Der Schwabe

Spät erst lernte er sprechen. In einem Brief erinnerte er sich: »Es ist wahr, daß meine Eltern besorgt waren, weil ich verhältnismäßig spät zu sprechen begann, so daß sie deshalb den Arzt konsultierten.« Selbst nachdem er im Alter von zwei Jahren begonnen hatte, erste Wörter zu sprechen, entwickelte er eine Eigenart, die das Hausmädchen veranlasste, ihn den »Depperten« zu nennen, während andere Familienmitglieder ihn als »fast zurückgeblieben« bezeichneten. Wenn er etwas sagen wollte, sprach er es sich flüsternd vor, bevor er es gut genug fand, um es laut zu sagen. »Jeden ausgesprochenen Satz«, schrieb seine ihn sehr verehrende Schwester , »sei er auch noch so alltäglich, sprach er leise, mit Lippenbewegung, noch einmal vor sich hin.« Das sei alles sehr beunruhigend gewesen, meinte sie. »Mit der Sprache ging es so schwer, dass die Umgebung befürchtete, er werde nie sprechen lernen.« 1

Ergänzt wurde diese verlangsamte Entwicklung durch eine rebellische Aufsässigkeit gegenüber Autoritäten, die einen Lehrer veranlasste, ihn nach Hause zu schicken, und einen anderen, sich unsterblich zu machen, indem er erklärte, aus dem Kind werde nie etwas werden. Durch diese Wesenszüge wurde Albert Einstein zum Schutzheiligen abgelenkter Schulkinder in aller Welt. 2 Aber sie trugen auch dazu bei, so vermutete er zumindest später, dass aus ihm der kreativste Naturwissenschaftler der neueren Zeit wurde.

Seine kecke Verachtung für Autoritäten veranlasste ihn, fest etablierte Schulmeinungen infrage zu stellen, wie die fleißigen Adepten in den Hochschulen es nie in Betracht zogen. Hinsichtlich seines verzögerten Spracherwerbs gewann er später die Überzeugung, ihm verdanke er die Fähigkeit, jedes alltägliche Phänomen, das andere für selbstverständlich hielten, mit Staunen zu betrachten. »Wenn ich mich frage, woher es kommt, daß gerade ich die Relativitätstheorie aufgestellt habe, so scheint es an folgendem Umstand zu liegen«, erklärte Einstein einmal. »Der normale Erwachsende denkt über die Raum-Zeit-Probleme kaum nach. Das hat er nach seiner Meinung bereits als Kind getan. Ich hingegen habe mich geistig derart langsam entwickelt, daß ich erst als Erwachsener anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als die normal veranlagten Kinder.« 3

Wahrscheinlich sind Einsteins Entwicklungsprobleme übertrieben worden, vielleicht sogar von ihm selbst, denn wir haben einige Briefe von entzückten Großeltern, in denen es heißt, er sei so intelligent und niedlich gewesen wie jedes Enkelkind. Aber sein Leben lang litt Einstein unter einer leichten Form von Echolalie , die ihn veranlasste, Sätze zwei- oder dreimal zu wiederholen, insbesondere wenn er sie lustig fand. Meist dachte er lieber in Bildern, vor allem bei seinen berühmten Gedankenexperimenten, etwa wenn er sich vorstellte, einen Blitzschlag von einem fahrenden Zug aus zu sehen oder Schwerkraft in einem fallenden Fahrstuhl zu verspüren. »Ich denke überhaupt sehr selten in Worten«, erzählte er später einem Psychologen. »Ein Gedanke kommt, und ich kann hinterher versuchen, ihn in Worten auszudrücken.« 4

Mütter- und väterlicherseits stammte Einstein von jüdischen Händlern und Hausierern ab, die seit mindestens zwei Jahrhunderten ihren bescheidenen Lebensunterhalt in ländlichen Regionen Schwabens verdienten. Mit jeder Generation hatten sie sich – zumindest glaubten sie das – der deutschen Kultur, die sie liebten, stärker assimiliert. Obwohl jüdisch durch kulturelle Bestimmung und Zugehörigkeitsgefühl, interessierten sie sich kaum für die Religion oder deren Rituale.

Regelmäßig spielte Einstein die Bedeutung seiner Herkunft herunter, wenn es um die Frage ging, was ihn geprägt habe. »Nachforschungen über meine Vorfahren«, meinte er später im Leben zu einem Freund, »führen zu nichts.« 5 Das stimmt nicht ganz. Er war glücklich, dass er in eine geistig unabhängige und intelligente Familie geboren worden war, die Wert auf Bildung legte, und zweifellos war sein Leben auf zugleich schöne und tragische Weise dadurch geprägt, dass er einer religiösen Gemeinschaft angehörte, die eine unverkennbare geistige Tradition hatte und deren Geschichte von Außenseitertum und Wanderschaft bestimmt war. Natürlich wurde er durch den Umstand, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts ein Jude in Deutschland war, noch mehr zum Außenseiter und Wanderer, als ihm lieb sein konnte, aber auch das machte ihn zu dem, was er war, und trug zu der Rolle bei, die er in der Weltgeschichte spielen sollte.

Einsteins Vater Hermann wurde 1847 in dem schwäbischen Dorf Buchau geboren, dessen lebendige jüdische Gemeinde gerade begann, von dem Recht auf unbeschränkte Berufsausübung Gebrauch zu machen. Hermann zeigte »eine ausgesprochene Neigung für die Mathematik«, 6 und seine Familie konnte es sich leisten, ihn auf ein Gymnasium im 120 Kilometer entfernten Stuttgart zu schicken, nicht aber, ihn eine Universität besuchen zu lassen, die in den meisten Fällen sowieso keine Juden zum Studium zuließ, weswegen er nach Buchau zurückging und Kaufmann wurde.

Einige Jahre danach, im Zuge der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Abwanderung ländlicher deutscher Juden in die Industriezentren, zogen Hermann und seine Eltern in das wohlhabendere, 55 Kilometer entfernt liegende Ulm , das sich prophetisch mit dem Motto »Ulmenses sunt mathematici« schmückte – die Ulmer sind Mathematiker. 7

Dort wurde er in der Bettfedernhandlung seines Vetters Partner. Er war »außerordentlich freundlich, sanftmütig und klug«, schrieb sein Sohn später. 8 Mit seiner Liebenswürdigkeit, die an Gefügigkeit grenzte, war Hermann als Geschäftsmann nicht sehr erfolgreich und in finanziellen Dingen vollkommen überfordert. Aber seine Fügsamkeit machte ihn zu einem liebenswerten Familienmenschen und guten Ehemann einer willensstarken Ehefrau. Mit 29 Jahren heiratete er die elf Jahre jüngere Pauline Koch .

Julius Koch , Paulines Vater, hatte als Getreidehändler und königlich-württembergischer Hoflieferant ein beträchtliches Vermögen erworben. Pauline hatte seine praktische Veranlagung geerbt, doch sein mürrisches Wesen war bei ihr aufgelockert durch einen Hang zu spöttischem, an Sarkasmus grenzendem Witz und ein Lachen, das sowohl ansteckend wie verletzend sein konnte (Charakterzüge, die sie an ihren Sohn weitergeben sollte). Nach allem, was man weiß, führten Hermann und Pauline eine glückliche Ehe. Die beiden Eheleute harmonierten in »vollkommener Weise«, denn ihre starke Persönlichkeit verband sich auf das Glücklichste mit der Passivität ihres Mannes. 9

Ihr erster Sohn wurde am 14. März 1879 um 11.30 Uhr in Ulm geboren, das sich kürzlich zusammen mit dem restlichen Schwaben dem neuen Deutschen Reich angeschlossen hatte. Ursprünglich hatten Pauline und Hermann vorgehabt, den Jungen nach seinem Großvater väterlicherseits Abraham zu nennen. Doch, wie sie später sagten, fanden sie, der Name klinge »zu jüdisch «. 10 Daher behielten sie den Anfangsbuchstaben A und nannten ihn Albert Einstein.

München

1880, nur ein Jahr nach Alberts Geburt, erlitt Hermann mit seiner Bettfedernhandlung Schiffbruch und ließ sich von seinem Bruder Jakob überreden, nach München zu ziehen, wo dieser einen Gas- und Elektrogroßhandel eröffnet hatte. Jakob , das jüngste der fünf Geschwister, hatte, anders als Hermann , eine höhere Ausbildung genossen und war Ingenieur geworden. Als sie sich in Süddeutschland um Verträge bemühten, die ihnen die Versorgung der Stadtverwaltungen mit Generatoren und elektrischem Licht zusicherten, war Jakob für die technischen Angelegenheiten verantwortlich, während Hermann ein Mindestmaß an kaufmännischen Kenntnissen und, vielleicht noch wichtiger, Kredite von der Familie seiner Frau beisteuerte. 11

Pauline und Hermann bekamen im November 1881 noch ein zweites und letztes Kind, eine Tochter, die auf den Namen Maria getauft wurde, aber zeit ihres Lebens nur mit der Koseform Maja angeredet wurde. Als man Albert die neugeborene Schwester zeigte, hatte man ihm eingeredet, sie sei ein wunderbares Spielzeug, an dem er viel Freude haben werde. Daher rief er nach einem Blick auf die Schwester enttäuscht aus: »Ja, aber wo hat es denn seine Rädchen?« 12 Das war vielleicht nicht die scharfsinnigste Antwort, aber sie zeigte, dass ihn in seinem dritten Lebensjahr seine sprachlichen Schwierigkeiten nicht daran hinderten, höchst denkwürdige Kommentare abzugeben. Von ein bisschen Kindheitsgezänk abgesehen, sollte Maja seine engste Seelengefährtin werden.

Die Einsteins bezogen ein komfortables Haus mit alten Bäumen und einem eleganten Garten in einem Münchner Vorort, das der Familie, zumindest während Alberts Kindheit, eine ehrbare bürgerliche Existenz ermöglichte. Während der Regierungszeit des geisteskranken Bayernkönigs Ludwig II . war München architektonisch herausgeputzt worden und präsentierte eine Überfülle von Kirchen, Kunstgalerien und Konzertsälen, die die Werke des dort ansässigen Richard Wagner bevorzugten. 1882, kurz nach Einsteins Ankunft, hatte die Stadt etwas mehr als 300.000 Einwohner, zu 85 Prozent Katholiken und 2 Prozent Juden , und veranstaltete die erste deutsche Elektroausstellung, bei der in der Stadt elektrische Straßenlaternen eingeführt wurden.

Im Garten der Einsteins wimmelte es oft von Cousinen und Kindern. Aber Albert mied ihre lärmende Spiele und beschäftigte sich lieber mit stilleren Dingen. Eine Gouvernante nannte ihn sogar »Pater Langweil«. Im Allgemeinen war er ein Einzelgänger, eine Neigung, die er nach eigenem Bekunden sein Leben lang beibehielt, obwohl sich seine charakteristische Distanziertheit mit einer Vorliebe für Kameradschaft und intellektuelle Gemeinschaft verband. »Schon von Kindheit an zog er sich gern von seinen Altersgenossen zurück und hing seinen Gedanken und Träumereien nach«, schrieb Philipp Frank , der lange Zeit ein wissenschaftlicher Kollege von Einstein war. 13

Er legte gern Puzzles, errichtete mit seinem Baukasten komplizierte Gebilde, spielte mit einer Dampfmaschine, die ihm sein Onkel geschenkt hatte, und baute Kartenhäuser. Laut Maja konnte Einstein Kartengebäude mit mehr als vierzehn Stockwerken errichten. Selbst wenn wir die Bewunderung für ihren weltberühmten Bruder berücksichtigen, hatte sie vermutlich recht, wenn sie behauptete: »Ausdauer u. Beharrlichkeit steckten also ganz offensichtlich in ihm.«

Außerdem neigte er, zumindest als Kleinkind, zu Jähzorn. »In solchen Momenten wurde er im Gesicht ganz gelb, die Nasenspitze aber schneeweiss, u. er war nicht mehr Herr seiner selbst«, berichtet Maja in ihren Erinnerungen. Mit fünf Jahren habe er einmal einen Stuhl ergriffen und mit ihm nach der Lehrerin geschlagen, die daraufhin fortlief und sich nie wieder blicken ließ. Majas Kopf wurde zur Zielscheibe verschiedener harter Gegenstände. »Woraus ohne weiteres ersichtlich ist, dass auch ein gesunder Schädel dazu erforderlich ist, die Schwester eines Denkers zu sein«, scherzte sie später. Anders als in puncto Beharrlichkeit und Zähigkeit legte er seine Wutanfälle später ab. 14

Um es in der Sprache der Psychologen auszudrücken, die Fähigkeit des jungen Einstein zum Systematisieren (die Gesetze zu erkennen, die einem System zugrunde liegen) war weit größer als seine Fähigkeit zur Empathie (zu spüren und zu berücksichtigen, was andere Menschen fühlen), was einige Kommentatoren veranlasst hat, sich zu fragen, ob sich darin nicht leichte Symptome einer Entwicklungsstörung ausdrückten. 15 Doch wir dürfen nicht vergessen, dass er trotz Distanziertheit und gelegentlichen rebellischen Verhaltens durchaus die Fähigkeit besaß, enge Freundschaften zu schließen und für Kollegen sowie die Menschheit im Allgemeinen Empathie zu empfinden.

Die großen Erweckungsereignisse, die in der Kindheit stattfinden, werden gewöhnlich vergessen. Doch Einstein hatte mit vier oder fünf Jahren ein Erlebnis, das sein Leben verändern und in seinem Gedächtnis unauslöschlich bleiben sollte – wie in dem der Wissenschaftsgeschichte.

Eines Tages lag er krank im Bett, da brachte ihm sein Vater einen Kompass mit. Wie er sich später erinnerte, war er so aufgeregt, dass er zitterte und ihm kalt wurde. Der Umstand, dass die Magnetnadel zitterte, als stünde sie unter dem Einfluss eines verborgenen Kraftfelds und nicht vertrauterer Ursachen wie Berührung oder anderer Kontakte, rief in ihm ein Staunen hervor, das er sein Leben lang verspürte. »Ich erinnere mich noch jetzt – oder glaube mich zu erinnern – daß dies Erlebnis tiefen und bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat«, schrieb er anlässlich einer der vielen Gelegenheiten, bei denen er von diesem Vorfall berichtete. »Da mußte etwas hinter den Dingen sein, das tief verborgen war.« 16

»Es ist eine symbolträchtige Geschichte«, schrieb Dennis Overbye in Einstein in Love , »der kleine Junge zitterte vor der unsichtbaren Ordnung hinter der chaotischen Wirklichkeit.« In dem Film IQ  – Liebe ist relativ trug Einstein, gespielt von Walter Matthau , den Kompass um den Hals, und in dem Kinderbuch Rescuing Alberts Compass von Shulamith Oppenheim ist er das eigentliche Thema. Der Schwiegervater der Autorin hatte die Geschichte 1911 von Einstein gehört. 17

Nach der faszinierenden Erfahrung, dass die Kompassnadel den Kräften eines unsichtbaren Feldes unterworfen ist, entwickelte Einstein eine lebenslange Vorliebe für Feldtheorien als Mittel zur Beschreibung der Natur. Feldtheorien verwenden mathematische Größen wie Zahlen, Vektoren oder Tensoren , um zu beschreiben, wie die Bedingungen an einem gegebenen Punkt des Raums die Materie oder ein anderes Feld beeinflussen. Beispielsweise gibt es in einem Gravitationsfeld oder einem elektromagnetischen Feld Kräfte, die an jedem Punkt auf ein Teilchen einwirken können. Die Gleichungen einer Feldtheorie beschreiben, wie sich diese verändern, wenn man sich durch die Region bewegt. Der erste Absatz seines berühmten Aufsatzes von 1905 über die spezielle Relativitätstheorie beginnt mit einer Erörterung der Wirkungen elektrischer und magnetischer Felder. Seine allgemeine Relativitätstheorie beruht auf Gleichungen, die ein Gravitationsfeld beschreiben. Und ganz am Ende seines Lebens kritzelte er verbissen eine Formel aufs Papier in der Hoffnung, sie könne die Grundlage für eine Theorie von Allem  – die Weltformel – bilden. Dazu schrieb der Wissenschaftshistoriker Gerald Holton , Einstein habe »den klassischen Feldbegriff für den größten Beitrag zum wissenschaftlichen Denken« gehalten. 18

Etwa zur selben Zeit machte ihm seine Mutter , eine ausgezeichnete Pianistin, ein Geschenk, das ihn in ähnlicher Weise durch sein Leben begleiten sollte. Sie ließ ihn Geigenstunden nehmen. Zunächst störten ihn die mechanischen Anfangsübungen. Doch als er zu Mozarts Sonaten kam, gewann die Musik magische und emotionale Bedeutung für ihn. »Ich glaube überhaupt«, meinte er, »daß Liebe eine bessere Lehrmeisterin ist als Pflichtbewußtsein, bei mir wenigstens sicher.« 19

Bald spielte er Mozart -Duette, wobei seine Mutter ihn am Klavier begleitete. »Mozarts Musik ist so rein und schön, daß ich sie als die innere Schönheit des Universums selbst ansehe«, sagte er später zu einem Freund. »Und natürlich war«, fügte er hinzu, wobei in dieser Bemerkung nicht nur seine Ansicht über Mozart , sondern auch über Mathematik und Physik zum Ausdruck kam, »wie alle große Schönheit, seine Musik reine Einfachheit.« 20

Musik war nicht einfach Zerstreuung. Im Gegenteil, sie half ihm beim Denken. »Immer wenn er das Gefühl hatte, er sei am Ende oder er stehe vor einer schwierigen Aufgabe in seiner Arbeit«, sagte sein Sohn Hans Albert , »suchte er Zuflucht in der Musik, und die löste alle seine Schwierigkeiten.« So erwies sich die Geige während der Jahre, die er in Berlin lebte und mit der allgemeinen Relativitätstheorie rang, als sehr nützlich. »Er pflegte oft spät in der Nacht in seiner Küche zu spielen, Melodien improvisierend, während er über komplizierte physikalische Probleme nachdachte«, erinnerte sich ein Freund. »Dann, mitten im Spiel, verkündete er aufgeregt: ›Ich hab’s!‹ Wie durch Inspiration hatte er die Antwort auf ein Problem gefunden.« 21

In der Liebe zur Musik, besonders zu Mozart , kam möglicherweise sein Empfinden für die Harmonie des Universums zum Ausdruck. Alexander Moszkowski , der 1920 auf der Grundlage von Gesprächen, die er mit Einstein geführt hatte, eine Biografie über ihn schrieb, merkte zu diesem Thema an: »Musik, Natur und Gott verbanden sich in ihm zu einem komplexen Gefühl, einer moralischen Einheit, deren Spuren sich nie verwischten.« 22

Sein Leben lang bewahrte sich Albert Einstein die Intuition und Ehrfurcht eines Kindes. Nie verlor er die Fähigkeit, über den Zauber der Naturerscheinungen zu staunen – Magnetfelder, Schwerkraft, Massenträgheit , Beschleunigung , Lichtstrahlen –, all die Dinge, die Erwachsene so banal finden. Er bewahrte die Fähigkeit, zwei Gedanken gleichzeitig im Bewusstsein zu behalten, geriet in Verwirrung, wenn sie sich widersprachen, und staunte, wenn er eine zugrunde liegende Einheitlichkeit erahnte. »Solche Menschen wie wir beide (…) werden nicht alt, solange sie leben«, schrieb er später an einen Freund, »sie stehen immer noch neugierig wie Kinder vor dem grossen Rätsel, in das wir mitten hineingesetzt sind.« 23

Schule

In seinen späteren Jahren erzählte Einstein gern einen alten Witz über einen ungläubigen Onkel, der als Einziger aus der Familie in die Synagoge ging. Nach dem Grund gefragt, pflegte der Onkel zu antworten: »Man kann nie wissen.« Einsteins Eltern dagegen waren »ganz unreligiös «, verspürten keinen Drang, sich abzusichern. Weder aßen sie koscher, noch gingen sie in die Synagoge, und sein Vater bezeichnete die jüdischen Riten als »Aberglaube aus früheren Zeiten«. 24

Als Albert sechs Jahre alt wurde und in die Schule kam, kümmerten sich seine Eltern daher nicht darum, ob es nicht eine jüdische Schule in der Nähe gab. Stattdessen schickten sie ihn auf die große katholische Schule in der Nachbarschaft, die Petersschule . Als einziger Jude unter siebzig Schülern in der Klasse nahm Einstein am üblichen katholischen Religionsunterricht teil und mochte ihn ausgesprochen gern. Er half sogar Klassenkameraden bei ihren Religionsaufgaben . 25

Eines Tages brachte sein Lehrer einen großen Nagel mit in die Schule . »So sahen die Nägel aus, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt wurde«, sagte er. 26 Trotzdem erklärte Einstein später, er habe sich von den Lehrern nicht diskriminiert gefühlt. »Die Lehrerschaft der Volksschule war liberal und machte keine konfessionellen Unterschiede«, schrieb er. Bei seinen Mitschülern sah es allerdings anders aus. »Unter den Kindern war besonders in der Volksschule der Antisemitismus lebendig«, erinnerte er sich.

Auf dem Schulweg wurde er verhöhnt, was wohl an den »den Kindern merkwürdig bewußten Rassenmerkmalen« lag und ihn in dem Gefühl, Außenseiter zu sein, bestärkte – ein Gefühl, das ihn sein ganzes Leben begleiten sollte. »Tätliche Angriffe auf dem Schulweg waren häufig, aber meist nicht gar zu bösartig. Sie genügten immerhin, um ein lebhaftes Gefühl des Fremdseins schon im Kind zu befestigen.« 27

Als Einstein neun wurde, kam er auf eine höhere Schule unweit des Münchner Stadtzentrums, das Luitpold-Gymnasium , eine aufgeklärte Lehranstalt, in der nicht nur auf Latein und Griechisch Wert gelegt wurde, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften. Außerdem gab es an der Schule einen Lehrer, der ihn und andere Juden im mosaischen Glauben unterrichtete.

Trotz der weltlichen Einstellung der Eltern – oder vielleicht ihretwegen – entwickelte Einstein plötzlich einen leidenschaftlichen Eifer für den Judaismus . Er war »in seinem religiösen Gefühl so voller Eifer, dass er von sich aus sich genau selbst an alle Einzelheiten religiöser Vorschriften hielt«, erinnert sich seine Schwester . Er aß kein Schweinefleisch, hielt die koscheren Speisegesetze ein und richtete sich nach den strengen Vorschriften des Sabbats, was alles ziemlich schwierig war, da der Rest der Familie einen Mangel an Interesse zeigte, der an Geringschätzung grenzte. Sogar eigene Hymnen komponierte er zum Lobpreis Gottes , die er auf dem Heimweg von der Schule vor sich hin sang. 28

Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge war Einstein als Schüler schlecht in Mathematik, eine Behauptung, die, häufig mit der Redewendung »wie allgemein bekannt« untermauert, in vielen Büchern und auf unzähligen Webseiten wiederholt wird, um schwachen Schülern Mut zu machen. Sie hat es sogar in die berühmte Zeitungskolumne »Ripley’s Believe It or Not!« geschafft.

Zwar ist Einsteins Kindheit reich an ironischen Anekdoten, doch diese gehört leider nicht dazu. 1935 zeigte ihm ein Rabbiner in Princeton einen Zeitungsausschnitt mit der Schlagzeile der Ripley-Kolumne »Größter lebender Mathematiker fiel in Mathematik durch«. Einstein lachte: »In Mathematik bin ich nie durchgefallen«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Bevor ich fünfzehn war, meisterte ich die Differential- und Integralrechnung.« 29

Tatsächlich war er ein vorzüglicher Schüler, zumindest in seinen schulischen Leistungen. In der Grundschule war er Klassenbester. »Gestern bekam Albert seine Noten«, berichtete seine Mutter einer Tante, als er sieben war, »er war wieder Klassenbester.« Am Gymnasium missfiel ihm das mechanische Erlernen von Sprachen wie Latein und Griechisch, ein Problem, das noch durch »ein schlechtes Gedächtnis für Worte und Texte« verschlimmert wurde. Doch selbst in diesen Fächern bekam Einstein durchweg gute Zensuren. Jahre später, als er seinen fünfzigsten Geburtstag feierte und wieder die alten Geschichten über Einstein und seine schlechten Noten im Gymnasium ausgekramt wurden, veröffentlichte der damalige Direktor einen Brief, der offenbarte, wie gut Einsteins Zensuren tatsächlich gewesen waren. 30

Was die Mathematik betraf, erwies er sich als alles andere als ein Versager, sondern »weit über dem Schulpensum«. Mit zwölf Jahren hatte er laut seiner Schwester schon »mit Vorliebe komplizierte Aufgaben der angewandten Arithmetik gelöst« und beschloss, dem Stoff vorauszueilen, indem er Geometrie und Algebra auf eigene Faust lernte. Seine Eltern kauften ihm die Lehrbücher für höhere Klassen, sodass er sich ihren Stoff über die Sommerferien aneignen konnte. Dabei lernte er nicht nur die Beweise in den Büchern, sondern setzte sich auch intensiv mit den neuen Theorien auseinander, indem er sie selbst zu beweisen versuchte. »Spiel & Kameraden wurden vergessen«, berichtet die Schwester . »Tagelang sass er in die Lösung vertieft abseits & gab nicht nach, bis er sie gefunden hatte.« 31

Sein Onkel Jakob , der Ingenieur, vermittelte ihm die Freude an der Algebra . »Das ist eine lustige Wissenschaft«, erklärte er. »Wenn man das gesuchte Tier nicht erjagen kann, so gibt man ihm vorläufig den Namen ›x‹ und jagt so lange, bis es zur Strecke gebracht ist.« Im Fortgang habe er dem Jungen immer schwierigere Aufgaben gegeben, erinnerte sich Maja , »nicht ohne gutmütige Äusserungen des Zweifels, ob er sie bewältigen könne«. Wenn Einstein Erfolg hatte, was stets der Fall war, »überkam den Knaben ein grosses Glücksgefühl, & schon jetzt war er sich des Weges bewusst, den ihn seine Fähigkeiten wiesen«.

Zu den mathematischen Problemen, mit denen Onkel Jakob ihn fütterte, gehörte auch der Satz des Pythagoras (in einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Flächen der beiden Quadrate über den Katheten gleich der Fläche des Quadrats über der Hypotenuse). »Nach harter Mühe gelang es mir, diesen Satz auf Grund der Ähnlichkeit von Dreiecken zu ›beweisen‹«, schrieb Einstein in seinen biografischen Erinnerungen. Und wieder dachte er in Bildern. »Dabei erschien es mir ›evident‹, daß die Verhältnisse der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks durch einen der spitzen Winkel bestimmt sein müssen.« 32

Mit dem Stolz der jüngeren Schwester meinte Maja , ihr Bruder habe den Satz des Pythagoras »auf anderem Wege, als sie in den Büchern standen« bewiesen. Obwohl er Einstein vielleicht neu erschien, ist kaum vorstellbar, dass sein Weg so neu war und sich von den bereits bekannten Beweisen unterschied, die sich die Eigenschaften ähnlicher Dreiecke zunutze machen. Trotzdem zeigt sich hier Einsteins jugendliche Begeisterung für den Umstand, dass sich elegante Lehrsätze aus einfachen Axiomen ableiten lassen und dass er kaum Gefahr lief, in Mathematik zu versagen. »Als ein Junge von 12 Jahren war ich begeistert von der Entdeckung, dass man die Wahrheit nur durch Denken, ohne Hilfe äußerer Erfahrung, finden kann«, erzählte er Jahre später dem Reporter einer Highschool-Zeitung in Princeton . »Ich gewann immer mehr die Überzeugung, dass sich die Natur als eine relativ einfache mathematische Struktur verstehen lasse.« 33

Die größte geistige Anregung erhielt Einstein von einem armen Medizinstudenten, der einmal in der Woche zum Essen kam. Solche Freitische sind eine alte jüdische Sitte – man lud einen armen Religionswissenschaftler zum Sabbatmahl ein; die Einsteins veränderten die Tradition, indem sie stattdessen einen Medizinstudenten an den Donnerstagen zum Essen empfingen. Sein Name war Max Talmud (später nannte er sich Talmey, nachdem er in die Vereinigten Staaten ausgewandert war), und er begann mit seinen wöchentlichen Besuchen, als er einundzwanzig und Einstein zehn Jahre alt war. »Er war ein hübscher, dunkelhaariger Junge«, erinnerte sich Talmud . »In all diesen Jahren sah ich ihn niemals bei leichter Lektüre. Noch sah ich ihn jemals in Begleitung von Schulkollegen oder gleichaltrigen Buben.« 34

Talmud brachte ihm naturwissenschaftliche Bücher mit, unter anderem auch aus der beliebten Reihe Naturwissenschaftliche Volksbücher  – »ein Werk, das ich mit atemloser Spannung las«, schrieb Einstein. Die einundzwanzig kleinen Bücher hatte Aaron Bernstein verfasst, der besonderen Wert auf die Wechselbeziehung zwischen Biologie und Physik legte und sehr eingehend von den wissenschaftlichen Experimenten der Zeit berichtete, insbesondere wenn sie in Deutschland durchgeführt wurden. 35

Am Anfang des ersten Bandes behandelte Bernstein die Lichtgeschwindigkeit , ein Thema, das ihn offensichtlich faszinierte. Tatsächlich kam er in den nachfolgenden Bänden wiederholt darauf zurück. Band 8 enthielt sogar elf Aufsätze zu dem Thema. Angesichts der Gedankenexperimente, die Einstein später bei der Entwicklung seiner Relativitätstheorie verwendete, lässt sich durchaus vermuten, dass Bernsteins Buch einen gewissen Einfluss auf ihn ausgeübt hat.

Beispielsweise forderte Bernstein seine Leser auf, sich vorzustellen, sie befänden sich in einem schnell fahrenden Zug. Wenn nun eine Kugel durch das Fenster geschossen würde, hätte es den Anschein, als flöge sie in einem Winkel, weil der Zug sich zwischen dem Zeitpunkt, da die Kugel durch das eine Fenster eingetreten wäre, und dem Zeitpunkt, da sie den Zug durch das andere Fenster verlassen hätte, weiterbewegt hätte. Entsprechendes müsse wegen der Geschwindigkeit, mit der die Erde durch den Weltraum wandert, auch für das Licht gelten, das durch ein Teleskop fällt. Das Erstaunliche daran sei, so Bernstein , dass die Experimente immer den gleichen Effekt zeigten, egal, wie rasch sich die Lichtquelle bewege. Ein Satz von Bernstein scheint, da er in Zusammenhang mit einer späteren berühmten Schlussfolgerung von Einstein steht, einen besonderen Eindruck hinterlassen zu haben: »Da sich erweist, dass jede Art des Lichtes exakt die gleiche Geschwindigkeit besitzt, darf das Gesetz der Lichtgeschwindigkeit getrost als das allgemeinste aller Naturgesetze bezeichnet werden.«

In einem anderen Band nahm Bernstein seine jungen Leser mit auf eine imaginäre Reise durch das Weltall. Das Transportmittel war die Welle eines elektrischen Signals. Seine Bücher regten zum freudigen Staunen über wissenschaftliche Forschungen an und enthielten überschwängliche Abschnitte wie den über die erfolgreiche Vorhersage der Position des neuen Planeten Uranus: »Gelobt sei diese Wissenschaft! Gelobt die Männer, die sie betreiben! Und gelobt der menschliche Geist, der schärfer sieht als das menschliche Auge.« 36

Bernstein war, wie Einstein nach ihm, bestrebt, alle Kräfte der Natur zusammenzuführen. Nachdem er beispielsweise beschrieben hatte, dass alle elektromagnetischen Phänomene, wie etwa das Licht, als Wellen anzusehen seien, äußerte er den spekulativen Gedanken, es könne sich mit der Gravitation genauso verhalten. Unter all den Begriffen, deren sich unsere Wahrnehmung bediene, verbärgen sich Einheit und Einfachheit. Wahrheit in der Wissenschaft entdecke man, indem man die allem zugrunde liegende Wirklichkeit suche. Einstein erinnerte sich später daran, wie sich ihm diese Tatsache offenbarte – und an die realistische Einstellung, die dadurch in dem Knaben geweckt wurde: »Da gab es draußen diese große Welt, die unabhängig von uns Menschen da ist und vor uns steht wie ein großes, ewiges Rätsel.« 37

Als sich Einstein und Talmud Jahre später in New York trafen, fragte dieser, was er in Rückschau von Bernsteins Buch halte. »Ein sehr gutes Buch«, sagte Einstein. »Es hat meine ganze Entwicklung sehr beeinflusst.« 38

Talmud half Einstein auch, tiefer in die Wunder der Mathematik einzudringen, indem er ihm ein Geometriebuch mitbrachte, dessen Inhalt Einsteins Mathematikunterricht zwei Jahre voraus war. Später nannte Einstein es das »heilige Geometriebüchlein « und sprach voller Ehrfurcht von ihm: »Da waren Aussagen wie z. B. das Sichschneiden der drei Höhen eines Dreiecks in einem Punkt, die – obwohl an sich keineswegs evident – doch mit solcher Sicherheit bewiesen werden konnten. Diese Klarheit und Sicherheit machten einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich.« Jahre später, bei einem Vortrag in Oxford , verkündete Einstein: »Wen dies Werk [Euklids Geometrie ] in seiner Jugend nicht zu begeistern vermag, der ist nicht zum theoretischen Forscher geboren.« 39

Wenn Talmud am Donnerstag kam, zeigte Einstein ihm voll Eifer die Aufgaben, die er die Woche über gelöst hatte. Anfangs konnte Talmud ihm helfen, doch bald hatte ihn sein Schüler überflügelt. »Nach kurzer Zeit, einigen Monaten, hatte er das Buch durchgearbeitet«, erinnerte sich Talmud . »Daraufhin widmete er sich der höheren Mathematik. (…) Bald entschwebte mir seine mathematische Genialität in Höhen, in die ich ihm nicht mehr folgen konnte.« 40

Daher ging der tief beeindruckte Medizinstudent dazu über, Einstein in die Philosophie einzuführen. »Ich empfahl ihm Kant «, schrieb er. »Damals war er noch ein Kind, erst dreizehn Jahre alt, doch Kants Werke, die normalen Sterblichen unverständlich sind, schienen ihm klar zu sein.« Eine Zeit lang wurde Kant Einsteins Lieblingsphilosoph. Dessen Kritik der reinen Vernunft führte ihn schließlich zur Auseinandersetzung mit David Hume , Ernst Mach und der Frage, was wir über die Wirklichkeit in Erfahrung bringen können.

Einsteins Beschäftigung mit den Naturwissenschaften löste bei ihm im Alter von zwölf Jahren eine plötzliche Reaktion gegen die Religion aus – so, als würde er sich auf eine Bar-Mizwa vorbereiten. In seinen populärwissenschaftlichen Bänden hatte Bernstein versucht, die Naturwissenschaft mit religiösen Neigungen zu versöhnen. Er schrieb: »Die religiöse Neigung findet sich in dem verschwommenen Bewußtseinsbereich, der in der ganzen Natur angelegt ist, auch im Menschen, und ist keineswegs nur spielerisch, sondern beruht auf einer Gesetzmäßigkeit, die eine fundamentale Ursache aller Existenz ist.«

Später näherte sich Einstein diesen Empfindungen wieder an. Damals aber war seine Abkehr von der Religion radikal. »Durch Lesen populärwissenschaftlicher Bücher kam ich bald zu der Überzeugung, daß vieles in den Erzählungen nicht wahr sein konnte. Die Folge war eine geradezu fanatische Freigeisterei, verbunden mit dem Eindruck, daß die Jugend vom Staate mit Vorbedacht belogen wird; es war ein niederschmetternder Eindruck.« 41

Infolgedessen vermied Einstein fortan alle religiösen Riten. »In Einstein regte sich eine Abneigung auch gegen die orthodoxe Ausübung der jüdischen und jeder anderen überlieferten Religion , gegen den Besuch jedes traditionellen Gottesdienstes, die ihn seitdem niemals verlassen hat«, schrieb sein Freund Philipp Frank später. Allerdings blieb ihm aus seiner religiösen Kindheitsphase eine tiefe Ehrfurcht vor der Harmonie und Schönheit dessen, was er den Geist Gottes nannte und was er in der Schöpfung des Universums und seiner Gesetze ausgedrückt sah. 42

Einsteins Auflehnung gegen religiöse Dogmen wirkte sich auf seine grundlegende Einstellung zu überkommenen Lehrmeinungen aus. Sie löste bei ihm allergische Reaktionen gegen alle Formen von Dogma und Autorität aus und beeinflusste auch seine Auffassungen in Politik und Wissenschaft. »Das Misstrauen gegen jede Art Autorität erwuchs aus diesem Erlebnis«, sagte er später, »eine Einstellung, die mich nicht wieder verlassen hat.« Tatsächlich wurde dieser Hang zum Nonkonformismus bis an sein Lebensende zu einem unverkennbaren Merkmal seines Denkens, wissenschaftlich wie gesellschaftlich.

Später eckte er mit seinem Widerspruchsgeist seltener an, weil er ihn freundlicher vorbrachte. Nachdem er als Genie anerkannt war, fand man diese Eigenschaft sogar liebenswert. Als aufsässiger Schüler in einem Münchener Gymnasium hatte er mit diesem Verhalten weniger Erfolg. »In Wirklichkeit fühlte er sich an der Schule sehr unbehaglich«, schrieb seine Schwester . Er fand den Unterrichtsstil – sture Einpaukerei und Ungeduld bei Zwischenfragen – unerträglich. Besonders unangenehm war dem Jungen auch »der militärische Ton in der Schule, die systematische Erziehung zur Verehrung der Autoritäten, die bereits die Schüler an die militärische Zucht gewöhnen sollte«. 43

Selbst in München , wo die bayerische Wesensart einer gewissen Leichtigkeit förderlich ist, hatte diese preußische Verherrlichung des Militärs schon Platz gegriffen. Auch die Kinder liebten Soldatenspiele. Wenn die Truppen zum Klang von Pfeifen und Trommeln vorbeizogen, liefen die Kinder auf die Straße, schlossen sich der Parade an und marschierten im Gleichschritt mit. Anders Einstein. Als er eines Tages so ein Spektakel sah, begann er zu weinen. »Wenn ich einmal groß bin, will ich nicht zu diesen armen Leuten gehören«, sagte er zu seinen Eltern. Später erklärte er: »Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen.« 44

Durch seine Abneigung gegen jede Art der Reglementierung wurde seine Zeit am Münchner Gymnasium zunehmend schwierig und konfliktträchtig. Das mechanische Lernen dort hatte seiner Meinung nach große Ähnlichkeit mit den Methoden der preußischen Armee, die dazu dienten, eine mechanische Disziplin durch die fortwährend wiederholte Befolgung sinnloser Befehle zu erzielen. Später verglich er seine Lehrer gern mit Armeeangehörigen: »Die Lehrer in der Elementarschule kamen mir wie Feldwebel vor«, sagte er, »und die Lehrer am Gymnasium wie Leutnants.«

Einmal fragte er C. P. Snow , den britischen Schriftsteller und Wissenschaftler, ob er das deutsche Wort Zwang kenne. Snow bejahte und sagte, es bedeute so viel wie die englischen Wörter constraint , compulsion , obligation , coercion . Warum? In seiner Münchner Schule habe er sich zum ersten Mal gegen den Zwang aufgelehnt, antwortete Einstein, und das habe ihm seither immer geholfen, er selbst zu bleiben. 45

Skepsis und Ablehnung überkommener Lehrmeinungen wurden zu Kennzeichen seines Lebens. Einem väterlichen Freund schrieb er 1901: »Autoritätsdusel ist der größte Feind der Wahrheit.« 46

In den sechs Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Laufbahn – gleich, ob er die Quantenrevolution einläutete oder sie später bekämpfte – war Einsteins Arbeit immer von dieser Haltung geprägt. »Dieses frühe Mißtrauen gegen jede Autorität, das ihn nie ganz verließ, war von entscheidender Bedeutung«, meinte Banesh Hoffmann , der später ein Kollege von Einstein wurde. »Denn aus dieser Haltung konnte sich die kraftvolle Unabhängigkeit des Geistes entwickeln, die ihm den Mut gab, allgemein anerkannte, wissenschaftliche Überzeugungen in Frage zu stellen und damit die Physik zu revolutionieren.« 47

Diese Geringschätzung von Autorität machte ihn nicht gerade beliebt bei den »Leutnants«, die ihn in der Schule unterrichteten. So erklärte einer seiner Lehrer, mit seinem unverschämten Verhalten gehöre er nicht in die Klasse. Als Einstein einwandte, er habe nichts Unrechtes getan, erwiderte der Lehrer: »Ja, das ist richtig. Aber Sie sitzen in der letzten Reihe und lächeln, und das verletzt das Respektgefühl, das ein Lehrer von seiner Klasse braucht.« 48

Aus Einsteins Unbehagen entwickelte sich eine regelrechte Depression, möglicherweise fast ein Nervenzusammenbruch, als die Firma seines Vaters plötzlich in Schieflage geriet. Das Ende kam sehr rasch. Während Einsteins Schulzeit war die Firma der Einstein-Brüder meist erfolgreich gewesen. 1885 hatte sie zweihundert Angestellte und stattete das Oktoberfest mit dem ersten elektrischen Licht aus. In den ersten Jahren danach erhielt sie den Auftrag, den Stadtteil Schwabing zu elektrifizieren, der damals zehntausend Einwohner zählte. Mit Gasmotoren wurden Doppeldynamos angetrieben, die die Einsteins entwickelt hatten. Jakob Einstein hatte sechs Patente für Verbesserungen von Bogenlampen, Sicherungsautomaten und Stromzählern. Das Unternehmen schickte sich an, Siemens und anderen führenden Stromversorgern Konkurrenz zu machen. Um Kapital zu beschaffen, verpfändeten Vater und Onkel ihre Häuser, liehen sich 60.000 Mark zu 10 Prozent und verschuldeten sich tief. 49

Doch 1894, als Einstein fünfzehn Jahre alt war, ging die Firma pleite, nachdem sie Ausschreibungen für die Elektrifizierung der Münchener Innenstadt und anderer Gebiete verloren hatte. Seine Eltern und Geschwister zogen mit Onkel Jakob nach Norditalien, zunächst nach Mailand und in das unweit gelegene Pavia  – wo, wie die italienischen Partner meinten, eine kleinere Firma leichter Fuß fassen könne. Ihr elegantes Haus wurde abgerissen und machte einem Wohnblock Platz. Einstein ließ man in München zurück, damit er seine letzten drei Schuljahre absolvieren konnte. Es ist nicht ganz klar, ob Einstein in diesem traurigen Herbst 1894 gezwungen wurde, das Luitpold-Gymnasium zu verlassen, oder ob man ihm den Abgang lediglich höflich nahelegte. Wie er sich Jahre später erinnerte, habe der Lehrer, der ihm erklärte: »Ihre bloße Anwesenheit verdirbt den Respekt der anderen Schüler«, den Wunsch geäußert, dass er die Schule verlasse. In einem frühen Buch von einem Familienmitglied heißt es, es sei seine eigene Entscheidung gewesen: »In Albert reifte der Entschluß, nicht in München zu bleiben, und er entwarf einen Plan.«

Dieser Plan sah vor, dass er sich vom Hausarzt, Max Talmuds älterem Bruder, ein Attest geben lasse, in dem festgestellt werde, dass er unter nervöser Erschöpfung leide. Das nahm er zum Anlass, um die Schule zu Beginn der Weihnachtsferien auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Er nahm den Zug über die Alpen und teilte seinen beunruhigten Eltern mit, dass er nie wieder nach Deutschland zurückkehren werde. Stattdessen versprach er, sich alleine fortzubilden und zu versuchen, im folgenden Herbst die Zulassung zum Polytechnikum in Zürich zu erhalten.

Möglicherweise gab es noch einen weiteren Grund für seine Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Wäre er bis zu seinem 17. Geburtstag geblieben – bis zu welchem es nur noch ein gutes Jahr war –, wäre er zum Wehrdienst eingezogen worden, eine Aussicht, deren er »mit Grauen gedachte«, wie seine Schwester schrieb. Die Mitteilung, dass er nicht nach München zurückzugehen gedenke, verknüpfte er mit der Bitte an den Vater , ihm beim Ablegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft zu helfen. 50

Aarau

Frühling und Sommer 1895 verbrachte Einstein mit seinen Eltern in der Wohnung in Pavia und half in der Firma aus. Bei der Gelegenheit lernte er eine Menge über Magneten, Spulen und Stromerzeugung und fand auch Gelegenheit, seine Familie zu beeindrucken. Einmal hatte Onkel Jakob Probleme mit einigen Berechnungen für eine neue Maschine, woraufhin sich Einstein darum kümmerte. »[W]o ich und mein Hilfsingenieur uns Tage lang den Kopf zerbrochen haben, da hat der junge Kerl in einer knappen Viertelstunde die ganze Geschichte herausgehabt«, berichtete Jakob an einen Freund. »Aus dem wird noch mal was.« 51

Bei tagelangen Wanderungen durch die Alpen und den Apennin lernte er die grandiose Einsamkeit des Gebirges lieben. Einmal machte er einen Ausflug von Pavia nach Genua , um Julius Koch , den Vater seiner Mutter , zu besuchen. Auf seinen Reisen durch Norditalien war er entzückt über die »natürliche Grazie« der Menschen und empfand den großen Gegensatz zum deutschen System, das die Menschen »zu seelisch gebrochenen und nur mechanisch gehorchenden Automaten machte«, wie Frank berichtete.

Einstein hatte seiner Familie versprochen, er werde sich im Selbststudium für die Aufnahmeprüfung im Züricher Polytechnikum 52 vorbereiten. Daher kaufte er sich die drei Bände des Lehrbuchs der Physik von Jules Violle  – ein Werk für Fortgeschrittene – und notierte seine Ideen in einer Fülle von Randbemerkungen. In seinen Arbeitsgewohnheiten habe sich seine Konzentrationsfähigkeit gezeigt, berichtete seine Schwester . »Selbst in grösserer Gesellschaft, wenn es ziemlich laut herging«, meinte sie, »konnte er sich auf das Sofa zurückziehen, Papier u. Feder zur Hand nehmen, das Tintenfass in bedenklicher Weise auf die Lehne stellen u. sich in ein Problem so sehr vertiefen, dass ihn das vielstimmige Gespräch eher anregte als störte.« 53

In diesem Sommer schrieb er seinen ersten Aufsatz über theoretische Physik und gab ihm den Titel »Über die Untersuchung des Ätherzustandes im magnetischen Felde« . Der Begriff war wichtig, denn das Konzept des Äthers sollte eine entscheidende Rolle in Einsteins Laufbahn spielen. Damals verstand die Forschung das Licht einfach als eine Welle . Daher nahm man an, das Universum müsse aus einem alles erfüllenden, aber unsichtbaren Stoff bestehen, in dem sich die Wellen ausbreiteten, so wie sich die Wellen im Meer auf und ab bewegten. Diesen Stoff nannte man Äther , und Einstein machte sich (zumindest damals) diese Annahme zu eigen. In seinem Aufsatz heißt es demzufolge: »Der elektrische Strom setzt bei seinem Entstehen den umliegenden Äther in (…) eine (…) momentane Bewegung.«

Die vierzehn Absätze des handschriftlichen Aufsatzes enthielten überwiegend Lesefrüchte aus Violles Lehrbuch und aus Berichten in populärwissenschaftlichen Zeitschriften über die Entdeckungen, die Heinrich Hertz kurze Zeit zuvor über elektromagnetische Wellen gemacht hatte. In seinem Text unterbreitete Einstein Vorschläge für die »direkte experimentelle Untersuchung des magnetischen Feldes, welches um einen elektrischen Strom herum entsteht«. Das wäre sicherlich interessant, meinte er, »denn die Erforschung des elastischen Zustandes des Äthers in diesem Falle erlaubt es uns, einen Blick zu werfen in das geheimnisvolle Wesen des elektrischen Stromes«.

Der Schulabbrecher räumte offen ein, dass er nur ein paar Vorschläge mache, von denen er nicht wisse, wohin sie führten. »Weil es mir aber vollständig an Material fehlte, um tiefer in die Sache eindringen zu können, als es das bloße Nachdenken gestattete, so bitte ich, mir diesen Umstand nicht als Oberflächlichkeit auszulegen«, schrieb er. 54

Er schickte den Aufsatz an seinen Onkel Caesar Koch , einen Kaufmann in Belgien, der einer seiner Lieblingsverwandten und gelegentlich auch ein finanzieller Mäzen war. »Es behandelt ein sehr speziales Thema und ist außerdem, wie es sich für so einen jungen Kerl wie mich von selbst versteht, noch ziemlich naiv und unvollkommen«, gestand Einstein in gespielter Bescheidenheit. Er habe vor, fügte er hinzu, sich im kommenden Herbst am Züricher Polytechnikum einzuschreiben, war aber besorgt, weil er den Altersvorgaben nicht entsprach, »da ich dazu eigentlich zwei Jahre mindestens älter sein sollte«. 55

Um ihm über die Altershürde hinwegzuhelfen, schrieb ein Freund der Familie an den Direktor des Polytechnikums in Zürich . Der Ton des Bittschreibens lässt sich aus der Antwort des Direktors erahnen, in der Skepsis gegenüber der Aufnahme des »so genannten Wunderkinds« zum Ausdruck kommt. Trotzdem erhielt Einstein die Erlaubnis, sich der Aufnahmeprüfung zu unterziehen, und so bestieg er im Oktober 1895 den Zug nach Zürich »mit einem Gefühl wohlbegründeter Unsicherheit«.

Wie nicht anders zu erwarten, bestand er den mathematischen und physikalischen Teil der Prüfung mühelos, fiel aber im allgemeinen Teil durch, der Literatur, Französisch, Zoologie, Botanik und Politik umfasste. Professor Heinrich Weber , der Leiter der physikalischen und elektrotechnischen Laboratorien des Polytechnikums , schlug vor, dass Einstein in Zürich bleibe und an seinen Lehrveranstaltungen teilnehme. Stattdessen beschloss Einstein jedoch, dem Rat des Direktors zu folgen und sich ein Jahr lang an der Kantonsschule im 40 Kilometer westlich gelegenen Aarau vorzubereiten. 56

Für Einstein war die Schule ideal. Der Unterricht beruhte auf den Prinzipien des Schweizer Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi aus dem frühen 19. Jahrhundert, der Wert darauf legte, dass Schüler durch Anschauung lernten. Außerdem war er bestrebt, die »innere Würde« und Individualität jedes Kindes zu fördern. Schüler sollten die Möglichkeit haben, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, verlangte Pestalozzi . Der Unterrichtsprozess gliederte sich in eine bestimmte Schrittfolge. Er begann mit praktischen Erfahrungen und kam über das intuitive Verständnis und das begriffliche Denken zur bildlichen Vorstellung. 57 Auf diese Weise ließen sich sogar die Gesetze der Mathematik und Physik wirklich verstehen. Auswendiglernen und aufgezwungener Lernstoff waren verpönt.

Einstein liebte Aarau . »Die Schüler wurden individuell behandelt«, erinnerte sich seine Schwester , »mehr Gewicht auf selbständiges solides Denken, denn auf Vielwisserei gelegt u. die jungen Leute sahen im Lehrer nicht die Autorität, sondern neben dem Mann der Wissenschaft auch den Charakter.« Dort erlebte Einstein das Gegenteil des deutschen Bildungssystems, das er gehasst hatte. »Durch Vergleich mit sechs Jahren Schulung an einem deutschen, autoritär geführten Gymnasium wurde mir eindringlich bewusst, wie sehr die Erziehung zu freiem Handeln und Selbstverantwortlichkeit jener Erziehung überlegen ist, die sich auf (…) äußere Autorität (…) stützt.« 58

Das anschauliche Verständnis von Begriffen, auf das Pestalozzi und seine Nachfolger in Aarau großen Wert legten, wurde ein charakteristisches Merkmal der Einstein’schen Genialität. Pestalozzi schrieb, dass Anschauung der entscheidende und einzig wahre Weg sei, um Kindern beizubringen, die Dinge richtig zu beurteilen. Dem sei das Lernen von Zahlen und Sprache unbedingt unterzuordnen. 59

Da ist es nicht überraschend, dass Einstein an dieser Schule seine ersten, auf bildliche Anschauung gegründeten Gedankenexperimente durchführte, die ihn später zum genialsten Naturwissenschaftler seiner Zeit machten: Er versuchte sich vor Augen zu führen, wie es sei, wenn er neben einem Lichtstrahl reite. »Es war eigentlich in Aarau , wo ich meine ersten recht primitiven Denkexperimente mit einer direkten Beziehung zur Speziellen Theorie unternahm«, erzählte er später einem Freund. »Wenn eine Person einer Lichtquelle mit derselben Geschwindigkeit wie das Licht nachlaufen könnte, dann hätten wir eine Anordnung, die völlig unabhängig von der Zeit wäre. Natürlich wäre so etwas unmöglich.« 60

Diese Art von bildlich vorgestellten Gedankenexperimenten wurde ein Markenzeichen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Im Laufe der Jahre vergegenwärtigte er sich in seiner Vorstellung Dinge wie Blitzeinschläge und fahrende Züge, beschleunigende Fahrstühle und fallende Maler, zweidimensionale, blinde Käfer, die auf gekrümmten Oberflächen krabbelten, sowie eine Vielfalt von Vorrichtungen, die – zumindest theoretisch – Position und Geschwindigkeit beschleunigter Elektronen bestimmen sollten.

Als Schüler in Aarau wohnte Einstein bei den Wintelers, einer wunderbaren Familie, deren Mitglieder in seinem Leben noch lange eine Rolle spielen sollten. Dazu gehörten Jost Winteler , der Geschichte und Griechisch an der Schule unterrichtete, seine Frau Rosa , von Einstein schon bald Mamerl genannt, und ihre sieben Kinder. Die Tochter Marie wurde Einsteins erste Freundin. Eine andere Tochter, Anna , heiratete später Michele Besso , Einsteins besten Freund. Und der Sohn Paul sollte Einsteins geliebte Schwester Maja ehelichen.

»Papa« Jost Winteler war ein Liberaler, der Einsteins Abneigung gegen den deutschen Militarismus und gegen den Nationalismus im Allgemeinen teilte. Mit seinem strengen Ehrbegriff und politischen Idealismus trug er wesentlich zu Einsteins gesellschaftlichen Überzeugungen bei. Wie sein Mentor wurde Einstein zu einem Befürworter von Weltföderalismus , Internationalismus , Pazifismus und demokratischem Sozialismus , wobei Freiheit des Individuums und der Meinungsäußerung eine besondere Rolle zukamen.

Noch wichtiger war, dass Einstein infolge der herzlichen Aufnahme, die er bei den Wintelers fand, sicherer und umgänglicher wurde. Obwohl er sich immer noch als »Einspänner « sah, halfen ihm die Wintelers, sich seelisch zu entfalten und Nähe zuzulassen. Er hatte »viel Humor und konnte gelegentlich herzlich lachen«, erinnerte sich Tochter Anna . Abends arbeitete er oft, »aber noch öfter saß er mit der Familie um den Tisch, wo vorgelesen oder diskutiert wurde«. 61

Einstein wuchs zu einem äußerst anziehenden Jugendlichen heran, wie die Beschreibung einer Frau, die er kannte, ahnen lässt: »Er war von jener männlichen Schönheit, die besonders zu Anfang des Jahrhunderts viel Unheil anrichtete.« Er hatte lockiges dunkles Haar, ausdrucksvolle Augen, eine hohe Stirn und ein selbstsicheres Auftreten. »Der untere Teil des Gesichts hätte zu mehr als einer Menschenkategorie passen können: zu sinnlichen Wesen, die immer Gründe finden, das Leben zu lieben und zu genießen.«

Hans Byland , einer seiner Schulkameraden, lieferte später eine bemerkenswerte Beschreibung des »kecken Schwaben«, der einen so bleibenden Eindruck hinterließ. »Den grauen Filz auf die Seidenfülle des schwarzen Haares zurückgeschoben, schritt er energisch und sicher daher, im schnellen, ich möchte fast sagen reißenden Tempo des rastlosen Geistes, der eine Welt in sich trägt. Nichts entging dem scharfen Blick der großen, sonnenhellen Augen. Wer ihm nahte, der stand im Bann einer überlegenen Persönlichkeit. Ein spöttischer Zug um den schwellenden Mund mit der vorstehenden Unterlippe ermutigte den Philister nicht, mit ihm anzubinden.«

Vor allem, so fügte Byland hinzu, habe sich Einstein durch einen übermütigen, gelegentlich einschüchternden Witz ausgezeichnet. »Unbeengt von konventionellen Schranken stand er dem Weltwesen gegenüber, und sein geistreicher Spott geißelte unbarmherzig alle Eitelkeiten und Unnatur.« 62

Ende 1895, wenige Monate nachdem er bei den Wintelers eingezogen war, verliebte er sich in die Tochter Marie . Sie hatte gerade ihr Lehrerinnenexamen abgelegt und wohnte zu Hause, während sie darauf wartete, ihre Stellung in einem nahe gelegenen Dorf anzutreten. Sie wurde achtzehn, als er noch sechzehn Jahre alt war. Über die Romanze freuten sich beide Familien. Albert und Marie schickten Neujahrsgrüße an seine Mutter ; herzlich erwiderte sie: »Ihr Briefchen, Fräulein Marie , hat mich unendlich gefreut.« 63

Im folgenden April, als er sich während der Frühlingsferien in Pavia aufhielt, schrieb Einstein einen Brief an Marie  – soweit wir wissen, sein erster Liebesbrief überhaupt:

Geliebtes Schätzchen!

Vielen, vielen Dank Schatzerl für Ihr herziges Brieferl, das mich unendlich beglückt hat. Es ist so wunderbar, so ein Papierchen ans Herz drücken zu können, auf das zwei so liebe Äuglein liebend gesehen, auf dem die zierlichen Händchen lieblich herumgerutscht sind. Ich habe jetzt im vollsten Maße einsehen müssen, mein Engelchen, was Heimweh und Sehnsucht bedeutet. Doch die Liebe beglückt wieviel mehr, als die Sehnsucht schmerzt. (…)

Meine Mama hat Sie auch ins Herz geschlossen, ohne Sie auch nur zu kennen; ich hab ihr nur zwei von Ihren herzigen Briefchen lesen lassen. Daneben lacht sie mich immer aus, weil mir die Mädeln nicht mehr gefallen wollen, von denen ich früher doch immer so entzückt gewesen sei! Sie sind meiner Seele mehr als früher die ganze Welt.

Dem fügte die Mutter ein Postskript hinzu: »Ohne diesen Brief gelesen zu haben, sende ich Ihnen herzl. Grüße!« 64

Obwohl es ihm in der Aarauer Schule gefiel, erwies sich Einstein als ein Schüler, der nicht in allen Fächern glänzte. In seinem Aufnahmebericht hieß es, er brauche Nachhilfe in Chemie und Französisch, denn in den beiden Fächern sei seine Leistung »im Unterricht noch nicht zu beurteilen«. Zum Halbjahr bescheinigte man ihm: »Hat den Privatunterricht in Franz. u. Chemie u. Naturgeschichte fortzusetzen«, und: »Der Protest im Französischen bleibt aufrecht erhalten.« Sein Vater nahm es gelassen hin, als Jost Winteler ihm das Halbjahreszeugnis schickte. »Dasselbe entspricht zwar nicht in allen Theilen meinen Wünschen & Erwartungen«, schrieb er, »allein Albert hat mich von jeher daran gewöhnt, neben sehr guten Noten auch schlechtere zu finden & so bin ich nicht untröstlich darüber.« 65

Die Musik blieb eine Leidenschaft. In seiner Klasse gab es neun Geigenspieler , bei denen der Lehrer kritisch anmerkte: »Im Violinspiel zeigte sich da & dort noch etwelche Steifheit in der Bogenführung.« Nur Einstein bekam ein Lob: »Ein Schüler, namens Einstein, brillirte sogar durch verständnißinnige Wiedergabe eines Adagio aus einer Beethoven ’schen Sonate.« Bei einem Konzert in der örtlichen Kirche durfte Einstein die erste Geige in einem Bach -Stück spielen. »Der warme Ton und die rhythmische Unfehlbarkeit« beeindruckten den zweiten Geiger , der Einstein fragte: »Zählen Sie eigentlich die Takte?« Einstein erwiderte: »I wo, das liegt mir halt im Blut.«

Nach der Erinnerung seines Klassenkameraden Byland spielte Einstein eine Mozart -Sonate mit solcher Leidenschaft – »Wieviel Feuer war in seinem Spiel!« –, dass ihm schien, er höre Mozart zum ersten Mal. Als Byland Einstein zuhörte, wurde ihm klar, dass dessen spöttisches, sarkastisches Äußeres nur eine Schale um ein empfindsames Inneres war. »Er zählte zu jenen Doppelnaturen, die durch eine stachelige Hülle das zarte Reich ihres intensiven Gefühlslebens zu schützen wissen.« 66

Die Verachtung für die autoritären Schulen und die militaristische Atmosphäre in Deutschland bewog Einstein, die Staatsbürgerschaft dieses Landes aufzugeben. In seinem Wunsch wurde er von Jost Winteler bestärkt, der alle Formen des Nationalismus ablehnte und in Einstein die Überzeugung weckte, dass sich die Menschen als Weltbürger verstehen sollten. So bat er seinen Vater , ihm bei der Entlassung aus der Staatsangehörigkeit behilflich zu sein. Im Januar 1896 erfolgte die Ausbürgerung, und damit war Einstein zunächst staatenlos. 67

In diesem Jahr verzichtete er auch auf seine Religionszugehörigkeit . In dem Antrag auf Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft hatte sein Vater , vermutlich auf Einsteins Wunsch, den Vermerk »konfessionslos« aufnehmen lassen. Diese Eintragung ließ Einstein auch vornehmen, als er sich einige Jahre später um die Aufnahme in den »Bürgerverband der Stadt Zürich « bewarb, und bei verschiedenen anderen Anlässen in den folgenden zwanzig Jahren.

Seine Rebellion gegen die einstige leidenschaftliche Liebe zum Judaismus in Verbindung mit einem Gefühl der Distanz zu den Münchner Juden hatte ihn seinem kulturellen Erbe entfremdet. »Die Religion der Väter, wie ich sie in München in der Religionsstunde und Synagoge kennen lernte, stieß mich eher ab, als dass sie mich anzog«, erklärte er später einem jüdischen Historiker. »Die jüdischen Bürger-Kreise die ich in jungen Jahren kennen lernte, mit ihrem Wohlleben und mangelhaften Gemeinschafts-Gefühl boten mir nichts, was Wert zu haben schien« 68

In seinem späteren Leben, als er in den 1920er-Jahren zum Ziel heftiger antisemitischer Angriffe wurde, besann sich Einstein allmählich wieder auf seine jüdische Identität. Es gebe in ihm nichts, was sich als jüdischer Glaube beschreiben lasse, erklärte er, »aber ich bin Jude und freue mich, dem jüdischen Volk anzugehören«. Später verlieh er diesem Punkt erheblich mehr Nachdruck. »Der Jude , der seinen Glauben aufgibt«, meinte er einmal, »ist in einer ähnlichen Lage wie eine Schlange, die ihre Haut abwirft. Sie ist immer noch eine Schlange.« 69

Daher sollte sein Verzicht auf die jüdische Religion im Jahr 1896 nicht als endgültiger Bruch verstanden werden, sondern als Teil einer lebenslangen Entwicklung der Einstellung zu seiner kulturellen Identität. »Ich hätte seinerzeit überhaupt nicht verstanden was es bedeuten könnte, dass einer aus dem Judentum austritt«, schrieb er ein Jahr vor seinem Tod an einen Freund. »Ich war mir aber meiner jüdischen Abstammung voll bewusst, wenn auch diese Zugehörigkeit in ihrer vollen Bedeutung von mir erst später erkannt wurde.« 70

Einstein beendete sein Jahr an der Aarauer Kantonsschule in einer Weise, die man sicherlich als eindrucksvoll bezeichnen würde, wenn es sich nicht um eines der großen Genies der Geschichte handelte – er wurde Zweitbester seiner Klasse. (Leider ist der Name des Jungen, der Einstein voraus war, nicht überliefert.) Auf einer Skala von 1 bis 6, mit 6 als der besten Zensur, bekam er neben allen naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern auch in Geschichte und Italienisch eine 6. Seine schlechteste Note war eine 3 in Französisch.

Das qualifizierte ihn zur Teilnahme an einer Reihe von schriftlichen und mündlichen Prüfungen, die ihm, wenn er sie bestand, den Zugang zum Züricher Polytechnikum ermöglichen würden. In der Deutschprüfung schrieb er eine Inhaltsangabe von Goethes Götz von Berlichingen und erhielt eine 5. In Mathematik unterlief ihm ein Flüchtigkeitsfehler – er nannte eine Zahl »imaginär«, obwohl er »irrational« meinte –, bekam aber trotzdem eine 6. Zur Physikprüfung erschien er spät, ging früh, brauchte für die auf zwei Stunden berechnete Prüfung eine Stunde und fünfzehn Minuten und erhielt eine 6. Schließlich bestand er mit einem Schnitt von 5,5 und damit als bester der neuen Schüler, die an der Prüfung teilgenommen hatten.

Das einzige Fach, in dem er nicht so gut abschnitt, war Französisch. Doch sein drei Absätze umfassender Aufsatz war für uns Heutige die interessanteste Arbeit aller Prüfungen. Das Thema lautete »Mes projets d’avenir« (Meine Pläne für die Zukunft). Zwar ist das Französisch nicht bemerkenswert, dafür aber die persönlichen Einblicke, die er uns in seine Zukunftsabsichten gewährt:

Wenn ich das Glück habe, meine Prüfungen zu bestehen, werde ich an das Polytechnikum in Zürich gehen. Ich werde dort 4 Jahre bleiben, um Mathematik und Physik zu studieren. Ich stelle mir vor, Lehrer in diesen Gebieten der Naturwissenschaften zu werden und dabei den theoretischen Teil dieser Wissenschaft zu wählen.

Hier die Gründe die mich zu diesem Plan geführt haben. Es ist vor allem die individuelle Veranlagung für die abstrakten und mathematischen Gedanken (…). Es sind auch meine Wünsche, die mich zu demselben Entschluss führten. Das ist ganz natürlich. Man möchte immer die Dinge tun, für die man Talent hat. Dann ist es auch eine gewisse Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Berufs, die mir sehr gefällt. 71

Im Sommer 1896 erlitt die Elektrofirma der Gebrüder Einstein erneut Schiffbruch, dieses Mal, weil sie es versäumten, sich die erforderlichen Wasserrechte zu sichern, die sie brauchten, um ein hydroelektrisches System im Pavia zu bauen. In freundlichem Einvernehmen wurde die Partnerschaft aufgelöst, und Jakob trat als Ingenieur in eine große Firma ein. Doch Hermann , dessen Optimismus und Stolz alle Vorsicht überwanden, ließ sich nicht davon abbringen, eine neue Dynamofirma zu eröffnen, dieses Mal in Mailand . Albert war so skeptisch hinsichtlich der geschäftlichen Aussichten seines Vaters , dass er zu seinen Verwandten ging und sie bat, ihn nicht noch einmal zu finanzieren, was sie aber dennoch taten. 72

Hermann hoffte, Albert werde eines Tages in die Firma eintreten, doch die Technik reizte ihn wenig. »Ich sollte ursprünglich auch Techniker werden«, schrieb er später einem Freund. »Aber der Gedanke, die Erfindungskraft auf Dinge verwenden zu sollen, welche das werkeltägliche Leben noch raffinierter machen, mit dem Ziel öder Kapitalschinderei, war mir unerträglich. Das Denken um seiner selbst willen wie die Musik!« 73 Und so ging er nach Zürich ans Polytechnikum .