Die DDR war, das wusste A. R., noch keine sozialistische Gesellschaft, aber sie hatte, wie Jürgen Kuczynski nach 1990 festgehalten hat, Elemente, die die Zukunft der Sozialismus, wie ihn Karl Marx verstand, andeuteten. Kuczynski nennt: „Absolute soziale Sicherheit: Keiner brauchte auch nur einen Tag zu hungern oder war – bei wahrlich nicht guten Wohnverhältnissen – obdachlos. Keiner war arbeitslos“.183 A. R. genügte das, er kannte den Kapitalismus. Der Blick in die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse sollte beim ganzen deutschen Volk Verständnis für den Versuch wecken, dem Sozialismus in der DDR eine Basis zu geben. Dafür schien ein historisch wissenschaftliches, politisches und ideologisches Handbuch nützlich zu sein. Vorbildhaft war die viel gelesene Darstellung der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie von Franz Mehring (1846–1919). Walter Ulbricht (1893–1973), seit 1950 (bis 1971) an der Spitze des ZKs der SED, ergriff für eine Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung die Initiative. 1963 erteilte das ZK der SED mit Ulbricht dem IfML in Berlin den Auftrag, sich darum zu kümmern. Das IfML organisierte mit riesigem Aufwand etwa 200 Autoren aus vielen Bereichen der Gesellschaftswissenschaften, voran Historiker. Lothar Berthold, Sekretär des Autorenkollektivs, konnte auf dem 10. Plenum des ZK der SED (23. Juni – 25. Juni 1965) berichten, dass der Entwurf für eine achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung fertiggestellt sei.184 A. R. wird nur am Rande eingebunden gewesen sein, seine Aufgabenstellung war an den biographischen Forschungen zu Lenin ausgerichtet. Nach der Befreiung vom Faschismus wurden in der Sowjetischen Besatzungszone viele Werke von Lenin wie Was tun?, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus und Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution in dem am 30. Juni 1945 von der KPD gegründeten Verlag Neuer Weg in deutscher Sprache verlegt.185 Dass einige Schriften von Lenin von der Bevölkerung der DDR nicht bloß zur Verzierung in den Bücherschrank gestellt wurden, darf angenommen werden, zumal Lenin immer lesbar geschrieben hatte. Seine 1917 als Broschüre veröffentlichte Arbeit Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus ist die noch heute gültige Anatomie des Imperialismus. Lenin hatte in der Zürcher Zentralbibliothek, wohin er von der kleinen, mit Nadeshda Krupskaja (1869–1939) bewohnten Absteige in der Spiegelgasse der Zürcher Altstadt täglich geeilt war, aus einer Vielzahl von Büchern Materialien in 21 Heften exzerpiert, verarbeitet und trotz der Zensurbedingungen ohne intellektuelle Sklavensprache geschrieben. Lenin weist mit den Mitteln der marxistischen Analyse erstmals nach, dass der Kapitalismus sich zum Imperialismus entwickelt hat, der die Herrschaft der Monopole darstellt, der das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus ist, ein parasitärer, faulender, sterbender Kapitalismus, dessen Politik ständig zu Reaktion und Kriegen tendiert, aber in dem auch alle objektiven Voraussetzungen für seine revolutionäre Ablösung herangereift sind. A. R. verband die wissenschaftliche Erkenntnis von Lenin mit dem Sinn, für die Umgestaltung der Gesellschaft zu kämpfen.
Auf Grundlage der vom IfML beim ZK der KPdSU besorgten vierten Ausgabe der Werke von Lenin in russischer Sprache gab das für die deutsche Ausgabe allein autorisierte IfML beim ZK der SED Lenins Werke als Gesamtausgabe heraus, die 1965 mit vierzig Bänden und zwei Registerbänden abgeschlossen war, denen zwei Ergänzungsbände folgten. Ulbricht dankte den Mitarbeitern des IfML beim ZK der SED und des Dietz Verlages in einem Schreiben vom 25. April 1965 für die Fertigstellung der Ausgabe der Lenin-Werke. Die geschichtlichen Erfahrungen des deutschen Volkes mit den zwei verheerenden Weltkriegen würden die Lehre von Lenin nur bestätigen, „dass der Imperialismus in höchstem Maße antinational, Reaktion auf der ganzen Linie und der Todfeind der Nation ist.“186 A. R. war bei Spezialfragen, die sich bei der Herausgabe der Lenin-Werke ergaben, eingebunden.187 Wie aufmerksam er Notizen zu der von Lenin benützten Literatur verfolgte, zeigt seine Recherche zu einem in Erinnerungen von Krupskaja genannten Roman „Bei Mama“.188
Ausgangspunkt der Lenindarstellungen von A. R. waren die Schriften, Reden und Aufzeichnungen wie Briefe, die in den russischen Ausgaben der Werke von Lenin zur Verfügung standen und welche er wenigstens in den letzten Jahren seiner Verbannung in der Sowjetunion schon studieren und auswerten hatte können. In Moskau waren von 1956 bis 1960 Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin in drei Bänden vom Institut für Marxismus-Leninismus herausgegeben worden. A. R. betrieb keine Hagiographie über Lenin, sondern er dachte ganz im Sinne von Lenin selbst, der im Dezember 1906 geschrieben hatte, dass die Arbeiterklasse der ganzen Welt „Autoritäten“ brauche: „Die Marxisten können nicht auf dem üblichen Standpunkt des radikalen Intellektuellen stehen, der scheinrevolutionär verallgemeinernd erklärt: ‚Keine Autoritäten‘. Nein. Die Arbeiterklasse, die in der ganzen Welt einen schweren und hartnäckigen Kampf für die volle Befreiung führt, braucht Autoritäten, aber selbstverständlich nur in dem Sinne, in dem junge Arbeiter der Erfahrung alter Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung bedürfen […].“189
Lenin hatte sich seit dem Dekret über den Frieden vom 8. November 1917 grundlegend zu Fragen der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung geäußert. Zuletzt hatte Lenin den Bericht der sowjetischen Delegation auf der Genuakonferenz mit dem zwischen Sowjetrussland und dem imperialistischen Deutschland in Rapallo am 16. April 1922 abgeschlossenen Vertrag begrüßt (15. oder 16. Mai 1922) „als den einzigen richtigen Ausweg aus den Schwierigkeiten, dem Chaos und der Kriegsgefahr (solange zwei Eigentumssysteme, darunter ein so veraltetes wie das kapitalistische Eigentum, bestehen)“.190 Vor diesem Hintergrund hat A. R. als publizistische Empfehlung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Lenins Idee der Koexistenz gewählt. Das steht natürlich im Zusammenhang mit den Polemiken aus dem Westen um die mit 13. August 1961 eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der DDR-Grenze und den vielen öffentlich ausgetragenen Kontroversen mit Spitzenintellektuellen wie Ernst Bloch (1855–1977), der vorgab, seine groß angelegte Geschichte der Philosophie in drei Bänden in der DDR nicht veröffentlichen zu dürfen, und darüber in Westdeutschland schimpfte, ehe er dorthin ganz übersiedelte.191 Zuvor hatte der Dietz Verlag eine chronologische Anordnung mit Auszügen aus unterschiedlichen Artikeln von Lenin zu diesem Stoff herausgegeben.192 Zu persönlichen Hauptquellen gehörten neben den Erinnerungen von Nadeshda Krupskaja jene von John Reed (1887–1920). Dieser, aufgewachsen im luxuriösen Umfeld seiner reichen Familie in Oregon, der die mexikanische Bauernrevolution geschildert, die Standard Oil Company der Rockefellers geklagt und für Bergarbeiter Colorados gekämpft hatte sowie Mitbegründer der Communist Party of America war, hatte als Soldat der Revolution den Auftritt von Lenin am Abend des 26. Oktober 1917 auf der zweiten und letzten Sitzung des II. Sowjetkongresses mit dem Vorschlag zu diesem Dekret selbst erlebt. Sein Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten ist der unmittelbarste Bericht über die Revolution und wird vom Schweizer Kommunisten Konrad Farner (1903–1974) als „seltene Einheit von Kenntnis – Erkenntnis – Bekenntnis“ als ein „dokumentarisches Kunstwerk“ charakterisiert.193 Koexistenz bedeutet mit A. R. „Verzicht auf Krieg und jegliche Aggression“, nicht aber ideologische Koexistenz, weil es ideologische Koexistenz nicht geben könne. A. R. argumentiert für einen Friedensvertag beider deutschen Staaten. Gerade die Entspannung in Deutschland würde die Koexistenz beider gesellschaftlichen Systeme in der ganzen Welt fördern. Es gelte, den deutschen Imperialismus zu bändigen, so wie es die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder Europas auf ihrer Tagung in Rom vom 21. bis 24. November 1959 erklärten. Die Friedenskräfte der Welt, insbesondere die friedliebenden Kräfte in Westdeutschland müssten die volks- und friedensfeindliche Regierung von Konrad Adenauer (1876–1967) durch eine verständigungsbereite Regierung ersetzen. Erinnerte sich A. R. an seine Diskussionen über die Rolle von Nationen an der Leninschule im Jahre 1937? A. R. zitiert Walter Ulbricht, der als Hauptaufgaben für eine echte Friedenspolitik in Europa „die Stärkung der DDR als Bastion des Friedens, als Basis für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat“ definiert hatte.194 Auch nach seinem nicht freiwillig angebotenen Rücktritt blieb Ulbricht (1971) für A. R. Referenz. A. R. reihte sich als Internationalist in den von der DDR repräsentierten Teil des deutschen Volkes ein: „Von der Tätigkeit eines jeden einzelnen hängt es ab, einen dauerhaften Frieden für alle Zeiten zu sichern. Unsere guten Taten für die Republik sind gute Taten für eine Welt ohne Krieg“.195 Biographische Lenindarstellungen schrieb A. R. auch für breite Leserkreise populärwissenschaftlich, seine detaillierten und mit eindrucksvoller Ausdauer gesammelten Quellendokumentationen sind an Fachwissenschaftler zur Weiterarbeit adressiert. A. R. begann nach seiner Ankunft in Berlin im Grunde genommen direkt mit der wissenschaftlichen Produktion. Wie das möglich war, lässt sich nicht rekonstruieren, es müssen ihm in Mossalsk die Publikationen der sowjetischen Geschichtswissenschaft zur Verfügung gestanden sein. Die Jahre an der Leninschule waren zu lange her, Notizen und Bücher hatte er sich in das Lager nicht mitnehmen können. Die sowjetische Geschichtsforschung hatte nach dem Tod von Stalin einen Neuanfang gemacht, das kam mit Verzögerung der Geschichtswissenschaft in der DDR zugute. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) hatte als Regel für den Biographen gefordert, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt“ hat.196 Das geht über die Personalisierung der Geschichte weit hinaus und wurde von der historisch-materialistischen Geschichtsdarstellung aufgenommen. Die seit 1950 am IfML in Berlin wirkende Rosa Luxemburg-Forscherin Annelies Laschitza (1934–2018), seit 1972 Vizepräsidentin der 1958 gegründeten Historiker-Gesellschaft der DDR, veröffentlichte 1979 eine sehr in die Tiefe gehende historiographische Studie über den Durchbruch und die Fortschritte der Biographie als Genre der Geschichtswissenschaft der DDR.197 Dabei prangerte Laschitza die von der bürgerlichen und rechtssozialdemokratischen Biographik ausgehende Gefahr an. Deren „Luxemburg-Renaissance“ bezwecke letztlich, „die Fortschrittskräfte zu spalten und gegen den Marxismus-Leninismus einen personifizierten Kampf zu führen“. Bestätigung wie Anleitung war für A. R. die Biographie von Lenin, die von einem sowjetischen Autorenkollektiv unter Leitung von Pjotr Nikolajewitsch Pospelow (1898–1979) 1960 im Staatsverlag für politische Literatur in Moskau vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion herausgegeben worden war. Sie wurde hochrangig übersetzt von Else Zaisser (1898–1987), die auch die pädagogischen Schriften von Nadežda Konstantinovna Krupskja (1869–1939) betreut hatte, und im Dietz Verlag 1961 in einer ersten Auflage herausgegeben.198 A. R. zollte diesem auf umfangreicher Quellenbasis verfassten Buch höchste Anerkennung.199 Seine eigenen Pläne für die historisch materialistische Leninforschung hätten eine gewichtige Referenz erhalten. Diese neue Biographie sei mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und „mit leidenschaftlicher Parteinahme für die Ideen Lenins geschrieben“. A. R. zitiert den Leiter der Ideologiekommission Leonid Fjodorowitsch Iljitschow (1906–1990), der auf dem XXII. Parteitag (1956) erklärt hatte, die vielen Hindernisse für eine wissenschaftliche Biographie von Lenin wären ein Beispiel dafür, welche schweren Folgen für das geistige Leben der Partei und für die gesamte ideologische Arbeit der Personenkult gehabt habe. Der Personenkult habe die gesamte ideologische Arbeit unter das falsche Ziel gestellt, einer einzigen Person zu dienen. Erst jetzt erscheine Lenin „in seiner ganzen Größe als der Führer der Partei und des Volkes, der die Massen lehrt und von ihnen lernt. Der Mangel früherer Biographien, die Unterschätzung der Rolle der Partei und der Massen im Leben Lenins, wurde überwunden“. Die geschichtliche Bedeutung der vielen Mitkämpfer Lenins, die in früheren Biographien zugunsten einer irrational vergöttlichten Person unterging, werde jetzt „mit Liebe und Sorgfalt herausgearbeitet“. Für A. R. war die Leninbiographie Handbuch für seine Hingabe, den kommunistischen Kampf um Gerechtigkeit darzustellen:200
Die geniale Persönlichkeit Lenins konnte deshalb in ihrer ganzen historischen Größe zur Geltung kommen, weil er der bedeutendste russische Marxist war und in einer Zeit wirkte, in der die russische Arbeiterklasse durch die historische Entwicklung vor die Aufgabe gestellt worden war, die revolutionäre marxistische Theorie praktisch zu verwirklichen. Lenin, der kühnste und hervorragendste unter den Revolutionären, hat das letzte Wort der internationalen Gesellschaftswissenschaft, den Marxismus, auf die konkreten russischen Verhältnisse angewandt und entsprechend den neuen Bedingungen weiterentwickelt. Als Marxismus-Leninismus dient diese Wissenschaft der gesamten revolutionären internationalen Arbeiterbewegung als Anleitung zum Handeln.
Lenin suchte bereits in seinen Jugendjahren einen Ausweg aus der Barbarei des zaristischen Russlands, in dem sich eine hemmungslose Reaktion mit grausamster Ausbeutung des Volkes paarte. Dieses Bestreben „ließ ihn leidenschaftlich glühend nach einer Antwort suchen auf die Frage: Wie müssen die Wege der Befreiung der Werktätigen sein? Antworten auf seine Frage erhielt er bei Marx. Nicht wie ein Buchgelehrter ging er an Marx heran. Er ging an Marx heran wie ein Mensch, der Antworten auf quälende, dringende Fragen sucht. Und dort fand er diese Antworten“, schrieb seine Frau und Kampfgefährtin N. K. Krupskaja.
Lenins Schlussfolgerung aus den gewonnenen Erkenntnissen war der Kampf um die Gründung einer revolutionären, marxistischen Arbeiterpartei in Russland. Dabei hatte er – wie sein ganzes Leben lang – nicht nur gegen offene Gegner der Revolution, sondern auch gegen Verfälschungen der revolutionären Theorie zu kämpfen. Er verteidigte die Reinheit der marxistischen Lehre, denn „ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben“.
Von größter internationaler Bedeutung war Lenins Kampf gegen den „legalen Marxismus“. Die „legalen Marxisten“ waren bürgerliche Intelligenzler, die aus der Marxschen Lehre einseitig nur die These von dem progressiven Charakter des Kapitalismus gegenüber dem überlebten Feudalismus anerkannten. Das Wesen des Marxismus, die Lehre von Klassenkampf, von der sozialistischen Revolution, der Diktatur des Proletariats, lehnten sie jedoch ab und verherrlichten die kapitalistische Ordnung.
Der Versuch der „legalen Marxisten“, den Marxismus zu revidieren, war das erste Auftreten von Revisionisten auf russischem Boden. Aber der „legale Marxismus“ war nicht nur eine russische, sondern auch eine internationale Erscheinung. Aus den Reihen der bürgerlichen Intelligenz in die sozialdemokratischen Parteien eingedrungene Mitläufer versuchten, den Marxismus auch in vielen westeuropäischen Ländern zu revidieren. Deshalb war Lenins Kampf gegen den „legalen Marxismus“ in Russland gleichzeitig ein Kampf gegen den internationalen Opportunismus.
Mit den revolutionären Kräften der internationalen Sozialdemokratie fühlte sich Lenin eng verbunden. Als er 1895 seine erste Auslandsreise unternahm, um Verbindungen mit russischen sozialdemokratischen Emigranten, insbesondere mit [Georgi Walentinowitsch] Plechanow‘s [(1856–1918)] Gruppe „Befreiung der Arbeit“, aufzunehmen, da besuchte er auch führende Persönlichkeiten der internationalen Sozialdemokratie. In Paris traf er mit dem Schwiegersohn von Karl Marx, dem hervorragenden Propagandisten des Marxismus in der französischen und internationalen Arbeiterbewegung, Paul Lafargue [(1842–1911)], zusammen. Auf der Rückreise besuchte Lenin in Berlin einen der Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Wilhelm Liebknecht. Friedrich Engels konnte er wegen dessen schwerer Erkrankung nicht besuchten.
Lenin verfolgte die Tätigkeit der sozialdemokratischen Parteien Westeuropas mit großer Aufmerksamkeit. Nach dem Tode von Friedrich Engels begannen die Opportunisten einen offenen Feldzug gegen die marxistische Theorie und Praxis. Lenin befand sich damals in sibirischer Verbannung. [Eduard] Bernstein‘s [(1850–1932)] revisionistischer Feldzug gegen den Marxismus in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ rief die heftigste Empörung Lenins hervor. Bernstein propagierte durch die opportunistische Losung „Das Endziel ist nichts, die Bewegung ist alles“ den Verzicht auf den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse um die Diktatur des Proletariats. Der Franzose [Alexandre] Millerand [(1859–1943)] setzte die revisionistische Theorie in die Praxis um und trat in ein bürgerliches Kabinett zusammen mit General [Gaston de] Gallifet [(1830–1909)], dem Henker der Pariser Kommune, ein. Millerands Verrat wurde von Bernstein vollauf gebilligt.
Lenin trat für einen schonungslosen Kampf gegen den Revisionismus ein. Voller Empörung musste er feststellen, dass die Bernsteinianer in Deutschland nicht genügend Widerstand fanden. Dagegen begrüßte er die Artikel Plechanows gegen Bernstein. Zusammen mit N. K. Krupskaja übersetzte Lenin [Karl] Kautsky‘s [(1854–1938)] Schrift „Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik“ ins Russische.
Auch die reformistischen Anschauungen von S. und B. Webb, wie sie sich in ihrem Buch „Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine“ äußerten, wurden von Lenin unerbittlich kritisiert. Als das Bernsteinianertum mit den „Ökonomisten“ auch in Russland seine Anhänger fand, organisierte Lenin in der sibirischen Verbannung eine Beratung der politischen Verbannten, wo der von ihm geschriebene „Protest russischer Sozialdemokraten“ gegen die „Ökonomisten“ diskutiert und angenommen wurde. „Auf diese Weise lieferte Lenin dem Auftauchen des Bernsteinianertums auf russischem Boden eine entscheidende Schlacht und versetzte dem westeuropäischen Opportunismus, der die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern zu zersetzen begann, einen Schlag“ (S. 96).
Nach seiner Verbannung gelang es Lenin ins Ausland zu reisen, wo er die gesamtrussische illegale Arbeiterzeitung „Iskra“ herausgab. Diese Zeitung konnte nur dank der großen proletarischen Solidarität erscheinen, die die Arbeiter der verschiedensten Nationen untereinander verband. Lenin wohnte damals in München und bemühte sich um ständige Verbindung mit der deutschen Arbeiterbewegung. In München traf Lenin mit Rosa Luxemburg zusammen. Große Hilfe bei der Organisierung der Zeitung leistete die hervorragende Revolutionärin und spätere Mitbegründerin der KPD Clara Zetkin [(1857–1933)]. Auch der deutsche Sozialdemokrat Adolf Braun [(1862–1929)], der polnische Revolutionär Julian Marchlewski [(1866–1925)], der damals in München lebte, sowie deutsche Buchdrucker, die den russischen Schriftsatz besorgten, hatten namhaften Anteil an dem Gelingen des Werkes. Die erste Nummer der „Iskra“ wurde in Leipzig gedruckt. Die damalige Druckerei ist noch erhalten und heute als Gedenkstätte eingerichtet.
1902 erschien im Verlag von J.H.W. Dietz Nachfolger in Stuttgart Lenins Kampfschrift gegen den russischen und internationalen Opportunismus, das Buch „Was tun?“. Lenin untersuchte darin die Lage in der internationalen Sozialdemokratie und zeigte, dass in ihr ein unversöhnlicher Kampf zwischen der marxistischen und der neu aufgekommenen revisionistischen Richtung vor sich ging. Lenin analysierte die in den verschiedenen Ländern auftretenden unterschiedlichen Formen des Opportunismus (Millerandismus in Frankreich, Trade-Unionismus in England. Bernsteinianertum in Deutschland, Ökonomismus in Russland) und wies den internationalen Charakter des Opportunismus nach. Das Wesen des Opportunismus ist überall gleich. Unter der Maske der „Freiheit der Kritik“ beraubten die Opportunisten überall den Marxismus seines revolutionären Inhalts, wollten sie die Arbeiterbewegung in ein passives Anhängsel des bürgerlichen Liberalismus verwandeln. In „Was tun?“ arbeitete Lenin die große Rolle der revolutionären Theorie und die Rolle der marxistischen Partei als Führer und Organisator der Arbeiterklasse heraus. Er entwickelte die Ansichten von Marx und Engels über die proletarische Partei weiter und legte den Grundstein zur Lehre von der Partei neuen Typus.
Dank der Vorbereitungsarbeit der „Iskra“ gelang es im Januar 1903, den II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands durchzuführen, der die revolutionäre, marxistische Kampfpartei des Proletariats in Russland, die Bolschewiki, begründete. Die Entstehung des Bolschewismus war ein Wendepunkt in der internationalen Arbeiterbewegung. Zum erstenmal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung wurde nach dem Tod von Marx und Engels in ein Parteiprogramm der Kampf um die Diktatur des Proletariats als Hauptaufgabe der Partei der Arbeiterklasse aufgenommen.
Lenin zeigte, dass die Teilung der Sozialdemokratischen Partei Russlands in „Mehrheit“ und „Minderheit“, in Bolschewiki und Menschewiki, eine direkte und unausbleibliche Fortsetzung der Teilung der internationalen Sozialdemokratie in einen revolutionären und in einen opportunistischen Flügel war. Die theoretische Begründung und praktische Durchführung der organisatorischen Trennung von den Opportunisten in Russland war ein mächtiger Schlag gegen den internationalen Revisionismus. Das hatte gewaltige Bedeutung für die Weiterentwicklung der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt. Die Organisationsprinzipien der bolschewistischen Partei sind nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution genauso wie ihre theoretischen Grundlagen zum Gemeingut der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung geworden. Sie bilden auch die Grundprinzipien für die Tätigkeit der 88 kommunistischen und Arbeiterparteien, die gegenwärtig in allen fünf Erdteilen wirken.
Mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verschob sich das Zentrum der internationalen revolutionären Bewegung nach Russland. Die internationale Bedeutung der russischen Arbeiterbewegung und der Leninschen Ideen wuchs immer mehr. Die Revolution von 1905–1907 stellte das heldenhaft kämpfende russische Proletariat an die Spitze der internationalen Arbeiterklasse. Obwohl die Revolution niedergeschlagen wurde, vermittelte sie nicht nur den Völkern Russland wichtige Lehren. Sie brachte auch einen neuen Aufschwung des Befreiungskampfes in vielen Ländern Europas und Asiens; zum Beispiel half sie den deutschen Linken, neue Erkenntnisse in der Frage des Massenstreiks zu erlangen.
Während der Revolution erschien Lenins Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“. Seine Analyse der Revolution hat die Arbeiterschaft der ganzen Welt mit neuen theoretischen Waffen ausgerüstet, und die kommunistischen Parteien haben sie erfolgreich in ihren Ländern angewandt. So konnte Walter Ulbricht auf der 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1960 mit Recht erklären: „Wir haben die Leninsche Lehre nach 1945 auf die besonderen Entwicklungsbedingungen in Deutschland angewandt, indem wir im ersten Abschnitt der volksdemokratischen Revolution die Nutzanwendung zogen aus Lenins ‚Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution‘.“
Ausgehend von der Marxschen These von der permanenten Revolution und der Verbindung der proletarischen Revolution mit der revolutionären Bewegung der Bauern, arbeitete Lenin die Strategie und Taktik des Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution im Zeitalter des Imperialismus aus. Die Kernfrage der Leninschen Lehre von der Revolution war die Hegemonie des Proletariats und sein Bündnis mit den Bauern im Kampf um die Demokratie als die entscheidende Voraussetzung für das Hinüberwachsen in die proletarische Revolution, für den Kampf um den Sozialismus.
Ausführlich wird in der neuen Leninbiographie das internationale Wirken Lenins gewürdigt. Die Tätigkeit der Bolschewiki unter Führung Lenins in der II. Internationale und besonders ihr Auftreten auf deren internationalen Tagungen dienten der Zusammenfassung der revolutionären Elemente gegen die internationalen Opportunisten. Lenin nahm z. B. als Mitglied der russischen Delegation aktiven Anteil an der Arbeit des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale (1907). Dort entbrannte in einigen wichtigen Fragen ein leidenschaftlicher Kampf zwischen der revolutionären und der opportunistischen Richtung in der internationalen Sozialdemokratie. Lenin unternahm hier die ersten Schritte zu einer organisatorischen Zusammenfassung der revolutionären Elemente; er organisierte gemeinsame Beratungen der linken Sozialdemokraten im Kampf gegen die Opportunisten.
Zu heftigen Diskussionen kam es in der Kolonialfrage. Der Referent des Kongresses, der Holländer Henri van Kol [(1852–1925)], verteidigte die koloniale Unterdrückung durch die imperialistischen Länder, die er als deren „zivilisatorische Mission“ hinzustellen suchte. Lenins Auftreten trug entscheidend dazu bei, dass die Resolution van Kols abgelehnt wurde, obwohl die Hälfte der deutschen Delegation mit Bernstein und [Eduard] David [(1863–1930)] an der Spitze für sie stimmte.
In der Kommission, die sich mit dem Kampf gegen den Militarismus befasste, arbeitete Lenin eng mit Rosa Luxemburg zusammen. Zur Resolution des Referenten August Bebel brachten sie gemeinsam einen Zusatzantrag ein, der die Arbeiterparteien verpflichtete, nicht nur gegen die Entfesselung eines Krieges zu kämpfen, sondern im Falle eines Krieges die entstandene Krise zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.
Unermessliche internationale Bedeutung hatte Lenins Verteidigung und Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie. Unter dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie führten die Opportunisten einen massiven Kampf gegen den dialektischen Materialismus. An seine Stelle wollten sie reaktionäre idealistische philosophische Theorien setzen. Besonders gefährlich wurde der Versuch, die Ideen des „Empiriokritizismus“, der von den idealistischen Philosophen [Ernst] Mach [(1838–1916)] und [Richard] Avenarius [(1843–1896)] begründet worden war, in die Arbeiterbewegung einzuschmuggeln.
Karl Kautsky, der bis dahin als der Haupttheoretiker der II. Internationale galt, führte in der von ihm redigierten „Neuen Zeit“ keinen Kampf gegen den philosophischen Revisionismus. Plechanow nahm erst auf Drängen Lenins die Polemik mit den Machisten auf, ohne jedoch den Kampf zu Ende führen. Erst Lenins bedeutsames philosophisch-theoretisches Werk „Materialismus und Empiriokritizismus“ war, wie Lenin selbst schrieb, eine Kriegserklärung an den Revisionismus. Lenin zerschlug darin die machistische Verzerrung der neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaft und entwickelte den dialektischen Materialismus an Hand dieser Erkenntnis weiter. Gleichzeitig deckte er den reaktionären politischen Sinn der revisionistischen Angriffe auf. Die Ablehnung des Materialismus und der Dialektik durch die Opportunisten führte unausweichlich zur Leugnung des Klassenkampfes und der Diktatur des Proletariats, zur Absage an den revolutionären Sozialismus, zur Unterwerfung unter die bürgerliche Politik.
Lenin wies nach, dass der internationale Revisionismus, der den Einfluss der bürgerlichen Ideologie auf das Proletariat verkörpert, tiefe Wurzeln hat und bestehen wird, solange der Kapitalismus existiert. Tagtäglicher systematischer Kampf gegen den internationalen Revisionismus – das war die Schlussfolgerung aus Lenins unsterblichem Werk.
„Dieses Werk spielte“, heißt es in der Biographie, „eine außerordentlich wichtige Rolle bei der Festigung der revolutionären Parteien der Arbeiterklasse auf der Grundlage der theoretischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus und dient ihnen heute als scharfe ideologische Waffe im Kampf gegen alle Kräfte der imperialistischen Reaktion und des Obskurantismus, gegen die moderne bürgerliche Ideologie und den Revisionismus“.
Wie Lenin nachwies, ist der Marxismus die untrennbare Einheit der wissenschaftlichen Theorie und der revolutionären Praxis. Deshalb beschränkte sich Lenin nicht auf die theoretische Auseinandersetzung mit dem Opportunismus, überall benutzte Lenin die Gelegenheit, den Opportunisten politische Schlachten zu liefern.
Auf der Prager Konferenz der SDAPR [Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands] (1912) beschäftigte sich Lenin in seinem Bericht über die Tätigkeit des Internationalen Sozialistischen Büros ausführlich mit der Lage in der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Er zeigte, dass die Spaltung der Partei durch die Bildung eines revisionistischen Flügels in ihr unvermeidlich ist, und kritisierte scharf das opportunistische Verhalten einzelner Mitglieder der deutschen Delegation im Internationalen Sozialistischen Büro.
Lenin fühlte sich wie die ganze bolschewistische Partei eng mit den sozialdemokratischen Arbeitern Deutschlands verbunden. Davon zeugt z. B. das Glückwunschtelegramm der Konferenz an die deutsche Sozialdemokratie anlässlich ihres Wahlsieges. Ein weiterer Beweis ist die Würdigung des Lebens und Schaffens des großen Führers der deutschen Arbeiterbewegung, August Bebel, anlässlich seines Ablebens 1913.
Die Prager Konferenz, die unter Führung Lenins die Opportunisten aus der Partei ausschloss, zeigte auch in der Praxis den revolutionären Elementen in der II. Internationale, wie der entschiedene, konsequente Kampf gegen die bürgerliche Agentur in der sozialistischen Arbeiterbewegung geführt werden muss.
Es war ein Unglück für die internationale Arbeiterbewegung, dass der Kampf der Bolschewiki gegen die Opportunisten in der II. Internationale von den revolutionären Kräften in den anderen Parteien nicht energisch genug aufgegriffen wurde. Selbst den besten Vertretern der Linken in der Internationale fehlte es an genügendem Verständnis für die Notwendigkeit, die revolutionären Arbeiter von den reformistischen Führern zu trennen. So gab es, als 1914 die einflussreichen sozialdemokratischen Parteien den „himmelschreienden Verrat“ (Lenin) verübt und sich im Weltkrieg auf die Seite ihrer Bourgeoisie gestellt hatten, außer den Bolschewiki keine Partei, die die Initiative zur Zusammenfassung der wirklich revolutionären Kräfte, zur Bildung einer neuen, der III. Internationale hätten ergreifen können. 1914 schrieb Lenin: „Die illegale Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands erfüllte ihre Pflicht vor der Internationale. Die Fahne des Internationalismus wankte nicht in ihrer Hand. Unsere Partei hat längst den organisatorischen Bruch mit den opportunistischen Gruppen und Elementen vollzogen. Der Opportunismus und der ‚Legalismus um jeden Preis‘ hing unserer Partei nicht wie ein Bleigewicht an den Füßen. Und dieser Umstand half ihr, die revolutionäre Pflicht zu erfüllen …“.
In unermüdlicher Kleinarbeit sammelten Lenin und die Bolschewiki nach Ausbruch des ersten Weltkrieges die sozialistischen Kriegsgegner. Auf der ersten internationalen sozialistischen Konferenz in Zimmerwald, die vom 5. bis 8. September 1915 stattfand, fasste Lenin die revolutionären marxistischen Delegierten in der „Zimmerwalder Linken“ zusammen. Die „Zimmerwalder Linke“ half, die Ideen des Bolschewismus in vielen Ländern zu verbreiten. Lenin legte damit bereits den Grundstein für die Bildung der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale. Es ist das unvergängliche Verdienst Lenins, in der schwierigen Situation des ersten Weltkrieges das Banner des revolutionären Marxismus hoch erhoben zu haben, um das sich alle klassenbewussten Kräfte scharen konnten. Lenin erschien vor der ganzen Welt als der wahre Lehrer und Führer des internationalen Proletariats“ (S. 363).
Eingehend wird in der Biographie die große theoretische Leistung Lenins in dieser Zeit herausgearbeitet. Theoretische Klarheit war im Kampf gegen den Zentrismus und für den Zusammenschluss der revolutionären Kräfte die wichtigste Voraussetzung; deshalb bemühte sich Lenin unablässig, den internationalen Linken diese Klarheit zu verschaffen. Er sorgte für die Übersetzung vieler seiner Schriften in westeuropäische Sprachen; einige deutsche Übersetzungen besorgte er sogar selbst. Mit seinen philosophischen Studien, die er 1914/15 betrieb und die in den ‚Philosophischen Heften“ ihren Niederschlag fanden, wurde zum erstenmal nach dem Tode von Friedrich Engels die Untersuchung der materialistischen Dialektik wiederaufgenommen. Sie war von den Theoretikern der II. Internationale wie das Feuer gemieden worden. Lenin nannte die Dialektik die „theoretische Hauptgrundlage“ des Marxismus, die erst die Erklärung aller anderen Erscheinungen möglich macht.
Gestützt auf die materialistische Dialektik, gab Lenin in seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (1917) sowie in zahlreichen anderen Schriften Antwort auf die brennendsten Fragen seiner Zeit. Das internationale Proletariat verdankt ihm die Klarheit über den Zusammenhang des Opportunismus mit dem Imperialismus. Lenins Untersuchung des Imperialismus ist eine leidenschaftliche Anklage gegen den monopolistischen Weltkapitalismus, der die Menschheit in blutige Kriege und wirtschaftliche Katastrophen verwickelt. Gleichzeitig wies Lenin nach, dass der Imperialismus die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus vollendet; er ist der Vorabend der sozialistischen Revolution.
Seit der Abfassung des Werkes über den Imperialismus ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen, aber die Grundthesen des Buches haben die Bewährungsprobe bestanden, sie gelten heute wie damals. „Der Imperialismus ist verfaulender und sterbender Kapitalismus, ist der Vorabend der sozialistischen Revolution“, sagte Lenin 1916. Und 1961 zitiert das Programm der KPDSU diesen Satz und fügt mit Recht hinzu: „Das kapitalistische Weltsystem in seiner Gesamtheit ist für die soziale Revolution des Proletariats reif.“ Die Versuche der Ideologen des Imperialismus und ihrer Helfershelfer aus dem Lager der rechten sozialdemokratischen Führer, die Leninsche Analyse als veraltet abzutun, um das Proletariat vor der sozialen Revolution zurückzuhalten, sind theoretisch nicht stichhaltig und zum Scheitern verurteilt.
Das von Lenin entdeckte Gesetz der ungleichmäßigen ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus in der Epoche des Imperialismus gab dem Weltproletariat neue Erkenntnisse hinsichtlich der Theorie der sozialistischen Revolution. Die alte Formel von Marx und Engels über den gleichzeitigen Sieg der proletarischen Revolution in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern entsprach nicht mehr der veränderten welthistorischen Situation und musste durch die neue Leninsche Formel von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus zunächst in einigen Ländern oder sogar in einem einzelnen Lande ersetzt werden.
Als sich Lenin im Sommer 1917 zeitweilig vor den Verfolgungen der [Alexander Fjodorowitsch] Kerenski [(1881–1970)]-Regierung in Finnland verbergen musste, entstand sein geniales Werk „Staat und Revolution“. Diese Arbeit schuf nicht nur Klarheit in der russischen Arbeiterschaft über die Fragen der Machteroberung, sie gab auch der internationalen revolutionären Bewegung eine geschlossene, von den opportunistischen Verfälschungen gereinigte, auf den Anschauungen von Marx und Engels beruhende wissenschaftliche Theorie über den Staat.
Man kann nur schwer die Sprengkraft dieser Schrift im Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus überschätzen. Ihre Übersetzung in die wichtigen Weltsprachen eröffnete Hunderttausenden ehrlicher Arbeiterfunktionäre die Augen über die ungeheuerlichen Verzerrungen der marxistischen Staatslehre, die von den führenden Theoretikern der II. Internationale vorsätzlich vorgenommen worden waren, um Verwirrung zu stiften. Lenin entwickelte die Ideen von Marx und Engels, dass die proletarische Revolution zur Diktatur des Proletariats als Staat der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus führen müsse, zu einer geschlossenen Theorie. Er erkannte die Sowjets als die von der russischen Arbeiterklasse entdeckte Form der Diktatur des Proletariats in Russland. Aber er sah voraus, dass die Diktatur des Proletariats „eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen“ annehmen könne. Die verschiedenen Formen, die in den Volksdemokratien die Diktatur des Proletariats angenommen hat, bestätigten die Voraussicht Lenins. Gestützt auf seine Theorie, setzen die kommunistischen Parteien der Welt auch für die Zukunft die „Mannigfaltigkeit der Formen der politischen Organisation der Gesellschaft, die den Sozialismus aufbaut“ voraus, aber ihrem Wesen nach werden sie alle die Diktatur des Proletariats sein. Lenin entwickelte und konkretisierte die Lehre von Marx und Engels über die beiden Phasen der kommunistischen Gesellschaft, den Sozialismus und den Kommunismus, und zeigte, welche Voraussetzungen für die Entfaltung der vollendeten kommunistischen Gesellschaft aus der sozialistischen Notwendigkeit sind. Diese Lehre war eine feste Grundlage für die Aufbautätigkeit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, sie liegt ihrem kühnen Programm für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zugrunde. Die Lehre ermöglicht es den kommunistischen Arbeiterparteien in den Ländern des sozialistischen Weltsystems, den Aufbau des Sozialismus planmäßig vorzunehmen, ohne in abenteuerhaftes Vorauseilen oder opportunistisches Zurückbleiben zu verfallen. Das traurige Beispiel der jugoslawischen Revisionisten zeigt, welche Gefahren ein Abgehen von der marxistisch-leninistischen Staatslehre für die Errungenschaften des Volkes birgt.
Das Vorhandensein einer revolutionären, vom Opportunismus gereinigten Partei war die wichtigste Voraussetzung dafür, dass es im Ergebnis der aus dem imperialistischen Weltkrieg resultierenden revolutionären Kreise gelang, in Russland als erstem und vorerst einzigem Land die proletarische Revolution zum Sieg zu führen. In der Periode der Vorbereitung und Durchführung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution erwies sich Lenin vor der ganzen Welt „als der geniale Theoretiker des Marxismus, der weise Führer der Kommunistischen Partei und der größte Meister der revolutionären Führung“.
Der Sieg der Oktoberrevolution hob die revolutionäre Bewegung in der ganzen Welt auf eine höhere Entwicklungsstufe. Die Oktoberrevolution leitete den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab ein. Die Arbeiter der ganzen Welt antworteten auf die Große Sozialistische Oktoberrevolution mit heißer Zustimmung und mit begeisterten Solidaritätskundgebungen. Unter der unmittelbaren Einwirkung der Oktoberrevolution entwickelten sich in zahlreichen Ländern revolutionäre Bewegungen. Die Oktoberrevolution weckte auch die Völker des Ostens, verband die sich dort entfaltende nationale und koloniale Befreiungsbewegung mit der sozialistischen Weltrevolution und leitete damit den Zusammenbruch des Kolonialsystems ein. Die deutschen Arbeiter antworteten mit dem Januarstreik der Metallarbeiter und dem Aufstand der Kieler Matrosen. Die revolutionäre Gärung in Deutschland mündete schließlich in die Novemberrevolution von 1918. Wenn aber die deutschen Imperialisten und Militaristen in Zusammenarbeit mit den rechten SPD-Führern den Arbeitern und revolutionären Soldaten die Früchte ihres Kampfes rauben konnten, so trug dazu in erster Linie der Umstand bei, dass die deutsche Arbeiterklasse noch keine solche Partei hatte, wie die von Lenin geführte Partei der Bolschewiki war. Erst in den letzten Dezembertagen 1918 konstituierte sich unter der Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Kommunistische Partei Deutschlands. Kommunistische Parteien entstanden auch in vielen anderen Ländern.
Lenin sah nunmehr den Zeitpunkt für die Gründung der Kommunistischen Internationale gekommen. Unter seiner Führung fand im März 1919 der I., der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale statt. Damit war das leitende Organ für den Kampf des internationalen Proletariats um die Verwirklichung seiner sozialistischen Ideale geschaffen.
Lenin war nicht nur der Initiator der Kommunistischen Internationale, er war auch der anerkannte Führer der revolutionären Bewegung der ganzen Welt. Von historischer Bedeutung für die marxistische Schulung der Massen in der ganzen Welt war sein Referat über die bürgerliche Demokratie und die Diktatur des Proletariats auf dem I. Kongreß, in dem er allen kommunistischen Parteien zeigte, dass der Weg zum Sozialismus nur über die Diktatur des Proletariats und das Bündnis der Arbeiter mit allen Werktätigen führen kann.
Lenin half den jungen kommunistischen Parteien durch seine theoretischen Arbeiten, durch Artikel, Briefe und persönliche Gespräche mit ihren Führern, den Kampf gegen die Opportunisten und linken Sektierer zu führen. Sein geniales Werk „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ stellt ein in seinem Gedankenreichtum unerschöpfliches Lehrbuch der marxistisch-leninistischen Strategie und Taktik für die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung dar. Lenin verallgemeinerte die Erfahrungen der Geschichte der russischen und der internationalen Arbeiterbewegung, um die Proletarier aller Länder zu lehren, „das anzuwenden, was in der Geschichte und der heutigen Taktik des Bolschewismus allgemein anwendbar, von allgemeiner Bedeutung und allgemeiner Gültigkeit ist“.
Lenin sah die Hauptaufgabe in der Festigung der kommunistischen Kräfte, in der Bildung und Stärkung der kommunistischen Parteien in allen Ländern, in ihrer Reinigung von Opportunismus und zentristischen Elementen, in der Entfaltung der revolutionären Arbeit unter allen Schichten des Volkes. Der kleinbürgerlichen „linken Kinderei“, die von der „Zertrümmerung der Parteien“ sprach und gegen die „Diktatur der Führer“ auftrat, stellte Lenin das richtige, marxistische Verhältnis zwischen Führer, Partei, Klasse und Masse entgegen. Der Marxismus betont, dass die Menschen selbst es sind, die ihre Geschichte machen, und deshalb anerkennt er auch die Rolle der Persönlichkeit. Die Führer der Parteien kennzeichnet Lenin als die „autoritativsten, einflussreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvollsten Posten gestellten Personen“. Lenin stellte an die Führer der Arbeiterpartei strengste Anforderungen und er selbst war die Verkörperung des Ideals eines proletarischen Führers, eines Volkstribuns. In der Biographie Lenins sind viele markante Striche dieser großen Führerpersönlichkeit aufgezeichnet, die sich niemals über das Volk, über die Partei stellte. „In ihm vereinigten sich größter Weitblick und Weisheit mit größter Schlichtheit und Bescheidenheit; Strenge und Unversöhnlichkeit gegen die Klassenfeinde mit rührender Aufmerksamkeit gegenüber Genossen, Liebe zu den Menschen, Liebe zu den Kindern, ständige Sorge um das Wohl des Volkes, leidenschaftliche Treue zur Sache der Partei, zur Sache der Arbeiterklasse und tiefe Überzeugung von der Richtigkeit und Gerechtigkeit dieser Sache. Einfach wie die Wahrheit, sagten die Arbeiter von ihm. Er war ein wahrhafter Führer der Gesellschaft“.
Am Beispiel Lenins wurde eine ganze Generation proletarischer Führer erzogen, die heute die kommunistischen Parteien in allen Ländern leiten. Der Personenkult, der mit der Person Stalins getrieben wurde, widersprach dem Wesen des Marxismus-Leninismus. Seine Überwindung auf der Grundlage der Beschlüsse des XX. und XXII. Parteitages der KPdSU hat gewaltige Bedeutung für die weitere Entwicklung des Weltkommunismus, denn die neue Gesellschaft kann nur auf der Grundlage marxistisch-leninistischer Prinzipien aufgebaut werden. Aber die Verurteilung des Personenkults hindert uns nicht daran, unsere führenden Genossen, die sich durch ihren hervorragenden, unermüdlichen, prinzipiellen Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse und der Nation hervorgetan haben, zu schätzen und zu ehren. Und gerade die wütende Hetze der bürgerlichen und sozialdemokratischen Journaille gegen den treuen Leninisten Walter Ulbricht schließt uns noch enger um das von ihm geführte Zentralkomitee zusammen.
Lenins Genie ermöglichte es, in allen Etappen des proletarischen Kampfes, in allen Stadien der Entwicklung die richtige revolutionäre Taktik zu finden. Nach der Niederlage der revolutionären Aktionen des Proletariats in einer Reihe von Ländern erforderte 1920/21 das verlangsamte Entwicklungstempo der Weltrevolution eine entschiedene Wendung in der Taktik der Komintern und der kommunistischen Parteien. Im Gegensatz zu der scheinradikalen ultralinken „Offensivtheorie“ verfocht Lenin auf dem III. Weltkongress der Komintern die Politik der Aktionseinheit und der Einheitsfront. „Ziel und Sinn der Einheitsfronttaktik“, schrieb er 1922, „besteht darin, in den Kampf gegen das Kapital immer breitere Massen der Arbeiter einzubeziehen, wobei man nicht vor wiederholten Angeboten, einen solchen Kampf gemeinsam zu führen, sogar an die Führer der 2 1/2 Internationale, zurückschrecken darf.“
Die Politik der Aktionseinheit ist das sicherste Mittel zur Überwindung der vom Opportunismus verursachten Spaltung der Arbeiterklasse. Lenins Gedanke, dass die revolutionäre Einheit der Arbeiterklasse ihr höchstes Gut ist, durchdringt die Politik aller kommunistischen Parteien. Das neue Programm der KPdSU legt fest: „Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Arbeiterklasse ihrer welthistorischen Mission gerecht werden kann, ist die Überwindung der Spaltung in ihren Reihen. Einer einigen Arbeiterklasse, die die Aktionseinheit hergestellt hat, hält keine imperialistische Bastion stand.“ Deshalb bieten die kommunistischen Parteien den sozialdemokratischen Parteien die Hand für die Zusammenarbeit in allen Fragen vor und nach der Machtergreifung, ohne sich jedoch das Recht auf Kritik des Opportunismus nehmen zu lassen.
Die Einheitsfrontpolitik half den jungen kommunistischen Parteien, ihre Verbindung mit den Massen zu festigen. Der heldenhafte Kampf des Sowjetvolkes um die Überwindung der wirtschaftlichen Zerrüttung und um den Aufbau einer neuen Gesellschaft wurde von den kommunistischen Parteien unermüdlich propagiert. Er fand großen Anklang bei den Werktätigen der ganzen Welt. Überall bildeten sich auf überparteilicher Grundlage Komitees und Organisationen, die den Werktätigen Sowjetrusslands im Kampfe gegen Hunger und Zerrüttung halfen. Viele ausländische Arbeiter kamen nach Rußland um dort mitzuarbeiten. Lenin schätzte diese internationale Solidarität hoch ein und unterstrich die große Bedeutung der brüderlichen proletarischen Hilfe.
Die materielle und ideelle Unterstützung Sowjetrusslands durch die internationale Arbeiterklasse war ein großer Beitrag zu den Bemühungen der sowjetischen Werktätigen, den wirtschaftlichen Zerfall zu überwinden und den planmäßigen Aufbau der neuen Gesellschaft zu beginnen. Die letzten von Lenin kurz vor seinem Tode geschriebenen Arbeiten wiesen auch hier den Weg. Besonders der Artikel „Über die Genossenschaften“, in dem Lenin seinen Genossenschaftsplan darlegte, war ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung des Marxismus-Leninismus. Er zeigte, wie das Bündnis mit den Bauern, gefestigt durch die genossenschaftliche Organisierung der Landwirtschaft, zum Siege des Sozialismus, zum Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion führen werde. Darüber hinaus hat der Leninsche Genossenschaftsplan größte internationale Bedeutung. Er weist den Weg für die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft in allen Ländern. Gestützt auf diese theoretische Grundlage und auf die praktischen Erfahrungen aus der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion, haben die Bauern der Deutschen Demokratischen Republik unter Führung der Arbeiterklasse und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland im Frühjahr 1960 den freiwilligen Zusammenschluss zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vollzogen und einen historischen Sieg errungen.
Gleichfalls zu den letzten, bereits auf dem Krankenbett diktierten Artikeln Lenins gehört der Brief „Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung“. Lenin, der von den ersten Tagen seines politischen Lebens an ein glühender Patriot seines Landes und ein konsequenter Internationalist gewesen ist, unterstrich darin nochmals die Notwendigkeit, die vollständige Gleichberechtigung aller Völkerschaften der Sowjetunion bis ins letzte zu verwirklichen. Lenin lehrte das Weltproletariat, die Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegung der Millionenmassen der unterdrückten Nationen, besonders in Asien, zu verstehen. In kürzester Frist hat die Weltgeschichte Lenins Worte bestätigt: „Denn der morgige Tag der Weltgeschichte wird eben der Tag sein, an dem die vom Imperialismus unterdrückten Völker, die sich schon regen, endgültig erwachen werden, an dem der lange und schwere Entscheidungskampf um ihre Befreiung beginnen wird.“
In seinen letzten Arbeiten hat Lenin die Generallinie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die auf den vollen Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion gerichtet war, theoretisch begründet. Gleichzeitig hat er dabei auf Grund der Analyse der Klassenkräfte in der internationalen Arena neue Wege der Entwicklung der internationalen Befreiungsbewegung gewiesen. Mit genialer Voraussicht zeigte Lenin nochmals die Bedeutung der Millionenmassen der noch kolonial unterdrückten Völker. Diese Länder wurden von „einer Entwicklung erfasst …, die zwangsläufig zu einer Krise des gesamten Weltkapitalismus führen muss“. Prophetisch klingen die Worte: „Der Ausgang des Kampfes hängt in letzter Instanz davon ab, dass Russland, Indien, China usw. die gigantische Mehrheit der Bevölkerung der Erde stellen … In diesem Sinne ist der endgültige Sieg des Sozialismus vollständig und unbedingt gesichert.“
Die nationale Befreiungsbewegung hat in der Zwischenzeit tatsächlich einen stürmischen Aufschwung genommen. Die Oktoberrevolution erweckte die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas; sie wurden längst zu aktiven Faktoren der Weltpolitik. Die Millionenmassen Chinas bauen heute erfolgreich den Sozialismus auf. Das Ende des Kolonialsystems steht auf der Tagesordnung der Geschichte. „Der Zerfall des Systems der Kolonialsklaverei unter dem Ansturm der nationalen Befreiungsbewegung ist in seiner historischen Bedeutung die wichtigste Erscheinung nach der Entstehung des sozialistischen Weltsystems.“
Die nationalen Befreiungsrevolutionen untergraben den Imperialismus und sind ein mächtiger Bundesgenosse im Kampf der internationalen Arbeiterklasse. Andererseits garantiert die Existenz des sozialistischen Weltsystems den Erfolg des nationalen Freiheitskampfes. Die „gigantische Mehrheit der Bevölkerung der Erde“ schließt ein brüderliches Bündnis im Kampf gegen den Imperialismus. „Dieses Bündnis beruht auf der Gemeinsamkeit, die zwischen den Lebensinteressen des Weltsozialismus und der weltumspannenden nationalen Befreiungsbewegung besteht.“ Diesem Bündnis gehört die Zukunft.
Eine besondere Rolle spielen die Völker der befreiten Staaten im Kampfe gegen die Kriegsgefahr. Ihr Bündnis mit dem sozialistischen Weltsystem, dessen außenpolitische Prinzipien der Kampf um den Frieden und die friedliche Koexistenz sind, kann zusammen mit dem Kampf der internationalen Arbeiterklasse und mit allen Friedenskräften den Imperialismus hindern, einen neuen Weltkrieg auszulösen.
Im Kampf um den Frieden und gegen den Imperialismus hat Lenin das Prinzip der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung entwickelt. Die Außenpolitik der Sowjetregierung hat dieses Prinzip immer aufrechterhalten, und es bleibt das einzige vernünftige Prinzip der Weltpolitik.
Die Biographie Lenins, in der seine Bedeutung als Freund, Führer und Lehrer der internationalen Arbeiterbewegung allseitig gewürdigt wird, schließt mit dem Kapitel „Der Triumph der großen Ideen des Leninismus“. In ihm wird gezeigt, wie diese Ideen die ganze Welt erobert haben und heute zum ausschlaggebenden Faktor der Weltentwicklung geworden sind. Die Treue zu diesen Ideen ist die Bürgschaft für unseren Sieg. Unser Weg ist, wie Lenin sagte, der richtige, „es ist der Weg, den über kurz oder lang unweigerlich auch die anderen Länder beschreiten werden“.
Das Studium der Biographie Lenins, die zum Handbuch eines jeden politisch interessierten Deutschen werden sollte, überzeugt von der Wahrheit der Schlussworte dieses wunderbaren Buches: „Der Name Lenins, seine Werke und seine Lehre werden in Jahrhunderten und Jahrtausenden leben. Das Banner Lenins ist unbesiegbar.“
In Berlin arbeitete A. R. Tag und Nacht. Die Zeit lief ihm davon, er wollte die ihm als Historiker und Propagandist des Marxismus-Leninismus genommenen Jahre nachholen. Als Arbeitsstelle war ihm von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) das 1949 eingerichtete wissenschaftliche Institut für Marxismus-Leninismus (IfML) beim Zentralkomitee (ZK) der SED zugewiesen worden. Das war mit einigen Arbeitsräumen im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz loziert. Das Institut unterstand bis 1957 Fred Oelßner (1903–1977) und ab 1957 (bis 1989) Kurt Hager (1912–1998). Als A. R. in Berlin begann, waren seine Institutsdirektoren Ludwig Einicke (1904–1975; Direktor von 1953–1962), Roland Bauer (*1928; Direktor von 1962–1964), Lothar Berthold (1926–2007; Direktor von 1964–1968) und Günter Heyden (1921–2002; Direktor von 1969–1989).
Nicht bloße Tatsachen aus dem Leben von Lenin und der kommunistischen Weltbewegung wollte A. R. nennen. Er wusste, dass für die Aufhellung der historischen Prozesse vor allem die Tatsachenzusammenhänge notwendig waren. Das andauernd tätige Geschichtsbewusstsein war ihm Motor der kommunistischen Partei, in der Lenin, Stalin und andere keine Übermenschen oder Götter waren, sondern Menschen aus dem Volke, die mit Menschlichkeit menschliche Geschichte gestalteten. Lenin hatte eine realistische Art die Welt zu sehen. Charakteristisch dafür ist eine Rede von Lenin auf dem I. Kongress der landwirtschaftlichen Kommunen und Artels am 4. Dezember 1919: „Wir wissen, dass wir die sozialistische Ordnung nicht sofort einführen können; gebe Gott, dass unsere Kinder, vielleicht aber auch erst unsere Enkel die Errichtung des Sozialismus bei uns erleben“.201 A. R. hat in seinen Arbeiten nie eine defensive Haltung eingenommen. Das erleichterte Fehlinterpretationen, da und dort auch Unterstellungen, die es selbstverständlich auch in der Historikerzunft der DDR zuhauf gab. Publizistisch empfahl sich A. R. für breite Bevölkerungskreise mit seiner Broschüre Lenins Idee der Koexistenz, an deren Anfang das von Lenin formulierte Dekret über den Frieden vom 8. November 1917 steht. A. R. erinnert an das Kommunistische Manifest, wenn er von den geschichtlichen Tatsachen ausgeht, dass Sozialismus und Frieden eins sind. Koexistenz bedeute „Verzicht auf Krieg und jegliche Aggression“, nicht aber ideologische Koexistenz, weil es ideologische Koexistenz nicht geben könne. A. R. argumentiert für einen Friedensvertrag beider deutschen Staaten. Gerade die Entspannung in Deutschland würde die Koexistenz beider gesellschaftlichen Systeme in der ganzen Welt fördern. Es gelte den deutschen Imperialismus zu bändigen, so wie das die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder Europas auf ihrer Tagung in Rom vom 21. bis 24. November 1959 erklärten. Die Friedenskräfte der Welt, insbesondere die friedliebenden Kräfte in Westdeutschland müssten die volks- und friedensfeindliche Regierung von Konrad Adenauer durch eine verständigungsbereite Regierung ersetzen. Erinnerte sich A. R. an seine Diskussionen über die Rolle von Nationen an der Leninschule im Jahre 1937? A. R. zitiert Walter Ulbricht, der als Hauptaufgaben für eine echte Friedenspolitik in Europa „die Stärkung der DDR als Bastion des Friedens, als Basis für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat“ definiert hatte. A. R. reihte sich als Internationalist in den von der DDR repräsentierten Teil des deutschen Volkes ein. „Von der Tätigkeit eines jeden einzelnen hängt es ab, einen dauerhaften Frieden für alle Zeiten zu sichern. Unsere guten Taten für die Republik sind gute Taten für eine Welt ohne Krieg“ – so schließt A. R. seine Broschüre.
Wissenschaftliche Studien im Vorfeld seiner Monographien konnte A. R. in den seit 1958 vom IfML beim ZK der SED herausgegebenen und zuerst von Ludwig Einicke als Chefredakteur und seinem Stellvertreter Heinrich Gemkow (1928–2017) betreuten Beiträgen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (BzG) veröffentlichen. 1963 veröffentlichte A. R. in den BZG drei Abhandlungen über Die Leninische Politik der Aktionseinheit und ihre Anfänge in Deutschland, über Lenin, die KPD und die Konferenz der drei Internationalen in Berlin 1922 und Um die Einheitsfront nach dem Rathenaumord.202 Politisches Ziel der von A. R. für die Interessen der DDR und der kommunistischen Weltbewegung entwickelten historischen Beweisführung war die Bedeutung der Einheit der deutschen Arbeiterklasse. Nur die fehlende Aktionseinheit der Arbeiterklasse in Westdeutschland ermögliche die Kriegspolitik des westdeutschen Militarismus. Gerade die von der KPD organisierte Massenbewegung nach der Ermordung von Walther Rathenau (1867–24. 6. 1922) sei eine selten wiederkehrende Möglichkeit gewesen, „die demokratischen Einrichtungen der Weimarer zu schützen und auszubauen. Hätten die SPD und die USPD [Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands] nicht die Aktionseinheit gesprengt“, so A. R., „so wäre die reale Möglichkeit gegeben gewesen, die demokratischen Kräfte unter der Führung der geeinten Arbeiterklasse zu sammeln und der monarchistischen und faschistischen Reaktion den Todesstreich zu versetzen und das Schicksal der Weimarer Republik in andere Bahnen zu lenken“.203 Das geschichtliche Denken von A. R. kommt hier gut zum Ausdruck. Es beschränkt sich nicht auf eine zu Depressionen hinführende Betrachtung der historischen Prozesse, sondern will mit eingreifender Erkenntnis zum Handeln für die Zukunft anstoßen. Davon war er überzeugt und daraus nahm er die Kraft für die Permanenz seiner Arbeit. Er war gewiss kein intellektueller „Querdenker“, er war auch als Historiker bekennender Kommunist und Überzeugungstäter. Auf der wissenschaftlichen Konferenz zum 100. Jahrestag der Gründung der I. Internationale am 10. und 11. September 1964, die von Lothar Berthold eröffnet wurde, begann A. R. seinen Vortrag mit der Beurteilung der I. Internationale von Lenin als „die progressivste und hervorragendste Erscheinung im ‚europäischen Leben‘“.204 Lenin hatte die I. Internationale auf Marx und Engels als die beiden Begründer des Marxismus zurückgeführt. Zur Berliner Konferenz waren vom IfML beim ZK der SED die Geschichtskommission der Bruderparteien eingeladen worden. Aus Österreich war für die KPÖ Walter Hollitscher als Mitarbeiter der Abteilung Propaganda des ZK der KPÖ gekommen. Lothar Berthold begrüßte die anwesenden Delegierten namentlich,205 unter ihnen den für die KPÖ angereisten Walter Hollitscher. Auch ein „Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands“ wurde begrüßt, ohne Namen, weil die KPD seit 1956 in der Bundesrepublik Deutschland verboten und illegal organisiert war.
1964 reichte A. R. beim IfML beim ZK der SED seine Habilitationsschrift An den Quellen der Einheitsfront. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921–1922. Ein Beitrag zur Erforschung der Hilfe W. I. Lenins und der Komintern für die KPD ein. Amtierender Direktor des IfML war Roland Bauer, Gutachter waren Lothar Berthold und Ernst Diehl (1928–2004). Für das Mitlesen des Manuskripts dankt A. R. Günter Hortzschansky (1926–2015), Hans Joachim Krusch (1935–2004) und insbesondere Walter Wimmer (*1930), für umfangreiche Schreibarbeiten seiner Frau Eleonore. Als zweibändiges, 843 Seiten starkes Typoskript (!) erschien diese Arbeit zur Gänze erst 1971 im Dietz Verlag. Der sehr umfangreiche Anmerkungsapparat weist erstmals von A. R. sehr sorgsam benutzte Quellenmaterialien aus, darunter Protokolle von Sitzungen der KPD-Führung. Die Hauptlinie ist die Überwindung der vielen Meinungsverschiedenheiten und Annäherung an die wissenschaftliche Analyse der objektiven Bedingungen des Klassenkampfes. A. R. widerspricht der Darstellung von Ruth Fischer (1895–1961), die ehemaligen Spartakisten seien Träger des Sektierertums, die ehemaligen Unabhängigen Opportunisten und die Geschichte der KPD zwischen 1920 und 1923 überhaupt nur „Zusammenstöße“ zwischen beiden Gruppen. A. R.: „Vor allem muss aber festgehalten werden, dass die ‚Zusammenstöße‘ in Wirklichkeit die Widerspiegelung des Ringens um die richtige Strategie und Taktik gewesen sind“.206 Die von der sowjetischen Partei bis hin zum „Tauwetter“ in das Abseits der Geschichtsschreibung gestellten Persönlichkeiten werden von A. R. in ihrer jedenfalls eine Zeit lang fortschrittlichen Rolle in der internationalen Arbeiterbewegung angemessen berücksichtigt. Das gilt von Béla Kun, dem A. R. in Wien begegnet war. Kun war der Führer der 133 Tage dauernden, durch die ungarische Konterrevolution und ausländische Interventen niedergeschlagenen ungarischen Räterepublik, dessen Name unter dem Aufruf zur Gründung der Kommunistischen Internationale gestanden war und der 1938 den Säuberungen zum Opfer gefallen ist. „Der glühende Revolutionär und Internationalist Béla Kun war“, wie A. R. meinte, „wie jeder Mensch nicht ohne Fehler, weshalb er auch von Lenin manches harte Wort zu hören bekam“. Aber Kun sei stets bestrebt gewesen, von Lenin zu lernen, und sei „bis zur letzten Fiber seines Herzens der Sache der proletarischen Weltrevolution ergeben“ gewesen.207 Das gilt insbesondere für seinen ihm persönlich nahestehenden galizisch jüdischen Landsmann Karl Radek (d. i. Karol Sobelsohn) (1885–1939), der seit den 1890er Jahren in Galizien, dann in Polen und Deutschland in der sozialistischen Arbeiterbewegung aufgetreten war und seit 1920 einer der Sekretäre des EKKI und vom VIII. (März 1919) bis XII. Parteitag (April 1923) der Kommunistischen Partei Russlands (B) Mitglied des Zentralkomitees war. Radek war mit anderen als Mitglied des „sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums“ vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR angeklagt worden und am 30. Januar 1937 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. 13 der 16 Mitangeklagten waren zum Tode verurteilt worden, Radek kam unter nicht geklärten Umständen zu Tode.208 Seiner Dokumentation des Lebens von Lenin hat A. R. Porträtfotos von Radek und Grigori Sinowjew beigegeben, weil beide mit Lenin gemeinsam die Linie der linken Delegierten zu der länger vorbereiteten Internationalen Sozialistischen Konferenz der Kriegsgegner im Schweizer Dörfchen Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) gesprochen und das Büro der Zimmerwalder Linken gebildet hatten.209 Zu Radek schreibt er wie bei Sinowjew im Register: „Wegen trotzkistischer Opposition ausgeschlossen“, zu Kamenew: „1936 wegen trotzkistischer Tätigkeit verurteilt.“210
Einen zentralen Abschnitt aus der Habilitationsschrift veröffentlichte A. R. 1964 im Einvernehmen mit dem IfML als mit 2000 Exemplaren herausgegebene Broschüre Lenin und die Aktionseinheit in Deutschland. Neben der Politik der Aktionseinheit zu der Zeit von Marx und Engels und neben dem Kampf von Lenin um die Einheit in der Partei neuen Typus stellt A. R. besonders die Einheitsfrontpolitik der KPD zu Beginn der 1920er Jahre dar. Dabei stützt er sich auf die bis dahin wenig ausgewerteten Protokolle der Zentralausschusstagungen der KPD. In einer Verlagsbesprechung zwischen der Direktion des Instituts für Marxismus-Leninismus und dem Dietz Verlag am 12. Dezember 1963 bestätige das IfML die „Autorisierung“ und machte am 27. Jänner 1964 aktenkundig, dass A. R. auf Wunsch des Verlages „trotzdem die im Manuskript enthaltenen Ausführungen über Radek nochmals mit der Institutsleitung“ besprochen habe, welche „sich mit der Veröffentlichung dieser Ausführungen einverstanden erklärte.“211 In den von der Sozialdemokratie des Westens arrangierten Besprechungen wurde darauf nicht eingegangen, sondern die Arbeit wie von dem in die USA emigrierten deutschen Juden Werner T. Angress (1920–2010) ziemlich schoflig als Propagandaschrift abgetan, „die Lenin zum Patenonkel der deutschen Arbeiterschaft abzustempeln versucht“.212 Dagegen berichtet das Neue Deutschland über eine Besprechung des sowjetischen Spezialisten für die Geschichte der Sozialdemokratie, W. G. Wasin, dass A. R. nicht nur die Ursachen und die historische Verantwortung für die Spaltung aufzeige, „sondern auch die Mittel und Wege zu ihrer Überwindung“.213 Im IfML wurden verschiedene Auffassungen nicht vertuscht. In einer Rezension in der BzG maß der mitten in seiner Doktorarbeit über Grundfragen der Entwicklung der Organisationspolitik der KPD stehende Mitarbeiter am IfML, Roland Grau, dem in der Roten Fahne am 8. Januar 1921 veröffentlichten Offenen Brief der KPD an alle Arbeiterorganisationen in Deutschland nicht jene Bedeutung wie A. R. bei.214 Darauf antwortend unterstrich A. R. seine grundsätzliche Haltung zur Genesis der Losung Arbeiterregierung in Deutschland in den Jahren 1921 und 1922: „Wenngleich ich nachgewiesen habe, dass die Begriffe Aktionseinheit und Einheitsfront im Wesentlichen identisch sind und dass die Politik der Aktionseinheit ihre Vorbilder bereits aus der Tätigkeit von Marx, Engels und Lenin schöpft, bedeutet doch die mit dem Offenen Brief inaugurierte Politik ein qualitativ neues Wort in der kommunistischen Strategie und Taktik. Dabei ging es nicht nur und nicht so sehr um die neuen Formen des direkten Angebotes der Einheitsfront an die Spitzen der anderen Organisationen, als vielmehr darum, dass damit auch an die Stelle der bisherigen strategischen Konzeption der Einigung der Arbeiterklasse unmittelbar durch die Aufrichtung der Herrschaft des Proletariats ein neues strategisches Ziel für den nächsten Zeitabschnitt trat, nämlich die systematische Vorbereitung des Proletariats auf die Machtergreifung durch Organisierung des Tageskampfes der Massen“.215 Hermann Weber besprach 1972 das Buch von A. R. erstaunlich freundlich, auch wenn er mit dem Sozialdemokraten anhaftenden Zynismus meinte, dass A. R. eine „idealistische Geschichtsbetrachtung“ habe, wenn er anführt, dass die KPD „im Herzen der deutschen Arbeiterklasse geboren wurde“.216 Weber: „Die positiven Seiten dieser Arbeit sind dennoch nicht zu übersehen: der Materialreichtum, die neuen Detailerkenntnisse, aber auch die richtige Darstellung der Rolle von kommunistischen Führern, die noch bis vor kurzem überhaupt nicht genannt wurden. Reisberg hat als erster SED-Historiker die überragende Stellung Karl Radeks für die damalige KPD beschrieben, auch andere Führer wie Ernst Meyer [(1887–1930)] in ihrer Bedeutung richtig eingeschätzt und selbst Trotzki sachlich genannt. Sein Buch ist ein Beispiel für ein tiefes Eindringen in die KPD-Geschichte 1921–1923. Trotz der Parteilichkeit ist diese Arbeit ein Indiz für die Fortschritte der SED-Geschichtsschreibung selbst auf dem Gebiet der direkten eigenen Tradition, also gerade dort, wo bisher die politische Aktualität besonders gravierenden und negativen Einfluss hatte“.217 Hermann Weber war im Nachlass von Paul Levi (1883–1930) im Archiv der in New York vom österreichischen Sozialisten und Emigranten Joseph Buttinger (1907–1992) aufgebauten Library for Political Studies (Bibliothek Buttinger, seit 1971 an der Universität Klagenfurt) auf große Teile des seit 1919 unauffindbaren Protokolls des Gründungsparteitages der KPD gestoßen und hatte dieses mit den Referaten von Rosa Luxemburg und Radek 1969 veröffentlicht.218 Das musste die SED und ihre Spezialisten interessieren. Es sei verdienstvoll gewesen, so A. R. in seiner Besprechung,219 dieses Protokoll herauszugeben, wenn denn Weber dem Protokoll nicht eine Einleitung vorangestellt hätte, „in der er unter dem Anschein einer historischen Darlegung sattsam bekanntes antikommunistisches Gift verspritzt“. Weber vertrete „die bei antikommunistischen Historikern gängige Erfindung von zwei Richtungen im deutschen Kommunismus“ und konstruiere „im Einklang damit einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Rosa Luxemburg, die er Vertreterin des ‚demokratischen Kommunismus‘, und Lenin den er Begründer des ‚diktatorischen-bürokratischen Kommunismus‘ nennt“. Dazu passe die Erfindung noch eines weiteren Widerspruchs zwischen dem „revolutionären Kommunismus“ von Karl Liebknecht und dem „demokratischen Kommunismus“ von Rosa Luxemburg. Für Weber sei Rosa Luxemburg die eigentliche Begründerin des „demokratischen Kommunismus“, wie dieser in der Tschechoslowakei zu Tage getreten sei. Diese Behauptung sei ohne Spur eines Beweises, Weber brauche seine „ungeheuerlichen These“ nur „als Reinwaschung für das Renegatentum am Kommunismus“. Das Buch An den Quellen der Einheitsfront wurde in den BzG erst 1975 besprochen, freundlich und zustimmend vom Greifswalder Historiker Herbert Schäwel (1924–2015). Es sei A. R. gelungen, „den Erfahrungsschatz der Bolschewiki und die Leistung Lenins herauszuarbeiten“.220
Zu Beginn des Jahres 1966 (20. / 21. Januar) nahm A. R. an der wissenschaftlichen Konferenz der Militärakademie „Friedrich Engels“ der Nationalen Volksarmee der DDR in Dresden über den Kampf deutscher Kommunisten und anderer Antifaschisten im national-revolutionären Krieg des spanischen Volkes 1936 bis 1939 teil. Er sprach über Die Bemühungen der Kommunistischen Internationale um die internationale Aktionseinheit zur Unterstützung des kämpfenden spanischen Volkes.221 Die Kommunisten waren die aktivsten Kräfte der weltweiten Welle von Solidarität für den Freiheitskampf des spanischen Volkes. Das waren gute Bedingungen für eine Verständigung zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) über eine gemeinsame Solidaritätsaktion, zu der es wegen der Ablehnung aller kommunistischen Vorschläge durch die rechten Sozialdemokraten aber nicht gekommen ist. Die Moskauer Prozesse gaben den rechten Sozialdemokraten Munition für eine „antisowjetische Hetze“. Die Politik der rechten Sozialdemokraten sei nicht zuletzt der Grund dafür gewesen, dass es nicht gelungen sei, die Blockade über das republikanische Spanien zu brechen und ihm die Mittel für seinen Sieg zu verschaffen, weshalb die faschistische Reaktion triumphierte. Aber „im Geiste der Spanienkämpfer, oft von den Überlebenden dieses Krieges geleitet, organisierten die Kommunisten überall die nationale, patriotische Front zu Rettung ihrer Vaterländer, der Freiheit und der Demokratie“. Diese Analyse von A. R. wurde aufmerksam aufgenommen, das Institut für Zeitgeschichte in München hielt sie für einen „diskutablen“ Beitrag aus „Mitteldeutschland“.222
Über Lenin und die Zimmerwalder Bewegung publizierte A. R. 1966 im Dietz Verlag. Roland Bauer, der 1954 einen kurzen Abriss der Geschichte der II. Internationale (1889–1914) geschrieben hatte,223 empfahl dem Leiter des Dietz Verlages Günter Henning (*1928) die möglichst baldige Drucklegung des Manuskripts, was binnen kurzer Frist geschah.224 Das Buch ist adressiert an Geschichtslehrer, Propagandisten, Studierende und sonstige historische Interessierte.225 In seinem in Berlin am 1. März 1966 datierten Vorwort maß A. R. den Fragen der Zimmerwalder Bewegung wertvolle Erkenntnis für die Gegenwart zu. Zimmerwald sei „die Arena für die Auseinandersetzung des Leninismus mit dem Opportunismus der sozialchauvinistischen und der zentristischen Abart“ gewesen. „Gleichzeitig war Zimmerwald“, so A. R., „auch der Boden für die Anwendung der Leninschen Politik der Aktionseinheit im internationalen Maßstab, deren Vorkämpfer die Kommunistische Internationale im Laufe ihrer Geschichte bildet, wenn die internationale Arbeiterklasse ihre historische Mission, die Welt von Kapitalismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg zu befreien, erfüllen will“.226 A. R. stellt der Zimmerwalder Bewegung seine von der Geschichte bestätigte Analyse des Außerordentlichen Internationalen Sozialisten Kongresses in Basel von 1912 (24. / 25. November) voran. 555 Delegierte behandelten als einzigen Tagesordnungspunkt die internationale Lage und die gemeinsame Aktion gegen den Krieg. A. R. beginnt mit dem Basler Friedensschwur, „weil auf diesem Hintergrund die ganze abgrundtiefe Scheußlichkeit des Verrats deutlich wird, den die II. Internationale mit ihrem Überlaufen in das Lager des Imperialismus 1914 begangen hat“.227 Die Analyse des Imperialismus durch Lenin ist von der Erkenntnis getragen, dass das Monopolkapital sich auf ein ausgebreitetes und dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über alle ökonomischen, ideologischen und politischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft spannt. Der Berliner marxistische Rechtsphilosoph Hermann Klenner, der A. R. gut gekannt hat, ist immer wieder darauf zu sprechen gekommen, wenn er Lenin und die bürgerliche Demokratiekonzeption in der heutigen Zeit erwähnte. Für A. R. so wie für Klenner ist mit Berufung auf Lenin wiederholt die Feststellung verbunden, dass es zum Wesen der Leninschen dialektischen Methode gehört, die Hauptaufgabe in jeder gegebenen Situation konkret zu bestimmen. A. R. schildert aufgrund des Quellenmaterials anschaulich die sozialökonomischen Wurzeln des Opportunismus und das Wesen des Zentrismus. A. R. stützt sich auf die Werke und Briefe von Lenin, auf die veröffentlichte Literatur einschließlich der sowjetischen und auf Archivmaterialien, insbesondere auf den Nachlass von Robert Grimm (1881–1958) in Amsterdam, der als einer der Führer der Schweizer Sozialdemokratischen Partei während des Weltkrieges als Zentrist Organisator der Zimmerwalder Bewegung war. Zusammen mit dem 1967 ebenfalls im Dietz Verlag erschienenen Buch über Lenin im Jahre 1917 gab A. R. den Parteipropagandisten eine inhaltliche Grundlage bei ihren Vorbereitungen zum 100. Geburtstag von Lenin. Das alles war nicht nur ein Blick in die Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung, sondern verbunden mit einem Blick zum westdeutschen Nachbarn, bei dem die Rechtssozialisten der Aufrüstung ihre Zustimmung gaben. Werner Imig (1920–1988), Direktor des IfML an der Universität Greifswald, empfahl die beiden Bücher von A. R. als packende Lektüre.228 Dass A. R. das so schreiben und veröffentlichen konnte, wird ihm ein Lebenstrost gewesen sein.
In der 623 Seiten starke Monographie über Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung (1970) versuchte A. R., den gesamten historischen Prozess der internationalen Arbeiterbewegung im Auge zu behalten. Vorausgeschickt hatte der Dietz Verlag zum 100. Geburtstag von Lenin die populärwissenschaftliche Broschüre von A. R. Lenin und die deutsche Arbeiterbewegung in einer Auflage von 20.000 Exemplaren zu je 0,60 Mark. A. R. ging es, gestützt auf zahlreiche Dokumente, auf Erinnerungen von Augenzeugen und die Analyse der Werke von Lenin, um den Nachweis, dass der Leninismus die „Weiterentwicklung des Marxismus auf Grund der Erfahrungen des revolutionären Kampfes der internationalen Arbeiterklasse“ sei.229 Es war die Zeit, in der die Mode des Eurokommunismus en vogue war und unter sich links gebenden Intellektuellen der Leninismus als russische Erscheinung etikettiert wurde. Empört war A. R. über den ihm seit Jahrzehnten bekannten „österreichischen Neorevisionisten“ Ernst Fischer, der in seinem Buch „Was Marx wirklich sagte“ die Grundthese aufstellte, Lenin habe die Theorie der Revolution der Problematik des zaristischen Russlands angepasst.230 In der internationalen Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus“ erkannte der sowjetische Historiker J. Georgijew an, dass das Buch ermögliche, „die Lebenskraft der Ideen des proletarischen Internationalismus“ zu erkennen und dem Leser „ein wahrheitsgetreues Bild der Geschichte der Zusammenarbeit zwischen den deutschen und russischen revolutionären Arbeitern, zwischen ihren nationalen Vorhuten in den Jahren des Lebens und Wirkens von W. I. Lenins“ offenbar werde.231
Genauso wichtig wie wissenschaftlich produktiv zu sein war A. R. sein persönliches Auftreten vor den Menschen als Vortragender. Die 1947 gegründete Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF) war sichtlich froh, sich auf A. R. verlassen zu können, und griff auf ihn immer wieder zurück, wenn es darum ging, interessante Abende im Zentralen Haus der DFS in Berlin zu gestalten. „Vom Anderswerden“ ist ein Buchtitel von Johannes R. Becher (1891–1958) über solche in der DDR angestoßenen Prozesse,232 an denen A. R. mitwirken wollte und konnte. Zweck der DSF war, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion weiter zu entwickeln und über die tatsächliche Lage in der Sowjetunion zu orientieren. Angekündigt wurden seine Vorträge in der Berliner Zeitung oder im Neuen Deutschland.233 Erster Präsident der über die SED hinaus die Menschen der DDR ansprechende DSF war Jürgen Kuczynski, der 1950 zu seinem großen Bedauern abrupt abgesetzt wurde.234 Am 27. Mai 1960 begann A. R. seine öffentlichen Vorträge mit dem Thema „Warum schloss die Sowjetunion 1939 den Nichtangriffspakt mit Hitler-Deutschland?“ Am 23. Juni 1960 sprach A. R. zu einer Artikelserie des westdeutschen antisozialistischen Kampfblattes „Der Spiegel“ mit der Ankündigung „Weltrevolution im Zerrspiegel“. A. R. war zu prominenten Anlässen Festredner. Am 21. April 1964 sprach er wieder im Zentralen Haus der DFS aus Anlass der Geburtstage von Lenin (21. April) und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (15. April 1894–1971). Weiter nahm er vom 8. bis 10. Juli 1964 an der wissenschaftlichen Konferenz des Arbeitskreises des Instituts für Geschichte der Akademie zu Berlin über den ersten Weltkrieg mit dem Beitrag über die Arbeit Lenins beim Zustandekommen der Zimmerwalder Linken teil, war Ansprechpartner bei einem Ausspracheabend über „das achte Weltwunder [Bernsteinzimmer] und die UdSSR“ im Zentralen Haus der DSF, diskutierte dort zu aktuellen Fragen am 12. November 1964 abends mit dem Chefkorrespondenten der Iswestija Boris Orlov und mit dem Sachbuchautor Heinz Mielke (1923–2013) vom Präsidium der Deutschen Astronautischen Gesellschaft und am 11. Februar 1965 mit dem Korrespondenten der Prawda in Berlin Anatol Gubanow.