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TIRUMALAI KRISHNAMACHARYA

(1888–1989)

T. Krishnamacharya wurde am 18. November 1888 nahe der südindischen Stadt Mysore geboren. Der Familienstammbaum lässt sich bis ins 9. Jahrhundert zu dem berühmten Heiligen und Gelehrten Sri Nathamuni, dem Verfasser der Yoga-Rahasya, zurückverfolgen. Die Yoga-Rahasya (Yoga-Geheimnisse) wurde in mehreren klassischen Schriften erwähnt, ging jedoch verloren. Bei einem Besuch des Schreins von Sri Nathamuni fiel Krishnamacharya in Ohnmacht. Während seiner Ohnmacht erschien ihm Sri Nathamuni und rezitierte die Yoga-Rahasya. So konnte T. Krishnamacharya die ersten vier Kapitel, bei denen es vor allem um Yoga als Therapieform geht, aufzeichnen.

Zunächst erhielt er Unterricht von seinem Vater, der früh verstarb. Dann war er Schüler an der Brahmatantra Parakala Mutt in Mysore und lernte gleichzeitig am dortigen Royal College. Stipendien ermöglichten es ihm, Vedānta, Sāmkhya und die Veden an verschiedenen Universitäten in Indien zu studieren. Den größten Teil seines Studiums absolvierte er in Varanasi (Benares) und in Kalkutta, den beiden Hochburgen der philosophischen Tradition Indiens. Sehr schnell erhielt er die höchsten Auszeichnungen in sämtlichen Fächern der indischen Philosophie. Er vertiefte sein Wissen über den hinduistischen Yoga im Himalaya und über den buddhistischen Yoga in Burma, das damals zu Indien gehörte. Anschließend ging er nach Kaschmir, um den Sufismus zu studieren. Eine Zeit lang war er als Philosophie-Professor an den Universitäten von Benares und Kalkutta tätig. Neben dieser Aufgabe wurde er in ganz Indien als Ehrengast an verschiedene Königshöfe und in Klöster eingeladen, um an einem seit Menschengedenken währenden indischen Brauch, nämlich den philosophischen Debatten, teilzunehmen. Aus ihnen ging er nicht nur regelmäßig als Sieger hervor, sondern er verstand es zudem, dem beiwohnenden Publikum dieser Debatten auf einfache und überzeugende Weise die praktischen Aspekte der philosophischen und religiösen Disziplinen zu erklären. Er beherrschte etwa fünfzehn indische Sprachen.

1916 reiste T. Krishnamacharya in den Himalaya, wo er am Kailash neben dem See Manasarowar seinen Lehrer, Sri Ramamohan Brahmachari, einen gelehrten Yogi, traf. Dieser beeinflusste die Richtung seines Leben durch den Auftrag, Yoga zum Wohl und zur Förderung der Gesundheit der Menschen zu unterrichten. Nach sieben Jahren kehrte Krishnamacharya nach Mysore zurück und studierte Ayurveda und Nyāya (Logik).

Als er den Gesundheitszustand des jungen Maharaja von Mysore, der an Diabetes und Zeugungsunfähigkeit litt, deutlich verbessern half, ermöglichte dieser ihm, die später so berühmt gewordene Mysore-Schule zu eröffnen. Und Krishnamacharya unterrichtete die königliche Familie. Der Yogaunterricht erlangte immer mehr Bedeutung. Krishnamacharyas Yogapraxis und sein Unterricht waren und blieben stets mit der Philosophie des Yoga verknüpft.

Von 1933 bis 1955 unterrichtete er an dieser Schule und schrieb sein erstes Buch Yoga Makarandam. Wie schon seine Vorfahren wurde er der Lehrer des Königs, außerdem ernannte man ihn zum Philosophen des königlichen Hofes. Etwa um 1935 waren Europäer seine ersten nichtindischen Schüler. Da immer mehr Europäer kamen, um unter seiner Leitung zu studieren, lernte er Englisch, um in dieser Sprache unterrichten zu können. Zu seinen renommiertesten Schülern gehörten Indra Devi, B. K. S. Iyengar und Pattabhi Jois. Sie trugen wesentliche Aspekte seines Wissen in den Westen.

1952 wurde T. Krishnamacharya nach Madras gerufen, um einen Politiker nach einem Herzanfall zu behandeln, und siedelte sich in Madras an. Sein Sohn T. K. V. Desikachar und A. G. Mohan wurden dort seine eifrigsten Schüler.

Tirumalai Krishnamacharya hatte sechs Kinder, drei Söhne und drei Töchter. Sie und auch seine 26 Jahre jüngere Frau, Shrimathi Namagiriammal, wurden von ihm unterrichtet. Obwohl sein ältester Sohn, T. K. Srinivasan, perfekt dazu ausgebildet war, Yoga zu unterrichten, zog er es vor, sich auf indische Philosophie zu spezialisieren. Zur Zeit ist er eine Autorität in Nyāya und Mīmāmsā, zwei der wichtigsten philosophischen Systeme der indischen Tradition. Die beiden anderen Söhne, T. K. V. Desikachar und T. K. Sribhashyam, haben ihre ursprünglichen Berufe aufgegeben, um sich ganz dem Unterrichten des Yoga zu widmen. Die zweite Tochter von T. Krishnamacharya, Srimathi Alamelu, ist eine der ersten Frauen, die er in den Veden unterrichtete.

Den Bruder seiner Frau, B. K. S. Iyengar, begann Krishnamacharya im Yoga zu unterrichten, als dieser noch ein Kind war. Entsprechend einer alten Tradition wohnte B. K. S. Iyengar während dieser Jahre bei seinem Lehrer. Im Alter von fünfzehn Jahren begann er, Yoga zu lehren. Und auch T. K. Sribhashyam wurde seit seiner frühesten Kindheit von seinem Vater unterrichtet. 1956 begann er, in Madras Yoga zu unterrichten, und setzte gleichzeitig sein Universitätsstudium fort. T. K. V. Desikachar ließ sich von seinem Vater erst in den sechziger Jahren unterrichten, nachdem er bereits als Ingenieur gearbeitet hatte. Im Gedenken und in Dankbarkeit seinem Vater gegenüber verfasste T. K. V. Desikachar eine einfühlsame Biografie zu Leben und Lehren seines Vaters, die 1998 unter dem Titel Health, Healing and Beyond. Yoga and the Living Tradition of Krishnamacharya und 2000 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Yoga – Gesundheit von Körper und Geist (2000)155 erschien und die er seiner Mutter widmete.

T. Krishnamacharya unterrichtete seinen Schwager und seine beiden Söhne bis zu seinem Tod.

Die angebotenen Vergünstigungen der königlichen Höfe lehnte T. Krishnamacharya stets ab. Aus seiner Situation Vorteile zu ziehen lag ihm fern.156

Krishnamacharya lebte lange Zeit ausschließlich von den bescheidenen persönlichen Einnahmen, die er als Vorarbeiter auf einer Kaffeeplantage durch den Transport von Steinen und Sandsäcken auf Baustellen und dadurch, dass er seine Kenntnisse der indischen Medizin (Ayurveda) zur Verfügung stellte, erhielt. Um seinen ethischen und philosophischen Prinzipien treu bleiben zu können, trat er große Teile seines Erbes an seine Brüder und Schwestern ab. Ebenso lehnte er die Ehrenpositionen ab, die ihm an Königshöfen oder in Klöstern angeboten wurden, um frei und wahrhaftig in seiner Lehre zu bleiben. Seine Frau, Srimathi Namagiriammal, folgte seinem Beispiel und teilte sein einfaches Leben. Sowohl für ihn als auch für ihre Kinder verkörperte sie das lebende Beispiel der Philosophie.

In seinem alltäglichen Leben praktizierte T. Krishnamacharya strikt die hinduistische Religion; zugleich respektierte er alle anderen religiösen, traditionellen und zeitgenössischen philosophischen Lehren.

Er traf spirituelle Meister anderer Konfessionen, und es kam auch vor, dass er religiöse Oberhäupter, Yogameister, namhafte Philosophen und Staatsmänner unterrichtete. T. Krishnamacharya nutzte solche Kontakte nie, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen.

B. K. S. Iyengar, T. K. V. Desikachar und T. K. Sribhashyam sind die Schüler, die dem Meister am nächsten standen. Seit mehreren Jahren werden nun sie weltweit eingeladen, um die Lehre des Yoga weiterzugeben, die sie von Sri T. Krishnamacharya erhielten.

Tirumalai Krishnamacharya, der über 101 Jahre alt wurde, war einer der bedeutendsten Yogis und Yogameister des 20. Jahrhunderts. Er trug maßgeblich zur Reform und zur Renaissance des klassischen Yoga wie des Hatha-Yoga bei. Sein Engagement galt dem Individuum, um das jeweilige Potenzial zu »unvorstellbarem Wachstum und unermesslicher Freiheit zur Entfaltung zu bringen«. Die drei Grundprämissen des Tirumalai Krishnamacharya lauten: »Jedes Individuum ist absolut einzigartig. Alle Schöpfung ist real. Alles verändert sich.«

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Einst Schüler T. Krishnamacharyas, heute selbst Yogameister – B. K. S. Iyengar (links) und Pattabhi Jois