V In der Sowjetunion (1935–1959)

„Die Schaffung der neuen Erde impliziert die Utopie einer neuen

ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnung.

Ignacio Ellacuría

V.1 Lektor an der Internationalen Leninschule (1935–1937)

Nach Ende der Februarkämpfe tauchte A. R. irgendwo in Wien unter, im April wurde er verhaftet und in das Wiener Polizeigefängnis eingeliefert. Im November wurde er, der die polnische Staatsbürgerschaft behalten hatte, in die Tschechoslowakei abgeschoben. Am 22. Dezember 1934 kam A. R. im Einvernehmen und Auftrag der KPÖ in der Sowjetunion an. Durch die Ermordung von Sergei M. Kirow (1886–1934) am 1. Dezember 1934 hatte sich dort das Klima des Misstrauens weiter ausgebreitet, die Emigranten waren davon besonders betroffen. A. R. wurde in Moskau unter dem Namen Bruno Braun tätig. Seine Ehefrau Eleonore Reisberg konnte mit dem einjährigen Sohn dorthin nachfolgen. In diesem Winter 1934/35 wurde ein Teil der österreichischen Februaremigranten in der Sowjetunion zur illegalen Arbeit im eigenen Land geschult. In Betrieben in Leningrad, Moskau, Charkow und Rostow erhielten emigrierte österreichische Antifaschisten neben ihrer fachlichen Weiterbildung eine politische Schulung und zudem eine militärische Ausbildung. Manche der Schutzbündler glaubten in diesen Betrieben, wo Analphabeten aus dem Land an den Maschinen erst angelernt werden mussten, Herren zu sein. Es wurden eigene Kurse an der Kommunistischen Universität der Nationalen Minderheiten des Westens mit österreichischen Lektoren eingerichtet. Zu ihnen gehörte A. R. Für die begabtesten Funktionäre wurden an der Internationalen Leninschule, welche die Hochschule der Kommunistischen Internationale in Moskau war, unter Leitung von A. R. im Sektor A eigene Zirkel geschaffen, aus denen etwas später der österreichische Sektor unter Leitung von Alfred Klahr gebildet wurde. Als österreichische Lektoren unterrichteten mit A. R. Otto Benedikt, Árpád Haász und Alfred Klahr. Schon länger in Moskau war Genia Lande-Quittner, die 1930 in die Sowjetunion übersiedelt war, weil ihr Ehemann seit 1929, Franz Quittner (1904–1938), als Chemiker dorthin eingeladen worden war. Weil der sowjetische Apparat panische Angst vor Spionen hatte, wurde Franz Quittner, der der Spionage beschuldigt worden war, 1938 hingerichtet. Die Moskauer Prozesse wurden von mit der Sowjetunion sympathisierenden Pazifisten wie Albert Einstein, der ab 1923 Ehrenvorsitzender der sowjetisch-deutschen Gesellschaft „Kultur und Technik“ war und die Rote Hungerhilfe unterstützte, nicht mit Zustimmung, aber doch mit Verständnis aufgenommen.161 Einstein war nicht allein, viele Wissenschaftler aus Frankreich oder England hatten sich als Antifaschisten dem Marxismus als Weltanschauung der Sowjetunion und der sowjetischen Wissenschaftler angenähert. John Desmond Bernal (1901–1971) war beeindruckt, dass der junge Sowjetstaat, noch ehe die Kämpfe des Bürgerkrieges und die Hungersnot beendet waren, begann, eine Wissenschaft in festgelegter Richtung nach einem bewussten Plan aufzubauen.162 Max Born (1882–1970) schrieb 1937 Albert Einstein, sein ehemaliger Schüler Victor Weisskopf (1908–2002) habe ihm aus Russland geschrieben, dass dort große Angst vor deutschen Spionen herrsche.163 Junge Kommunisten konnten sich zu dieser Zeit durchaus vorstellen, wenn auch nicht erklären, dass alte Kommunisten wegen ihrer oppositionellen Haltung zu Stalin in die Fänge der faschistischen Geheimdienste geraten konnten.164

Beide Quittner waren in Wien im Kommunistischen Jugendverband und in der KPÖ tätig gewesen und kannten A. R. ganz gut. Genia Lande war mit Klahr in den Vorlesungen und Seminaren der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät gesessen. Sie hatte mit einer am 26. April 1928 eingereichten Doktorarbeit über Die öffentlichrechtlichen Hauptprobleme des Arbeitsrechts unter besonderer Berücksichtigung des österreichischen und deutschen Arbeitsrechtes promoviert. Gutachter war Merkl (8. Mai 1928), dem sich Kelsen ohne weiteren Kommentar anschloss (9. Mai 1928). Merkl: „Sie [d. i. die Kandidatin] gelangt auf Grund einer Sichtung der Rechtsquellen des Arbeitsrechtes und der Rechtssetzungs- und Vollzugsorgane desselben […] zu dem richtigen Ergebnis, dass es eine – der arbeitsrechtlichen Literatur vorschwebend – formal gekennzeichnete Teilrechtsordnung ‚Arbeitsrecht‘ nicht gibt. Ist somit die Dissertation in ihrer Tendenz und im Ergebnis polemisch und negativ, so ist sie doch zum überwiegenden Teile eine – für die Problemlösung voraussetzungsweise – positive Darstellung der Lehre der Rechtsquellen und der Staatsorgane. […] Daß die Verf. ist in der Literatur der reinen Rechtslehre gut geschult und zeigt gutes juristisches Verständnis. Vom Standpunkt der ökonomischen Fächer kommt die Arbeit – konsequenterweise – nicht in Betracht“.165 Merkl und Kelsen konnten sich in denselben Tagen an der Doktorarbeit von Alfred Klahr erfreuen. Die aus einem jüdisch kleinbürgerlichen Elternhaus kommende und begabte Genia Lande hatte in Wien im Nachbarhaus der Reisbergs in der Wolmutstraße 18 gewohnt und war 1925 zur KPÖ gekommen. Arbeitsrecht mit der reinen Rechtslehre in Einklang zu bringen, das war nur an der Wiener Universität des Hans Kelsen möglich! Gerade Marx hatte am Beispiel des Arbeitsvertrages deutlich gemacht, dass der freie Kontrakt eine für den Kapitalismus eigentümliche juristische Form der Ausbeutung ist.166

In der Sowjetunion konnte nach zwanzig Jahren der Kampf zwischen sozialistischer und bourgeoiser Ideologie noch nicht entschieden sein. Im ideologischen Kampf nach der Jahrhundertgestalt Lenin manifestierten sich viele Widersprüche. Im Februar 1937 wurden A. R. seine angeblichen Äußerungen, „dass man den Hass des ganzen Volkes, aller Nationalitäten der Sowjetunion gegen den hauptsächlichen Kriegstreiber (gegen den deutschen und japanischen Faschismus) entfachen kann“, vorgehalten. A. R. soll gesagt haben, „dass es notwendig ist, in jedem Sowjetbürger einen solchen Hass zu entwickeln, dass er bereit ist, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, um den Feind vom Territorium der Sowjetunion abzuhalten“. Das wurde „missverstanden“, indem ein Teil der Zuhörer von A. R. meinte, er wolle einen nationalistischen Kampf der Völker der Sowjetunion gegen die deutsche Nation stimulieren.167 Alfred Klahr, Genia Quittner, Friedl Fürnberg, Aloisia Souček (1908–1948) und Ferdinand Panzenböck meinten, dass mit A. R. seine zugespitzte, mit jüdischem Internationalismus verknüpfte Intellektualität durchgegangen sei. Das Netzwerk österreichischer Exilanten war beileibe nicht unfehlbar, das war A. R. auch nicht. Es müssen immer die Umstände solcher Diskussionen und ihrer Schlussfolgerungen berücksichtigt werden. Ein Emigrantenzirkel konnte sich leicht in eine Sackgasse manövrieren, es gab Zwietracht, einander entgegenstehende Ansichten, auch Egoismus mit dem Wunsch, der Erste zu sein.

Die Nationalitätenfrage stellte sich in der von feindlichen Mächten umkreisten Sowjetunion ganz anders als in der k. u. k. Monarchie oder in der kleinen, ökonomisch an Deutschland orientierten Republik Österreich. Lenin und besonders Stalin setzten sich mit den widersprüchlichen Wesenszügen der Nationen auseinander. Die internationale Situation der Sowjetunion verschlechterte sich nach der Machtergreifung der deutschen Faschisten rapide und trotz der vielen von der Sowjetunion ausgehenden Bemühungen um ein kollektives Sicherheitssystem trieb die Welt einem zweiten Weltkrieg zu. Die ökonomischen Probleme verschärften sich auf allen Ebenen. Die „permanente Revolution“, wie sie Trotzki, Sinowjew und Kamenew im Programm der vereinigten Opposition forderten, konnte keine Lösung sein. Fortschritte von Kolchosen und Sovchosen waren trotz ihrer Anbindung an die alten russischen Dorfgemeinschaften (Obscina) schleppend, der Industrialisierung fehlten die Ressourcen an ausgebildeter Industriearbeiterschaft. Stalin wollte keinen Konflikt der proletarischen Revolution mit den Massen der Bauern. Eine Schwächung der Sowjetunion war nur mit eiserner Parteiherrschaft zu verhindern. Das Ausprobieren von diesen oder jenen Alternativen schien nicht möglich zu sein. So wie es aus der Perspektive der sowjetischen Partei mit Stalin einen „nationalen“ Marxismus oder einen spezifisch national gefärbten Marxismus nicht geben konnte, gab es in der Sowjetunion nur ein gesamtes Sowjetvolk und nicht verschiedene Nationen. Das konnte als Diktatur der Vernunft gesehen werden, wie 1937 Lion Feuchtwanger (1884–1958) das als Augenzeuge tat.168

Alfred Klahr war in Moskau mit der Darstellung der komplizierten und jedenfalls nicht abgeschlossenen Formierung der österreichischen Nation beschäftigt. Dem Kampf für Österreichs Unabhängigkeit sollte eine über die Partei hinausgehende brauchbare mentale Basis gegeben werden. Die beiden Nationen Österreichs, die der Besitzer und die der Arbeiter,169 hatten keinen gemeinsamen Zugang zum Charakter der österreichischen Nation. Mit Lenin kann festgestellt werden: „Es gibt zwei Nationen in jeder modernen Nation […]“.170 Die Arbeiten von Alfred Klahr unterscheiden sich von jenen der in der habsburgisch katholischen Tradition stehenden Kreise um Ernst Karl Winter (1895–1959), die mit einer Österreichischen Gemeinschaft einen „österreichischen Menschen“ in die Luft malten. Die Aktion Winter versuchte, für die Regierung von Kurt Schuschnigg (1897–1977), die dem von den Nazis ermordeten Dollfuß 1934 nachfolgte, einen Weg in die Arbeiterschaft zu öffnen. Das gelang ihr nicht. A. R. kam 1975 darauf zu sprechen, weil Die Zukunft mit Karl Czernetz (1910–1978) an die Aktion Winter erinnert hatte, um die Rolle der Kommunisten als Pioniere des österreichischen Nationalgedankens zu verkleinern.171 Im Jänner 1937 hatte Otto Bauer in einem Artikel im Kampf noch vom „Spuk des aus Katholizismus, Habsburgertradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauten österreichischen Menschen“ gesprochen. Klahr hatte die „österreichische Nation“ nicht erfunden, es war auch kein Ideologe einer „Austriatümelei“. Der mit einem Komplex von Emotionen verknüpfte Begriff von einer „österreichischen Nation“ bot sich als Losung für den Kampf gegen den deutschen Faschismus an. A. R. war die Idee, dass durch die geschichtlich gewachsenen Bedingungen eine österreichische Nation mit einer eigenen ethnischen Charakteristik herangereift sei, zu hinterfragen. Geschmückt mit vielen kleinbürgerlichen Inhalten stand sie, wenn überhaupt, erst am umkehrbaren Anfang und es fehlten ihr jene von Stalin für eine Nation als notwendig aufgezählten und sich wechselseitig beeinflussenden materialistischen Merkmale.172 Eduard Rabofsky lehnte den Begriff der „österreichischen Nation“ ab, weil er alle Interessen vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus beurteilte.173 Alfred Klahr exponierte sich an der Leninschule gegen A. R., indem er seine Erinnerungen an Wortmeldungen von A. R. zu parteiinternen Meinungsverschiedenheiten in den 1920er Jahren aus dem Kontext riss und ihm mit solchen „nicht überwundenes Sektierertum“ vorwarf. Innerhalb der KPÖ wurden nach 1945 notwendige Auseinandersetzungen zu verschiedenen Fragen strikt vermieden, was zu ihrer katastrophalen Entwicklung beigetragen hat. Leopold Hornik hat 1969 zu Jürgen Kuczynski gemeint: „Das jahrelange Schweigen zu den verschiedensten Auffassungen, die sich immer mehr von unseren Grundsätzen entfernten, rächt sich jetzt“.174

Die Jüdin Genia Quittner, die erst wenige Wochen lang an der Schule politische Ökonomie vorgetragen hatte, plauderte in ihren Erinnerungen, dass „Gleisberg“, d. i. A. R., in diesen Monaten seine Schüler zur Wachsamkeit gegen die Einflüsse von Trotzki und Sinowjew lebhaft ermuntert habe, „auch dazu, sich selbst zu erforschen, ob nicht in einem Winkel ihres Herzens ein Fünkchen Sympathie für Trotzki oder Sinowjew glomm. Doch eines Tages kam er nicht mehr; man versuchte gar nicht, es zu verheimlichen; die NKWD hatte ihn geholt. Sein Fall wurde als typisches Beispiel trotzkistischer Doppelzüngigkeit im Unterricht dargestellt“.175 Bücher und Schriften des bedeutenden russischen Revolutionärs Trotzki, dessen Name Synonym für die Opposition gegen Stalin war, und von Sinowjew, der von 1919 bis 1926 Vorsitzender des EKKI gewesen war, nach Gründung der „Neuen Opposition“ gegen Stalin ein Stachel in der Einheit der Sowjetischen Partei geblieben war und 1936 im Moskauer Prozess mit Lew Kamenew (eigentl. Rosenfeld) (1883–1936) verurteilt und exekutiert worden war, wurden aus der Schülerbibliothek entfernt. A. R. war der Meinung, dass die Schäden, die der Trotzkismus der kommunistischen Weltbewegung zugefügt hatte, größer waren als alle Verdienste Trotzkis in den einzelnen Etappen der Revolution. Aber er sprach sich gegen die „Entgiftung“ der Protokolle der Weltkongresse der Kommunistischen Internationale durch opportunistische Unterschlagung solcher Namen aus. Diese wissenschaftlich und politisch korrekte Haltung hat A. R. zeitlebens beibehalten. A. R. sah als Historiker Kometen im Aufstieg und nicht allein in ihrem Fall. Alfred Klahr folgte A. R. als österreichischer Sektorleiter der Leninschule nach. Er war in den Augen seiner Studienkollegin Genia Quittner „ein strenger, aber gerechter Chef mit menschlichen Zügen. Er waltete seines Amtes mit feierlicher Begeisterung und mit dem brennenden Wunsch nach Verbesserungen, den ich mir schon lange abgewöhnt hatte“.176

Die Exilführung der KPÖ wurde mit dieser infolge des Ausnahmezustandes, in dem sich alle Flüchtlinge befanden, aufgebauschten Affäre befasst und Koplenig schrieb als Generalsekretär am 8. März 1937, dass schon länger „ernste Bedenken über Braun“ entstanden seien. Am 11. März wurde A. R. von der Leninschule entlassen, wenig später aus der KPÖ ausgeschlossen. Sein Zimmer im Hotel „Lux“ musste er räumen, er übersiedelte in das Hotel „Sojusnaja“, wo ihn die von der Parteiversammlung des österreichischen Sektors der Leninschule verabschiedete Resolution erreichte. Darin wird kompromisslos behauptet, A. R. sei es gelungen, „sowjet- und parteifeindliche trotzkistische Anschauungen zu verbreiten“. Und als Floskel der Selbstkritik, die österreichische Parteiorganisation sei nicht in der Lage gewesen, „ihn rechtzeitig zu entlarven“. A. R. nahm keine persönlich nachtragenden Schuldzuweisungen für seine Inhaftierung und Verbannung vor. Die historischen Leistungen sowohl von Koplenig wie von Klahr erkannte er an und stellte sie separat biographisch dar, für Klahr war er Initiator einer von der DDR herausgegebenen Sonderbriefmarke.177

V.2 Im GULag (1937–1946), Verbannung mit Strafansiedlung in Tassejewo (1949–1954) und Aufenthalt in Mossalsk (1955–1959)

Am 22. April 1937 wurde A. R. vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKVD) verhaftet. Am 23. Juli 1937 wurde er wegen trotzkistischer Betätigung, wozu das Aufbewahren von trotzkistischer Literatur gehörte, zum fünfjährigen GULag (Glawnoje Uprawlenije Lagereij) im sowjetischen Nirgendwo verurteilt und bis 2. Oktober 1946 festgehalten. Neun Jahre GULag! Erst 1946 konnte A. R. irgendwie über Wladiwostok nach Moskau kommen, wo er mit seiner Frau Eleonore und dem überlebenden Sohn wieder zusammentreffen konnte. Irgendwie überlebte das Ehepaar, A. R. wartete als Angestellter des Staatsapparates. Als Näherin und Maßschneiderin konnte Eleonore das Notwendigste für das Überleben verdienen. Mit einem formalen Vorwand wurde A. R. im April 1949 ein zweites Mal verhaftet und zur lebenslänglichen Verbannung nach Tassejewo in Ostsibirien verurteilt. Formalgrund dafür war die Verurteilung von 1937. In Tassejewo brachte sich A. R. als Waldarbeiter eines Holzbetriebes, als Teerbrenner in einer Genossenschaft und als Transportarbeiter durch. Für einen entlassenen politischen Gefangenen war es ungemein schwer zu überleben, weil die ansässige Bevölkerung in der verbreiteten Atmosphäre der Angst Unterstützung nur zögerlich gewährte. Eleonore, die in Moskau eine Totgeburt hatte, kam mit ihrem gemeinsamen Sohn nach und arbeitete dort als Näherin für ein Zubrot.

Aufgrund einer Anweisung des Innenministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR vom 24. April 1954 zum 19. Juni 1954 kam A. R. endlich frei und die Verbannung zu Strafansiedlung wurde aufgehoben. Am 17. Mai 1955 wurde ihm vom Obersten Gericht der UdSSR folgende Bescheinigung ausgestellt:178

„Hiermit wird dem Bürger Braun, Bruno Bernhardovič, ders. ist Reisberg, geb. 1904, bescheinigt, dass auf Grund der Bestimmung des Richterkollegiums in kriminellen Angelegenheiten beim Obersten Gericht der UdSSR vom 16. März 1955 der Beschluss der Sonderkommission des NKWD [Innenministerium] der UdSSR vom 23. Juli 1937 aufgehoben und das Verfahren auf Grund des Mangels an Beweisen für den Tatbestand des Verbrechens eingestellt wurde. Der Beschluss der Sonderkommission beim MGB [Ministerium für Staatssicherheit] vom 11. April 1949 ist ebenfalls aufgehoben. Von der Verbannung zur Strafansiedlung ist er befreit“.

A. R. lebte mit Familie vom August 1955 bis zum Februar 1959 in der von der deutschen Wehrmacht eine Zeit lang besetzten Kleinstadt Moskalsk im Gebiet Kaluga.

V.3 Arnold Reisberg über Johann Koplenig

Mehr als 40 Jahre lang stand Johann Koplenig als Generalsekretär, Vorsitzender und zuletzt als Ehrenvorsitzender an der Spitze der Kommunistischen Partei Österreichs. In diesen Jahren wurde der Schustergeselle aus einem abgelegenen Bergdorf ein bedeutender Arbeiterführer, der, über die Grenzen seines Vaterlandes bekannt, zu den verehrenswerten Gestalten der internationalen Arbeiterbewegung zählt.

Die Größe Koplenigs ist bestimmt durch seine tiefe Liebe zur Arbeiterklasse und zu den Werktätigen seines Landes, durch seine unerschütterliche Treue zum Lande der Oktoberrevolution, durch seine innige Verbundenheit mit der Partei Lenins, durch die verständnisvolle Aneignung der revolutionären Theorie des Marxismus-Leninismus und durch seine Fähigkeit, diese Lehren auf die besonderen Verhältnisse Österreichs und seiner Kommunistischen Partei anzuwenden.

Die Voraussetzungen für die Möglichkeit, seine großen Fähigkeiten zu nutzen, gab ihm erst die revolutionäre Arbeiterbewegung, der er sich von seinen Lehrlingsjahren bis zu seinem Tode verpflichtet hat. Denn die äußeren Umstände seines Elternhauses waren alles andere als günstig.

Am 15. Mai 1891 in einer armseligen Keusche, einem Bauernhäuschen ohne eigenes Land, außerhalb des kleinen Ortes Jadersdorf in Kärnten in der Familie eines armen Waldarbeiters geboren, musste er, wie seine drei Geschwister, schon in frühen Kinderjahren bei fremden Leuten arbeiten, weil der karge Verdienst des Vaters und die kraftzehrende Viehwirtschaft der Mutter für die Ernährung der Familie nicht ausreichten. „Ich habe zwei Klassen Volksschule mit gutem Erfolg besucht; mein Wunsch weiter zu lernen, konnte nicht in Erfüllung gehen, weil meine Eltern arm waren…“1, sagte Koplenig 1928 vor Gericht. Aber selbst in diesen Jahren musste er in den schulfreien Stunden das Vieh fremder Bauern hüten. Dann aber wurde er trotz guter Schulerfolge zu einem Flickschuster in die Lehre geschickt. Umsonst, dass er, ein halbes Kind noch, einen Fluchtversuch in die Stadt unternahm, wo er in einer Fabrik unterzukommen hoffte. Er wurde zurückgeholt und musste noch mehrere Jahre in der kleinen Werkstatt verbringen, bis die Lehrzeit beendet war.

Als Geselle kam er in das Kärntner Städtchen Steinfeld, wo er sich 1909 der Arbeiterbewegung anschloss. Nicht theoretische Erwägungen oder Erkenntnisse aus Büchern waren es, die ihn dazu bewogen. Es war vielmehr der Protest gegen die Not und die Ausbeutung, die er wie Millionen andere zu erleiden hatte. Doch das entscheidende Ereignis war für den 18jährigen Hans das Erlebnis der 1. Mai-Feier mit ihren Losungen für höhere Löhne, für Brot und Frieden. „Wir suchten“, schrieb Koplenig später in seinen Erinnerungen, „was uns begeistern, unser Leben mit wirklichem Inhalt erfüllen konnte. Und wir fanden es in der großen Idee der Solidarität der Arbeiter aller Länder im Kampf um ihre sozialistischen Ziele“.2 So wurde Koplenig Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs in Steinfeld. Und wie auch später immer wieder, wurde er sofort zum Organisator seiner Kollegen: Er vereinigte sie zu einer Gewerkschaftsgruppe und führte ihren Kampf an. Die erste Forderung war nicht eine Lohnerhöhung, sondern angesichts der zwölfstündigen Arbeitszeit – eine Mittagspause. Die Antwort war der Hinauswurf aus der Werkstatt wegen „Verhetzung der Arbeiter“. Für „Hetzer“ gab es im ganzen Städtchen keinen Platz; der Arbeitslose ging auf die Walz. Von Kärnten ging es nach Salzburg, Linz und zurück in die Steiermark. Hier fand Koplenig Arbeit in Judenburg, und wie er hoffte, für längere Zeit. Als er aber wieder eine Gruppe der Schuharbeiterschaft gründete, die bald 40 Mitglieder zählte, und einen erfolgreichen Streik für höhere Löhne und warmes Essen organisierte, flog er wieder auf die Straße. Inzwischen nutzte Koplenig jede Gelegenheit, seine Bildung zu vervollständigen. Mit unstillbarer Begierde las er wissenschaftliche, vor allem marxistische Literatur und die sozialistische Presse. Bald konnte er sein erworbenes Wissen weitergeben, und da er es verstand, mit jungen Leuten umzugehen, fiel es ihm nicht allzu schwer, im benachbarten Knittelfeld, wohin er 1911 gekommen war, im folgenden Jahr im Auftrage der Parteiorganisation eine Ortsgruppe des „Verbandes jugendlicher Arbeiter“ zu gründen, in der er 50 Burschen und einige Mädel organisierte. Politische Arbeit leistete er auch im Arbeiterturnverein „Freiheit“. Neben politischer Diskussion wurde im Jugendverein auch gesungen und getanzt, doch das Hauptthema war um jene Zeit, als die Balkankriege den nahenden Weltkrieg signalisierten, die drohende Kriegsgefahr. Mit glühendem Herzen wurde der „Schwur von Basel“ 1912 vernommen, alles zu tun, was den Kriegsausbruch verhindern konnte, oder – falls das nicht möglich war – den Krieg auf revolutionärem Wege durch den Sturz der kapitalistischen Gesellschaft zu beenden.

Hier aber erlebte Koplenig die erste große politische Enttäuschung seines Lebens. Mit der Entfesselung des imperialistischen Weltkrieges 1914 liefen die sozialdemokratischen Führer auch in Österreich in das Lager der herrschenden Klassen über. Im Zentralorgan der Partei, der „Arbeiter-Zeitung“, wurde deutschnationalem Chauvinismus gehuldigt, und auch die steirische Parteizeitung „Arbeiterwille“ druckte den berüchtigten Hetzartikel vom 5. August 1914 „Der Tag der deutschen Nation“ und die anderen Bekenntnisse zum „Sieg der deutschen Waffen“ ab. Ja, auf Beschluss des sozialdemokratischen Parteivorstandes sollte sogar die politische Tätigkeit des Jugendverbandes für die Dauer des Krieges eingestellt werden. Die Verwirrung unter den jugendlichen Arbeitern war groß.

Kurze Zeit darauf wurde Koplenig zum Militär eingezogen; er kam an die russische Front, wurde von einem Geschosssplitter verletzt, nach sechs Wochen Spitalaufenthalt wieder an die Front geschickt und geriet im November 1915 beim Rückzug seiner Truppe wie Millionen Österreicher in russische Kriegsgefangenschaft. Vom Lager in Nishni-Nowgorod (heute Gorki) wurde er in ein Außenlager in der Stadt, in eine Schuhfabrik geschickt. Mit der Februarrevolution von 1917 glaubte er, die Ideale seiner Jugend verwirklicht zu sehen. Am 1. Mai 1917 war er gemeinsam mit anderen Kriegsgefangenen Zeuge einer großen Demonstration der Arbeiter und Soldaten von Nishni-Nowgorod. Auch er wurde in den Strudel der Diskussionen um den weiteren Weg der Revolution hineingezogen; er lernte die Differenzen der Bolschewiki und der Menschewiki kennen, von denen die ersten für den Frieden und die Befreiung der Kriegsgefangenen, die anderen für die Fortsetzung des Krieges und daher gegen die Freilassung der „feindlichen Ausländer“ waren. Erst die Leninsche Oktoberrevolution befreite die Kriegsgefangenen; in Nishni-Nowgorod wurde ein „Österreich-ungarischer Arbeiter- und Soldatenrat“ gebildet, zu dessen Mitglied Koplenig gewählt wurde. Von entscheidender Bedeutung für sein ganzes weiteres Leben wurde die Verbindung mit der bolschewistischen Partei und deren Stadtsekretär Lasar Kaganowitsch, auf dessen Veranlassung Koplenig auch zum erstenmal in seinem Leben als Redner in einer großen Kundgebung auftrat. Kaganowitsch war es auch, der Koplenig im März 1918 zum Eintritt in die Partei Lenins warb. Als Bolschewik gehörte er der Leitung der deutschen Sprachgruppe der im April 1918 aus Kriegsgefangenen gebildeten „Internationalen Förderation“ an. Aus ihr kehrten nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie eine größere Anzahl von Kriegsgefangenen nach Österreich zurück, wo sie die am 3. November 1918 gegründete Kommunistische Partei Deutschösterreichs stärkten. Koplenig bleib noch im Sowjetland als massenverbundener Agitator für die Arbeit unter den Kriegsgefangenen, die auch eine wichtige Rolle bei der Befreiung des Urals von weißgardistischen Banden spielten. In Perm wurde er Vorsitzender der Gruppe der „Internationalisten“3 und leitete 1920 die Kultur- und Aufklärungsarbeit des Amtes für die Rückführung der Kriegsgefangenen. Im Juli 1920 schlug auch für ihn die Stunde der Rückkehr, die ihn über Moskau und Swinemünde zurück nach Knittelfeld führte. Zu seiner Überraschung wurde er auf dem Bahnhof von einer Musikkapelle, dem Arbeitergesangverein, den Arbeiterturnern und der Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend begrüßt; die Sozialdemokratische Partei bot ihm den Posten des Sekretärs für das obersteirische Industriegebiet an. Koplenig blieb jedoch seinen im Land der Oktoberrevolution gewonnenen Erkenntnissen und seiner revolutionären Überzeugung treu und bekräftigte seine Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei Österreichs. Er nahm Arbeit in einer Schuhmacherei der Eisenbahnwerkstätten auf. Als er jedoch zur Nationalratswahl 1920 kommunistische Wahlversammlungen organisierte, büßte er diese „Freveltat“ mit dem Hinauswurf aus dem Betrieb. Nichtdestoweniger setze er die Parteiarbeit in Knittelfeld fort, bis er zum Parteisekretär der KPÖ für die Obersteiermark mit dem Sitz in Bruck a. d. Mur gewählt wurde.

Koplenigs Stärke war die Einfachheit, sein Vermögen, Kontakt zu den Arbeitern zu finden und ihnen die Ideen des Kommunismus zu erklären. Die Kommunistische Partei Österreichs machte damals, wie Lenin schrieb, „eine sehr schwere Zeit“ durch. Es waren auch „Fehlgriffe in der Wahl der Personen (Fehler, die zu Beginn jeder Revolution unvermeidlich sind)“4, die dazu führten, dass der notwendige Klärungsprozess wichtiger theoretischer, politischer und strategisch-taktischer Fragen durch den Kampf zweier prinzipienloser, miteinander rivalisierender, von ehrgeizigen, in Wirklichkeit parteifremden Politikern geführter Fraktionen verdrängt wurde. Koplenig setze sich mit seiner ganzen Energie für die Beendigung des Fraktionskampfes ein, der die Partei an den Rand des Abgrunds führte. Mit Hilfe der Kommunistischen Internationale, besonders Georgi Dimitroffs, bildete sich aus den gesunden Kräften vor allem aus den Provinzorganisationen und den Aktivisten im Kommunistischen Jugendverband ein parteitreuer Kern. An seine Spitze trat Johann Koplenig, der sich als Landessekretär durch seine Parteitreue, seine Ablehnung der Fraktionisten, seine Verbundenheit mit den Massen und sein organisatorisches Talent bewährt hatte. So wurde er im November 1923 nach Wien als Organisationssekretär berufen und vom Parteivorstand der KPÖ im Juni 1924 zum provisorischen Reichssekretär bestellt. Gemeinsam mit weiteren marxistisch-leninistischen Kräften in der Partei, unter anderen Franz Honner und Gottlieb Fiala, und des Kommunistischen Jugendverbandes unter Friedl Fürnberg gelang es der Parteiführung unter Koplenig in einer jahrelang dauernden, mühseligen, wahrhaft titanischen Kleinarbeit auf der Grundlage einer prinzipiellen marxistisch-leninistischen Politik, wie sie von der Komintern in ihren Richtlinien über die Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien festgelegt worden war, die Partei zu einigen. Die unbelehrbaren Fraktionen konnten isoliert und aus der Partei entfernt werden; die Partei begann sich ideologisch und organisatorisch zu festigen. Nach dem 8. Parteitag 1925 wurde Koplenig zum Reichssekretär der KPÖ gewählt, und er wurde auf allen folgenden Parteitagen an der Spitze der Partei bestätigt. Unter der Führung Kops, wie er bald liebevoll genannt wurde, nahm die Partei die Einheitsfrontpolitik auf gegen die Kapitaloffensive, gegen die Abwälzung der Lasten der Weltwirtschaftskrise auf die Werktätigen. Die KPÖ warnte die Arbeiterschaft vor der Gefahr des Faschismus, die die sozialdemokratischen Führer mit Beschwichtigungsphrasen abtun wollten. Als am 15. Juli 1927 die Regierung eine Protestdemonstration gegen den Freispruch faschistischer Arbeitermörder in Wien auseinanderschießen ließ, wobei etwa hundert Arbeiter getötet und tausend verwundet wurden, bekannte sich nur die KPÖ zu den Julikämpfen: „Wenn die Arbeiterschaft nicht rechtzeitig den Faschismus niederschlägt, wird er sie selbst niederschlagen!“, schrieb Koplenig in dem von der KPÖ noch während der Kämpfe verteilten Flugblatt5. Mit seiner Rede vor den Särgen der ermordeten Arbeiter wurde Koplenig in der breiten Arbeiteröffentlichkeit als Bannerträger der revolutionären Richtung in Österreich bekannt. Wegen dieser Rede und wegen des Flugblatts vom 15. Juli wurde er verhaftet und vor ein Geschworenengericht gestellt. In der Verhandlung am 9. Januar 1928 wurde der Angeklagte Johann Koplenig zum Ankläger gegen Kapitalismus und Faschismus, aber auch gegen die Tolerierungspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung. Unter der Wirkung seiner Rede sprachen ihn die Geschworenen mit Stimmenmehrheit frei.

Da die faschistische Gefahr immer drohender wurde, organisierte die KPÖ die Antifaschistische Aktion (Antifa), in der Zehntausende Arbeiter, auch Sozialdemokraten und Parteilose, versuchten, dem Faschismus den Weg zu versperren. Bei zahlreichen Gelegenheiten warnte Koplenig vor der faschistischen Gefahr und zeigte den Weg zu ihrer Beseitigung. Wegen der Organisierung einer Kundgebung gegen einen provokatorischen Faschistenaufmarsch im Oktober 1928 in Wiener Neustadt wurde er wieder verhaftet, doch wagte es die Staatsanwaltschaft diesmal nicht, ihn vor Gericht zu stellen.

Ermutigt durch Hitlers Machtantritt, verstärkte der Austrofaschismus seine Offensive gegen die Arbeiterklasse. Seit März 1933 wurde ohne Parlament mit Notverordnungen regiert, die KPÖ und der Republikanische Schutzbund, die sozialdemokratische Wehrorganisation, wurden verboten, die 1. Mai-Feier unterdrückt. Nach der Niederschlagung des bewaffneten Arbeiterkampfes im Februar 1934 wurden sämtliche nichtfaschistischen Arbeiterorganisationen, die SP und die Freien Gewerkschaften eingeschlossen, aufgelöst; der Austrofaschismus trat seine unverhüllte Diktatur an.

Die von der sozialdemokratischen Führung enttäuschten revolutionären Arbeiter wandten sich in großer Zahl der illegalen KPÖ zu, deren mehr als fünfzehnjähriger Kampf um die Massen Früchte zu tragen begann. Unter der Führung Koplenigs arbeitete die KPÖ die Taktik des illegalen Kampfes unter den Bedingungen der faschistischen Diktatur aus. Die Partei bemühte sich, die neuen Mitglieder so rasch wie möglich in den Kampf einzubeziehen. Sie orientierte auf die illegale Fortführung der verbotenen Organisationen, auf die breiteste Aktionseinheit aller politischen Richtungen in der Arbeiterklasse, auf die Ausnutzung aller legalen Möglichkeiten, auf die Wiedereroberung der demokratischen Rechte und auf die Abwehr des Hitlerfaschismus.

Die Führung der KPÖ bereitete von der benachbarten Tschechoslowakei aus, wo sie nun ihren Sitz hatte, den 12. Parteitag vor, auf dem Koplenig, der inzwischen von der Regierung ausgebürgert worden war, wiederum zum Generalsekretär gewählt wurde. Die Partei war vor allem um die Herstellung der Einheitsfront mit der illegalen Nachfolgeorganisation der SP, den Revolutionären Sozialisten (RS), bemüht und setzte sie trotz der Sabotage verschiedener RS-Führer mehrfach durch. Der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935, an dem Koplenig an der Spitze der österreichischen Delegation teilnahm, verarbeitete in seinen Beschlüssen auch die Erfahrungen dieser Politik der KPÖ und gab seinerseits neue, wichtige Denkanstöße, 30 Jahre später charakterisierte Koplenig den Kongress „als Wendepunkt in der Geschichte der kommunistischen Bewegung und als Beginn einer strategischen Umorientierung. Seine politische Bedeutung lag darin, dass er die Arbeiterklasse und alle Antifaschisten und Demokraten zum Widerstand und zur Gegenoffensive, zum Kampf gegen den Faschismus und die drohende Kriegsgefahr mobilisierte“6. Die vom Kongress gegebene Analyse des Wesens des Faschismus, seine Strategie der Einheits- und Volksfront, seine Orientierung auf die Verteidigung selbst der bürgerlichen Demokratie und auf ihre Weiterentwicklung waren, wie Koplenig feststellte, eine große Hilfe für die KPÖ bei der Mobilisierung der Massen. Ohne ihr Endziel, die Erringung der Arbeitermacht und die Errichtung des Sozialismus, aus den Augen zu verlieren, proklamierte die KPÖ die Losung der Demokratischen Republik, um für den Kampf gegen den Faschismus noch weitere Volkskreise zu gewinnen. Koplenig, der seit 1929 Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) war, wurde in Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste zum Mitglied des Präsidiums des EKKI gewählt und blieb es bis zur Auflösung der Kommunistischen Internationale 1943.

Ein unvergängliches Verdienst Koplenigs ist es, erkannt zu haben, dass im Kampf gegen die als „Anschluss an Deutschland“ getarnten Annexionsgelüste des deutschen Imperialismus der Nachweis notwendig war, dass die Österreicher kein Bestandteil der deutschen Nation waren. Diesen Nachweis erbrachte auf seine Anregung der frühere Chefredakteur der Wiener „Roten Fahne“, Dr. Alfred Klahr, in einer marxistischen Untersuchung über die nationale Frage in Österreich. Ungeachtet vieler durch die Kühnheit und Neuheit der Fragestellung hervorgerufener Zweifel und Widerstände, bestätigte unter der Führung Koplenigs die Reichskonferenz der KPÖ im August 1937 in der Nähe von Prag die Erkenntnis, dass sich die Österreicher zu einer eigenen Nation entwickelten und erklärte den Kampf gegen die Annexion und für die Selbständigkeit Österreichs zu einem nationalen Kampf. Der Abwehr der drohenden faschistischen Aggression wurden alle Aufgaben unterstellt. Als der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg im Februar 1938 in Berchtesgaden das Kapitulationsabkommen mit Hitler unterzeichnete, entwickelte Koplenig in einer Beratung mit Vertrauensleuten aus Wiener Betrieben den Plan einer Resolutionskampagne in den Betrieben. In kürzester Frist wurden eine Million Unterschriften für ein selbständiges Österreich gesammelt. Entgegen den sektiererischen Parolen der RS-Führung „Erst Freiheit, dann Kampf“, die auf den Verzicht auf den nationalen antifaschistischen Kampf hinausliefen, erklärten sich die Arbeiter bereit, jede Regierung zu unterstützen, die dem deutschen Faschismus Widerstand leisten und Österreich verteidigen wollte. Im Kampf gegen die Annexionsdrohung konnten die österreichischen Arbeiter einige Schranken der Illegalität durchbrechen, aber die Schuschnigg-Regierung kapitulierte feige, sie gab den Rückzugsbefehl vor den einmarschierenden Hitlertruppen; ihr christlichsozialer Bundespräsident ernannte eine Regierung aus Anhängern der Nazipartei. Österreichs Selbständigkeit war ausgelöscht.

Als die treuesten Söhne der Nation erwiesen sich die Kommunisten. Unter dem Vorsitz Koplenigs fassten die von Prag aus wirkenden Mitglieder des Zentralkomitees in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 jenen historischen Aufruf an das österreichische Volk, in dem die feste Überzeugung ausgesprochen wurde: „Durch seine eigene Kraft und durch die Hilfe der Weltfront des Friedens wird ein freies, unabhängiges Österreich wiedererstehen“7. Die KPÖ war die einzige Partei, die an dieser Losung festhielt. Die bürgerlichen Parteien und die katholische Kirche begrüßten Hitler als Retter vor dem Bolschewismus; der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Dr. Karl Renner forderte auf, bei der „Volksabstimmung“ über den „Anschluss“ mit „Ja“ zu stimmen. Die emigrierten sozialdemokratischen Führer mit Otto Bauer und Friedrich Adler wandten sich gegen die, wie sie schrieben, „reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs“ und stellten ihr die scheinradikale Parole „der gesamtdeutschen Revolution“, später in „gesamteuropäische Revolution“ umgewandelt, entgegen, die nur geeignet war, vom konkreten Kampf abzulenken und die Mobilisierung der Massen für den Kampf gegen den Faschismus zu erschweren. Koplenig aber schrieb demgegenüber: „Für das österreichische Volk ist der Kampf um seine Unabhängigkeit nicht zu Ende. Es wird niemals eine ihm aufgezwungene Fremdherrschaft anerkennen“8.

Kurze Zeit darauf mussten Koplenig und die anderen ZK-Mitglieder die Tschechoslowakei verlassen und die Leitung der Partei nach Paris verlegen. Ein Jahr war notwendig, um die Verbindungen mit Österreich wieder neu zu knüpfen, den Druck und Transport der illegalen Druckschriften und des illegalen Zentralorgans, „Die Rote Fahne“, zu organisieren. Eine Vollsitzung des Zentralkomitees mit Delegierten aus dem Land wurde vorbereitet. Sie fand Anfang Juni 1939 an der Peripherie von Paris statt und bekräftigte, dass die Kommunisten sich an die Spitze des nationalen Freiheitskampfes des österreichischen Volkes stellen mussten. Mit den verschärften Kampfbedingungen wurden neue Arbeitsmethoden notwendig. Im Lande selbst existierten lange Zeit illegale zentrale und Gebietsleitungen der Partei. Zu ihrer Anleitung, aber auch zum Schutz der Kader veranlasste Koplenig eine Anweisung des ZK an alle Parteimitglieder, in der es hieß: „Du bist die Partei! Je schwieriger die Bedingungen des Kampfes werden, umso größer wird die Rolle und die Verantwortung jedes einzelnen Kommunisten, der nicht erst auf Verbindung nach oben warten soll, wenn sie abgerissen ist, sondern in seinem Wirkungskreis die Politik der Partei durchführen muss“9.

Volle Unterstützung fand der Kampf des österreichischen Volkes für seine Unabhängigkeit bei der Kommunistischen Internationale und besonders bei der KPD, zu der Koplenig seit je enge Beziehungen hatte. Mit Wilhelm Pieck verband ihn bis zu dessen Tode eine jahrzehntelange innige Freundschaft. Den Kampf der deutschen Partei gegen die Aufrichtung der Hitlerdiktatur hatte Koplenig mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt. Ich erinnere mich, wie er im Februar 1933 nach der Nachricht vom Reichstagsbrand in Berlin den kurzen Winterurlaub, den er mit uns, einigen Mitarbeitern des zentralen Parteiapparates, in der Naturfreundehütte am Feuerkogel in Salzburg verbrachte, unvermittelt unterbrach, um die Kampagne für die Unterstützung der KPD zu leiten. Nach der Annexion Österreichs gestaltete sich das Bündnis mit der KPD noch enger: Koplenig wurde in das ZK der KPD gewählt und nahm an den Leitungssitzungen in Paris mit Wilhelm Pieck, Franz Dahlem und Walter Ulbricht teil. Die KPÖ blieb dabei eine selbständige Partei, und die KPD bekannte sich zum Recht Österreichs auf nationale Unabhängigkeit.

Ständigen Kontakt hatte Koplenig in Paris auch mit dem Generalsekretär der FKP Maurice Thorez, mit den Führern der KPTsch und dem Führer der italienischen Bruderpartei Palmiro Togliatti (Ercoli), der zu dieser Zeit zumeist in Spanien weilte, wo er am nationalrevolutionären Befreiungskampf des spanischen Volkes gegen den Faschismus teilnahm. In einem Brief an das aus Österreichern gebildete Bataillon „12. Februar“ der Internationalen Brigaden drückte Koplenig im Namen der Partei den Stolz auf die etwa 2000 österreichischen Freiwilligen aus, die in Spanien von 1936 bis 1939 kämpften.

Nach der Entfesselung des zweiten Weltkrieges durch den faschistischen deutschen Imperialismus im September 1939 beschloss die österreichische Parteiführung, der Aufforderung der französischen Regierung zur Registrierung der im französischen Exil lebenden Ausländer keine Folge zu leisten. Auf Beschluss der Parteiführung fuhr Koplenig zusammen mit dem ZK-Mitglied Franz Honner und dessen Frau Grete mit norwegischem Pass auf einer abenteuerlichen Reise über die Schweiz, Italien, Jugoslawien und Bulgarien nach Moskau, wo er Ende Oktober 1939 ankam und Arbeit im Apparat des EKKI aufnahm: Sie bestand vor allem in der Aufrechterhaltung der Verbindungen mit Österreich, in der Vorbereitung auf die Rückkehr ins Land. Als im Juni 1941 Hitler die Sowjetunion überfiel und in Österreich die ersten Siegesmeldungen verbreitet wurden, antwortete Koplenig über Radio Moskau: „Österreicher! Lasst Euch von Hitler nicht ins Feuer schicken, er wird den Krieg nicht gewinnen. Helft mir, Hitlers Niederlage zu beschleunigen. Sie bringt das Ende des Krieges und für Österreich die Freiheit!“10.

Der Widerstand in Österreich, an dessen Spitze die Kommunisten standen, steigerte sich trotz Terror und Verfolgung nach dem Überfall auf die Sowjetunion. In der Sowjetunion bemühte sich die Führung der KPÖ darum, dass die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs ausdrücklich zu einem der Kriegsziele der Sowjetunion erklärt wurde. Mit Unterstützung Dimitroffs, Gottwalds und Togliattis brachte Koplenig im ZK der KPdSU erfolgreich diese Frage vor, und im November 1943 setzte die Sowjetregierung auf der Moskauer Außenministerkonferenz der Alliierten die Wiederherstellung Österreichs als eines der gemeinsamen Kriegsziele durch. In einer Rede im Moskauer Rundfunk verwies Koplenig darauf: „Uns wurde eine große Chance gegeben. Es liegt an uns, sie zu nützen“11. Er rief dabei zur Bildung einer „mächtigen österreichischen Freiheitsfront“ auf.

Nach der Deklaration der Alliierten setze sich Koplenig bei der Politischen Verwaltung der Roten Armee dafür ein, dass die österreichischen Kriegsgefangenen gesondert zusammengefasst wurden. Ein Antifaschistisches Büro österreichischer Kriegsgefangener (ABÖK) wurde gegründet, in dessen aufklärerische Tätigkeit sich Koplenig aktiv einschaltete. Hier wurden Vorträge über die nationale Frage, die politische Lage und das volksfeindliche Wesen des Faschismus gehalten; für Interessenten wurde eine intensive marxistisch-leninistische Schulung organisiert.

Am 1. April 1945 erreichte die siegreiche Rote Armee, von Ungarn kommend, die österreichische Grenze. Einige Tage darauf wurde Wien befreit. Am 13. April traf Koplenig aus Moskau in Wien ein, am 18. April kamen Friedl Fürnberg und Franz Honner, die mit dem Ersten Österreichischen Freiheitsbataillon an der jugoslawischen Grenze gekämpft hatten. Das ZK der KPÖ nahm seine Arbeit in Wien wieder auf. Die Partei trat an die Öffentlichkeit mit dem in der Illegalität erarbeiteten Programm für ein demokratisches und selbständiges Österreich. Zu den ersten Beschlüssen des ZK der KPÖ gehörte die Zustimmung zu der von den Sowjetbehörden vollzogenen Betrauung des alten Sozialdemokraten Renner mit der Bildung der Provisorischen Regierung Österreichs. Koplenig wurde Mitglied des dreiköpfigen „Kabinettsrates“, was der Funktion eines Vizekanzlers entsprach. Am 27. April 1945 unterschrieb er für die KPÖ die Proklamation über die Wiederaufrichtung der Republik Österreichs. Das erste Ziel musste die Wiederherstellung des Wirtschaftslebens sein. Wie in den Zeiten der Illegalität, so war auch jetzt die KPÖ die Vorkämpferin für die Einheit der Arbeiterorganisationen. Mit besonderem Nachdruck trat Koplenig gegen die Zersplitterung der Gewerkschaftsorganisationen auf: zusammen mit Franz Honner und Gottlieb Fiala nahm er führenden Anteil an der Besprechung mit sozialistischen Gewerkschaftsfunktionären in der die Grundsätze für den einheitlichen Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) beschlossen wurden.

Am 13. Mai 1945 sprach Koplenig auf der ersten legalen Parteikonferenz der Wiener Kommunisten, er verlangte die Stärkung der Kommunistischen Partei und die Herstellung einer engen Kampfgemeinschaft mit der neu entstandenen Sozialistischen Partei Österreichs: Die Lösung der Kommunisten war „An die Arbeit!“ Aus diesem Grunde und um die Spaltung des Landes durch die Westmächte zu verhindern, erklärte sich die KPÖ auch mit vorfristigen Nationalratswahlen im November 1945 einverstanden, die ihr nur vier Mandate brachten. Koplenig schied aus der Regierung aus und wurde Sprecher der Opposition im Nationalrat: die Führung der Regierung übernahm die bürgerliche Österreichische Volkspartei in Koalition mit der SPÖ. Ihr Ziel war die Wiederherstellung des österreichischen Kapitalismus mit Hilfe des Marschall-Planes und auf Kosten der Lebenshaltung der Werktätigen. Eine bedeutsame Rolle spielten dabei die gegen den von vielen Arbeitern geteilten Widerstand der Kommunisten abgeschlossenen Lohn- und Preispakte zwischen der Führung des Gewerkschaftsbundes und den Unternehmervertretern. Beim 4. Pakt riss im Oktober 1950 die Geduld der Arbeiter: Aus einem spontanen Streik in Oberösterreich wurde, mit der KPÖ als Organisator, ein Massenstreik in Wien, Niederösterreich und in der Steiermark. Unter dem Vorwand, die Kommunisten planten einen Putsch, schlug die Regierung unter Einsatz mit amerikanischen Geldern aufgestellter Schlägerbanden den Streik nieder. Die Führung der SPÖ glaubte, dass damit die Kommunistische Partei in Österreich eine endgültige Niederlage erlitten hätte. Aber unter Führung Koplenigs hat sich die KPÖ fester mit der Arbeiterschaft verbunden. Bei den folgenden Betriebsrätewahlen konnte sie bedeutende Erfolge erzielen; bei den Präsidentschaftswahlen von 1951 erreichte der Kommunist Gottlieb Fiala 210.000 Stimmen.

Ein dauerndes Verdienst um Österreich erwarb sich Koplenig durch den unter seiner Führung geführten Kampf um die Neutralität als Voraussetzung für den Staatsvertrag Österreichs. Während die Regierungsparteien den kalten Krieg gegen die Sowjetunion mitmachten und auf die Zurückdrängung der Sowjetunion hofften, erläuterte Koplenig unermüdlich, dass nur die Neutralität Österreichs den Staatsvertrag bringen konnte. Dabei musste die Neutralität nicht nur die militärische Seite, sondern die ganze Außenpolitik betreffen. Österreich sollte den Willen bekunden, „keinerlei einseitige politische oder wirtschaftliche Bindungen einzugehen und im Interesse des Friedens freundschaftliche Beziehungen mit allen Ländern anzustreben“12.

Lange Zeit waren die Kommunisten und wenige Linke die einzigen Verfechter dieser Neutralität, wofür sie beschimpft, verleumdet und als „Hochverräter“ behandelt wurden. Aber unter dem Eindruck des veränderten Kräfteverhältnisses in der Welt konnten realistisch denkende Kräfte in Österreich eine Wendung durchsetzen, und im April 1955 wurde in Moskau auf der Basis der ständigen Neutralität Österreichs Übereinstimmung über die Grundlagen des Staatsvertrages erzielt. Mit Recht konnte Koplenig in der Nationalratssitzung vom 28. April 1955 den Erfolg des jahrelangen Kampfes der KPÖ und der von ihr geführten Volksopposition um die Neutralität Österreichs begrüßen und feststellen, dass „das Moskauer Abkommen für Österreich ein geschichtlicher Wendepunkt“ ist13.

Mit dem Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der Besatzungstruppen begann für die KPÖ eine neue Zeit der Bewährung in härtesten Kämpfen. In Koplenig hatte sie dabei einen Führer, der unabwandelbare Treue zum Marxismus-Leninismus mit der Fähigkeit verband, neue Gegebenheiten und Entwicklungen rasch zu erkennen und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Beispiel dafür war die kollektive Ausarbeitung der programmatischen Leitsätze „Österreichs Weg zum Sozialismus“, die auf dem 17. Parteitag der KPÖ 1957 als Grundlage gebilligt und auf einer Konferenz im Februar 1958 endgültig angenommen wurden, was der 18. Parteitag 1961 nochmals bestätigte. Ihr Kernstück ist die Bejahung der Möglichkeit eines friedlichen Weges zum Sozialismus in Österreich.

Unerschütterlich war Koplenigs Glaube an die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei, war die Erkenntnis, dass sich die Partei enger mit der Klasse verbinden musste. Als Antwort auf die Verleumdungs- und Verfolgungskampagne gegen die KPÖ, die nach Abschluss des Staatsvertrages einsetzte und nicht wenige zum Schwanken und zur Abkehr brachte, wies Koplenig auf die Notwendigkeit der verstärkten Aktionseinheit mit den sozialistischen und parteilosen Arbeitern, besonders in den Betrieben, hin. Beharrlich vertrat er die aus der Geschichte der Partei geschöpfte Überzeugung, dass unermüdliche Arbeit auch unter den schwersten Bedingungen mit der Zeit ihre Früchte bringt. Ebenso unerschütterlich war Koplenings Internationalismus und seine Treue zur Sowjetunion. Er war Delegierter der KPÖ auf vielen internationalen Konferenzen. Als Gast des XX. Parteitages der KPdSU 1956 propagierte er in Österreich dessen neue Erkenntnisse und Schlussfolgerungen. Er unterstrich immer wieder, dass das Bekenntnis zur Sowjetunion „für die kommunistische Bewegung entscheidend und für jeden Kommunisten unabdingbar“ ist14.

Als glühender Internationalist verurteilte Koplenig den konterrevolutionären Umsturzversuch in Ungarn 1956, begrüßte er die Hilfe der Sowjetunion für die Erhaltung der Arbeitermacht in Ungarn. Daran konnten ihn auch nicht die Angriffe der bis in die Spitze der KPÖ eingedrungenen revisionistischen Elemente hindern, die sich nach den Ereignissen in der Tschechoslowakei 1968 zu einer regelrechten Hetzkampagne steigerten. Ihnen, die eine Distanzierung von der Sowjetunion forderten, antwortete Koplenig: „Jede Distanzierung einer Kommunistischen Partei oder von Kommunisten von der Sowjetunion oder von anderen Ländern des Sozialismus führt unvermeidlich in den Sumpf des Reformismus und muss dahin führen“15. Mit Stolz und tätiger Solidarität verfolgten die KPÖ und Koplenig auch den Aufbau des Sozialismus in der DDR, sie forderten immer wieder die Anerkennung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch die österreichische Regierung; sie traten der Verleumdungskampagne anlässlich der Sicherung der Staatsgrenze der DDR im August 1961 entgegen; sie verbreiteten die Wahrheit bei dem von der SED geleiteten Aufbau des Sozialismus auf deutschem Boden.

Mit Leidenschaft verteidigte Koplenig die Einheit der kommunistischen Weltbewegung, auch nach der Auflösung der Kommunistischen Internationale. Grundsätzlich Anhänger der in der neuen historischen Situation notwendigen und einzig zweckmäßigen vollen Selbständigkeit und Autonomie jeder einzelnen kommunistischen Partei, stellte er an die erste Stelle ihre Verantwortung „nicht nur für das Schicksal ihres eigenen Landes, sondern auch für die Einheit und Geschlossenheit der kommunistischen Weltbewegung“16. In diesem Sinne trat Koplenig auch auf der Beratung der 81 kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1960 auf. Im Bericht des ZK an den 18. Parteitag der KPÖ im April 1961 wiederholte er: „Gleichzeitig sind alle kommunistischen Parteien durch die Gemeinsamkeit der Ideen des Marxismus-Leninismus und durch die internationale proletarische Solidarität aufs engste miteinander verbunden: sie tragen gemeinsam Verantwortung für das Schicksal der Völker, für deren Erfolg und deren endgültigen Sieg“17.

Von den Charaktereigenschaften Koplenigs muss noch seine besondere Liebe und sein Vertrauen zur Jugend hervorgehoben werden. In seiner gesamten politischen Tätigkeit trat er für die Heranziehung der Jugend zu Parteifunktionen, für die Verschmelzung der alten und jungen Kader ein. Koplenig, der sich aus gesundheitlichen Gründen von der unmittelbaren Leitungstätigkeit zurückziehen musste, wurde auf dem 19. Parteitag der KPÖ im Mai 1965 zum Ehrenvorsitzenden der Partei gewählt. Auch in dieser Funktion nahm er weiter aktiven Anteil am Kampf der Partei; besonders an der Überwindung der rechtsopportunistischen und revisionistischen Tendenzen, die der Partei schweren Schaden gebracht und sie vor die Gefahr der Spaltung gestellt hatten. In diesem Kampfe verzehrten sich die durch die Krankheit geschwächten Lebenskräfte Koplenigs. In seinem letzten Brief, den er kurz vor dem Tode zum 50. Jahrestag der Gründung der KPÖ im November 1968 schrieb, gab er seiner unerschütterlichen Hoffnung Ausdruck auf „die Sicherung der Einheit der Partei, die Zurückweisung aller Versuche, sie zu spalten und einen Bruch mit der Sowjetunion herbeizuführen“18.

Johann Koplenig starb am 13. Dezember 1968. Sein Tod wurde weit über die Grenzen Österreichs in der internationalen Arbeiterbewegung betrauert. Mit ihm verschied das letzte Mitglied des einstigen Präsidiums der Komintern. In der Würdigung des ZK der KPÖ wurde hervorgehoben, dass er für die österreichische Partei „ihre profilierteste, ihre markanteste, von ihrer Geschichte geformte Persönlichkeit“ gewesen war, und er „auch in der internationalen kommunistischen Bewegung hohe Wertschätzung“ genossen hat19. 1967 war Koplenig durch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet worden. Das ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion würdigte ihn „als unermüdlichen Kämpfer für die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen Österreichs, als glühenden Antifaschisten und Internationalisten“20, das ZK der SED sah in ihm einen „konsequenten Marxisten-Leninisten und hervorragenden Führer der internationalen Arbeiterbewegung“21, dessen Andenken stets in Ehren gehalten werde. Die internationale Arbeiterklasse bewahrt das Andenken des Mannes, der von sich selbst sagte: Ich diene der Arbeiterklasse, meinem Volk und der Sache der internationalen proletarischen Solidarität, und dessen Herzenswärme der Autor in anderthalb Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit selbst kennengelernt hat.

Anmerkungen

1 Zit. in: E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse. Eine Biographie. Mit Reden und Schriften von Johann Koplenig, Wien 1971, S. 13/14.

2 Zit. ebenda, S. 19.

3 Vgl. A. V. Ananev: Johan Koplenig na Urale, Perm 1965.

4 W.J.Lenin: Notizen eines Publizisten. In: Werke, Bd. 30, S. 350.

5 Wiederabgedruckt in E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 108/109.

6 J. Koplenig: ein Wesenszug der Leninschen Strategie und Taktik. Rede bei dem Internationalen Treffen in Prag anläßlich des 30. Jahrestages des VII. Weltkongresses der Komintern. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 12/1965, S. 967.

7 Rundschau (Basel), 16/1938, S. 483. – Vgl. A. Reisberg: Februar 1934, Wien 1974, S. 254.

8 Zit. in: E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 55.

9 Zit. in: Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs 1918–1955. Kurzer Abriss, Wien 1977, S. 207. – Vgl. auch E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 61/62.

10 Zit. in: E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 62.

11 Zit. ebenda. S 67.

12 Stenographisches Protokoll der Nationalratssitzung vom 16. April 1953. – Vgl. auch Österreichische Volksstimme (Wien), 17. April 1953.

13 Stenographisches Protokoll der Nationalratssitzung vom 28. April 1955. – Vgl. Österreichische Volksstimme, 29. April 1955.

14 Volksstimme, 27. Nov. 1968.

15 Zit. in E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 94.

16 Zit. ebenda, S. 95.

17 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Österreichs. Gekürztes Protokoll, Wien 1961, S. 146.

18 Der Brief ist enthalten in: E. Zucker-Schilling: Er diente seiner Klasse, S. 212/213.

19 Volksstimme, 14. Dez. 1968.

20 Ebenda, 17. Dez. 1968.

21 ND, 14. Dez. 1968.

V.4 Arnold Reisberg über Alfred Klahr

Im Oktober 1979 veranstaltete die Redaktion der theoretischen Monatsschrift der Kommunistischen Partei Österreichs „Weg und Ziel“ in Wien aus Anlass des 75. Geburtstages von Alfred Klahr ein Podiumsgespräch über die Entwicklung der österreichischen Nation und die Herausbildung des österreichischen Nationalbewusstseins.1 Mit Recht wurde kritisiert, dass Alfred Klahr noch immer nicht die ihm gebührende Anerkennung als wissenschaftlicher Pionier des österreichischen Nationalbewusstseins gefunden hat. In der nichtkommunistischen österreichischen Historiographie ist erst 1967 von Ernst Görlich in einer Monographie zur Zeitgeschichte von Klahr als dem „pointiertesten Vertreter des Gedankens der österreichischen Nation auf der äußersten Linken“2 geschrieben worden. Anerkannt wurde die Haltung der Kommunisten auch von Rudolf Neck, der 1972 feststellte: „Das historische Hauptverdienst der österreichischen Kommunisten lag in ihrem Widerstandskampf. Ihnen kam das Verdienst zu, bereits 1937 die Bedeutung der Österreicher als selbständige Nation postuliert zu haben.“3 Allerdings nennt er den Namen Klahr dabei nicht.

Dominierend in der nichtmarxistischen österreichischen Literatur ist hingegen, den reaktionären oder habsburgisch-monarchistischen Theoretikern das Primat daran zuzuschreiben, den Gedanken der österreichischen Nation entwickelt zu haben. Selbst der sozialdemokratische Historiker Wolfgang Neugebauer hat in einer Besprechung meines Buches „Februar 1934“ (Wien 1974) die dort enthaltene Feststellung, „die Kommunisten waren die ersten und einzigen, die auf der wissenschaftlichen Grundlage des Marxismus die Frage nach der Entstehung und dem Bestand einer eigenen österreichischen Nation gestellt und bejaht“ hatten, als „Irreführung und Verdrehung“ bezeichnet. Er versuchte, dieses Verdienst dem linkskatholischen Professor Ernst Karl Winter zuzuschreiben, der, Neugebauers Worten nach, „schon mehrere Jahre vor dem Kommunisten Alfred Klahr für die österreichische Nation eintrat“.4 In Wirklichkeit ist es Winter, der sich später als unbeugsamer Nazigegner erwies, nicht gelungen, das Wesen der Nation überhaupt zu erkennen. Für ihn bestand eine österreichische Nation aus einer Kombination von Verbundenheit mit nichtdeutschen Völkern in der österreichischen Monarchie und geistiger Verbundenheit mit Deutschland unter einer autoritativen, klerikalen Staatsführung.

Unter diesen Umständen scheint es notwendig, neben der wissenschaftlichen Untersuchung der Genesis des österreichischen Nationalbewusstseins und der Rolle der KPÖ in diesem Prozess auch das Wirken Alfred Klahrs darzustellen.

Alfred Klahr, geboren am 16. September 1904, war in Wien, 11., Novaragasse 17–19, wohnhaft, wo eine kleine Gedenktafel an sein Leben erinnert. Der Text der Gedenktafel lautet schlicht: „In diesem Haus lebte Dr. Alfred Klahr. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde er im Alter von 39 Jahren im Juli 1944 von den SS-Faschisten ermordet. Er kämpfte für ein freies demokratisches Österreich, für den Frieden und für das Glück der Menschheit. Mögen die Menschen sein Opfer verstehen.“

Schon als Kind lernte er bittere Not kennen, denn dem Vater, einem kleinen Angestellten der Wiener jüdischen Kultusgemeinde, gelang es nur mit großer Mühe, die siebenköpfige Familie über Wasser zu halten. Dennoch wurde dem einzigen Sohn eine höhere Schulbildung ermöglicht. Die Leiden des ersten Weltkrieges 1914 bis 1918, die materiellen Entbehrungen, Hunger und Kälte, die politische Unterdrückung schufen beim empfindsamen Mittelschüler des Realgymnasiums in Wien, 11., Sperlgasse, wo wir enge Freunde wurden, die ersten Voraussetzungen für die Aufnahme revolutionärer, sozialistischer Gedanken. Zum entscheidenden Faktor für seine ganze weitere Entwicklung wurde das begeisternde Erlebnis der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland. Unter dem Einfluss älterer Schulkameraden trat Alfred Klahr dem Kommunistischen Jugendverband in Wien-Leopoldstadt bei und erwarb ein gründliches, allseitiges marxistisch-leninistisches Wissen. Als Student der Staatswissenschaften wurde er 1924 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. 1928 promovierte er und arbeitete dann als Parteijournalist. Mit der Kommunistischen Partei wurde er für mehrere Monate Praktikant bei der Berliner „Roten Fahne“ und dann Redakteur der Wiener „Roten Fahne“. 1930 bis 1932 war er als Vertreter des österreichischen KJV in der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau tätig. Von der Partei wieder nach Wien zurückberufen, wurde er Mitglied des Polbüros des Zentralkomitees der KPÖ, übernahm die Leitung der Wiener „Roten Fahne“ und blieb auch nach ihrem Verbot 1933 Chefredakteur ihrer illegalen Ausgabe. Nach der Niederschlagung der bewaffneten Arbeiterkämpfe im Februar 1934 wurde Alfred Klahr verhaftet. Ende des Jahres wurde er entlassen und ins Ausland abgeschoben. Er begab sich nach Prag, wo sich damals die leitenden Mitglieder des Zentralkomitees mit Johann Koplenig an der Spitze befanden, und arbeitete dort an der Herausgabe der illegalen „Roten Fahne“ mit. Dann schickte ihn die Partei nach Moskau, wo wir uns wiedertrafen. Er übernahm die Leitung des österreichischen Sektors an der Internationalen Leninschule.

Ein unvergessliches Erlebnis war für uns die Mitarbeit in der österreichischen Delegation beim VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und die Teilnahme als Zuhörer bei seinen Sitzungen. Unter der Führung Georgi Dimitroffs vollzog die KI auf dem Kongress eine Wende in ihrer Massenpolitik, wobei neben den Erfahrungen der FKP mit ihrer Volksfrontpolitik auch die Ergebnisse der Einheitsfrontpolitik der KPÖ eine Rolle spielten. Doch noch in einer anderen Beziehung waren die Beratungen des VII. Weltkongresses von ausschlaggebender Bedeutung für die KPÖ: Dimitroffs Ausführungen zur nationalen Frage. Der Held des Leipziger Reichstagsbrandprozesses hatte im Prozess das Beispiel einer offensiven Verteidigung der nationalen Ehre des eigenen Volkes gegeben. Auf dem Kongress warnte er in eindringlichen Worten vor der Unterschätzung der nationalen Frage im Kampf gegen die Ideologie des Faschismus: „Kommunisten …, die nichts tun, um vor den werktätigen Massen die Vergangenheit ihres eigenen Volkes historisch treu, in wirklich marxistischem, leninistisch-marxistischem Geiste zu beleuchten, um ihren gegenwärtigen Kampf mit den revolutionären Traditionen ihres Volkes in der Vergangenheit zu verbinden, solche Kommunisten überlassen alles, was in der historischen Vergangenheit der Nation wertvoll ist, freiwillig den faschistischen Fälschern zur Verdummung der Volksmassen … Derjenige, der glaubt, auf alle nationalen Gefühle der werktätigen Massen zu pfeifen, der ist vom wirklichen Bolschewismus weit entfernt.“ Dimitroff erinnerte dabei an den grundlegenden Artikel Lenins aus dem Jahre 1914 „Über den Nationalstolz der Großrussen“ und verwies darauf, „dass das Proletariat, das sich gegen jede Knechtschaft und gegen jede nationale Unterdrückung auflehnt, der einzige wirkliche Kämpfer für die nationale Freiheit und Unabhängigkeit des Volkes ist.“5

In dieser Zeit stellte Dimitroff in einem Gespräch mit den führenden österreichischen Kommunisten Johann Koplenig und Friedl Fürnberg die Frage, ob die nicht angesichts der Bedrohung der Selbständigkeit Österreichs durch den deutschen Faschismus die nationale Frage in Österreich neu überdenken sollte.6 Konkret stellte sich die Frage, ob die bisherige Ablehnung des Anschlusses Österreichs an Deutschland durch die bei gleichzeitiger stillschweigender Annahme, dass die Österreicher staatlich getrennter Bestandteil der deutschen Nation seien, genügte, um den durch Hitler hochgeschürten Annexionsgelüsten des deutschen Imperialismus wirksam Widerstand zu leisten. Entgegen bürgerlichen und sozialdemokratischen Entstellungen war die KPÖ die einzige politische Partei im Land, die von Anfang an den Anschlussrummel nicht mitgemacht hatte. Sie hatte schon auf der zweiten Rätekonferenz 1919 erklärt, dass sie „einen Anschluss an jenes Deutschland, wie es vor uns steht und durch Noske verkörpert wird, nicht wünscht“.7 Auf dem 4. Parteitag der KPÖ 1921 war der Anschluss wieder in einer ausführlichen Resolution abgelehnt worden: „Die Kommunisten bekämpfen daher die Parole Anschluss als illusionär und konterrevolutionär.“(8) Diese prinzipielle Haltung hinderte die KPÖ nicht, scharf gegen das Anschlussverbot im Friedensvertrag von St. Germain Stellung zu nehmen, mit dem das Selbstbestimmungsrecht des österreichischen Volkes durch die Ententeimperialisten vergewaltigt wurde.

Im Gegensatz hierzu haben sich sowohl die bürgerlichen Parteien als auch die österreichische Sozialdemokratie vom ersten Tage der österreichischen Republik an großdeutsch orientiert. Als ersten Satz der Verfassung vom 12. November 1918 deklarierten sie: „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“. An diesen Satz konnte die Propaganda der deutschen Faschisten „Ein Volk, ein Reich“ anknüpfen. Erst im Oktober 1933 hat der sozialdemokratische Parteitag angesichts der Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit durch den Hitlerfaschismus den Anschlussparagraphen im Parteiprogramm vorläufig ausgesetzt (nicht etwa gestrichen).

Wertvolle Gedanken zur österreichischen nationalen Frage äußerte 1936 der Vertreter der KPÖ im EKKI, Oskar Großmann, in der ersten Nummer der theoretischen Zeitschrift der KPÖ „Weg und Ziel“: „In Österreich ringen zwei nationale Tendenzen miteinander; die österreichische und die deutschnationale; seit Hitler in Deutschland regiert, ist die österreichische Tendenz beträchtlich gewachsen, das Gefühl: ‚Wir sind ein eigenes Volk und lassen uns nicht Preußen gleichschalten‘.“9

Nach dem VII. Weltkongress und der Besprechung mit Georgi Dimitroff beauftragte die österreichische Parteiführung Alfred Klahr mit einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung der österreichischen nationalen Frage. In vielmonatigem intensivem Studium bei heißen Diskussionen mit den in Moskau weilenden Genossen der KPÖ gelang es Klahr auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie, einen klaren, von der bisherigen Auffassung abweichenden Standpunkt in der nationalen Frage Österreichs zu erarbeiten. Inzwischen war die Aktualität dieser Frage noch brennender geworden. Der austrofaschistische Regierungschef Kurt Schuschnigg hatte im Juli 1936 in Berchtesgaden ein Abkommen mit Hitler unterzeichnet, worin Österreich zum „zweiten deutschen Staat“ erklärt wurde. Damit war der Nazipropaganda für den Anschluss Tür und Tor geöffnet.

Die Ergebnisse seiner Arbeit veröffentlichte Alfred Klahr mit Zustimmung der Parteiführung in zwei Artikeln in „Weg und Ziel“ unter dem Pseudonym Rudolf. In der Vorbemerkung zum ersten Artikel hieß es: „Die Redaktion von ‚Weg und Ziel‘ eröffnet mit diesem bedeutungsvollen Artikel, dem weitere Artikel des Verfassers folgen werden, eine Diskussion über die nationale Frage in Österreich.“10

Klahr lehnte in seinen Artikeln die bisherige Auffassung ab, dass die nationale Frage in Österreich die Anschlussfrage bedeutete, dass das nationale Problem in Österreich ein Teilproblem der deutschen nationalen Frage war. Er wandte sich gegen die bis dahin im allgemeinen herrschende Vorstellung, „das österreichische Volk sei ‚selbstverständlich‘ ein Teil der deutschen Nation“. Auf Grund der Unterscheidung zwischen dem ethnographischen Begriff Volksstamm und dem Begriff Nation, zu der sich Deutschland erst mit der Entwicklung des Kapitalismus entwickelt hat, kam Klahr zu dem Schluss: „Der Kampf um die Einheit der Nation stand im Mittelpunkt der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts bis 1871. Eine einheitliche deutsche Nation, die auch den deutschen Stamm in Österreich miteingeschlossen hat, hat es aber – ‚streng genommen‘ – bisher in der Geschichte nie gegeben.“ Aus der Tatsache, dass die Österreicher ethnisch ein deutscher Stamm sind, dürfe keinesfalls gefolgert werden, dass das österreichische Volk zur deutschen Nation gehöre. Es hat unter anderen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen gelebt als die übrigen Deutschen im Reich und daher eine andere nationale Entwicklung genommen. Klahr wiederholte „Eine Einheit der deutschen Nation, in der auch die Österreicher miteinbezogen sind, hat es bisher nie gegeben und gibt es auch heute nicht.“ Auf der Grundlage der Trennung vom übrigen Deutschland, des Lebens unter anderen Bedingungen entwickelte sich auch eine besondere, eine österreichische Orientierung. Realistisch konstatierte aber Klahr die Eigenart der nationalen Entwicklung in Österreich: „Die Eigenart dieser nationalen Entwicklung besteht aber in jenem historischen Widerstreit zweier nationaler Richtungen, der österreichischen und der deutschen Orientierung, im österreichischen Volk. Dadurch ist die Herausbildung einer eigenen von der deutschen Nation verschiedenen österreichischen Nation nicht eindeutig das ganze Volk umfassend zu Ende gegangen …

Der Kampf dieser beiden nationalen Tendenzen, die mitten durch das österreichische Volk gehen, erfüllt die österreichische Geschichte. Deshalb ist die nationale Entwicklung der deutschen Österreicher zu einer besonderen österreichischen Nation nicht abgeschlossen.“ Es gab und gibt in Österreich zwei nationale Tendenzen. Die Machtergreifung Hitlers in Deutschland hat den Kampf der beiden nationalen Richtungen verschärft, ja „den Prozess der Entwicklung der österreichischen Nation beschleunigt“. Klar und eindeutig schlussfolgerte er, „dass die Scheidung des österreichischen Volkes vom übrigen Deutschland, die in der ganzen Periode seiner kapitalistischen Entwicklung bestand, und das Eigenleben unter besonderen Verhältnissen … seine Entwicklung zu einer besonderen Nation hervorriefen“.

Auf Grund dieser historischen Untersuchung beantwortete Klahr die Frage nach den politischen Schlussfolgerungen: „Können wir, die Kommunistische Partei und die revolutionäre Arbeiterklasse, die Entwicklung der österreichischen Nation offen anerkennen und fördern? Wir können dies nicht nur, wir müssen es heute tun und haben es bisher faktisch bereits getan.“ Denn der Kampf um die Aufrechterhaltung der staatlichen Selbständigkeit ist ein nationaler Kampf, ein Kampf für die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit. „Und die Aufgabe des revolutionären Proletariats und seiner Kommunistischen Partei ist es, in diesem Kampf an der Spitze des österreichischen Volkes zu stehen.“ Dieser Kampf ist gleichzeitig der Kampf um die Wiedereroberung der demokratischen Rechte gegen jede Spielart des Faschismus, ob austrofaschistisch oder nationalsozialistisch: „Die demokratische Republik wird die beste Garantie für die Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes sein.“ „Der Kampf um die nationale Selbstbestimmung des österreichischen Volkes“, erklärte er, „ist ein untrennbarer Bestandteil des allgemeinen demokratischen Kampfplanes der Partei. Er wird es der Partei und der Arbeiterklasse erleichtern, alle demokratischen Kräfte des Landes um sich zu scharen und die mächtige österreichische Volksfront zu schaffen, die die demokratische Republik erobern, die Unabhängigkeit des Landes sichern, dem Volk Brot und Freiheit bringen wird.“ Als echter Internationalist verwies Klahr darauf, dass die weitere selbständige Entwicklung des österreichischen Volkes nicht nur sein eigenes Interesse ist, sondern auch „das Interesse der internationalen Demokratie, des internationalen Proletariats, vor allem selbst des deutschen Proletariats“. Er hob dabei die „besonders enge Solidarität mit dem deutschen Volke“ hervor.

Klahrs Aufsätze führten zu einer leidenschaftlichen Diskussion. Es galt, die Parteimitglieder von der Richtigkeit und Lebenskraft der neuen Fragestellung zu überzeugen. Dabei mussten auch solche Meinungen überwunden werden, dass die Aufrollung der nationalen Frage eine Ablenkung vom Kampf um den Sozialismus wäre. Die nächste illegale Reichskonferenz der KPÖ in der Nähe von Prag im August 1937 nahm Klahrs Standpunkt an. Koplenig erklärte im Hauptreferat: „Kann man sagen, dass der Kampf um die Unabhängigkeit Österreichs heute auch ein nationaler Kampf ist? Ich glaube, dass in den Unabhängigkeitsbestrebungen des österreichischen Volkes heute soziale, religiöse und auch allgemein nationale Interessen des Volkes zum Ausdruck kommen, dass in diesem Kampf auch nationale Elemente vorhanden sind, die sich verstärken werden.“11

Die Konferenz billigte Koplenigs Referat ebenso wie das von Erwin Zucker-Schilling gehaltene Referat, in dem es u. a. hieß: „Der Unabhängigkeitskampf ist deshalb ein nationaler Kampf, weil er Aufgaben zu lösen hat, die das ganze Volk, und zwar das österreichische Volk betreffen … Der Kampf um die wirkliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit Österreichs … hat bereits in rapidem Maße die eigene nationale Entwicklung Österreichs gesteigert. Ein solcher Kampf ist ein nationaler Kampf — eine solche Entwicklung ist nationsformend besonders durch den Umstand, dass die historische Entwicklung Österreichs dazu die Grundlage geliefert hat.“12

Die neue Haltung der KPÖ stieß nicht nur bei den Deutschnationalen, sondern auch bei Sozialdemokraten, die an der unzweifelhaften Zugehörigkeit der Österreicher zur deutschen Nation festhielten, auf erbitterten Widerspruch. Die Nachfolgeorganisation der 1934 aufgelösten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, die Revolutionären Sozialisten, verhöhnten, gestützt auf Otto Bauer, die „absonderliche Konstruktion“ der Kommunisten und bekämpften die Losung „Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs“ als „reaktionäre Utopie“.13

Die theoretische Klarheit der KPÖ in der nationalen Frage ermöglichte es ihr, noch in der Nacht des Einmarsches der Hitlertruppen in Österreich vom 11. zum 12. März 1938 im Aufruf „An das Volk von Österreich, an alle Völker Europas und der Welt!“, die Losung der Wiedereroberung der staatlichen Unabhängigkeit Österreichs zu stellen: „Das österreichische Volk ist vergewaltigt worden, aber sein Glauben und seine Zuversicht sind ungebrochen. Der Kampf geht weiter. Durch seine eigene Kraft und durch die Hilfe der Weltfront des Friedens wird ein freies, unabhängiges Österreich wiedererstehen.“14 Die KPÖ war die erste und fast ein Jahrfünft lang die einzige österreichische Partei, die für die staatliche Souveränität eintrat.

Es war Alfred Klahr nicht vergönnt, den Tag der Befreiung Österreichs vom deutschen Faschismus zu erleben. Aus Moskau zur Verstärkung der Leitung nach Prag beordert, ging er nach dem Überfall Hitlers auf die Tschechoslowakei mit der Zentrale der KPÖ nach Paris. Zeitweise leitete er auch die österreichische kommunistische Emigrantengruppe in Belgien. 1940 in Frankreich interniert, gelang ihm die Flucht aus dem Lager und in die Schweiz. Dort erhielt er einen Pass auf den Namen Ludwik Lokmanis. Doch bei einer Razzia fiel er der Züricher Kantonspolizei in die Hände, die ihn trotz aller Bemühungen der Schweizer Kommunisten als angeblich lettischen Sowjetbürger an die französische Grenze abschob und der Vichy-Polizei auslieferte. Diese hielt ihn ein Jahr lang, bis August 1942, im Lager Le Vernet interniert. Sein Versuch, die Ausreise in die Vereinigten Staaten zu erlangen, blieb erfolglos, hingegen wurde er nach der Besetzung ganz Frankreichs durch Hitlerdeutschland von den Nazis im August 1942, noch immer unter dem Namen Lokmanis, ins KZ Auschwitz deportiert. Er hatte den Judenstern zu tragen und musste in der Kohlengrube Jawischnowica unter mörderischen Bedingungen 12 Stunden täglich arbeiten. Später wurde Klahrs Identität der zentralen illegalen Lagerleitung bekannt. Ihr gelang es, die Überführung Klahrs in das Zentrallager zu erreichen, wo er als Schreiber arbeitete. Klahr schaltete sich sofort in die illegale Parteiarbeit ein, vor allem mit großem Erfolg in die Schulungsarbeit. Für die Diskussionen, vor allem im Kreis der österreichischen kommunistischen Lagerhäftlinge, verfasste er eine insgesamt wertvolle Arbeit über die Wurzeln der besonderen Aggressivität des deutschen faschistischen Imperialismus. Eine Abschrift dieser Arbeit wurde aus dem Lager hinausgeschmuggelt und von polnischen Widerstandskämpfern nach Krakow gebracht. Sie wurde Ende 1956 der KPÖ übergeben und in „Weg und Ziel“ vollständig abgedruckt.15 Mit Recht konnte die Redaktion von „Weg und Ziel“ beim Abdruck des Artikels von Klahr feststellen: „Die Arbeit Alfred Klahrs widerspiegelt die große schöpferische Kraft, die der Marxismus-Leninismus auch unter den schwierigen Bedingungen verleiht, und die unzerstörbare Siegeszuversicht, die den Kommunisten in keiner Situation verlässt.“16

Als während der Frühjahrsoffensive der Roten Armee 1944 die illegale Lagerleitung die Flucht von Häftlingen organisierte, war auch Alfred Klahr dabei. Er floh gemeinsam mit dem Polen Stefan Bratkowski, aber es gelang ihnen nicht, zu dem vereinbarten Treffpunkt mit polnischen Partisanen zu kommen. Sie schlugen sich nun auf eigene Faust nach Warschau durch. Dort stieß er bei einer Razzia mit der deutschen SS zusammen und wurde von ihr erschossen. Bratkowski konnte noch an dem kurz danach ausgebrochenen Warschauer Aufstand teilnehmen, in dem er mit vielen Tausenden sein Leben ließ.

Das Leben Klahrs wurde viel zu früh beendet. Aber seine Ideen haben in der KPÖ fortgewirkt. Es war ein großer Triumph auch seiner Ideen, als unter tätiger Einflussnahme der KPÖ die Sowjetregierung die Moskauer Deklaration vom November 1943 durchsetzte, in der die Wiederherstellung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs zu einem Kriegsziel der Alliierten gegen Hitlerdeutschland erklärt wurde. Dieses Ziel wurde erreicht und im Staatsvertrag mit Österreich 1955 völkerrechtlich bekräftigt.

Anmerkungen

I Vgl. KPÖ immer für Österreich. Podiumsdiskussion über die österreichische Nation und die Herausbildung des österreichischen Nationalbewusstseins. Sondernummer von „Weg und Ziel“, Wien 1979.

2 E. J. Görlich: Die österreichische Nation und der Widerstand, Wien (1967), S. 28. – vgl. auch E. J. Görlich/F. Romanik: Geschichte Österreichs, Innsbruck 1970, S. 567/568. – Ähnlich auch H. Konrad: Widerstand an der Donau und Moldau. und KSC zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes Wien 1978. S. 143.

3 R. Neck: Innerpolitische Entwicklung. In: Österreich. Die zweite Republik. Hrsg. von E. Weinzierl / K. Skalnik, l. Bd. Graz 1972, S. 161.

4 W. Neugebauer: Ein KP-Epos. In: Die Zukunft (Wien), 22/1974, S. 30/31

5 VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 150 und 152.

6 Vgl. F. Fürnberg in: Weg und Ziel, 4/1976, S 163/164.

7 Ist Deutschösterreich reif zur Räterepublik?, Wien 1919, S 27.

8 Protokoll des 4. Parteitages der KPÖ, Wien 1921, S 72.

9 Weg und Ziel, 1/1936.

10 Weg und Ziel, 3 u. 4/1937, S. 126–133 u. 113–181. Die Artikelserie wurde nach der Befreiung Österreichs wiederholt nachgedruckt; zuletzt vollständig in der Sondernummer von „Weg und Ziel“: KPÖ immer für Österreich, Wien 1979, S. 23–32.

11 Koplenigs Referat wurde in einer Tarnbroschüre (Carl Steukert: Kleider- und Wäschestoffe) abgedruckt. — Über die Reichskonferenz berichtete ausführlich „Weg und Ziel“, 8–9/1931. In der Nr. 10 war Koplenigs Schlusswort auf der Reichskonferenz abgedruckt.

12 Weg und Ziel. 11/1931.

13 Vgl. O. Bauer: Nach der Annexion. In: Der Sozialistische Kampf (Paris), 2. Juni 1938.

14 Die Rote Fahne (Wien), März 1938.

15 Vgl. Eine Arbeit Alfred Klahrs in Auschwitz. In: Weg und Ziel, 1/1957, S. 27–37.

16 Ebenda, S. 27.