„So vermögen unsere westlichen Analysen immer nur Teilwahrheiten hervorzubringen; der Kern der kaum überbrückbaren Verschiedenheiten im Denken liegt eindeutig im Nomos Chinas, der durch Jahrtausende hindurch anders geprägt worden ist als der Nomos Europas.“
Konrad Farner (1903–1974)235
Ereignisse in China waren noch im vorigen Jahrhundert von Europa nicht nur räumlich enorm weit entfernt. Marx schrieb über die britische Herrschaft in Indien und bemerkte dazu: „Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien“.236 Lenin stellte fest, dass die russische Bewegung des Jahres 1905 enormen Einfluss auf soziale Bewegung und den demokratischen Aufschwung von ganz Asien gehabt habe.237 Die seit 1917 sich verstärkende antiimperialistische und antifeudale Bewegung in China wurde aus der Sowjetunion so gut es ging unterstützt. Es fanden sich erste revolutionäre chinesische Kader zusammen, die mit marxistisch-leninistischem Wissen in den Massen tätig wurden. Die konkreten historischen Bedingungen des alten China, mit seinen nur an der Ausplünderung der Massen interessierten aus- und inländischen Machtcliquen, mit seiner unbeschreiblichen Armut, mit seiner Unwissenheit und dem Aberglauben auf dem Lande und in den Elendsvierteln, waren andere als sie den Sowjets aus dem alten Russland bekannt waren. Die politischen Grundlagen zur Lösung der immens schwierigen Probleme beim wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufbau wurden vom Zentralkomitee der KP Chinas auf seiner zweiten Tagung vom 5. bis 30. März 1949 in Xibopo gelegt.238 Als ökonomische Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte wurde die Umwandlung Chinas aus einem Agrar- in ein Industrieland gestellt. Am 1. Oktober 1949 wurde in einer gewaltigen Massenkundgebung in Peking die Volksrepublik China proklamiert.
Konrad Farner stellte während der Diskussionen um die mit 1966 in China einsetzende Kulturrevolution die Frage, ob denn die „weißen“ Marxisten-Leninisten überhaupt in der Lage seien, den chinesischen Marxismus richtig einzuschätzen. Der österreichische Arzt und Kommunist Fritz Jensen (1903–1955), der nach dem spanischen Befreiungskampf mit einigen anderen europäischen Ärzten in China war,239 erinnerte sich bei Niederschrift seiner Erinnerungen besonders an eine Ansprache von Mao Zedong (1893–1976) aus dem Jahr 1949: „Das chinesische Volk wird sehen, dass China, sobald das Volk die Geschicke Chinas in seine eigene Hände genommen hat, der im Osten aufgehenden Sonne gleichen wird, die mit leuchtenden Strahlen jeden Winkel des Landes erleuchtet, geschwind den von der reaktionären Regierung hinterlassenen Schutt hinwegsengen, die Kriegswunden heilen und eine neue, mächtige und blühende Volksrepublik im wahrsten Sinne des Wortes aufbauen wird.“240 Jensen war in China ein Lernender, er hatte die Vorurteile des „gebildeten Europäers“ abgelegt: „Millionen von Arbeitern, Bauern und Soldaten, die trotz ihrer noch nicht überwundenen materiellen Armut auf einer so hohen Stufe des politischen Bewusstseins geeint waren, dass sich daneben die hygienische, selbstherrliche und trotzdem panisch ratlose Lebensweise des europäischen Bürgertums und seiner arbeiteraristokratischen Mitläufer wie grauestes Mittelalter ausnimmt“.241 Mao schloss in seinem Gedenken an den im Kampf gefallenen, von der kommunistischen Partei Kanadas und der USA nach China geschickten Arzt Norman Bethune (1890–1939) die an der chinesischen Revolution beteiligten Ausländer mit ein: „Welche Gesinnung spricht daraus, wenn ein Ausländer, ohne auch nur den geringsten Vorteil zu suchen, die Sache der Befreiung des chinesischen Volkes zu seiner eigenen Sache macht? Das ist die Gesinnung des Internationalismus, die Gesinnung des Kommunismus. Jeder chinesische Kommunist muss aus dieser Gesinnung lernen“.242 Stalin verstand durchaus, dass die marxistisch-leninistischen Revolutionsideen in China aufgrund der Besonderheiten der chinesischen Revolution eine andere Ausprägung erhalten würden als in der Sowjetunion. Stalin und Mao gemeinsam war die Unerschütterlichkeit im Kampf gegen alle imperialistischen Aggressoren und deren Agenten. Am 14. Februar 1950 unterzeichneten Stalin und Mao einen Dreißigjahresvertrag mit großem Zeremoniell, Stalin empfing Mao in Moskau auf das Freundschaftlichste.243
Die Chinesische Kommunistische Partei schloss Irrwege nicht von vorneherein aus. Sie ging vielmehr davon aus, dass sich solche aus dem Mangel an Erfahrung einstellen, durch die Praxis aber korrigiert werden könnten. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kommunistischen Parteien der Sowjetunion und China entwickelten sich auf dem Hintergrund vieler Widersprüche. Die Sowjetunion konnte nach ihrer Gründung wegen der Invasion deutscher, britischer, französischer und japanischer Interventionstruppen und wegen der ungeheuren Verluste während der deutschen Invasion nach 1941 sehr viele ihrer Pläne für den Aufbau des Sozialismus nicht verwirklichen. Ihr Hauptaugenmerk nach 1945 lag im Einvernehmen mit den sozialistischen Ländern darauf, im Kalten Krieg die Menschheit vor der Selbstzerstörung zu bewahren und zugleich die Option für die Armen in der Welt konkret mit Unterstützung der erwachenden antikolonialistischen Befreiungsbewegungen in Indochina, Afrika und Lateinamerika, deren Völker nicht bewaffnet waren, wahrzunehmen. In vielen sozialistischen Ländern wurden Spezialisten ausgebildet, die DDR bildete für Sansibar oder Tansania Ärzte aus. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien von China und der Sowjetunion wurden so gut es ging im Interesse des Weltsozialismus nicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen. 1951 gab die DDR ein Sonderpostwertzeichen Deutsch-Chinesische Freundschaft mit dem Porträtbild von Mao Tse-tung heraus. Im Herbst 1957 wurde Jürgen Kuczynski als ein Repräsentant der DDR-Wissenschaft nach China eingeladen.244 Die Politik des permanenten revolutionären Kampfes im Interesse der „großen Gemeinsamkeit“ einer künftigen gerechten Gesellschaft war Leitlinie von Mao Zedong aus dem Wissen, dass revolutionäre Gesinnung nicht einschlafen dürfe, sondern wach und lebendig zur Veränderung des Bewusstseins beitragen werde. So wie der Mensch aufhören werde zu existieren, wenn er nicht mehr tätig sei, so werde der revolutionäre Aufbau aufhören zu existieren, wenn er nicht immer in Bewegung sei. Die maoistische Konzeption vom Aufbau des Sozialismus in China wurde mit den Schriften von Lenin begründet und ihre Auffassung mit vielen Zitaten untermauert. Liu Schao-Tschi (1898–1969) schrieb als Präsident der Volksrepublik für die in Prag herausgegebene Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus noch 1959 den Artikel Der Sieg des Marxismus-Leninismus in China aus Anlass des 10. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik und hob hervor, dass die allgemeingültige Wahrheit des Marxismus-Leninismus verbunden mit der Praxis der chinesischen Revolution zum Sieg der chinesischen Revolution geführt habe. Er schreibt, dass die Revolution und der Aufbau in China „besondere Züge (besitzen), die nur diesem Land eigen sind“. Das Leben von Liu Schao-Tschi wurde dann selbst von diesen Widersprüchen beendet.245 Die Hoffnung, dass das Zusammengehen von China und der Sowjetunion die Welt verändern werde, war mit Ende der 1950er Jahre dahin. China hatte zu den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas mit ihren historischen Besonderheiten einen anderen Zugang als die Sowjetunion, für die aufgrund der historischen Erfahrungen und angesichts der Atomwaffen die friedliche Koexistenz Priorität hatte. Die Differenzen zwischen China und der Sowjetunion waren für alle Marxisten-Leninisten eine große Enttäuschung. Fidel Castro bedauerte es tief, dass er wegen dieses Konfliktes Mao Zedong nicht kennenlernen konnte. Er erinnerte daran, dass Ho Chi Minh (1890–1969) China und die UdSSR in einem Brief gebeten hat, ihre Rivalitäten zu überwinden und sich zu einigen.246
A. R. stellte 1964 in den BzG die chinesische Interpretation der historischen Prozesse seit 1917 als nicht mit der Tradition des Marxismus-Leninismus vereinbar dar.247 Er machte sich Sorgen um die ideologische Festigkeit des sozialistischen Weltsystems. Der für die ideologische Arbeit der KPdSU verantwortliche Michail Andrejewitsch Suslow (1902–1982) beschuldigte die chinesische Parteiführung rigoros, die kommunistische Weltbewegung zu spalten. Die chinesische Parteipropaganda – Suslow nennt die Zeitschrift Honqi – hatte der Sowjetunion nicht weniger vorgeworfen, als im Komplott mit dem amerikanischen Imperialismus die revolutionären Völker der Welt zu verraten. Im Rückblick unterschätzte die Sowjetunion in diesen Jahren die Innovationskraft des Kapitalismus, so wie sie die Möglichkeit, den Kapitalismus auf ökonomischem Gebiet zu besiegen, überschätzte. Das zeigt der Bericht von Suslow auf der Tagung des ZK der KPdSU am 14. Februar 1964.248
A. R. glaubte einen nachvollziehbaren Nachweis führen zu können, dass Sinomarxisten einzelnen Tatsachen der gesellschaftlichen Erscheinungen eine isolierte und belehrende Bedeutung geben. Lenin habe aber bemerkt, es gebe „ein außerordentlich verbreitetes und ebenso fehlerhaftes Verfahren, nämlich das Herausgreifen einzelner Tatsachen und das Jonglieren mit Beispielen. Beispiele einfach zusammentragen macht keine Mühe, hat aber auch keine oder nur rein negative Bedeutung, denn worauf es ankommt, das ist die konkrete historische Situation, auf die sich die einzelnen Fälle beziehen“.249 A. R. war besorgt über die von Seite der kleinbürgerlichen Intellektuellen der imperialistischen Länder ausgehende Gefahr der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung durch propagandistische Aufwertung sinomarxistischer Argumentationen. Zuerst hätten sich diese Schichten mit dem Personenkult um Stalin gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht und jetzt passiere dasselbe mit den durch den Verlag für fremdsprachige Literatur aus Peking verbreiteten Ideen, die den „sowjetischen Revisionismus“ anprangere. Lenin habe, so A. R., am Vorabend des ersten Massenmordens im Juni 1914 genau solche Methoden analysiert: „Die andere Methode der Bourgeoisie im Kampf gegen die Bewegung besteht in der Spaltung der Arbeiterschaft, in der Desorganisation ihrer Reihen, in der Bestechung einzelner Vertreter oder einzelner Gruppen des Proletariats, um sie auf die Seite der Bourgeoisie hinüberzuziehen“.250 Bertolt Brecht charakterisierte „die Intellektuellen der Zeit der Märkte und Waren“ mit Verdrehung des Wortes „Intellektuell“ scharf als „Tuis“ und schlussfolgerte: „Die Kultur verteidigen und die Eigentumsverhältnisse belassen wollen, wie sie sind, führt notwendigerweise in die Barbarei. Man kann nicht beides haben: Kultur und Privateigentum an den Produktionsmitteln“.251 Marx, Engels, Lenin, Stalin waren gewiss spirituelle Lehrmeister des revolutionären Chinas, das mit ihnen das Bild vom Menschen als historisch gesellschaftliches Wesen von Konfuzius (551 v. u. Z. – 479 v. u. Z.) unangetastet und einzigartig im Kopf behielt. A. R. war voll Hoffnung, dass die kommunistische Weltbewegung wieder zu einer Einheit werde, weil nicht die Spaltung die Gesetzmäßigkeit der kommunistischen Weltbewegung ist, sondern ihre Einheit und Geschlossenheit. Ähnlich A. R. argumentierte Otto Braun (1900–1974), der nach seiner Ausbildung an der nach dem populären Sowjetgeneral Michail W. Frunse (1885–1925) benannten Militärakademie von 1932 bis 1939 an den Kämpfen und Märschen der chinesischen Roten Armee beteiligt gewesen war und seit 1954 im IFML in Berlin die deutschen Lenin-Ausgaben betreute. Seine 1973 publizierten Aufzeichnungen sollten dem „politisch-ideologischen Kampf gegen den Maoismus dienen“.252