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AUROBINDO

(1872–1950)

Sri Aurobindo wurde als Aurobindo Akroyd Ghose am 15. August 1872 in Kalkutta, Bengalen geboren. Seine Eltern waren der Arzt Dr. Krishnadhan Ghose und Swamalata, die einer hochangesehenen Familie aus Konnagar angehörte. Krishnadhan hatte in England studiert und war mit dem Titel des M. D. (»medicinae doctor«) zurückgekehrt. Sri Aurobindos Großvater mütterlicherseits war Raj Narayan Bose, ein einflussreicher Autor der bengalischen Literatur und gewissermaßen der »Großvater« des indischen Nationalismus.

Aurobindo wurde im Alter von vier Jahren auf die eine Klosterschule in Darjeeling geschickt. Im Alter von sieben Jahren sandte ihn sein Vater zur Ausbildung nach England, zuerst nach London, dann nach Cambridge auf das King’s College, wo er sich als Student für europäische klassische Literatur auszeichnete. Im Jahr 1890 bestand er die Indian Civil Service Examination mit großer Anerkennung; er fiel jedoch im Reiten – eine damals für die Einstellung im Staatsdienst unerlässliche Prüfung – durch und konnte daher nicht dem Verwaltungsdienst der indischen Regierung beitreten.

Als er im Jahr 1893 nach Indien zurückkehrte, wurde er zunächst Vizepräsident der staatlichen Hochschule in Baroda.Von 1893 bis 1906 vertiefte er sich sehr in die Quellen des Sanskrit und in die bengalische Literatur, Philosophie und politische Wissenschaft. Aurobindos Gelehrsamkeit erregte bald die Aufmerksamkeit seiner Umgebung. In diese Zeit fiel seine Heirat mit Mrinalini Devi.

Aurobindo war ein vollendeter Gelehrter des Griechischen, und er erhielt hohe Auszeichnungen in Latein. Auch lernte er Französisch und eignete sich ein wenig Deutsch und etwas Italienisch an, um Goethe und Dante in ihrer Originalsprache zu studieren. Mit der Weisheit der alten vedischen Schriften war er gut vertraut.

Dann gab er seine Stellung auf und arbeitete am Bengal National College. Er stürzte sich kopfüber in politische Aktivitäten und wurde zu einer herausragenden Figur der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung dieser Zeit.

Aurobindo gab das englische, täglich erscheinende Journal Bande Mataram heraus und schrieb zahlreiche kritische Artikel. Während der folgenden Monate gab er außerdem das wöchentlich erscheinende Dharma heraus, ebenfalls in englischer Sprache. Er verbreitete seine Botschaft: »Unser Ideal von Swarajya (staatliche Unabhängigkeit) ist absolute Autonomie, absolute Selbstherrschaft, Freiheit von fremder Kontrolle.« Er befürwortete öffentlich den Boykott von britischen Gütern, britischer Justiz und allem, was britisch war. Er wies Menschen immer wieder dazu an, passiven Widerstand gegen die Briten zu leisten, schloss aber auch den bewaffneten Kampf nicht aus.

Sri Aurobindo, der Prophet des indischen Nationalismus, war einer der Pioniere des politischen Erwachens in Indien. Er war der Führer der revolutionären Bewegung und spielte eine große Rolle im nationalen Kampf des Landes.

Ein Bombenanschlag auf eine britische Einrichtung, bei der zwei unbeteiligte Zivilisten getötet wurden, führte zur Inhaftierung Aurobindos – obwohl er mit dem Anschlag nichts zu tun hatte. Ein Jahr verbrachte er ohne offiziellen Prozess im Alipore Zentralgefängnis in Einzelhaft. In einer schmutzigen Zelle dieses Gefängnisses begann er, die Vision seines zukünftigen Lebens, seine göttliche Mission, zu entwickeln. Nach der Freilassung floh er in die südindische Hafenstadt Pondicherry, die als französische Kolonie Sicherheit vor den Repressalien der Briten bot.

Sri Aurobindo begann seine Yogapraxis im Jahr 1904. Er hatte keinen Guru oder sonst jemanden, der ihn unterwies, bis er 1908, wenn auch nur für kurze Zeit, Guru Vishnu Bhaskar Lele in Baroda traf, einen Yogi aus Maharashtra. Nach nur drei Tagen Meditation konnte Aurobindo problemlos den Anweisungen des Yogi folgen, den Geist zum Schweigen zu bringen und ihn von dem konstant vorhandenen Wust an Gedanken zu befreien.

Sri Aurobindo schrieb einmal in einem Brief über seine Yogapraxis: »Ich begann Yoga im Jahr 1904 ohne einen Guru. Im Jahr 1908 erhielt ich bedeutsame Hilfe von einen Mahratti-Yogi und habe dann die Grundlage meines Sadhana gefunden.«

Als er mit seinem Selbststudium begann, stützte er sich auf einige Grundsätze, die ihm von einem Freund, einem Schüler von Brahmananda aus dem Kloster Ganga Math, vermittelt worden waren. Zu Beginn war die Praxis auf Prānāyāma beschränkt. Aurobindos praktische und meditative Ausrichtung bezog sich stets auf die Lehren der Bhagavad Gītā und auf die Upanishaden. Dies mündete schließlich in seine Konzeption des Integralen Yoga. Was er selbst darunter verstand, hat Aurobindo in einem Brief an einen Schüler verdeutlicht: »Was ist der Integrale Yoga? Es ist ein Weg der vollkommenen Gott-Verwirklichung, einer vollkommenen Selbst-Verwirklichung, einer vollkommenen Erfüllung unseres Wesens und Bewusstseins, eine vollkommene Transformation unserer Natur – und dies beinhaltet eine absolute Vervollkommnung des Lebens hier und nicht eine Rückkehr zu einer ewigen Vervollkommnung sonst wo. Das ist das Ziel, aber auch die Methode beinhaltet die gleiche Integralität …«161

An anderer Stelle, wiederum in einem Brief, führt Aurobindo aus: »Dieser Yoga erkennt den Wert des kosmischen Daseins an und betrachtet dieses als Realität; sein Ziel ist es, in ein höheres Wahrheitsbewusstsein oder in ein Göttliches supramentales Bewusstsein einzutreten … Hierfür ist jedoch die Hingabe des vergänglichen Mentals, Lebens und Körpers an jenes höhere Bewusstsein unerlässlich, da es für das sterbliche menschliche Wesen zu schwierig ist, durch die eigene Kraft zu einem supramentalen Bewusstsein jenseits des Mentals zu gelangen, in welchem die Dynamik nicht länger vom Mental geprägt wird, sondern von einer anderen Macht herrührt.«162

Sri Aurobindo war zunächst von Kalkutta nach Chandranagar und später dann, am 4. April 1910, nach Pondicherry gereist. In Pondicherry wohnte er einige Zeit bei einem Freund, der mit vier weiteren Freunden in einer Wohngemeinschaft zusammen lebte. Nach und nach erhöhte sich die Zahl der Bewohner, und langsam bildete sich ein Ashram.

Über die Aufgaben dieses Ashrams äußerte sich Aurobindo in einem Gespräch mit D. K. Roy am 4. Februar 1943:

»… Es gibt im Wesentlichen zwei Wege. Einer ist der des Buddha, der, wie du weißt, der Ansicht war, dass, obgleich du eine gewisse Hilfe oder Anleitung von anderen erhalten kannst, gleichgültig ob sie ein Guru sind oder nicht, du deinen Weg doch allein gehen musst; das heißt, mittels deiner eigenen Bemühung den Weg durch das Unterholz schlagen musst; anders gesagt, ist dies der uralte Pfad der Tapasya (intensiver spiritueller Übungen). Der andere Weg ist, den Guru als Stellvertreter des Göttlichen anzusehen, der den Weg kennt und darum klarerweise in der Lage ist, anderen dabei zu helfen, ihn zu finden. Das ist der Weg, dem die hiesigen Aspiranten im Ashram folgen – der Weg der Guruvad.«163

Im Jahr 1920 gesellte sich Mirra Alfassa (1878–1973), eine Französin164, die zunächst in Begleitung ihres Mannes Paul Richard nach Pondicherry gekommen war, zu Sri Aurobindos Zirkel. Sie wurde zur »Mutter« und übernahm den Vorsitz über den Ashram. Jeden Morgen gab sie den Anhängerinnen und Anhängern Darshan vom Balkon, der zu ihrem Zimmer gehörte. Sie überwachte jede noch so kleinste Angelegenheit in der Organisation des Ashram.

Der Ashram begann, Arya, ein in englischer Sprache verfasstes Journal, unter dem Management der »Mutter« und Paul Richard herauszugeben. Die wichtigsten Arbeiten Aurobindos erschienen als Serie in diesem Magazin. Nach sechseinhalb Jahren wurde die Herausgabe von Arya eingestellt.

Der berühmte indische Autor und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore besuchte einmal den Ashram und sagte zu Aurobindo: »Du hast die Worte, und wir warten darauf, sie von dir entgegenzunehmen. Indien wird durch deine Stimme zur Welt sprechen.«

1926 zog sich Aurobindo von allen äußeren Kontakten zurück und pflegte den Kontakt zu seinen Schülern nur noch über Korrespondenz.

Heute gibt es zahlreiche Praktizierende im Aurobindo-Ashram bzw. in Pondicherry, die in mehr als hundert Häusern untergebracht sind. Auch in dem benachbarten, 1968 von der »Mutter« gegründeten Ort Auroville leben zahlreiche Anhänger der Lehre Aurobindos. In Pondicherry engagieren sich viele in verschiedenen Aktivitäten, die mit dem Ashram verbunden sind – einige in der Molkerei, andere im Gemüsegarten, wieder andere in der Wäscherei und in der kleinen Bäckerei. Viele der jungen Mädchen arbeiten in der zum Ashram zugehörigen Druckerei. Für die Ashram-Bewohner sind alle Arbeiten Teil der Praxis. Der Ashram hat auch eine eigene Schule. Eine Berufsausbildung wird den Schülern im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren vermittelt. Die Ashram-Bewohner im Sri Aurobiondo Ashram sind keine Samnyāsins, denn auch Aurobindo selbst war kein Samnyāsin. Der Ashram ist weltoffen. Neben Hindus gibt es dort Christen, Muslime und auch Mitglieder anderer Konfessionen.

Sri Aurobindos Philosophie ist pragmatisch. Sie basiert auf Fakten, Erfahrung und persönlicher Verwirklichung sowie darauf, die Vision eines Sehers, eines Rishi zu haben. Aurobindos Spiritualität ist zudem mit Rationalität verbunden.

Sri Aurobindo zufolge besteht das Ziel nicht nur in der Befreiung des Individuums von den Fesseln, die es behindern, sondern auch darin, »den Willen des Göttlichen zu erfüllen, eine spirituelle Transformation zu bewirken und die göttliche Natur und ein göttliches Leben in das mentale, vitale und physische Leben der Menschheit zu bringen«.165

Zur Selbstfindung führen in der Terminologie Aurobindos folgende Stufen eines evolutionären Prozesses: Aus dem materiellen Körper geht das »Vital« (die Lebenskraft) hervor, daraus entwickelt sich das »Mental« (die Denkkraft), anschließend öffnet sich das »Übermental« (das, was das Denken übersteigt), in dem jedoch noch Unterschiede zwischen personalem und apersonalem Gottesbild bestehen. Endziel ist das »Supramental« (das absolute Bewusstsein), das jenseits mentaler Konzeptionen liegt und keine Unterscheidungen zulässt. Es geht beim Integralen Yoga nach Aurobindo demnach nicht um eine spezifische Yogapraxis oder um eine bestimmte Meditationsform, sondern um den Vollzug der Selbstfindung, die mit einer Haltung der Hingabe einhergeht und letztlich in der Realisierung des Absoluten mündet.

»Eine gefestigte und unfehlbare Bestrebung, die von unten her ruft, und eine Höchste Gnade, die von oben herab antwortet, dies sind zwei Kräfte, die in ihrem Zusammenspiel etwas Großes bewirken können. Wenn die Transformation integral sein soll, dann sollte integral die Zurückweisung von allem, was sich dem in den Weg stellt, bedeuten«, sagte Sri Aurobindo.

Eine andere zentrale Aussage Aurobindos lautet: »Unsere Aufgabe ist es, in das Ebenbild Gottes hineinzuwachsen, in Ihm zu wohnen, ein Kanal Seiner Freude und Macht und ein Instrument für Seine Arbeit zu sein. Geläutert von allem, was asubha (böse) ist, sollten wir in der Welt als Dynamos der göttlichen Elektrizität wirken und sie begeisternd und strahlend unter der Menschheit verbreiten, so dass, wo auch immer sich jemand befindet, Hunderte von Menschen um ihn herum mit Seinem Licht und Seiner Kraft angefüllt werden, angefüllt werden mit Gott und Ananda (Glückseligkeit). Kirchen, Theologien und Philosophien haben in der Errettung der Menschheit versagt, da sie sich mehr mit intellektuellen Weltanschauungen und Institutionen beschäftigt haben.«166

Aurobindo war sowohl Poet als auch Politiker und Philosoph. Seine Schriften – philosophisch und poetisch – sind in ihrem Geist indisch und in ihrem Rhythmus und in ihrer Sprache westlich. Für die Nationalisten Indiens war und ist er eine Inspiration. Seine Schüler und Nachfolger in Pondicherry beschreiben Aurobindo wie folgt: »Als das Kronjuwel des wiederauflebenden Indiens, als der Tapferste unter den Patrioten, als der Scharfsinnigste unter den Intellektuellen und als der Subtilste unter den Sehern erfüllte Sri Aurobindo das glorreiche Ziel, der Welt zu zeigen, dass (…) jemand, der die richtige Synthese kennt, östliche und westliche Kulturen glücklich vereinen kann, ohne dass dabei notwendigerweise Feindschaft entstehen muss.«167

Im Alter von 78 Jahren starb Aurobindo am 5. Dezember 1950 um 1.30 Uhr in Pondicherry. Publikationen von Aurobindo sind unter anderem Das Ideal einer geeinten Menschheit (1973); Die Synthese des Yoga (2. Aufl. 1976); Essays über die Gita (1977); Briefe über den Yoga – Integraler Yoga und andere Wege (1977–1983); Gedanken und Aphorismen mit Erläuterungen der Mutter (1979); Grundlagen der indischen Kultur und die Renaissance in Indien (1984); Savitri – Legende und Sinnbild (1985); Über sich selbst (1994); Sämtliche Gedichte (1994); Das Göttliche Leben (2. Aufl. 1999).

In dem Buch Licht auf Yoga168, das Auszüge aus Briefen enthält, die Sri Aurobindo an seine Schüler schrieb, äußert er sich über Yoga wie folgt: »Man kann Yoga praktizieren und Erleuchtungen empfangen im Geist und in der Vernunft. Man kann Kraft erringen und in reicher Fülle alle Arten von Erfahrungen im Vitalen haben. Man kann sogar im Physischen überraschende Wunderleistungen zustande bringen. Wenn aber die wahre hintergründige Seelenkraft sich nicht manifestiert, wenn die psychische Natur nicht in den Vordergrund tritt, dann ist überhaupt nichts Wesentliches getan.«