VI.4 Im Einsatz für eine humane Perspektive der deutschen Jugend

Initiationsriten haben eine geschichtliche Entwicklung, die bis an die Anfänge der Menschheit zurückreicht.272 Auf allen Kontinenten haben sich archaische Rituale in vielfach veränderten und sich verändernden Formen bis herauf in die modernen Gesellschaften erhalten. In der evangelischen und katholischen Kirche bedeutet Konfirmation bzw. Firmung, jungen Menschen im weitesten Sinn ihre Selbstverantwortung für ein gutes Leben im Glauben sichtbar zu machen. In der deutschen Arbeiterbewegung gab es zu Ende des 19. Jahrhunderts nicht sehr verbreitete Feiern zur Schulentlassung. Ernst Thälmann nahm zu Ostern 1900 an einer solchen teil und behielt in Erinnerung, wie der Redner die Jugend aufrief, für Wahrheit und Recht zu kämpfen.273 Daran anknüpfend entschied sich das ZK der SED, eine Jugendweihe für 14-jährige und die achtklassige Schule verlassende Jugendliche zu installieren. Die Kirchen betrachteten das als Provokation und bürgerlich gebildete Schichten stimmten dem zu. Der Romanist Victor Klemperer (1881–1960) sah diese Initiative als dem Marxismus „unwürdig“.274 Als „Hausbuch“, in das immer wieder zur Vertiefung der wissenschaftlichen Weltanschauung hineingeschaut werden konnte, wurde Zur Erinnerung an die Jugendweihe gewidmet vom Zentralen Ausschuß für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft Weltall. Erde. Mensch konzipiert und seit den ersten Jugendweihen im Frühjahr 1955 ausgegeben. In den sozialistischen Ländern ist es um die möglichst allseitige Erziehung und Bildung des Individuums gegangen. Ulbricht schreibt zum Geleit von der Vision, dass der Sozialismus den „allseitig gebildeten und schöpferisch tätigen Staatsbürger, der bewußt die in Natur und Gesellschaft wirkenden objektiven Gesetze nutzt und sie zum Wohle der Menschheit, des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts anwendet“, braucht. „Ihr seid Pioniere einer neuen Zeit“, so wurden die Jugendlichen vom Minister für Volksbildung Paul Wandel (1905–1995) aus Anlass der ersten Berliner Jugendweihe am 27. März 1955 ermuntert.275 Mit dem Kapitel Weltall wurden den Jugendlichen die Dimensionen der modernen Naturwissenschaften mit einer dialektisch materialistischen Interpretation nahe gebracht. Die Forderung von Lenin, auf neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse philosophisch zu reagieren, griff in Berlin Herbert Hörz (*1933) seit den 1960er Jahren intensiv auf.276 Für die 16. Auflage (Neufassung 1968) dieses von Alfred Kosing (*1928) organisierten Sammelwerkes277 wurde A. R. gebeten, zum dritten Abschnitt einen Beitrag Wladimir Iljitsch Lenin – der Führer des Weltproletariats zu schreiben.278 „Eifert Lenin nach!“ – A. R. will der Jugend der DDR mit Lenin einen moralischen Kompass geben und verständlich machen, dass es auf Engagement und auf die Lebensweise ankommt. Dem Beitrag von A. R. geht jener über Karl Marx und Friedrich Engels – die Begründer der wissenschaftlichen Weltanschauung, dessen Verfasser das aus einem sozialdemokratischen Elternhaus kommende Mitglied der Roten Kapelle und der hoch geachtete Historiker Heinrich Scheel (1915–1996) ist,279 voraus.

In den intellektuellen Debatten spielte dieses schön illustrierte und anregende Sammelwerk keine Rolle, dennoch konnte es für die Jugend ein Wissensanker zum Festhalten sein. In der DDR war nicht mehr zu übersehen, dass die Erziehung des Menschengeschlechts im Sinne eines sozialistischen Humanismus nicht allein durch Veränderung der gesellschaftlichen, vom Eigentum abgeleiteten Grundverhältnisse von der Basis herbeigeleitet werden konnte. Die Diskussion über Entfremdung auf der Konferenz zum 80. Geburtstag von Franz Kafka wurde von Ernst Fischer oder Roger Garaudy (1913–2012) nicht für weiterführende Fragestellungen zur marxistischen Ethik, sondern zu antimarxistischen Ausfällen benützt. Da war bei Jean Paul Sartre (1905–1980) jedenfalls mehr zu lernen, weil er nicht bei der Anthropologie verblieben war, sondern die Frage des Veränderns als das Prinzip des Seins und des Denkens in das Zentrum gerückt hatte. Dazu ist in Sinn und Form von Sartre ein Interview abgedruckt.280 Inmitten solcher Debatten wies A. R. immer wieder auf Lenin hin, dessen Leben mit den beiden Polen Risiko und Hoffnung auf die umfassende Revolution abgezielt hatte. Die Hinführung zu solchen Fragestellungen findet sich in den in Österreich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen „Jungbürgerbüchern“ nicht. Jugendlichen in Wien wurden 1968 mit der Erreichung des 21. Lebensjahres das nett harmonisierende Buch Wien – meine Stadt. Jungbürgerbuch 1968 ausgegeben. Das Vorwort hatte Bundespräsident Franz Jonas (1899–1974) geschrieben. Nun werde die Republik Österreich den Jungbürgern anvertraut, jene Republik, „die Ihre Großeltern unter großen Mühen geschaffen, für die Ihre Eltern gelitten haben“. Es gelte, für Wien „die Zuneigung der Welt immer wieder zu erwerben und zu verdienen“.281 Die Geschichte der Republik Österreich war rasch erzählt: „Das Jahr 1934 ist der tragische Höhepunkt einer Geschichte, die mit einer Politik des Misstrauens gehen die Arbeiter begann und mit Massenarbeitslosigkeit endete. 1938 hörte Österreich unter Hitlers Truppen zu bestehen auf“.282 In Tirol diente das von Wolfgang Pfaundler (1924–2015) erstmals 1967 aufmerksam organisierte Tiroler Jungbürgerbuch bald mehr bald weniger zur Mystifizierung der „ehrwürdigen“ Geschichte Tirols.283 Die vom persönlich tapferen Andreas Hofer (1767–1810) angeführte Bauernrevolte zugunsten der Restauration der, wie Friedrich Engels beklagte, „väterlichen Despotie Wiens und Roms“284 nimmt eine zentrale Stelle ein. Pech hatten die 50.000 Tiroler in der deutschen Wehrmacht, die vor allem an der „Eismeerfront“, am Balkan und im Kaukasus kämpften: „Nach großen militärischen Anfangserfolgen befand sich das Dritte Reich bald mit fast der ganzen Welt in Kriegszustand, sodass der Ausgang des Kampfes spätestens 1942 feststand. Im Kampf der Soldaten des Zweiten Weltkrieges lag eine nie dagewesene Tragik: sie fochten gegen Feinde, deren Sieg gewiß war, und starben für eine Heimat, die keine Freiheit kannte“. Darunter ein Bild, das Gebirgsjäger der deutschen Wehrmacht am 21. August 1942 auf dem Elbrus, dem höchsten Berg des Kaukasus, mit der Reichskriegsflagge zeigt.285

Sicher wird A. R. seine Veröffentlichung über Lenins Jugend (1973) zu seinen Lieblingsbüchern gerechnet haben. Der Verlag Neues Leben bestellte mit Karl Richter vom IfML und mit Heinz Eigendorf von der Sektion Marxismus-Leninismus an der Humboldt Universität zwei Gutachter, die beide sehr angetan waren. Beiden ist, pflichtgemäß, die besondere Eigenschaft von A. R. aufgefallen, Äußerungen von mehr oder weniger bekannten Antileninisten nicht totzuschweigen, und sie empfahlen zumindest eine Reduzierung.

Hans Eigendorf gutachtete am 8. Februar 1973:

„Dieses Buch wäre geeignet, eine Lücke in unserer Literatur zu schließen, und in populärwissenschaftlicher Weise Aufschluss über die Herausbildung der politischen, wissenschaftlichen und moralischen Qualitäten des hervorragendsten Menschen unseres Jahrhunderts zu geben. Durch sich selbst und infolge seines hohen Anspruchs, mehr noch in der Hand des Erziehers und des Jugendfunktionärs, könnte diese Veröffentlichung ähnlich der über die Jugend von Marx und Engels helfen, Normen der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung für unsere Jugend zu popularisieren.“ Und Karl Richter schrieb (10. Februar 1973): „Im Mittelpunkt der gesamten Darstellung steht die Frage, wie Wladimir Uljanow zum Revolutionär geworden ist. Dieser Problematik ist ein besonderes Kapitel gewidmet, aber sie durchzieht wie ein roter Faden auch die ganze Abhandlung. Reisberg gibt eine überzeugende Antwort auf diese Frage und zeigt dem jungen Leser, dass der Weg, den Wladimir Uljanow damals gegangen ist, von ihm selbst – unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen – nachvollzogen werden kann. Die Darstellung wird der Persönlichkeit Lenins gerecht, zugleich aber verstand es der Autor, jegliche Überhöhung zu vermeiden, er nimmt nicht vorweg von dem, was auf den späteren Führer der revolutionären russischen und internationalen Arbeiterbewegung und Begründer des Sowjetstaates zutrifft. Große Aufmerksamkeit verwendet Reisberg darauf, zu zeigen, welche Faktoren an der Formung des Charakters Wladimirs beteiligt waren: Das Zusammenwirken von Elternhaus und Selbsterziehung Wladimirs, von gesellschaftlichen und dabei vor allem geistigen Einflüssen und eigenen Erlebnissen und Beobachtungen während der Schul- und Studentenzeit, in der ersten Verbannung und schließlich die ersten Schritte in der revolutionären Arbeiterbewegung. Von besonderem erzieherischem Wert ist die Schilderung von Lenins Selbstdisziplin, die sich sowohl bei seinen Anstrengungen zur Überwindung bestimmter ihm in der Kindheit anhaftender Charakterschwächen als auch beim Lernen und Studium ausprägt. Ohne zu idealisieren oder den jungen Wladimir als lebensfremden Bücherwurm oder Streber darzustellen, hat Reisberg es verstanden, ein Vorbild zu gestalten, an dem der junge Leser sich selbst messen kann.“

A. R. blieb bei seiner Linie und verschönerte die Realität des zeitweisen Umfelds von Lenin nicht. Er zitierte Memoiren des Gegners der Oktoberrevolution Wassili Wassiljewitsch Wodowosow (1864–1940), der sich abfällig über Lenin („grobe Ausfälle und Gesten“) geäußert hatte.286 Nach Erscheinen des Büchleins besprach es Karl Richter in der Berliner Zeitung (20. Januar 1974) mit viel Sympathie: „Es wäre unverzeihlich, die Lektüre von Reisbergs Büchlein als lehrreich und in mancherlei Hinsicht als gewinnbringend zu empfehlen, ohne dabei zu vermerken, dass es bei aller Wissenschaftlichkeit außerdem vergnüglich zu lesen ist.“