VORWORT

Meine erste Begegnung mit Yoga liegt bereits etliche Jahre zurück, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran: Ich entdeckte ein in bulgarischer Sprache verfasstes Yogaübungsbuch. Es enthielt zahlreiche Abbildungen von Yogis in schwierigsten Haltungen, die vor allem zwei Reaktionen bei mir auslösten: Einerseits war ich fasziniert, andererseits fragte ich mich, warum manche Menschen alles daran setzen und jahrelang dafür üben, ihre Füße hinter den Kopf zu bringen oder möglichst lange Atempausen einzulegen. Was mochte hinter dieser ausgefeilten Körperbeherrschung und der kontrollierten Atmung stecken, vor »deren Nachahmung ausdrücklich gewarnt« wurde, wie der bulgarische Klassenkamerad meines Bruders einen mehrfach wiederkehrenden Satz aus dem Buch übersetzte?

Diese Ambivalenz der Eindrücke setzte sich fort und hält im Grunde bis heute an – Faszination und eigene positive Erfahrungen auf der einen Seite, gleichzeitig aber stets auch das Bedürfnis, das allseits Bekannte, Anerkannte und Etablierte zu hinterfragen, ganz im Sinne des im Kālāma Sutta, Anguttara-Nikāya 3, 65 festgehaltenen Credo Buddhas:

»Glaubt an nichts, nur weil ihr es gehört habt. Glaubt nicht einfach an Traditionen, weil sie von Generationen akzeptiert wurden. Glaubt an nichts allein aufgrund der Verbreitung durch Gerüchte. Glaubt nie etwas, nur weil es in heiligen Schriften steht. Glaubt an nichts bloß wegen der Autorität der Lehrer oder älterer Menschen.

Wenn ihr jedoch selbst erkennt, dass etwas heilsam ist und dass es dem Einzelnen und allen zugute kommt und förderlich ist, dann mögt ihr es annehmen und stets danach leben.«

Die hier zum Ausdruck gebrachte Haltung erlaubt nicht nur Fragen und Kritik, sondern sie befürwortet beides sogar ausdrücklich als Mittel zur Selbsterkenntnis, die in aller Regel das Wohl anderer wie auch das eigene Wohl im Blickfeld hat. Auch das vorliegende Buch setzt sich in diesem Sinne kritisch mit Fragen auseinander, die mich teilweise schon während meiner vierjährigen Ausbildung zum Yogalehrer1, während mehrerer Indienreisen, bei der Lektüre von Yogaliteratur und auf Seminaren oder Workshops begleitet haben: Warum nennen sich geschäftstüchtige Akrobaten Yogis, und was macht ihre Übungsräume zu Yogainstitutionen? Lässt sich mit Yoga praktisch jede Krankheit heilen? Wodurch werden tänzerische Bewegungen zu Yoga, und wie wird Yoga zum Tanz? Unterscheidet sich Yogaunterricht in Indien von indischem Yoga in Europa? Ist das, was ein Yogaphilosoph sagt, immer weise? Und sind jene, die den Yoga gemeistert haben, heilig, unfehlbar und ohne Schwächen? War Patañjali tatsächlich der Begründer des Yoga? Wie können Geheimlehren zu Bestsellern werden? Und: Wo liegen eigentlich die Wurzeln des Yoga?

Aus all meinen Fragen formten sich in den letzten Jahren unter anderem die Yogaratgeber-Parodie Yoga für Bad & WC2, eine Vielzahl von in Yogazeitschriften veröffentlichten Essays und Porträts, Interviews und Rezensionen und – ein Exposé für einen Stammbaum des Yoga, der bei den aktuellen Trends und den prominenten Botschaftern des Yoga beginnend Generation für Generation die Entwicklung zurückverfolgt, wer die Lehrer unserer Lehrer und wer wiederum deren Lehrer waren. Die Geschichte des Yoga vom Hier und Jetzt, den »Blüten, Zweigen und Ästen« des Stammbaums, bis zum Stamm und zu den Wurzeln nachzuvollziehen und dabei möglicherweise auch zu neuen Erkenntnissen, neuen Perspektiven zu gelangen – das war (und ist) die Grundidee des Buches. Erfreulicherweise ließ sich Frau Richard vom Theseus Verlag von dieser Idee überzeugen, und so konnte Der Stammbaum des Yoga realisiert werden.

Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind nun eingeladen, mich auf dieser Zeit- und Forschungsreise zu begleiten.

Mathias Tietke
Berlin, im Dezember 2006