VI.3 Mit Lenins Gedanken als Propagandist und Wissenschaftler im Alltag der DDR

„Eine andere Welt ist notwendig.“

Ignacio Ellacuría253

Die Deutsch-Sowjetische Freundschaftsgesellschaft (DSF) verlieh A. R. am 4. November 1965 die Ehrennadel, am 4. November 1966 die Goldene Ehrennadel. Das Zentrale Haus der DSF am Festungsgraben wurde zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution renoviert, seine Direktorin war in diesem Jahr Leni (Helene) Berner (1904–1992), Widerstandskämpferin und Kommunistin. Sie lud aus diesem Anlass A. R. ein, am 7. September 1967 über die revolutionären Geschehnisse mit der Ankündigung „Der Oktober-Sturm bricht los“ zu sprechen. In die Nähe der gemeinsamen Akademiekommission von Historikern der DDR und der UdSSR mit dem gemeinsamen Vorsitz von Leo (Jonas Leib) Stern (1901–1982) und dem früh verstorbenen Arkadij Samsonovič Jerussalimski (1901–1965) in Moskau kam A. R. nicht. Das mag dem knappen Zeitfonds der wenigen Spezialisten und der daraus notwendigen Arbeitsteilung geschuldet sein. Jerussalimski kannte als Spezialist der Geschichte des deutschen Imperialismus mit der Sicht von Lenin die Darstellungen von A. R..254 Und den aus dem Ostjudentum kommenden Leo Stern lernte A. R. in Wien persönlich kennen. Sicher schätzte Stern das Buch von A. R. über den Februar 1934, an dem Stern selbst beteiligt gewesen war, hoch ein.255 Den von Jerussalimski herausgegebenen Sammelband über die deutsche Arbeiterbewegung im Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (1962) besprach A. R. Den Beitrag von Leo Stern über die Niederschlagung des nach dem konterrevolutionären Putschisten Wolfgang Kapp (1858–1922) benannten Kapp-Putsches als Ergebnis der Aktionseinheit der Arbeiterklasse auf Grundlage der Bestände des Deutschen Zentralarchivs Merseburg und Potsdam hob er mit Respekt hervor.256 Leo Stern sprach über die aktuelle Bedeutung des Rapallo-Vertrages und den Kampf der DDR für friedliche Koexistenz der beiden deutschen Staaten auf der wissenschaftlichen Konferenz der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR 1962 in Moskau.257 Außerdem war er im Redaktionskollegium für die Herausgabe der von den Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und der Sowjetunion herausgegebenen Dokumentensammlung Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluss des Rapallovertrages, ein Projekt, in das A. R. nicht eingebunden war.258 A. R. fehlt in der 1976 in der im Akademie Verlag erschienenen Festschrift Verbündete in der Forschung.259 A. R. war von seiner ganzen Biographie her keine Repräsentationsfigur und in der traditionellen Akademiewelt nicht vorzeigbar. Der seit 1951 an der Humboldt-Universität wirkende Altösterreicher Eduard Winter (1896–1982) war von der ganzen Statur her „Professor“ und konnte sich von einem Kontakt mit A. R. nicht viel erwarten, zu verschieden war ihre biographische Geschichte.260 Die Gedanken über Gemeinsamkeiten von Christus und Lenin von Eduard Winter, der vom katholischen Nationalismus zum sozialistischen Internationalismus vorangeschritten war,261 hätten die Leninforschungen der DDR bereichern können.262 Winters Studie über „Lenin in Österreich“ gelangte nicht zur Veröffentlichung, er hatte eine solche Anfang 1968 an Leopold Hornik, mit dem Winter befreundet war, geschickt.263 Hornik dachte in diesen Jahren an eine eigene Arbeit „Österreich, das Werden einer Nation“.264 Die Kooperation zwischen A. R. und dem altösterreichischen Widerstandskämpfer Walter Markov (1909–1993), der den Durchschnitt der Historikergilde nicht nur in der DDR weit überragte und in Leipzig der französischen Revolutionsgeschichte bis hin zur Geschichte der Befreiungsbewegungen in der DDR international beachtetes Profil gab, wird sich einfach nicht ergeben haben, es war alles auch eine Frage des Zeitfonds.265

Das ZK der SED wusste, was es an A. R. hatte. Zu seinem 65. Geburtstag sandte es eine Grußadresse an A. R. mit dem Dank „für seine Treue zur Partei sowie für seine vielseitige wissenschaftliche und propagandistische Tätigkeit“266 und sprach ihm aus Anlass des 100. Geburtstages von Lenin die „Lenin Erinnerungsmedaille“ zu.267 Zu seinem 75. Geburtstag wurde A. R. am 14. Februar 1979 vom IfML beim ZK der SED „in Würdigung seiner hervorragenden Verdienste auf dem Geiet der Erforschung, Darstellung und Propagierung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung“ der Titel eines Ehrendoktors verliehen. Es ist doch seltsam, wie akademische Rituale in den sozialistischen Ländern gepflegt wurden! Die Laudatio hielt Günther Heyden als Direktor des Instituts. Und das ZK der SED sandte A. R. ein Grußschreiben:268 „Als Funktionär der Kommunistischen Partei Österreichs, deren Mitglied Du 1924 wurdest, bewährtest Du Dich in den Klassenkämpfen gegen Reaktion und Faschismus. In die Sowjetunion emigriert, führtest Du in internationalistischem Geist Deine revolutionäre Tätigkeit weiter“.

Heute ist A. R. so gut wie vergessen. Aber an welche Historiker wird in der Gegenwart überhaupt noch erinnert? Ihre Halbwertszeit ist verhältnismäßig sehr kurz. A. R. hatte keine Fans so wie der mit ihm gleichaltrige, ungemein produktive Universalgelehrte Jürgen Kuczynski, der mit ganz anderen familiären, politischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen aus dem Exil in Großbritannien, wohin er 1936 flüchten hatte können, nach Deutschland zurückgekehrt ist. Aber selbst ein Jürgen Kuczynski musste sich Verlagsgutachtern stellen und oft genug zurückstecken. In seinen Memoiren ist Vieles darüber zu lesen. Sein in der DDR viel diskutierter „Dialog mit meinem Urenkel“ wurde von Kurt Hager, der für das ZK der SED in die Kulturpolitik dann eingriff, wenn es diesem notwendig erschien, lange zurückgehalten.269 Kuczynski wird weniger Probleme gehabt haben als A. R., dem oft erhebliche Widerstände begegneten. Beide haben sich sicher gekannt, sind sich auch begegnet. Kuczynski dachte über Lenin so wie A. R., wenn er noch 1991 schrieb, welche Schlussfolgerung wir der Leninschen Theorie vorbehaltlos entlehnen können: „seinen Realitätssinn, sein stetes Bemühen, mit immer offen-wachen Augen die Wirklichkeit zu erkennen und sie entsprechend zu beurteilen“. Über den Realitätssinn hinaus würden auch seine Feststellungen über den Imperialismus als „höchstes Stadium des Kapitalismus“ zutreffen.270 Weshalb war es dann zu keiner Verständigung zwischen den beiden Genossen gekommen? Jürgen Kuczynski wusste, dass A. R. Jahre in einem der GULags war, er scheute sich, diese Realität der Sowjetunion wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Die GULags berührten ihn nicht, das stellt er sinngemäß selbst in dem Kapitel über die „Stalinzeit“ in seinem berühmten „Dialog mit meinem Urenkel“ fest.271 Im offen geführten Briefwechsel zwischen Leopold Hornik und Jürgen Kuczynski kommt der Name von A. R. nicht vor, auch wenn sich auf Seite von Hornik vielfach dazu Gelegenheit geboten hätte.