religion oder eher als Wissenschaft bezeichnen?
Rudra Dev: Yoga umfasst alles. Er ist eine wunderschöne Kunst, eine Lebenskunst. Er ist eine uns innewohnende Wissenschaft. Es ist eine Methode, um herauszufinden, was wirkliche Wissenschaft ist. Yoga ist eine wunderschöne Philosophie. Es gibt so viel interessante Dinge, und sie repräsentieren jeweils einen Teil von etwas. Yoga aber ist eine umfassende Angelegenheit; vergleichbar mit der Gewaltlosigkeit, wie sie von Gandhi, dem Vater der Nation, geprägt wurde. Ahimsā – ein innerer Wert, der alles umfasst.
Yoga ist gut dazu geeignet, ihn an andere weiterzugeben. Er hat klare Strukturen und Prinzipien. Bevor wir etwas an unserem Zustand ändern, müssen wir die unterschiedlichen Ebenen unserer Natur kennen lernen. Und dann können wir sie korrigieren und somit verbessern. Korrigieren, korrigieren und nochmals korrigieren. Doch als Erstes sollten wir über unseren Zustand nachdenken: Was sind meine individuellen Eigenschaften, was hat mich geprägt? Diese Eigenschaften zu prüfen, das ist das Wichtigste. Dann kennst du das Niveau deiner Eigenschaften, kennst dein Naturell. Erst von da an kannst du wissen, wie du die Spitze erreichst.
Im Grunde sollte sich doch jeder um Besserung bemühen. Wer möchte sich schon verschlechtern? Niemand. Also wenn Yoga eine Religion ist, dann eine inwendige Religion. Ganz individuell.
MT: Wie sieht deine eigene tägliche Praxis aus?
Rudra Dev: Ich habe 26, 27 Jahre Erfahrung mit Yoga. 1980 kam ich in den Sivananda Ashram, 1981 traf ich Iyengar. Er hat mich unterrichtet und geprägt. Das Yoga Study Centre gibt es seit zehn Jahren.
Yoga ist mein Leben. Yoga und Physiologie. Ich bin Yogalehrer, aber kein Schullehrer, kein Pädagoge. Höchstens ein Aspirant. Meine Yogapraxis dauert täglich zwischen acht und zehn Stunden. Zwei bis drei Stunden brauche ich für Meditation und Prānāyāma. Die übrige Zeit nutze ich, um ein Bad zu nehmen, ein wenig zu essen, am liebsten frische Früchte, aber wirklich wenig, denn ich neige zu körperlicher Fülle, bin von kräftiger Statur. Am wichtigsten ist es, reichlich Wasser zu trinken – nichts als Wasser, pures Wasser – und auf ausreichende Zufuhr von Mineralien und Vitaminen zu achten.
MT: Was denkst du über Karma? Ist Karma dasselbe wie Schicksal?
Rudra Dev: Zwei Dinge gibt es dazu zu sagen. Ich unterscheide sehr wohl zwischen Schicksal und Karma. Du musst wissen, dass du auf eigene Verantwortung lebst. Das Schicksal ist in deiner Hand. Du musst auf deinen eigenen Beinen stehen. Nimm das Schicksal in die Hand.
Vor einem Monat hat es hier in der Nähe im Wald gebrannt. Viele Leute haben es gesehen, aber niemand hat etwas unternommen. Als man sie gefragt hat, warum nicht, sagten sie: Das Löschen ist Sache der Regierung. Die Politiker sind dafür verantwortlich. Diese Einstellung ist weit verbreitet. Aber – du selbst hast die Dinge in der Hand! Jeder ist verantwortlich. Auch hierfür gilt: Wenn du wissen willst, wie Honig schmeckt, musst du ihn kosten. Es genügt nicht, dass dir jemand sagt, dass er süß ist. Auch Zucker ist süß. Aber es ist nicht dasselbe. Wenn du etwas über den Geschmack von Honig wissen möchtest, musst du ihn kosten. Du musst selbst die Initiative ergreifen.
So energisch und selbstsicher, wie Rudra Dev antwortete und argumentierte, so profund und energisch war auch sein Unterricht – auf langjährige Erfahrung gestützt. Der Anfängerunterricht begann früh um halb sieben; daran schloss nahtlos die »Special Class« an, die bis zehn Uhr dauerte. Dreieinhalb Stunden Unterricht unter dem strengen, aufmerksamen Blick des immer wieder eingreifenden und Haltungen vorführenden Rudra Dev.
Insgesamt wurden an diesem Vormittag drei Haltungen geübt. Wieder und wieder wurde erklärt, korrigiert, demonstriert. Variationen zum »Nach unten schauenden Hund« (adho mukha shvānāsana), dynamisches Variieren der Hand- und Fußhaltungen, der Schulterstand (eka-pāda-sarvangāsana) mit den Hilfsmitteln Gurt und gefaltete Decken, zu guter Letzt eine Mischung aus Kopf- und Schulterstand auf Stühlen und zwischen Bänken mit Hilfsstellung durch den Lehrer oder andere Teilnehmer und jeder Menge Spaß.
Anders als bei meinen bisherigen Erfahrungen mit Iyengar-Yoga ging es mir nach dem Unterricht im Yoga Study Centre Rishikesh richtig gut. Körper- und Selbstbewusstsein waren aktiviert, die intensive Arbeit am Detail hatte mich überzeugt. Ich lief am Ufer des Ganges entlang zurück zum Triveni Ghat, beobachtete im Schatten eines mächtigen Banyan-Baumes das Treiben. Neben mir wurden Tausende gelber Blüten zu Blumenkränzen geknüpft, fliegende Händler boten lauthals ihre Devotionalien an, gläubige Hindus gaben kleine Blumengestecke mit Räucherstäbchen in den heiligen Fluss.