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VISHNU-DEVANANDA

(1927–1993)

Geboren wurde der Begründer der Internationalen Zentren für Sivananda Yoga Vedanta 1927 in Kerala, Südindien. Was ihn als Kind charakterisierte, waren starker Wille und Entschlossenheit. Seine Mutter, die später von Swami Sivananda das Gelübde der Entsagung (samnyāsa) annahm, berichtete, dass nichts und niemand ihren Sohn aufhalten konnte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Eine Anekdote berichtet davon, wie er als Fünfjähriger den Wunsch äußerte, zur Schule zu gehen und zu lernen. Als man ihm sagte, dass dies nicht möglich sei, weil die nächstgelegene Schule mehr als fünf Meilen entfernt sei, packte er selbstständig seine Sachen, begab sich früh am Morgen auf den langen Fußweg durch den Dschungel und lief am Abend wieder zurück. Dies setzte er für viele Jahre fort.98

Da die finanziellen Mittel für ein Universitätsstudium nicht reichten, ging er zur Armee, um über diesen Umweg eine wissenschaftliche Ausbildung zu erhalten. Als er während dieser Zeit in einem Papierkorb nach einem verlorenen Papier suchte, fiel sein Blick auf eine Schrift von Swami Sivananda mit dem Titel »Twenty Spiritual Instructions« (»Zwanzig spirituelle Unterweisungen«). Das Flugblatt begann mit den folgenden Worten: »Ein Gramm Praxis ist besser als Tonnen von Theorie.« Diese einfachen Worte brachten Vishnu-devananda dazu, während eines 36-stündigen Urlaubs von Süd- nach Nordindien zu reisen, um Swami Sivananda im entfernten Rishikesh zu treffen.

Swami Sivananda hinterließ bei dieser Stippvisite einen derart starken Eindruck im Bewusstsein des jungen Mannes, dass dieser den Entschluss fasste, so bald wie möglich wiederzukommen.

Bei seinem zweiten Besuch erhielt der junge Vishnu-devananda gleich zwei Lektionen. Die erste Lektion resultierte daraus, dass Vishnu-devananda zu eingebildet war, um sich vor dem Guru Swami Sivananda zu verneigen. Daraufhin warf sich Swami Sivananda vor dem jungen Schüler nieder und lehrte ihn so durch sein eigenes Bespiel Demut. Die zweite Lektion kam während der Āratī-Verehrungszeremonie für den Ganges (Gangā-Āratī). Vishnu-devananda fragte sich, wie intelligente Menschen darauf kommen können, mit Ritualen einen Fluss als Göttin zu verehren, und zweifelte an den Gebeten. Sivananda lächelte nur mild und erwiderte Vishnu-devanandas fragenden Blick mit Schweigen. Daraufhin erkannte Vishnu-devananda plötzlich die Kraft und Energie des Flusses. Swami Sivananda lud den jungen Mann ein, im Ashram zu bleiben, um zu lernen und ein Yogi zu werden. Vishnu-devananda willigte sofort ein.

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Swami Sivananda beaufsichtigt eine von Vishnu-devananda geleitete Hatha-Yoga-Klasse.

Vishnu-devananda blieb zehn Jahre lang im Sivananda-Ashram und wurde von Swami Sivananda in allen Aspekten des Yoga ausgebildet. Er wurde schnell zu einem außergewöhnlichen Experten für Āsanas und Prānāyāma, er beschritt diszipliniert den Pfad des Hatha-Yoga und war zudem ein begeisterter und unermüdlicher Karma-Yogin. Eines Tages erhielt Vishnu-devananda von Swami Sivananda einen Zehn-Rupien-Schein (was momentan einem Gegenwert von etwa 25 Cent entspricht) und seinen Segen, um in den Westen zu reisen und die Lehren des Vedānta (s. Kap. 8) zu verbreiten: »Die Menschen dort warten.« Es gelang ihm tatsächlich, Yoga im Westen zu unterrichten.

Der starke Wille und die ausgeprägte Lebensenergie von Vishnu-devananda führten schließlich dazu, dass er mehrere Internationale Sivananda-Yoga-Vedanta-Zentren gründete und leitete. Inzwischen existieren weltweit mehr als zwanzig Sivananda-Yoga-Vedanta-Zentren und sieben Ashrams, zudem gibt es eine Reihe in der Ausrichtung ähnlicher Zentren und in dieser Tradition unterrichtender Yogalehrer. Vishnu-devananda entwarf eine genormte dreiwöchige Yogalehrerausbildung, nach der bis heute mehr als 10 000 Yogalehrer ausgebildet wurden. Eine seiner Ideen war es, die Lehren des Yoga in fünf Prinzipien zusammenzufassen, die einfach zu verstehen sind und sich leicht in den Alltag integrieren lassen. Die fünf Prinzipien sind: 1. richtige Körperhaltungen (āsana), 2. richtige Atmung (prānāyāma), 3. richtige Entspannung, 4. richtige Ernährung sowie 5. richtiges (positives) Denken und Meditation (dhyāna).

Swami Vishnu-devananda war während seines ganzen Lebens über den Zustand der Welt besorgt, insbesondere wegen der Kriege und der Kriegsgefahr. Dies führte dazu, dass er in einem kleinen Flugzeug, das er selbst steuerte, über verschiedene Krisenherde flog und dort Blumen und Flugblätter für den Frieden abwarf, während er das Mantra OM Namo Narayanaya chantete. Seine Aktionen sorgten für Diskussionen und Schlagzeilen in den Nachrichten.

Das Yogaverständnis von Swami Vishnu-devananda ist ausführlich in seinem Praxisbuch Das Große Illustrierte Yogabuch (1989)99 und in Meditation und Mantras (1986)100 dargelegt. Es wird nach wie vor von den Sivananda-Yoga-Vedanta-Zentren und vom Yoga-Vidya-Verein verbreitet, der von Sukadev Volker Bretz, einem der deutschen Schüler Vishnu-devanandas, 1995 gegründet wurde und bis heute geleitet wird.