Die drei Stufen (anga) des dann folgenden inneren Weges sind Gegenstand des dritten Kapitels, das mit »Vibhūti-Pāda, psychische Kräfte« überschrieben ist. Dhāranā, Dhyāna, Samādhi zusammen ergeben Samyama, die (nach Maldoner) »Gesamtbändigung« oder »Einspitzigkeit des Geistes«.
Durch Samyama erlangt man (unter anderem) die Kräfte eines Elefanten (3.24), das Wissen von Subtilem, Verborgenem und Entferntem (3.25), das Wissen von der Welt (3.26), das Verschwinden von Hunger und Durst (3.30), plötzliche Erleuchtung und übernatürliche Sinneswahrnehmungen (3.33 u. 3.36).
Der Umgang mit außergewöhnlichen Fähigkeiten
Nachdem Patañjali aufgelistet hat, welche außergewöhnlichen Kräfte durch die letzten drei Stufen des achtstufigen Systems erreicht werden können, stellt er eben diese beeindruckenden Fähigkeiten in Frage. Zum einen bezeichnet er die übernatürlichen Sinneswahrnehmungen (auch wenn sie als Vollkommenheiten erscheinen mögen) als Hindernisse für Samādhi, zum anderen nennt Patañjali im Vers 50 des dritten Kapitels die speziellen Kräfte und Kenntnisse als Ursache der Übel, die dem Realisieren der Freiheit, dem Leben ohne Abhängigkeiten (kaivalya) im Wege stehen:
tad-vairāgyād-api-dosa-bīja-kshaye kaivalyam
Hier zwei Interpretationen dieser Stelle:
»Aufgrund von Gelassenheit selbst diesen Kräften gegenüber erscheint die Freiheit des Geistes mit der Zerstörung der Samen der Schädigungen.«
(B. Stoler Miller)
»Wenn keine Gier und auch keine Herrschsucht mehr existiert, ist das, was uns gefangen hält, im Keim zerstört. Nun wird die höchste Freiheit geboren.«
(G. Blitz)
Weder die Kunststückchen indischer Fakire noch der Exhibitionismus US-amerikanischer Yogastars, die ihre Kräfte und Fähigkeiten gern zur Schau stellen, haben mit dem Wesen des Yoga, wie er hier zum Ausdruck kommt, zu tun. Von der Freiheit oder der Losgelöstheit (kaivalya), dem Ziel des Yogaweges, sind sie mindestens so weit entfernt wie jeder andere, der keine Āsanas und kein Prānāyāma praktiziert und niemals meditiert. Was Patañjali mit jenem Sūtra ausdrückt, entspricht dem, was auch in den Sprüchen Salomos (16,18) zum Ausdruck kommt: »Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.«226
Ziel des Yoga, wie ihn Patañjali darlegt, ist es nicht, möglichst schwierige und eindrucksvolle Körperhaltungen zu beherrschen. Ebenso wenig besteht der Sinn darin, Gott zu realisieren oder unsere reale Umwelt mit all ihren schönen und hässlichen Seiten weltabgewandt als irrelevante Täuschung und große Illusion zu betrachten. Gemäß Patañjali besteht das Ziel des Yoga vielmehr darin, sich von den verschiedensten Konditionierungen zu lösen, eine ungetrübte, unabhängige Sicht des Sehenden (drashtri) zu verwirklichen, um Freiheit (kaivalya) und Menschsein (purusha) zu verwirklichen.
Für dieses Ziel ist der Yoga wie auch der von Patañjali erstellte Leitfaden ein Wegweiser. Sich auf diesem von jedem selbst zu findenden und zu begehenden Weg zu bewegen ist ein Prozess, den jeder Mensch, der einen Sinn und eine Orientierung sucht, eigenständig vollziehen muss. So ist auch die im Yoga-Sūtra getroffene Aussage, wonach künftiges Leid zu vermeiden ist (heyam duhkam anāgatam)227, ein deutliches Plädoyer dafür, dass jeder für das, was kommen wird, (mit) verantwortlich ist. Weder der Yoga noch das Yoga-Sūtra sind der Weg oder das Ziel, ebenso wenig, wie ein Globus oder eine noch so brillante Landkarte dafür geschaffen sind, sich darauf fortzubewegen.
Kommentare und Interpretationsmuster
Peter Schreiner228 stellt fest: »Jeder Kommentar, angefangen vom Yogasūtrabhāshya des Vyāsa, sieht den Text der Yogasūtras aus der Perspektive seiner Gegenwart als etwas Vergangenes. Die Kommentatoren finden im kommentierten Text, was ihnen wichtig war; sie suchten nicht nach dem, was dem Verfasser der Sūtras wichtig gewesen sein mag.«229
In welchem Ausmaß die eigenen Ansichten mittels Kommentar in das Yoga-Sūtra hineininterpretiert werden, ob bereits bei der Übersetzung die Begriffsbedeutung im Sinne des gegenwärtigen ethischen Konsens oder persönlichen religiösen Glaubensbekenntnisses verändert und manipuliert wird, variiert. In jedem Fall sind solche Vorgehensweisen heute ebenso anzutreffen wie in den Ausgaben und Kommentaren der vergangenen Jahrhunderte.
Im Wesentlichen sind es zwei Interpretationsmuster: eines, das sich möglichst getreu an die Textvorlage hält, und eines der freien Interpretationen. Mal wird das Yoga-Sūtra als quasi vedisch und Beispiel für Advaita ausgelegt, mal wird es dem Geist und den Wertmaßstäben des 20. Jahrhunderts angepasst oder benutzt, um persönliche Auffassungen zu illustrieren.
Anhand zweier Schlüsselbegriffe aus dem Yoga-Sūtra sollen im Folgenden die Schwierigkeiten, die mit einer Übersetzung bzw. Interpretation des Yoga-Sūtra einhergehen können, und die verschiedenen Lösungsversuche verdeutlicht werden.
Überwindung von Lebensdrang und Lebenslust oder
Überwindung der Todesangst?
Die präzise, wörtliche und sehr wahrscheinlich ursprüngliche Übersetzung von abhinivesha lautet Zuneigung, Lebensdrang. Diese mit dem Wort Abhinivesha ausgedrückte Lebenseinstellung wird von Patañjali als Klesha, also als Leid verursachendes Hindernis aufgefasst:
Avidyā-asmitā-rāga-dveshā-abhiniveshah kleshāh230
Zunächst die Übersetzung von I. K. Taimni:231 »Mangelndes Wahrnehmungsvermögen der Wirklichkeit, das Gefühl des Egoismus oder ›Ichseins‹, Zu- und Abneigungen gegenüber Dingen und der starke Wunsch nach Leben sind die großen Plagen bzw. Ursachen aller Leiden im Leben.«
Auch H. Maldoner übersetzt Abhinivesha mit »der Drang zum Leben«. Diesen Lebensdrang gilt es also zu überwinden, denn sobald ich dem Leben gegenüber gleichgültig bin, leide ich nicht an Dingen, die das Leben mit sich bringt. Manche Menschen wird diese Empfehlung befremden. Insofern wäre es sicherlich von Interesse, den betreffenden Passus näher zu untersuchen. Er wird jedoch von den meisten der sonst so wortreichen Kommentatoren nicht weiter behandelt.
Eine andere Art und Weise, mit dieser kritischen Stelle umzugehen, ist, dem Wort eine neue bzw. eine andere Bedeutung zu geben. So übersetzt R. Sriram das Wort Abhinivesha mit »die unbegründete Angst« und bei T. K. V. Desikachar (dem Lehrer von R. Sriram) wird aus Abhinivesha »tief sitzende Unsicherheit«, die er in seinem Kommentar zum Sūtra 2.9 als »angeborenes Angstgefühl vor der Zukunft« und »unsere Angst vor dem Tod« deutet.
Doch welchen Leidfaktor (klesha) meinte Patañjali nun eigentlich? Die Todesangst, die allgemein unbegründeten Ängste oder doch die Zuneigung und die Lebenslust, wie der Begriff Abhinivesha von Klaus Mylius in Langenscheidts Handwörterbuch Sanskrit – Deutsch von 1999 übersetzt wird? (Vgl. auch Martin Mittwedes Spirituelles Wörterbuch Sanskrit – Deutsch, wo der Begriff mit »Hingabe, Zuneigung, Liebe,Verlangen und Entschluss« wiedergegeben wird.)
Selbststudium oder Studium
des Selbst?
Der zweite Begriff, dessen Übersetzung sehr flexibel gehandhabt und der unterschiedlich interpretiert wird, ist Svādhyāya. Dabei geht es um Sinn und Ziel des Studiums. Wörtlich wäre hier das eigene (sva) Studium (adhyāya) gemeint, die Empfehlung von Patañjali im Yoga-Sūtra 2.1 und in 2.32 als einer der fünf Niyamas, wobei offen bleibt, ob die Schriften des Vedānta oder das Yoga-Sūtra selbst oder das freie Studium anderer geeigneter Schriften Gegenstand dieses Selbststudiums sein sollte.
Desikachar interpretiert die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes Svādhyāya – das Studium (oder Rezitieren) »der heiligen Überlieferung«232 – zunächst im Sinne von »Selbstreflexion« (2.1) und dann als »das Studieren und wiederholte Überprüfen unserer eigenen Entwicklung« (2.32).
Vergleichbare freie Interpretationen hat es im Übrigen auch zu anderen Epochen gegeben; sie sind bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar und können stellenweise auch zum besseren Verständnis eines Textes aus ferner Vergangenheit beitragen. Doch stellt sich die Frage, ob nicht die Gefahr besteht, dass dadurch die Intentionen und soziokulturellen Bezüge Patañjalis immer mehr in den Hintergrund geraten oder verstellt werden könnten.
Die Hymne bzw. Widmung, die sich auf Patañjali bezieht
yogena cittasya padena vacam
malam sarīrasya ca vaidyakena
yopakarottam pravaram muninam
Patañjalim prajaliranato’smi
abāhu purushakāram
shānkhā cakrasi dhārinam
sahasra shirasam svetam
pranamāmi Patañjalim
Hierzu gibt es zwei deutsche Übersetzungen, die eine eher wortgetreu und bemüht, den poetischen Ton aufzugreifen, die andere freier und den heutigen Sprachgewohnheiten angepasst.
Übersetzung 1 (von Angelika Sriram)233
Erster unter den Weisen,
Du gabst Yoga, damit unsere Besinnung friedvoll werde,
Du gabst uns Grammatik, damit unsere Worte Verständnis schenken,
Du gabst uns Heilkunst, damit unsere Körper frei seien.
Weiser unter den Weisen, Mensch bis zur Schulter, in den Händen Muschel,
Rad und Schwert, tausend Köpfe, alle weiß.
Patañjali, der Urschlange Ziel, vor dir beuge ich mein Haupt.
Übersetzung 2 (von Ronny Elksnat)234
»Verneigen wir uns vor Patañjali, dem edelsten unter den Weisen (der Vorzeit), der uns Yoga gab für Klarheit und Reinheit des Geistes, Grammatik für Glanz und Lauterkeit der Sprache und Medizin (Ayurveda) zur Vervollkommnung der Gesundheit. Knien wir nieder vor Patañjali, einer Inkarnation von Adishesa (Schlangengottheit und Ruhesitz von Vishnu vor der Erschaffung der Welten); dessen oberer Teil des Körpers menschliche Gestalt hat (der untere Teil ist der einer Schlange), dessen Hände eine Muschel und eine Wurfscheibe halten und der von einer tausendköpfigen Kobra gekrönt ist.«
Den meisten, die Yoga im Sinne von B. K. S. Iyengar betreiben, wird der Lobpreis auf Patañjali schon begegnet sein. Iyengar pflegte dieses »Gebet« an den Anfang seiner Unterrichtseinheiten zu stellen, und manche der von ihm autorisierten Ausbilder haben diese Gewohnheit aufgegriffen.
Auch bedeutende Lehrer beispielsweise des sich auf Desikachar beziehenden Viniyoga sprechen diese Widmung zu Beginn des Unterrichts. Ausgangspunkt für die Etablierung dieses Ritus ist die Tradition, an den Anfang des Yogaunterrichts Dank und Ehrerweisung gegenüber dem Lehrer und dessen Lehrern zum Ausdruck zu bringen und somit schon zu Beginn der Begegnung und des eigentlichen Unterrichts eine Atmosphäre des Respekts und der Anbindung an die Tradition zu schaffen.
Dass Lehrer wie B. K. S. Iyengar es stets vorgezogen haben, anstelle des eigenen Werkes das Vermächtnis des großen historischen, fast schon mythischen Vordenkers des Yoga, Patañjali, ins Bewusstsein der Übenden zu rufen, spricht für ihre eigene demuts- und respektvolle Haltung, die vielen um Ruhm und gefällige Selbstdarstellung bemühten Yogastars und prominenten Yogalehrenden heutzutage abgeht.