Der unverschämte Student

Im Oktober 1896, als sich der 17-jährige Albert Einstein immatrikulierte, war das Züricher Polytechnikum mit seinen 841 Studenten in erster Linie eine Ausbildungsstätte für Lehrer und Ingenieure. Es genoss weniger Ansehen als die benachbarte Universität Zürich und die Universitäten in Genf und Basel , die alle das Promotionsrecht hatten (ein Privileg, welches die Eidgenössische Technische Schule erst 1911 mit dem neuen Namen Eidgenössische Technische Hochschule erhielt). Trotzdem hatte das Polytechnikum einen soliden Ruf in Ingenieur- und Naturwissenschaft. Heinrich Weber , der Dekan der physikalischen Fakultät, hatte unlängst den Bau eines neuen großen Gebäudes vermittelt, das der in der Elektrobranche (und als Konkurrent der Gebrüder Einstein) tätige Großindustrielle Werner von Siemens gestiftet hatte. Es beherbergte mustergültige Laboratorien, die für ihre Präzisionsmessungen bekannt waren.

Einstein war einer von elf Studienanfängern, die das Lehrerstudium für Mathematik und Physik wählten. Er lebte in Studentenunterkünften und erhielt von Angehörigen der Koch-Familie eine monatliche Zuwendung von 100 Franken, von denen er jeden Monat 20 Franken für seine Schweizer Einbürgerung beiseitelegte. 1

In den 1890er-Jahren begann die theoretische Physik sich gerade als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren, und überall in Europa wurden entsprechende Lehrstühle geschaffen. Zu den Ersten, die das Feld bereiteten, gehörten Max Planck in Berlin , Hendrik Lorentz im niederländischen Leiden und Ludwig Boltzmann in Wien . Dabei verbanden sie die Physik mit der Mathematik, um den Experimentalphysikern Wege zu zeigen, denen sie folgen konnten. Infolgedessen wurde von Einstein verlangt, dass die Mathematik einen größeren Teil seiner Studien am Polytechnikum einnahm.

Doch Einstein hatte zur Physik einen besseren intuitiven Zugang als zur Mathematik, und er erkannte noch nicht recht, wie eng die Wechselbeziehung zwischen den beiden Bereichen für die Arbeit über die neuen Theorien war. Während seiner vier Jahre am Polytechnikum bekam er in allen Kursen für theoretische Physik die Noten 5 oder 6 (auf einer 6-stufigen Skala), aber in den meisten seiner Mathekurse nur eine 4, besonders in der Geometrie . »Es wurde mir als Student nicht klar«, räumte er ein, »daß der Zugang zu den tieferen prinzipiellen Erkenntnissen in der Physik an die feinsten mathematischen Methoden gebunden war.« 2

Diese Erkenntnis gewann er ein Jahr später, als er mit der Geometrie seiner Gravitationstheorie rang und sich gezwungen sah, einen Mathematikprofessor um Hilfe zu bitten, der ihn einst einen Faulpelz genannt hatte. Einem Kollegen gegenüber bekannte er, »dass ich grosse Hochachtung für die Mathematik eingeflösst bekommen habe, die ich bis jetzt in ihren subtileren Teilen in meiner Einfalt für puren Luxus ansah«. Gegen Ende seines Lebens äußerte er in einem Gespräch mit einem jüngeren Freund eine ähnliche Klage. »Ich ging schon sehr früh von der Annahme aus, daß ein erfolgreicher Physiker nur die Grundlagenphysik kennen muß«, sagte er. »Später aber erkannte ich mit großem Bedauern, daß meine Annahme völlig falsch war.« 3

Sein wichtigster Physikprofessor war Heinrich Weber , der Mann, der ein Jahr zuvor von Einstein so beeindruckt gewesen war, dass er ihn, selbst nachdem dieser durch die Aufnahmeprüfung gefallen war, drängte, in Zürich zu bleiben und seine Vorlesungen zu hören. Während der ersten beiden Jahre am Polytechnikum hielt ihre gegenseitige Bewunderung an. Webers Vorlesungen gehörten zu den wenigen, die Einstein beeindruckten. »Weber las über die Wärme (…) mit großer Meisterschaft«, schrieb er in seinem zweiten Jahr. »Ich freue mich bei ihm von einem Kolleg aufs andere.« Im Labor Webers arbeitete er »mit Eifer und Fleiß«, belegte fünfzehn Lehrveranstaltungen bei ihm (davon fünf im Labor) und schnitt in allen gut ab. 4

Doch allmählich wurde Weber für Einstein zu einer Enttäuschung. Er fand, der Professor kümmere sich zu sehr um die historischen Grundlagen der Physik und zu wenig um die neueren Entwicklungen der Forschung. »Er ignorierte einfach alles, was nach Helmholtz kam«, klagte ein Zeitgenosse Einsteins. »Nach Abschluß der Studien kannte man die Vergangenheit der Physik, aber nicht ihre Gegenwart und Zukunft.«

Besonders schmerzlich vermisste er in Webers Vorlesungen jedwede Ausführungen über die großen Entdeckungen von James Clerk Maxwell , der ab 1855 grundlegende Theorien entwickelt und in eleganten Gleichungen beschrieben hatte, wie sich elektromagnetische Wellen , etwa das Licht , ausbreiten. »Wir warteten vergebens auf eine Darlegung der Maxwell’schen Theorien«, schrieb ein anderer Kommilitone. »Vor allem Einstein war enttäuscht.« 5

Wie es seiner rüden Art entsprach, machte Einstein aus seinem Herzen keine Mördergrube. Weber fühlte sich in seiner Würde verletzt und nahm ihm seine kaum verhohlene Geringschätzung sehr übel. Am Ende ihrer vier gemeinsamen Jahre standen sie sich unversöhnlich gegenüber.

Webers Verärgerung war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr Einsteins wissenschaftliches und persönliches Leben von den Charakterzügen geprägt waren, die tief in seiner schwäbischen Seele verwurzelt waren: die Selbstverständlichkeit, mit der er Autorität infrage stellte, sein rücksichtsloser Widerstand gegen Reglementierung und seine respektlose Haltung gegenüber überkommenen Lehrmeinungen. Beispielsweise pflegte er Weber reichlich leger mit »Herr Weber « statt mit »Herr Professor« anzureden.

Als seine Enttäuschung schließlich seine Bewunderung übertraf, glich Professor Webers Urteil über Einstein dem des verärgerten Lehrers am Münchner Gymnasium einige Jahre zuvor. »Sie sind ein gescheiter Junge, Einstein«, eröffnete Weber ihm. »Ein äußerst gescheiter Junge. Aber Sie haben einen großen Fehler: Sie lassen sich nichts sagen.«

Damit lag er nicht ganz falsch. Aber in der übernervösen Welt der Physik um die Jahrhundertwende sollte sich zeigen, dass Einsteins Fähigkeit zum unbekümmerten Umgang mit den gängigen Lehrmeinungen nicht die schlechteste Eigenschaft war. 6

Durch seine Impertinenz geriet Einstein auch mit Jean Pernet aneinander, einem anderen Professor des Polytechnikums , der für die Experimental- und Laborarbeit zuständig war. In seiner Lehrveranstaltung »Physikalisches Praktikum für Anfänger«, einer Einführungsübung in Experimentalphysik, gab Pernet Einstein eine 1, die schlechteste Note, die möglich war, und setzte sich damit ein historisches Denkmal als der einzige Professor, der Einstein durch einen Physikkurs hatte fallen lassen. Ein Grund war, dass Einstein nur selten in seinen Übungen auftauchte. Auf Pernets schriftliches Ersuchen erhielt Einstein im März 1899 einen offiziellen »Verweis durch den Direktor wegen Unfleiss im physikalischen Praktikum«. 7

Warum er sich ausgerechnet die Physik ausgesucht habe, wollte Pernet eines Tages von Einstein wissen, und sich nicht lieber für die Medizin oder Juristerei entschieden habe. »Weil mir dazu erst recht die Begabung fehlt, Herr Professor«, antwortete Einstein. »Warum soll ich es mit der Physik nicht wenigstens probieren?« 8

Wenn Einstein einmal geruhte, in Pernets Labor zu erscheinen, brachte ihn sein Unabhängigkeitsbedürfnis gelegentlich in Schwierigkeiten, wie an dem Tag, als er eine schriftliche Anleitung zu einem bestimmten Experiment erhielt. »Der von starkem Unabhängigkeitsdrang erfüllte Einstein«, berichtete sein Freund und früher Biograf Carl Seelig , »pflegte solche Zettel jedoch meistens in den Papierkorb zu befördern.« Er führte das Experiment auf seine eigene Weise durch. »Was denken Sie eigentlich von Einstein?«, fragte Pernet einen Assistenten. »Der macht stets etwas ganz anderes, als ich angeordnet habe.«

»Tatsächlich, Herr Professor«, erwiderte der Assistent. »Aber seine Lösungen sind richtig und die von ihm angewandten Methoden immer interessant.« 9

Schließlich rächten sich seine eigenwilligen Methoden. Im Juli 1899 löste er in Pernets Labor eine Explosion aus, die seine rechte Hand »ziemlich erheblich« verletzte, sodass sie im Krankenhaus genäht werden musste. Mindestens zwei Wochen machte ihm die Verletzung beim Schreiben Schwierigkeiten und zwang ihn, noch länger auf das Geigenspiel zu verzichten. »Meine Geige muss ich jetzt natürlich liegen lassen«, schrieb er der Dame, die mit ihm in Aarau musiziert hatte. »Die wird sich schön wundern, daß sie nie aus dem schwarzen Kasten genommen wird, sie glaubt vielleicht, sie hätt einen Stiefpapa bekommen.« 10 Bald nahm er das Geigenspiel wieder auf, doch der Unfall schien ihn auf die Rolle des Theoretikers und nicht des Experimentalisten festgelegt zu haben.

Obwohl er sich mehr auf die Physik als auf die Mathematik konzentrierte, war der Professor, der die positivste Wirkung auf ihn hatte, der Mathematiker Hermann Minkowski , ein gut aussehender Jude , Mitte dreißig, mit kantigem Kinn, der in Russland geboren war. Einstein gefiel, wie Minkowski die Mathematik mit der Physik verband, aber er vermied seine schwierigeren Lehrveranstaltungen, weshalb Minkowski ihn einen »Faulpelz« nannte: »Um die Mathematik hat er sich überhaupt nicht gekümmert.« 11

Einstein zog es vor, mit ein oder zwei Freunden gemäß seinen Interessen und Leidenschaften zu studieren. 12 Zwar bezeichnete er sich stolz als »Vagabund und Eigenbrödler«, trotzdem begann er mit einer Schar ebenso unbürgerlich gesinnter Bekannter und Studienkollegen Cafés und musikalische Soireen aufzusuchen. Obwohl er als distanziert und hochmütig galt, knüpfte er in Zürich dauerhafte geistige Freundschaften, die zu wichtigen Bindungen in seinem Leben wurden.

Zu ihnen gehörte Marcel Grossmann , ein Jude aus der gehobenen Mittelschicht, Sohn eines Fabrikbesitzers in der Nähe von Zürich und ein Mathematikgenie. Grossmann schrieb eifrig mit und teilte dann seine umfangreichen Aufzeichnungen mit Einstein, der es mit dem Vorlesungsbesuch nicht ganz so ernst nahm. »Seine Aufzeichnungen hätten gedruckt und veröffentlicht werden können«, schwärmte Einstein später Grossmanns Frau vor. »Wenn ich mich auf meine Examina vorbereiten musste, hat er mir diese Notizbücher immer geliehen, und sie waren meine Rettung. Was ich ohne diese Hefte getan hätte, mag ich mir gar nicht vorstellen.«

Pfeife rauchend und Eiskaffee trinkend, saßen Einstein und Grossmann im Café Metropol am Ufer der Limmat und diskutierten über philosophische Fragen. »Dieser Einstein wird einmal etwas ganz Großes werden«, prophezeite Grossmann seinen Eltern. Später sorgte er dafür, dass diese Prophezeiung in Erfüllung ging, indem er Einstein dessen erste Anstellung am Schweizer Patentamt verschaffte und ihm dann half, die mathematischen Verfahren zu entwickeln, die er brauchte, um die spezielle in die allgemeine Relativitätstheorie zu verwandeln. 13

Da ihnen viele Vorlesungen am Polytechnikum veraltet erschienen, lasen Einstein und seine Freunde die meisten neueren Theoretiker selbst. »Ich schwänzte oft und studierte die Meister der theoretischen Physik zu Hause«, erinnerte er sich. Zu ihnen gehörten Gustav Kirchhoff über Strahlung, Hermann von Helmholtz über Thermodynamik , Heinrich Hertz über Elektromagnetismus und Boltzmann über statistische Mechanik.

Ein weiterer Einfluss war die Lektüre von August Föppl , einem weniger bekannten Theoretiker, der 1894 einen populärwissenschaftlichen Text geschrieben hatte, die Einführung in die Maxwell’sche Theorie der Eletricität . Der Wissenschaftshistoriker Gerald Holton hat darauf hingewiesen, dass in diesem Buch eine Vielzahl von Begriffen vorkamen, denen man wenig später in Einsteins Arbeit wiederbegegnete. Zu Beginn des fünften Abschnitts – »Die Elektrodynamik bewegter Leiter« – wird der Begriff der »absoluten Bewegung« infrage gestellt. Nach Föppl lässt sich Bewegung nur relativ zu einem anderen Körper definieren. Anschließend beschäftigt er sich mit der Frage der Strominduktion durch ein Magnetfeld. Danach sei es gleich, »ob ein Magnet sich in der Nähe einer ruhenden Leiterschleife bewegt, oder ob sich letztere bewegt, während der Magnet ruht«. 1905 begann Einstein seinen Aufsatz über die spezielle Relativitätstheorie , in dem er die gleiche Frage aufwarf. 14

In seiner Freizeit las Einstein auch Henri Poincaré , den bedeutenden französischen Universalgelehrten, der die Grundbegriffe der speziellen Relativitätstheorie fast entdeckt hätte. Gegen Ende von Einsteins erstem Jahr am Polytechnikum , im Frühjahr 1897, fand in Zürich eine mathematische Konferenz statt, auf der der große Poincaré sprechen sollte. In letzter Minute war er verhindert, aber dafür wurde ein Papier von ihm vorgelesen, das eine später sehr berühmt gewordene Erklärung enthielt: »Absoluter Raum , absolute Zeit , sogar euklidische Geometrie sind keine Bedingungen, die zwingend für die Mechanik sind«, schrieb er. 15

Die menschliche Seite

Eines Abends saß er zu Hause bei seiner Vermieterin, als er hörte, wie jemand eine Klaviersonate von Mozart spielte. Als er fragte, wer das sei, erzählte ihm seine Vermieterin, es sei eine alte Dame, die in der Mansarde nebenan wohne und Klavierunterricht gebe. Er ergriff seine Geige und stürzte hinaus, ohne sich einen Kragen oder einen Schlips umzulegen. »So können Sie dort nicht hingehen«, rief ihm die Vermieterin nach. Aber er hörte nicht auf sie und lief ins Nachbarhaus. Erschreckt starrte ihn die Klavierlehrerin an. »Bitte, spielen Sie weiter«, bat Einstein. Einen Augenblick später erklangen die Töne einer Geige , die die Mozart -Sonate begleiteten. Später fragte die Lehrerin nach, wer der Störenfried gewesen sei. »Nur ein harmloser Student«, versicherte ihr die Nachbarin. 16

Der Musik blieb Einstein leidenschaftlich zugetan. Dabei war sie weniger eine Flucht als eine Verbindung, eine Verbindung mit der dem Universum zugrunde liegenden Harmonie, mit dem schöpferischen Genius der großen Komponisten und mit anderen Menschen, denen es guttat, Bindungen mit mehr als nur Worten herzustellen. In der Musik wie in der Physik war er tief beeindruckt von der Schönheit der Harmonien.

Susanne Markwalder war ein junges Mädchen in Zürich , dessen Mutter musikalische Soireen – meist mit Mozart  – veranstaltete. Sie spielte Klavier, Einstein Geige . »Er übte viel Nachsicht gegen meine mangelhafte Technik«, berichtete sie. »Höchstens sagte er: ›Jetzt stehen Sie wieder wie der Esel am Berg!‹ Dabei deutete er mit dem Bogen auf die Stelle, bei der ich einsetzen sollte.«

An Mozart und Bach gefiel Einstein der klare architektonische Aufbau, der ihrer Musik jenen »deterministischen « Charakter verlieh, den auch seine bevorzugten wissenschaftlichen Theorien besaßen, eher vom Universum empfangen als komponiert. »Beethoven schuf seine Musik«, sagte Einstein einmal, aber »Mozarts Musik ist so rein und schön, daß ich sie als die innere Schönheit des Universums selbst ansehe.« Er stellte Beethoven und Bach einander gegenüber: »Ich fühle mich unbehaglich, wenn ich Beethoven höre. Ich denke er ist zu persönlich, fast nackt. Gib mir lieber Bach , und dann noch mehr Bach

Auch Schubert bewunderte er wegen seines »ungeheuer vollkommenen Gefühlsausdruckes«. Aber in einem Fragebogen, den er einmal ausfüllte, ließ die Kritik, die er an anderen Komponisten äußerte, Rückschlüsse auf einige seiner wissenschaftlichen Einstellungen zu: Händel wies eine »gewisse Flachheit« auf; Mendelssohn bewies »beträchtliches Talent«, aber auch einen Mangel an Tiefe, der häufig in die Banalität führte; bei Wagner betrachtete er »den Mangel an architektonischer Struktur als Dekadenz«; und Strauss hielt er für »begabt, aber ohne innere Wahrhaftigkeit«. 17

Einstein begann auch zu segeln, eine einsamere Beschäftigung auf den herrlichen Bergseen rund um Zürich . »Ich erinnere mich noch, wie er, wenn der Wind aussetzte und die Segel wie welke Blätter herabfielen, meistens ein kleines Notizbuch hervorzog, um allerlei hineinzukritzeln«, erinnerte sich Susanne Markwalder . »Sobald sich aber eine leichte Brise ankündigte, war er sofort wieder segelbereit.« 18

Die politischen Einstellungen, die er als Junge vertreten hatte – Ablehnung willkürlicher Autorität, Abneigung gegen Militarismus und Nationalismus , Hochachtung vor Individualismus, Verachtung für bürgerlichen Konsum oder ostentativen Reichtum und der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit –, hatte sein Vermieter und Ersatzvater Jost Winteler in Aarau bestärkt. In Zürich lernte er einen Freund von Winteler kennen, der ihm in ähnlicher Weise zum politischen Mentor wurde: Gustav Maier , ein jüdischer Bankier, der Einsteins ersten Besuch im Polytechnikum eingefädelt hatte. Mit Wintelers Unterstützung gründete Maier einen Schweizer Ableger der Society for Ethical Culture , die Schweizer Gesellschaft für ethische Kultur , bei deren informellen Zusammenkünften in Maiers Haus Einstein häufig zu Gast war.

Außerdem lernte Einstein Friedrich Adler kennen und schätzen, den Sohn des Parteivorsitzenden der österreichischen Sozialdemokraten . Friedrich studierte ebenfalls in Zürich . Später nannte Einstein ihn »den reinsten und glühendsten Idealisten«, dem er je begegnet sei. Adler versuchte Einstein zum Eintritt bei den Sozialdemokraten zu bewegen. Aber Einstein lag es nicht, seine Zeit auf solchen organisierten Veranstaltungen zu verbringen. 19

Die Zerstreutheit, Vernachlässigung der Körperpflege, schäbige Kleidung und Vergesslichkeit, die ihn später zum Inbegriff des zerstreuten Professors machten, zeigten sich schon in seinen Studentenjahren. So erinnerte er sich an einen Besuch im Haus von Freunden der Familie: »Am nächsten Morgen ging ich und vergaß meinen Koffer. Mein Gastgeber sagte zu meinen Eltern: ›Dieser junge Mann wird es niemals zu etwas bringen, weil er nichts im Gedächtnis behalten kann. « 20

Überschattet war dies sorgenfreie Studentenleben von den ständigen finanziellen Pleiten seines Vaters , der gegen den Rat seines Sohnes immer wieder versuchte, eigene Firmen zu gründen, statt bei einem soliden Unternehmen für ein vernünftiges Gehalt zu arbeiten, wie es Onkel Jakob schon seit einiger Zeit tat. »Wenn es nach meinem Kopf gegangen wäre, hätte Papa schon vor 2 Jahren eine Stellung gesucht«, schrieb er seiner Schwester in einer besonders niedergeschlagenen Stimmung 1898, als das Unternehmen seines Vaters wieder einmal dem Untergang geweiht zu sein schien.

Der Brief war ungewöhnlich verzweifelt, wahrscheinlich in einem Maße, das durch die finanzielle Situation seiner Eltern gar nicht gerechtfertigt war:

Am meisten drückt mich natürlich das Unglück meiner armen Eltern, die seit so vielen Jahren keine glückliche Minute mehr gehabt haben. Ferner schmerzt es mich tief, dass ich als erwachsener Mensch untätig zusehn muss ohne auch nur das Geringste machen zu können. Ich bin ja nichts als eine Last für meine Angehörigen … Es wäre wahrlich besser, wenn ich gar nicht lebte. Der einzige Gedanke, dass ich immer alles getan, was mir meine kleinen Kräfte erlaubten u. dass ich mir jahrein jahraus auch nicht einmal ein Vergnügen, eine Zerstreuung erlaube ausser die, welche mir das Studium bietet, hält mich noch aufrecht u. muss mich manchmal vor Verzweiflung schützen. 21

Vielleicht war das nur ein Anfall von jugendlicher Angst. Auf jeden Fall schien sein Vater die Krise mit seinem üblichen Optimismus zu überwinden. Im folgenden Februar hatte er Aufträge zur Ausstattung zweier Dörfer in der Nähe von Mailand mit Straßenlampen ergattert. »Zudem freue ich mich bei dem Gedanken, dass nun für meine Eltern die schwersten Sorgen ein Ende haben«, schrieb Einstein an Maja . »Wenn alle Leute so lebten (wie ich), wahrlich die Romanschriftstellerei wäre dann niemals auf die Welt gekommen.« 22

Einstein, der neue Bohemien und alte Eigenbrötler – das war eine Kombination, die der Beziehung zu Marie Winteler , der etwas kapriziösen Tochter seiner Gastfamilie in Aarau , nicht guttun konnte. Anfangs sandte er ihr noch per Post Körbe mit seiner Kleidung – die sie wusch und zurücksandte. Manchmal lag noch nicht einmal eine kleine Notiz dabei, aber sie war unverdrossen bemüht, ihm gefällig zu sein. In einem Brief berichtete sie, dass sie »unter strömendem Regen durch den Wald« zur Post gegangen sei, um ihm seine Kleidung zurückzuschicken. »Ich hab mir vergebens die Augen nach einem kleinen Zedelchen ausgeguckt, aber ich war doch nur schon über Ihre lieben Schriftzüge auf der Adresse froh.«

Als Einstein mitteilte, er plane, sie zu besuchen, war Marie außer sich vor Freude. »Ich danke Ihnen, Albert, daß Sie nach Aarau kommen wollen und so gern, gelt, daß ich fast die Minuten zähle bis dahin brauch ich ja nicht zu sagen«, schrieb sie, »ich könnts ja nie sagen, weils keine Worte dafür gibt, ich kann nur sagen, ich hab Sie in alle Ewigkeit lieb, Schatzi.«

Doch er wollte die Beziehung beenden. In einem seiner ersten Briefe, nach seinem Beginn am Züricher Polytechnikum , schlug er vor, dass sie sich beide nicht mehr schrieben. »Mein Lieb, ich begreife eine Stelle in Ihrem Brief nicht recht«, antwortete sie. »Sie schreiben, daß Sie nicht mehr mit mir korrespondieren wollten, warum aber nicht Schatzi? (…) Sind Sie mir recht bös, daß Sie so wüst schreiben können.« Dann versuchte sie, das Problem ins Scherzhafte zu wenden: »Aber wartens Sie kriegen schon noch tüchtig Geschimpfts wenn ich heim komme.« 23

Einsteins nächster Brief war noch unfreundlicher, und sie beklagte sich über eine Teekanne, die sie ihm geschenkt hatte. »Das ›Ding‹, daß ich Ihnen das dumme Theetöpferl schicke, braucht Ihnen gar nicht zu gefallen, wenn Sie dann nur guten Thee drauf kochen«, erwiderte sie. »[Sie] machen mir kein böses Gesicht mehr hin, das ja aus allen Häuschen des Briefpapieres geguckt hat.« In der Schule, in der sie unterrichtete, gab es einen kleinen Jungen, der Albert hieß und, wie sie schrieb, ihm ähnelte. Sie wolle ihn »recht lieb haben«, fügte sie hinzu. »Manchmal (…) durchfährts mich ganz, wenn er mich anguckt u ich glaub immer Sie sehen Ihr Schätzchen an.« 24

Doch dann kamen, trotz Maries Bitten, keine Briefe von Einstein mehr. Sie fragte sogar seine Mutter um Rat. »Der Schlingel ist fürchterlich faul geworden«, schrieb Pauline Einstein . »Gegenwärtig warte ich schon drei Tage vergebens auf Nachrichten, so daß ich ihm bei seinem Hiersein ordentlich den Text lesen muß.« 25

Schließlich erklärte Einstein in einem Brief an Maries Mutter die Beziehung für beendet und schrieb ihr, er werde im Frühjahr während der Semesterferien nicht nach Aarau kommen. »Es wäre meiner mehr als unwürdig, wenn ich ein Paar Tage Wonne mit neuem Schmerz erkaufte, den ich dem lieben Kindchen schon viel zu viel durch meine Schuld verursacht habe.«

Im Folgenden beschreibt er dann bemerkenswert einsichtig, wie er angefangen habe, den Beziehungsschmerz und die »rein persönlichen« Ablenkungen, wie er sagte, durch die Vertiefung in die Wissenschaft zu vermeiden:

Es erfüllt mich mit einer Art seltsamer Genugthuung, jetzt auch einen Teil des Schmerzes durchkosten zu müssen, den mein Leichtsinn & meine Unkenntnis einer so zarten Natur dem lieben Mädchen bereitet haben. Die angestrengte geistige Arbeit & das Anschauen von Gottes Natur sind die Engel, welche mich versöhnend, stärkend & doch unerbittlich streng durch alle Wirren dieses Lebens führen werden. Wenn ich nur dem guten Kind auch etwas davon geben könnte! Und doch, welch seltsame Art ist das, um die Stürme des Lebens zu ertragen – in mancher klaren Stunde komme ich mir vor wie der Vogel Strauß, welcher seinen Kopf in den Wüstensand steckt, um die Gefahr nicht zu sehen. 26

Die Kühle, mit der Einstein Marie Winteler begegnete, mag aus unserem Blickwinkel grausam erscheinen. Doch Beziehungen sind, besonders bei Jugendlichen, aus der Ferne nur schwer zu beurteilen. Die beiden waren, vor allem intellektuell, sehr verschieden. Maries Briefe glitten oft, insbesondere wenn sie sich unsicher fühlte, in Geplapper ab. »Ich schreib wohl lauter Kohl, gelt u. am End lesen Sies gar nimmer fertig (aber glauben thu ichs nicht)«, hieß es in einem dieser Briefe. In einem anderen meinte sie: »Denken thu ich auch nicht an mich, Schatz, das ist schon wahr, aber nur aus dem Grund, weil ich überhaupt nicht denke, nur wenn gar eine zu dumme Rechnung kommt, wos nöthig ist, daß ich mal zur Abwechslung mehr weiß als meine Schüler.« 27

Wer immer schuld war, wenn überhaupt von Schuld die Rede sein kann, es war nicht überraschend, dass sie sich trennten. Nach dem Ende der Beziehung zu Einstein fiel Marie in eine Depression, erschien tagelang nicht zum Unterricht und heiratete später den Direktor einer Uhrenfirma. Einstein hingegen löste sich aus der Beziehung, um sogleich wieder in die Arme einer jungen Frau zu sinken, die von Marie gar nicht verschiedener hätte sein können.

Mileva Marić

Mileva Marić war das erste und bevorzugte Kind eines ehrgeizigen serbischen Bauern, der zum Militär gegangen war, in bescheidenen Wohlstand eingeheiratet und sich dann ganz der Aufgabe gewidmet hatte, seiner außerordentlich begabten Tochter dabei zu helfen, sich in der männlichen Welt der Mathematik und Physik durchzusetzen. Den größten Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Novi Sad , einer serbischen Stadt, die damals zu Ungarn gehörte, 28 und besuchte eine Reihe immer anspruchsvollerer Schulen, war in jeder die Klassenbeste und brachte ihren Vater schließlich dazu, sie auf das klassische Jungengymnasium in Zagreb zu schicken. Nachdem sie dort mit Bestnoten in Physik und Mathematik Abitur gemacht hatte, begab sie sich nach Zürich , wo sie kurz vor ihrem 21. Geburtstag die einzige Studentin in Einsteins Fachbereich am Polytechnikum wurde.

Mileva Marić , die mehr als drei Jahre älter als Einstein war, aufgrund einer angeborenen Hüftluxation humpelte und zu Tuberkuloseanfällen und Verstimmungen neigte, beeindruckte ihre Umwelt weder mit ihrem Aussehen noch mit ihrer Persönlichkeit. »Sehr klug und ernsthaft, klein, zart, brünett, hässlich«, so wurde sie von einer ihrer Freundinnen in Zürich beschrieben.

Aber sie verfügte über Eigenschaften, von denen sich Einstein, zumindest während seiner romantischen Studentenjahre, angezogen fühlte: eine leidenschaftliche Liebe zur Mathematik und Naturwissenschaft, Gedankentiefe und ein außerordentlich gewinnendes Wesen. Der Blick ihrer tief liegenden Augen war von berührender Intensität, während über ihrem Gesicht ein anziehender Hauch von Schwermut lag. 29 Im Laufe der Zeit wurde sie Einsteins Muse, Partnerin, Geliebte, Frau, rotes Tuch und Kontrahentin, und sie schuf ein emotionales Feld, das stärker war als jeder andere Einfluss in seinem Leben. Mit einer Kraft, die er sich als wissenschaftlich ausgerichteter Mensch nie hätte träumen lassen, wirkte es abwechselnd anziehend und abstoßend auf ihn.

Sie lernten sich im Oktober 1896 kennen, als sie beide ihr Studium am Polytechnikum begannen, aber es dauerte eine Weile, bis sich ihre Beziehung entwickelte. In ihren Briefen und Erinnerungen gibt es kein Anzeichen, dass sie in ihrem ersten Studienjahr mehr als Kommilitonen waren. Immerhin beschlossen sie, im Sommer 1897 gemeinsam zu wandern. In diesem Herbst beschloss Marić , »erschreckt von den neuen Gefühlen, die sie [für Einstein] empfand«, das Polytechnikum vorübergehend zu verlassen und an der Universität Heidelberg Vorlesungen zu hören. 30

Ihr erster erhaltener Brief, den sie kurz nach ihrer Ankunft in Heidelberg schrieb, zeigt Anflüge von romantischen Gefühlen, bringt aber auch ihre selbstbewusste Gelassenheit zum Ausdruck. Sie siezt Einstein noch und macht im Gegensatz zu Marie Winteler spöttisch deutlich, dass sie keineswegs von ihm besessen ist, obwohl er ihr einen ungewöhnlich langen Brief geschrieben hat. »Es ist schon ziemlich lange her, dass ich Ihren Brief bekommen«, schrieb sie, »und ich hätte Ihnen gleich geantwortet, hätte Ihnen gedankt für die Aufopferung 4 lange Seiten geschrieben zu haben, hätte auch meiner Freude n’ bissel Ausdruck gegeben, die sie mir durch unsere gemeinsame Tour bereitet, aber sie sagten ich sollte Ihnen schreiben, wenn ich mich einmal langweilen sollte. Und ich bin sehr folgsam (…) und wartete und wartete bis die Langweile eintreten sollte aber bis heute ist mein Warten vergeblich gewesen.«

Marić unterschied sich von Marie Winteler auch durch die intellektuelle Intensität ihrer Briefe. In diesem ersten äußert sie sich begeistert über die Vorlesungen, die sie bei Philipp Lenard , damals Dozent in Heidelberg , über kinetische Gastheorie gehört hatte. Er hatte die Eigenschaften der Gase durch das Wirken von Millionen einzelner Moleküle erklärt. »O das war zu nett gestern in der Vorlesung vom Prof. Lenard «, berichtete sie, »er spricht jetzt über die Kinetische Wärmetheorie der Gase , da stellte es sich also heraus, dass die Molekule des O mit einer Geschwindigkeit von über 400 m. in einer Seckunde bewegen, dann rechnete der gute Prof. und rechnete … und endlich kam es heraus dass diese Molekule sich zwar mit dieser Geschwindigkeit bewegen aber dass sie nur einen Weg von 1/100 von einer Haarbreite zurücklegen.«

Beim wissenschaftlichen Establishment hatte sich die kinetische Gastheorie noch nicht ganz durchgesetzt (so wenig wie übrigens die Existenz von Atomen und Molekülen), und Marić’ Brief ließ darauf schließen, dass sie das Thema auch nicht richtig verstand. Der Episode wohnte eine traurige Ironie inne: Lenard wurde eine frühe Inspirationsquelle für Einstein, später aber einer seiner hasserfülltesten antisemitischen Quälgeister.

Außerdem äußerte sich Marić zu einem Gedanken, den Einstein in seinem Brief geäußert hatte: der Schwierigkeit, die wir Sterblichen haben, das Unendliche zu begreifen: »Ich glaube nicht daran, dass der Bau des Menschlichen Schädels schuld ist, dass der Mensch das Unendliche nicht fassen kann«, schrieb sie. »Ein unendliches Glück kann sich der Mensch so gut denken, und das unendliche des Raum sollte er fassen können, ich glaub das müsste noch viel leichter sein.« Das klingt ein wenig nach Einsteins Flucht aus dem rein Persönlichen in die Sicherheit des wissenschaftlichen Denkens: Es ist weit leichter, sich den unendlichen Raum als das unendliche Glück vorzustellen.

Doch Marić dachte auch – das geht eindeutig aus ihrem Brief hervor – in einer persönlicheren Weise an Einstein. Sie hatte sogar mit ihrem sie anbetenden und beschützenden Vater über ihn gesprochen: »Mein Papa hat mir etwas Tabak mitgegeben und ich sollte es durchaus Ihnen einhändigen«, schrieb sie. »Er wollte Ihnen so gerne das Maul wässern machen nach unserem Räuberländchen. Ich habe ihm von Ihnen erzählt Sie müssen durchaus einmal mit. Da würden Sie sich aber herrlich unterhalten!!« Der Tabak war ein Geschenk, das Einstein, im Gegensatz zu Marie Wintelers Teekanne, wahrscheinlich willkommen gewesen wäre, aber Marić neckte ihn damit, dass sie es nicht schicken wolle. »Sie würden es verzollen müssen und dann wünschten Sie mich sammt meinem Geschenk in’s Pfefferland.« 31

Diese widersprüchliche Mischung aus Spaß und Ernst, Unbekümmertheit und Intensität, Nähe und Distanz – die auch bei Einstein charakteristisch und offensichtlich war – muss er als anziehend empfunden haben. Er drängte sie, nach Zürich zurückzukommen. Im Februar 1898 entschloss sie sich dazu, und er war begeistert. »Thun Sie das nur recht bald«, schrieb er, »Sie werden es gewiß nicht bereuen.«

Er lieferte ihr ein Kurzporträt von jedem Professor und seiner Arbeit (wobei er zugab, dass er die Geometrie »manchmal undurchsichtig« finde) und versprach ihr, die Versäumnisse mithilfe der Vorlesungsnotizen nachzuholen, die Marcel Grossmann und er angefertigt hatten. Das einzige Problem sei, dass er ihr die »frühere nette Bude« in der nahe gelegenen Pension nicht wieder besorgen könne. »Geschieht Ihnen gerade recht, Sie kleine Ausreißerin.« 32

Im April war sie zurück und wohnte in einer Pension nur ein paar Häuserblocks von der seinen entfernt. Jetzt waren sie ein Paar. Sie teilten alles miteinander – Bücher, intellektuelle Höhenflüge, Intimität und den freien Zugang zu ihren Pensionszimmern. Als er eines Tages seinen Schlüssel vergessen und sich ausgeschlossen hatte, ging er zu ihr und lieh sich ihr Exemplar eines Physikbuchs aus. »Ich bitte Sie (…), es mir nicht übel zu nehmen«, schrieb er in einer kleinen Notiz, die er ihr hinlegte. Später im selben Jahr lautete der Text einer ähnlichen Notiz: »Wenn es Ihnen recht ist, komme ich heut Abend zum Lesen zu Ihnen.« 33

Freunde waren überrascht, dass ein so sinnesfroher und gut aussehender junger Mann wie Einstein, der fast jede Frau hätte erobern können, sich mit einer kleinen und eher unscheinbaren Serbin zufriedengab, die hinkte und zu Schwermut neigte. Als ein Kommilitone sagte, »er fände nie den Mut, eine Frau zu heiraten, die nicht ganz gesund ist«, erwiderte Einstein: »Warum nicht? Sie hat eine liebe Stimme.« 34

Einsteins Mutter , die in Marie Winteler vernarrt war, hatte große Vorbehalte gegen die dunkelhaarige Intellektuelle , die Marie verdrängt hatte. »Ihre Photographie hat bei meiner Alten großen Effekt gemacht«, schrieb Einstein aus Mailand . »während sie in der Betrachtung versunken war sagte ich dazu sehr verständnisinnig: Ja, ja, die ist halt ein gescheidtes Luder. Dafür & für ähnliches hab ich schon ziemlich Neckereien auszustehen.« 35

Es ist nicht schwer zu erkennen, warum Einstein sich so zu Marić hingezogen fühlte. Sie waren verwandte Seelen, die sich selbst als etwas abgehobene Gelehrte und Außenseiter sahen. Beide waren sie Intellektuelle, die ein wenig gegen bürgerliche Erwartungen rebellierten und als Liebende jemanden suchten, der zugleich Partner, Kollege und Mitarbeiter war. »Wir verstehen uns gegenseitig so gut auf unsre schwarzen Seelen & daneben aufs Kaffeetrinken & Würstelessen etc. …«, schrieb Einstein ihr.

Er verwendete dieses »et cetera« sehr vielsagend. Einen anderen Brief schloss er mit den Worten: »Seien Sie herzlich gegrüßt u. s.w., letzteres besonders.« Nach einer Trennung von einigen Wochen zählte er die Dinge auf, die er zusammen mit ihr zu tun gedachte: »(…) bald werd ich wieder bei meinem Schätzchen sein und es küssen, herzen, Gofeerl kochen schimpfen streben, lachen bummeln schwatzen … + in infinit!« Sie überboten sich in diesen liebevollen Albernheiten. Er sei, schrieb er, »wieder der alte Lump, bin voll von Kapricen, Teufeleien, und launisch wie stets!« 36

Vor allem liebte Einstein an Marić ihren Verstand. »Wie stolz werd ich sein, wenn ich gar vielleicht ein kleines Dokterlin zum Schatz hab«, schrieb er ihr einmal. Wissenschaft und Liebe schienen ineinander verflochten zu sein. Als Einstein 1899 bei seiner Familie zu Besuch war, beklagte er sich in einem Brief an Marić : »Als ich das erstemal im Helmholtz las, konnte ichs gar nicht begreifen, daß Sie nicht bei mir saßen & jetzt gehts mir nicht viel besser. Ich finde das Zusammenarbeiten sehr gut & heilsam & daneben weniger austrocknend.«

Tatsächlich mischten sich in den meisten ihrer Briefe Liebesergüsse mit wissenschaftlichen Begeisterungsausbrüchen, wobei Letztere oft die stärkere Rolle spielten. So nimmt er in einem Brief nicht nur den Titel seines berühmten Aufsatzes über die Relativitätstheorie vorweg, sondern auch einige seiner Begriffe. »Es wird mir immer mehr zur Überzeugung, daß die Elektrodynamik bewegter Körper, wie sie sich gegenwärtig darstellt, nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern sich einfacher wird darstellen lassen«, schrieb er. »Die Einführung des Namens ›Äther ‹ in die elektrischen Theorien hat zur Vorstellung eines Mediums geführt, von dessen Bewegung man sprechen könne, ohne daß man wie ich glaube, mit dieser Aussage einen physikalischen Sinn verbinden kann.« 37

Obwohl ihm diese Mischung aus geistiger und emotionaler Partnerschaft sehr zusagte, erinnerte er sich hin und wieder an den Reiz des einfachen Verlangens, das Marie Winteler repräsentierte. Mit der Taktlosigkeit, die er sich selbst gegenüber als Ehrlichkeit ausgab (oder vielleicht auch aus dem mutwilligen Wunsch heraus, sie ein wenig zu piesacken), ließ er es Marić wissen. Nach seinen Sommerferien 1899 beschloss er, seine Schwester in Aarau anzumelden, wo Marie lebte. Um Marić zu beruhigen, versicherte er ihr, er werde nicht viel Zeit mit seiner einstigen Freundin verbringen, aber die Zusicherung war – vielleicht absichtlich – so abgefasst, dass sie eher beunruhigte als beruhigte. »Daß ich so oft jetzt nach Aarau gehe, brauchen Sie gar keine Angst zu haben. Denn das kritische Töchterlein kommt nachhause in das ich mich vor 4 Jahren so schrecklich verliebt hab«, erklärte er. »Ich fühle mich zwar sonst ziemlich sicher auf meinem hohen Schloß Seelenruhe. Aber wenn ich das Mädchen wieder ein paarmal sähe, wär ich gewiß verrückt, das weiß ich & fürcht ich wie das Feuer.«

Doch im Fortgang des Briefes folgt, zum Glück für Marić , eine Beschreibung dessen, was sie in Zürich tun würden, ein Abschnitt, in dem Einstein erneut zeigte, warum ihre Beziehung so besonders war. Zunächst steigen »wir gleich einmal auf den Ütliberg«, womit er sich auf einen Aussichtspunkt in der Nähe der Stadt bezog. »Da können wir dann vergnüglich unsre Erinnerungen« an andere gemeinsame Wanderungen austauschen. »Ich male mirs schon wieder so lustig aus«, schrieb er. Dann schloss er mit einer plötzlichen Wendung, die nur sie beide richtig zu würdigen wussten: »Und dann fangen wir gleich mit Helmholtz’ elektromagnetischer Lichttheorie an.« 38

In den folgenden Monaten wurden ihre Briefe persönlicher und leidenschaftlicher. Er nannte sie »Doxerl« , »wieschts Frätzle« und »mein Gassenbub«, sie ihn »Johannzel« und »mein böses Schatzerl«. Seit Anfang 1900 duzten sie sich, was mit einer kleinen Notiz von ihr begann, die vollständig lautet:

Mei liebs Johonesl!

Da ich dich so gern hob und du so weit bist, daß ich dir keins Putzerl kann geben, schreib ich dir jetzt dieses Brieferl und frag dich ob du mich auch so gern host, wie ich dich? Antworte mir sofort. Tausend Küßerline von deins

D[oxerl ] 39

Studienabschluss, August 1900

Akademisch lief es gut für Einstein. In seinem Zwischenexamen im Oktober 1898 hatte er als Kursbester abgeschnitten mit einem Durchschnitt von 5,7 (bei 6 als Bestnote). Mit 5,6 wurde Marcel Grossmann Zweiter, der für ihn die Vorlesungsnotizen machte. 40

Für den Abschluss musste Einstein eine Diplomarbeit vorlegen. Ursprünglich schlug er Professor Weber ein Experiment vor, in dem er messen wollte, mit welcher Geschwindigkeit sich die Erde durch den Äther bewegte, den vermeintlichen Stoff, der den Wellen die Ausbreitung im Raum ermöglichte. Nach der herrschenden Meinung, die er später so denkwürdig mit seiner speziellen Relativitätstheorie pulverisierte, sollte man, je nachdem, ob sich die Erde durch diesen Äther auf die Lichtquelle zu- oder von ihr fortbewegte, einen Unterschied in der beobachteten Geschwindigkeit des Lichts feststellen können.

Ende der Sommerferien 1899, die er in Aarau verbrachte, arbeitete er mit dem Direktor seiner alten Schule an dem Problem. »Mir [ist] eine gute Idee gekommen zur Untersuchung, welchen Einfluß die Relativbewegung der Körper gegen den Lichtäther auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes in durchsichtigen Körpern hat«, schrieb er an Marić . Dazu gehörte der Bau eines Apparats, der mit Winkelspiegeln dafür sorgte, »dass das Licht einer einzigen Quelle in zwei verschiedene Richtungen reflektiert wird«, der eine Teil des Strahls in Richtung der Erdbewegung und der andere Teil senkrecht zu ihr. In einem Vortrag, in dem er erläuterte, wie er die Relativitätstheorie entwickelte, schilderte er seine Idee, einen Lichtstrahl zu spalten, ihn in verschiedene Richtungen zu reflektieren und zu beobachten, »ob sich ein Unterschied in der Energie zeigte, je nachdem, ob die Richtung entlang der Erdbewegung durch den Äther verlief oder nicht«. Das ließe sich bewerkstelligen, so postulierte er, »indem man mithilfe zweier Thermosäulen den Unterschied der in ihnen erzeugten Wärme misst«. 41

Weber lehnte den Vorschlag ab. Dabei war Einstein allerdings nicht ganz klar, dass ähnliche Experimente bereits von vielen anderen Forschern durchgeführt worden waren, unter anderem den Amerikanern Albert Michelson und Edward Morley , und in keinem konnte irgendein Hinweis entdeckt werden, dass es den Äther gab oder dass die Lichtgeschwindigkeit abhängig von der Geschwindigkeit des Beobachters oder der Lichtquelle variierte. Nachdem Einstein das Problem mit Weber erörtert hatte, las er einen Aufsatz, den Wilhelm Wien im Jahr zuvor veröffentlich hatte. Dort lieferte der Verfasser kurze Beschreibungen von dreizehn Experimenten – einschließlich dem Michelson -Morley -Versuch –, die durchgeführt worden waren, um den Äther zu entdecken.

Einstein schickte Professor Wien seinen eigenen spekulativen Aufsatz zu dem Thema und bat ihn, ihm zu antworten. »Er wird mir via Polytechnikum schreiben (wenns gewiß ist!). Wenn Sie dort einen Brief an mich sehen, können Sie ihn nehmen und öffnen.« Es gibt keinen Hinweis, dass Wien ihm jemals zurückgeschrieben hätte. 42

In Einsteins nächstem Forschungsvorschlag ging es um die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Wärmeleitung und der Elektrizitätsleitung verschiedener Stoffe besteht, eine Vermutung, die durch die Elektronentheorie nahegelegt wird. Auch die Idee gefiel Weber offensichtlich nicht, daher sahen sich Einstein und Marić gezwungen, sich in ihren Diplomarbeiten allein mit der Wärmeleitung auseinanderzusetzen, Webers Spezialgebiet.

Später erklärte Einstein zu ihren Diplomarbeiten, sie seien für ihn »ohne irgendwelches Interesse« gewesen. Weber gab beiden, Einstein und Marić , die niedrigsten Noten des Kurses, eine 4,5 beziehungsweise 4,0; zum Vergleich: Grossmann erhielt eine 5,5. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, erklärte Weber , Einstein habe seine Arbeit nicht auf dem vorgeschriebenen Papier verfasst, und zwang ihn, die ganze Diplomarbeit noch einmal abzuschreiben. 43

Trotz der niedrigen Wertung seiner Diplomarbeit erreichte Einstein auf seinem Abschlusszeugnis einen Durchschnitt von 4,9, womit er den vierten Platz von fünf Teilnehmern ergatterte. Zwar hat die Geschichte den pikanten Mythos widerlegt, er habe am Gymnasium in Mathe versagt, doch dürfte es für alle, die es für amüsant gehalten hätten, ein Trost sein, dass er sein Diplom als einer der Schlechtesten abgelegt hat.

Zumindest bekam er den Abschluss. Sein Notendurchschnitt von 4,9 reichte gerade aus, um das Diplom zu erhalten, was offiziell im Juli 1900 geschah. Allerdings brachte Mileva Marić es nur auf eine 4,0, was für das Diplom nicht ausreichte. Sie beschloss, es im folgenden Jahr noch einmal zu versuchen. 44

Wie nicht anders zu erwarten, präsentierte Einstein sich in den Jahren am Polytechnikum stolz als Nonkonformist . »Eines Tages kam sein Unabhängigkeitsstreben in einem Seminar zum Ausdruck, als der Professor von einer milden disziplinarischen Maßnahme berichtete, die unlängst von der Verwaltung der Hochschule getroffen worden war«, erinnerte sich ein Kommilitone. Einstein habe protestiert. Die grundlegende Voraussetzung des Bildungswesens war seiner Meinung nach das »Bedürfnis nach geistiger Freiheit« 45 .

Sein Leben lang erinnerte sich Einstein gern an das Züricher Polytechnikum , aber er merkte auch an, dass ihm die Examensdisziplin der Hochschule nicht behagt habe. »Der Haken dabei war freilich, daß man für die Examina all diesen Wust in sich hineinstopfen mußte, ob man nun wollte oder nicht«, sagte er. »Dieser Zwang wirkte so abschreckend, daß mir nach überstandenem Endexamen jedes Nachdenken über wissenschaftliche Probleme für ein ganzes Jahr verleidet war.« 46

Tatsächlich war das weder möglich noch wahr. Binnen Wochen war er geheilt, und als er sich später in diesem Juli Mutter und Schwester anschloss, die ihren Sommerurlaub in den Schweizer Alpen verbrachten, hatte er einige wissenschaftliche Bücher in seinem Gepäck, darunter Werke von Gustav Kirchhoff und Ludwig Boltzmann . »Da es viel regnet, habe ich schon viel studiert«, berichtete er an Marić , »hauptsächlich die berüchtigten Untersuchungen über die Bewegung des starren Körpers von Kirchhoff .« Er räumte ein, dass sich sein Widerwille infolge des Examens allmählich gelegt habe. »Meine Nerven haben sich schon so beruhigt, daß ich wieder mit Wonne studiere. Was machen denn Deine?« 47