»Heute gibt es in der Physik nichts Neues mehr zu entdecken«, hat der hoch angesehene Lord Kelvin angeblich in der British Association for the Advancement of Science im Jahr 1900 gesagt. »Was bleibt, sind immer genauere Messungen.« 1 Er hatte unrecht.
Das Fundament der klassischen Physik hatte Isaac Newton (1642 bis 1727) Ende des 17. Jahrhunderts gelegt. Aufbauend auf den Entdeckungen von Galilei und anderen, entwickelte er die Gesetze, die ein sehr verständliches mechanisches Universum beschrieben: Ein fallender Apfel und ein kreisender Mond richteten sich nach denselben Regeln der Gravitation , Masse, Kraft und Bewegung. Ursachen riefen Wirkungen hervor, Kräfte wirkten auf Objekte ein, und zumindest theoretisch ließ sich alles erklären, bestimmen und vorhersagen. Begeistert beschrieb der Mathematiker und Astronom Laplace Newtons Universum : »Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammensetzen, kennen würde, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen einer Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen.« 2
Einstein bewunderte diese kompromisslose Kausalität und nannte sie »das profundeste Merkmal der Newtonschen Lehre«. 3 In einer knappen Zusammenfassung beschrieb er die Geschichte der Physik wie folgt: »Am Anfang (wenn es einen solchen gab) schuf Gott Newtons Bewegungsgesetze samt den notwendigen Massen und Kräften.« Besonders beeindruckt war Einstein von den »Leistungen der Mechanik auf Gebieten, die dem Anscheine nach nichts mit Mechanik zu tun hatten«, wie der kinetischen Theorie , mit der er sich näher beschäftigt hatte und die das Verhalten von Gasen durch Wirkung von Milliarden sich ruckartig bewegender Moleküle erklärt. 4
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Newtons Mechanik durch eine weitere bedeutende Entdeckung ergänzt. Der englische Experimentalphysiker Michael Faraday (1791 – 1867), autodidaktischer Sohn eines Schmieds, entdeckte die Eigenschaften von elektrischen und magnetischen Feldern. Zunächst zeigte er, dass ein elektrischer Strom Magnetismus erzeugt, und wies dann nach, dass ein veränderliches Magnetfeld einen elektrischen Strom hervorrufen kann. Wenn man einen Magneten in der Nähe einer Leiterschleife bewegt oder umgekehrt, wird ein elektrischer Strom erzeugt. 5
Durch Faradays Forschung über elektromagnetische Induktion war es erfinderischen Unternehmern wie Einsteins Vater und Onkel möglich, aus rotierenden Drahtspulen und beweglichen Magneten elektrische Generatoren zu bauen. Infolgedessen beruhte die Beziehung des jungen Albert Einstein zu Faradays Feldern nicht nur auf theoretischem Verständnis, sondern auch auf einem tiefen intuitiven Empfinden.
Der buschbärtige schottische Physiker James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) entwickelte anschließend wunderbare Gleichungen, die unter anderem beschrieben, wie veränderliche elektrische Felder Magnetfelder erzeugen und wie veränderliche Magnetfelder elektrische Felder hervorrufen. Tatsächlich konnte ein veränderliches elektrisches Feld ein veränderliches Magnetfeld produzieren, das dann seinerseits ein veränderliches elektrisches Feld erzeugte und so fort. Das Ergebnis dieser Kopplung war eine elektromagnetische Welle.
Wie Newton in dem Jahr geboren wurde, als Galilei starb, so wurde Einstein in dem Jahr geboren, in dem Maxwell starb, und Einstein sah es tatsächlich als Teil seines Auftrags an, die Arbeit des Schotten weiterzuführen. Hier war es einem Theoretiker gelungen, herrschende Vorurteile über Bord zu werfen, sich von mathematischen Melodien in unbekannte Gebiete führen zu lassen und eine Harmonie zu entdecken, die auf der Schönheit und Einfachheit einer Feldtheorie beruhte.
Sein Leben lang war Einstein von Feldtheorien fasziniert. In einem Lehrbuch, das er zusammen mit einem Kollegen schrieb, schilderte er die Entwicklung des Begriffs:
Ein neuer Begriff taucht in der Physik auf, der bedeutendste Gedanke seit Newton : das Feld. Die Erkenntnis, daß es bei der Beschreibung physikalischer Vorgänge weder auf die Ladungen noch auf die Partikeln, sondern vielmehr auf das in dem Raum zwischen Ladungen und Partikeln liegende Feld ankommt, darf als wissenschaftliche Großtat angesprochen werden. Der Feldbegriff bewährt sich außerordentlich gut und führt zur Formulierung der Maxwellschen Gleichungen, welche die Struktur des elektromagnetischen Feldes angeben. 6
Zunächst schien die elektromagnetische Feldtheorie mit der Newton ’schen Mechanik vereinbar zu sein. Beispielsweise glaubte Maxwell , man könne elektromagnetische Wellen, einschließlich des sichtbaren Lichts, durch die klassische Mechanik erklären, vorausgesetzt, wir nehmen an, das Universum sei mit einem unsichtbaren »lichttragenden Äther « gefüllt, jener physischen Substanz, die bei der Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen in Schwingungen gerät und damit die Rolle übernimmt, die das Wasser für Meereswellen und die Luft für Schallwellen spielt.
Doch Ende des 19. Jahrhunderts begannen Risse im Fundament der klassischen Physik aufzutreten. Das erste Problem zeigte sich, als die Forscher vergeblich versuchten, messbare Anhaltspunkte für unsere Bewegung durch den vermeintlichen lichttragenden Äther zu finden. Ein anderes Problem ergab sich aus der Erforschung der Strahlung – der Frage, wie physische Körper Licht und andere elektromagnetische Wellen abgeben: Seltsame Dinge geschahen in dem Grenzbereich, in dem die Newton ’schen Theorien der Mechanik diskreter Teilchen mit den Feldtheorien zusammentreffen, die die Gesamtheit der elektromagnetischen Phänomene beschreiben.
Bis dahin hatte Einstein fünf kaum zur Kenntnis genommene Aufsätze veröffentlicht. Sie hatten ihm weder einen Doktortitel noch einen Lehrauftrag eingetragen, noch nicht einmal eine Stelle an einem Gymnasium. Hätte er zu diesem Zeitpunkt die theoretische Physik aufgegeben, hätte die wissenschaftliche Gemeinschaft keine Notiz davon genommen. Stattdessen wäre er die berufliche Leiter hochgestiegen bis zum Direktor des Schweizer Patentamts , einer Position, die er wahrscheinlich auch sehr gut ausgefüllt hätte.
Es gab keinen Hinweis darauf, dass er im Begriff stand, ein »Wunderjahr« (annus mirabilis ) einzuläuten, wie es die Naturwissenschaft seit 1666 nicht mehr erlebt hatte, als Isaac Newton sich ins ländliche Woolsthorpe zurückzog, um sich vor der in Cambridge wütenden Pest in Sicherheit zu bringen, und dort die Infinitesimalrechnung entwickelte, das Licht in seine Spektralfarben zerlegte und die Gravitationsgesetze entdeckte.
Doch der Physik war es bestimmt, erneut auf den Kopf gestellt zu werden, und Einstein war dazu bestimmt, der Vollstrecker dieses Vorgangs zu werden. Er hatte keine Hemmungen, die Schichten herkömmlicher Denkweise fortzureißen, die die Risse im Fundament der Physik verdeckten, und sein bildliches Vorstellungsvermögen gab ihm die Fähigkeit zu begrifflichen Sprüngen, die traditionellere Denker nicht zustande brachten.
Einstein selbst kündigte die Durchbrüche, die ihm in einem viermonatigen Schaffensrausch von März bis Juni 1905 gelingen sollten, in einem der berühmtesten Privatbriefe der Wissenschaftsgeschichte vorab an. Conrad Habicht , sein fröhlicher philosophischer Kollege in der Akademie Olympia , war vor Kurzem aus Bern fortgezogen, was Einstein, zum Glück für Historiker, veranlasste, ihm Ende Mai einen Brief zu schreiben.
Es herrscht ein weihevolles Stillschweigen zwischen uns, so daß es mir fast wie eine sündige Entweihung vorkommt, wenn ich es jetzt durch ein wenig bedeutsames Gepappel unterbreche. (…)
Was machen Sie denn, Sie eingefrorener Walfisch, Sie geräuchertes, getrocknetes eingebüchstes Stück Seele (…)! Aber warum haben Sie mir Ihre Dissertation immer noch nicht geschickt? Wissen Sie denn nicht, daß ich einer von den 11/2 Kerlen sein würde, der dieselbe mit Interesse und Vergnügen durchliest, Sie Miserabler? Ich verspreche Ihnen vier Arbeiten dafür, die erste (…) handelt über die Strahlung und die energetischen Eigenschaften des Lichtes und ist sehr revolutionär, wie Sie sehen werden, wenn Sie mir Ihre Arb[eit] vorher schicken. Die zweite Arbeit ist eine Bestimmung der wahren Atomgröße (…). Die dritte beweist, daß (…) in Flüssigkeiten suspendirte Körper von der Größenordnung 1/1000 mm bereits eine wahrnehmbare ungeordnete Bewegung ausführen müssen, welche durch die Wärmebewegung erzeugt ist, es sind unerklärte Bewegungen lebloser kleiner suspendirter Körper in der That beobachtet worden von den Physiologen, welche Bewegungen von ihnen »Brownsche Molekularbewegung « genannt wird. Die vier[te] Arbeit liegt erst im Konzept vor und ist eine Elektrodynamik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikation der Lehre von Raum und Zeit. 7
Wie Einstein Habicht mitteilte, verdiente der erste dieser Aufsätze, nicht der berühmte letzte, in dem er seine spezielle Relativitätstheorie formulierte, die Bezeichnung »revolutionär«. Möglicherweise enthält er tatsächlich die revolutionärste These in der Geschichte der Physik. Die Annahme, dass das Licht nicht nur aus Wellen , sondern auch aus winzigen Paketen besteht – Lichtquanten , die man später als »Photonen « bezeichnete –, hat die Physik in sonderbare Gefilde geführt, die weit dunkler, ja, gespenstischer sind als die bizarrsten Aspekte der Relativitätstheorie .
Diesem Umstand trug Einstein in dem etwas seltsam anmutenden Titel Rechnung, den er für die Abhandlung wählte, als er sie am 17. März 1905 bei den Annalen der Physik einreichte: »Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt« . 8 Heuristisch? Das beschreibt eine Hypothese, die als Richtschnur dient und zeigt, wie man ein Problem lösen könnte, die aber nicht als bewiesen angesehen werden kann. Von diesem ersten Satz, den er jemals über die Quantentheorie veröffentlichte, bis zum letzten Satz zu diesem Thema, den er genau fünfzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, in einem Aufsatz schrieb, hielt Einstein das Quantenkonzept und all seine verwirrenden Konsequenzen bestenfalls für heuristisch: provisorisch und unvollständig, nicht ganz vereinbar mit seinen eigenen intuitiven Vorstellungen von der grundlegenden Wirklichkeit.
Im Kern ging es in Einsteins Abhandlung um Fragen, die die Physik um die Jahrhundertwende umtrieben und sie im Grunde von der Zeit der alten Griechen bis heute beschäftigen: Besteht das Universum aus Teilchen wie den Atomen und Elektronen ? Oder ist es ein Kontinuum, wie es ein Gravitationsfeld oder ein elektromagnetisches Feld sind? Und wenn jede der beiden Beschreibungen auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit zutrifft, was geschieht dort, wo sie sich überschneiden?
Seit den 1860er-Jahren beschäftigten sich Forscher mit genau solch einer Überschneidung, nämlich bei der Untersuchung der sogenannten »Schwarzkörperstrahlung «. Wie jeder weiß, der schon einmal einen Brennofen oder Gasbrenner verwendet hat, verändert das Glühen eines Stoffes wie Eisen seine Farbe, wenn man den Stoff aufheizt. Zunächst scheint er hauptsächlich rotes Licht abzustrahlen; bei weiterer Erwärmung glüht er eher orangefarben, dann weiß und schließlich bläulich-weiß. Um diese Strahlung genauer zu analysieren, entwickelten Gustav Kirchhoff und andere einen geschlossenen Metallbehälter mit einem winzigen Loch, aus dem ein wenig Licht entweichen konnte. Wie viel Licht das Gerät bei den verschiedenen Wellenlängen aussandte, wenn es bei einer bestimmten Temperatur einen Gleichgewichtszustand erreicht hatte, hielten sie in einem Diagramm fest. Egal, aus welchem Material die Wände des Behälters waren oder welche Form sie hatten, die Ergebnisse waren immer gleich; die Form der Kurve für die Lichtintensität in Abhängigkeit von der Wellenlänge hing allein von der Temperatur ab.
Leider gab es dabei ein Problem. Niemand konnte die mathematische Formel angeben, aus der sich die hügelartige Form dieser Kurve ergab.
Als Kirchhoff starb, erhielt Max Planck dessen Lehrstuhl an der Universität Berlin . 1858 geboren, wuchs Planck in einer Familie auf, die auf eine lange Ahnenreihe von Gelehrten, Theologen und Juristen zurückblickte. Planck war vieles, was Einstein nicht war: ein stolzer Deutscher mit Zwicker und untadeliger Kleidung, etwas schüchtern, aber von unbeugsamer Entschlusskraft, konservativ bis auf die Knochen und förmlich in seinen Umgangsformen. »Nur schwer lassen sich zwei Menschen vorstellen, die in ihrem Auftreten verschiedener wären«, sagte der mit beiden befreundete Max Born später. »Einstein, ein Bürger der ganzen Welt, wenig gebunden an die Menschen um sich her, unabhängig von der Stimmung der Gesellschaft, in der er lebte – Planck tief verwurzelt in den Traditionen seiner Familie und Nation, ein glühender Patriot, stolz auf die Größe der deutschen Geschichte und bewusster Preuße in seiner Einstellung zum Staat.« 9
Die konservative Einstellung nährte Plancks Skepsis gegenüber dem Atom und allen Theorien überhaupt, die auf dem Konzept Teilchen beruhten (anstatt auf Wellen und kontinuierlichen Feldern). 1882 schrieb er, »dass man trotz der bisherigen Erfolge der atomistischen Theorie sich schließlich doch einmal zu einer Aufgabe derselben und zur Annahme einer kontinuierlichen Materie wird entschließen müssen«. In einer der kleinen Paradoxien, mit denen der Planet uns bedenkt, teilten Planck und Einstein das Schicksal, die Fundamente der Quantenmechanik gelegt zu haben und dann den Mut zu verlieren, als klar wurde, dass sie damit die strenge Kausalität und Gewissheit untergruben, die sie beide so hoch schätzten. 10
Im Jahr 1900 schlug Planck eine »glücklich erratene Interpolationsformel« vor, welche die Wellenlängenkurve der Strahlung in Abhängigkeit von der Temperatur beschrieb. Dadurch erkannte er an, dass Boltzmanns statistische Methoden, gegen die er sich gewehrt hatte, letztlich doch richtig seien. Aber die Gleichung wies eine seltsame Eigenheit auf: Sie enthielt eine Konstante mit einem unerklärten, winzigen Wert (rund 6,62607 × 10−34 Joulesekunden), die nötig war, um richtige Ergebnisse zu erhalten. Bald nannte man diese Konstante das plancksche Wirkungsquantum h . Unserem heutigen Wissen nach handelt es sich um eine der fundamentalen Naturkonstanten.
Zunächst hatte Planck keine Ahnung, welche physikalische Bedeutung diese mathematische Konstante hatte. Doch dann entwickelte er eine Theorie, von der er annahm, sie beschreibe nicht die Beschaffenheit des Lichts selbst, sondern eine Eigenschaft der Vorgänge, bei denen Licht von einem Stück Materie absorbiert oder emittiert wird. Er postulierte, dass die Oberfläche jedes Wärme oder Licht abstrahlenden Stoffs – wie etwa die Wände eines Schwarzen Körpers – »schwingende Moleküle« oder »harmonische Oszillatoren« enthalte, die wie kleine vibrierende Sprungfedern seien. 11 Diese harmonischen Oszillatoren können, so Planck , Energie nur in diskreten Paketen absorbieren oder emittieren. Jene Pakete konnten dabei nicht beliebige, sondern nur ganz bestimmte Mengen von Energie transportieren, die vom planckschen Wirkungsquantum abhingen.
Planck betrachtete seine Konstante als ein bloßes mathematisches Hilfsmittel, das den Prozess der Lichtemission und -absorption erklärte, aber nicht auf die grundlegende Beschaffenheit des Lichts selbst anzuwenden war. Trotzdem war die Erklärung, die er im Dezember 1900 vor der Berliner Physikalischen Gesellschaft abgab, höchst folgenreich: »Wir betrachten aber – und dies ist der wesentlichste Punkt der ganzen Berechnung – E als zusammengesetzt aus einer ganz bestimmten Anzahl endlicher gleicher Teile.« 12
Einstein erkannte rasch, dass die Quantentheorie die klassische Physik untergraben konnte. »All dies war mir schon kurze Zeit nach dem Erscheinen von Plancks grundlegender Arbeit klar«, schrieb er später. »All meine Versuche, das theoretische Fundament der Physik diesen Erkenntnissen anzupassen, scheiterten aber völlig. Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können.« 13
Neben der Frage, was es mit der Planck-Konstanten tatsächlich auf sich hatte, gab es noch eine andere Merkwürdigkeit der Strahlung zu erklären, den sogenannten photoelektrischen Effekt : Fällt Licht auf eine Metallfläche, kann es dabei Elektronen herausschlagen und freisetzen. In dem Brief, den er Marić im Mai 1901 schrieb, kurz nachdem er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, schwärmte Einstein von einer »wunderschönen Abhandlung« Philipp Lenards , die sich mit diesem Thema beschäftigte.
In seinen Experimenten stieß Lenard auf ein unerwartetes Phänomen: Wenn er die Frequenz des Lichts erhöhte – und dabei von infraroter Wärmestrahlung über rotes Licht die Frequenz bis hin zu violettem und UV -Licht steigerte –, schossen die emittierten Elektronen mit immer größerer Energie heraus. Dann steigerte er die Intensität des Lichts, indem er eine Kohlebogenlampe zum Einsatz brachte, die um den Faktor 1000 heller war. Das hellere, intensivere Licht hatte sehr viel mehr Energie, daher erschien es logisch, dass auch die emittierten Elektronen energiereicher sein und noch schneller davonschießen müssten. Doch das war nicht der Fall. Intensiveres Licht schlug mehr Elektronen heraus, aber die Energie der einzelnen Elektronen blieb gleich. Das war ein Phänomen, das die Wellentheorie des Lichts nicht erklärte.
Viele Jahre lang hatte Einstein über die Arbeiten von Planck und Lenard nachgedacht. In seinem letzten Artikel des Jahres 1904, »Zur allgemeinen molekularen Theorie der Wärme« , untersuchte er, wie die durchschnittliche Energie eines Systems von Molekülen mit der Zeit fluktuiert. Die gewonnenen Ergebnisse übertrug er dann auf ein mit Strahlung gefülltes Volumen und stellte fest, dass er auf diese Weise einige der experimentell bestätigten Eigenschaften der Schwarzkörperstrahlung herleiten konnte. Sein Schlusssatz lautete: »Ich glaube, daß diese Übereinstimmung bei der großen Allgemeinheit unserer Voraussetzungen nicht dem Zufall zugeschrieben werden darf.« 14 Seinem Freund Conrad Habicht schrieb er kurz nach Beendigung des Aufsatzes: »Die Beziehung zwischen der Größe der Elementarquanta der Materie und den Strahlungswellenlängen habe ich nun in höchst simpler Weise gefunden.« Offenbar war er jetzt bereit, eine Theorie zu formulieren, nach der das Strahlungsfeld aus Quanten besteht. 15
In seinem Aufsatz über Lichtquanten , der 1905, ein Jahr später, erschien, tat er genau das. Er nahm die mathematische Merkwürdigkeit, die Planck entdeckt hatte, verwendete sie so, wie sie war, setzte sie in Beziehung zu Lenards Ergebnissen zum photoelektrischen Effekt und analysierte das Licht, als bestünde es wirklich aus punktartigen Lichtteilchen – Lichtquanten nannte er sie – und wäre keine kontinuierliche Welle .
Zu Anfang seines Aufsatzes beschrieb Einstein den großen Unterschied zwischen Theorien, die von Teilchen ausgehen (wie beispielsweise die kinetische Gastheorie ), und Theorien, die unter Benutzung kontinuierlicher Funktionen formuliert sind (etwa die elektromagnetischen Felder der Wellentheorie des Lichts ). »Zwischen den theoretischen Vorstellungen, welche sich die Physiker über die Gase und andere ponderable Körper gebildet haben, und der Maxwell’schen Theorie der elektromagnetischen Prozesse im sogenannten leeren Raume besteht ein tiefgreifender formaler Unterschied«, heißt es dort. »Während wir nämlich den Zustand eines Körpers durch die Lagen und Geschwindigkeiten einer zwar sehr großen, jedoch endlichen Anzahl von Atomen und Elektronen für vollkommen bestimmt ansehen, bedienen wir uns zur Bestimmung des elektromagnetischen Zustandes eines Raumes kontinuierlicher räumlicher Funktionen.« 16
Bevor er für eine bestimmte Theorie plädierte, betonte er, dass kein Grund bestehe, die »Undulationstheorie «, so ein damaliger Begriff für die Wellentheorie , aufzugeben, denn sie werde weiterhin von Nutzen sein. »Die mit kontinuierlichen Raumfunktionen operierende Undulationstheorie des Lichtes hat sich zur Darstellung der rein optischen Phänomene vortrefflich bewährt und wird wohl nie durch eine andere Theorie ersetzt werden.«
Er vermittelte zwischen Wellentheorie und Teilchentheorie, indem er »heuristisch« postulierte, hinter unseren Beobachtungen von Wellen steckten in Wirklichkeit statistische Durchschnittswerte für die Positionen unzähliger Teilchen. »Es ist jedoch im Auge zu behalten«, schrieb er, »daß sich die optischen Beobachtungen auf zeitliche Mittelwerte, nicht aber auf Momentanwerte beziehen.«
Dann folgte der wohl revolutionärste Satz, den Einstein jemals schrieb. Er erklärt, das Licht bestehe aus diskreten Teilchen oder Energiepaketen: »Nach der hier ins Auge zu fassenden Annahme ist bei Ausbreitung eines von einem Punkte ausgehenden Lichtstrahles die Energie nicht kontinuierlich auf größer und größer werdende Räume verteilt, sondern es besteht dieselbe aus einer endlichen Zahl von in Raumpunkten lokalisierten Energiequanten, welche sich bewegen, ohne sich zu teilen, und nur als Ganze absorbiert und erzeugt werden können.«
Zur Prüfung dieser Hypothese untersuchte Einstein, ob sich ein Volumen Schwarzkörperstrahlung , von dem er jetzt annahm, es bestehe aus diskreten Quanten, tatsächlich wie ein Gas verhalten würde, von dem ja bekannt war, dass es sich aus einzelnen Teilchen zusammensetzt. Zunächst betrachtete er die Formeln, aus denen hervorging, wie sich die Entropie eines Gases in Abhängigkeit vom Volumen verändert. Dann verglich er die Ergebnisse mit denen, die sich ergeben, wenn die Entropie einer Schwarzkörperstrahlung sich mit ihrem Volumen verändert. Er fand heraus, dass die Entropie der Strahlung »nach dem gleichen Gesetze mit dem Volumen variiert wie die Entropie eines idealen Gases«. Für eine weitere Rechnung nutzte er Boltzmanns statistische Formeln für die Entropie . Die statistische Mechanik, die ein verdünntes Teilchengas beschrieb, hatte dabei dieselbe mathematische Form wie bei der Schwarzkörperstrahlung . Daher erklärte Einstein, die Strahlung verhalte sich »in wärmetheoretischer Beziehung so, wie wenn sie aus voneinander unabhängigen Energiequanten (…) bestünde«. Auch die Energie eines »Lichtteilchens« gegebener Frequenz konnte Einstein in diesem Rahmen berechnen – und kam auf dasselbe Ergebnis wie Planck . 17
Im Fortgang zeigte Einstein, wie die Existenz dieser Lichtquanten die »bahnbrechend[e] Arbeit von Hrn. Lenard «, wie er sie großzügig einstufte, erklären konnte. Wenn das Licht aus diskreten Quanten besteht, dann erhält man die Energie eines solchen Lichtquants , indem man seine Frequenz mit dem planckschen Wirkungsquantum multipliziert. Angenommen, fuhr Einstein fort, »daß ein Lichtquant seine ganze Energie an ein einziges Elektron abgibt«, so folge daraus, dass Licht einer höheren Frequenz zur Emission von Elektronen mit höherer Energie führt. Andererseits würde eine Erhöhung der Intensität (aber nicht der Frequenz ) des Lichts einfach dazu führen, dass mehr Elektronen emittiert würden, aber die Energie jedes einzelnen jener Elektronen gleich bliebe.
Das entsprach genau dem, was Lenard festgestellt hatte. Mit einer Spur Bescheidenheit oder Unsicherheit, verbunden mit dem Wunsch, zu zeigen, dass er seine Schlussfolgerungen theoretisch deduziert und nicht einfach induktiv aus seinen Experimentaldaten geschlossen hatte, erklärte Einstein zu seiner Prämisse, dass das Licht aus winzigen Quanten bestehe: »Mit den von Hrn. Lenard beobachteten Eigenschaften der lichtelektrischen Wirkung steht unsere Auffassung, soweit ich sehe, nicht im Widerspruch.«
Einstein hatte vorsichtig auf Plancks Glut geblasen und damit eine Flamme entfacht, die die klassische Physik verschlingen sollte. Man fragt sich, wieso Einsteins Aufsatz aus dem Jahr 1905 zu so einem Bruch geführt hat. Antwort: weil er in einem Quantensprung über Plancks Arbeit hinausgeht.
Tatsächlich schrieb Einstein in einem Artikel des folgenden Jahres, seine Rolle habe darin bestanden, auf die physikalische Bedeutung der Planck ’schen Entdeckung hinzuweisen. 18 Für Planck , den Revolutionär wider Willen, waren Quanten ein mathematisches Werkzeug, das erklärte, wie Energie emittiert und absorbiert wird, wenn sie mit Materie wechselwirkt. Aber für ihn stand es in keiner Beziehung zu einer physikalischen Wirklichkeit, die dem Licht oder dem elektromagnetischen Feld selbst innewohnte. »Man kann Plancks Aufsatz aus dem Jahr 1900 so verstehen, dass die Quantenhypothese lediglich als mathematisches Hilfsmittel eingeführt wurde, um eine statistische Verteilung zu berechnen, aber nicht als physikalische Hypothese«, schreiben die Wissenschaftshistoriker Gerald Holton und Steven Brush . 19
Für Einstein dagegen war das Lichtquant ein Teil der Wirklichkeit: eine verwirrende, ärgerliche, rätselhafte und manchmal unerträgliche Eigenart des Kosmos. Er ging davon aus, dass diese Energiequanten (die 1926 den Namen »Photonen « erhielten) 20 auch vorhanden seien, wenn das Licht sich durch ein Vakuum bewege. »Wir wollen im Folgenden zeigen, daß die von Hrn. Planck gegebene Bestimmung der Elementarquanta von der von ihm aufgestellten Theorie der ›schwarzen Strahlung‹ bis zu einem gewissen Grade unabhängig ist«, schrieb er. Mit anderen Worten, Einstein vertrat die Ansicht, die Lichtteilchen seien eine Eigenschaft des Lichts selbst und nicht eine Beschreibung der Wechselwirkung zwischen Licht und Materie. 21
Selbst nachdem Einstein seine Abhandlung veröffentlicht hatte, akzeptierte Planck den Sprung nicht. Zwei Jahre später wies Planck den jungen Patentangestellten warnend darauf hin, dass er zu weit gegangen sei und dass Quanten einen Prozess beschrieben, der sich während der Emission oder Absorption vollziehe, aber keine reale Eigenschaft von Strahlung im Vakuum sei. »Denn ich suche die Bedeutung des elementaren Wirkungsquantums (Lichtquants ) nicht im Vakuum , sondern an den Stellen der Absorption u. Emission«, mahnte er. 22
Planck sträubte sich auch weiterhin gegen die Annahme, dass Lichtquanten physikalische Realität besäßen. Acht Jahre nachdem Einstein seinen Artikel veröffentlicht hatte, schlug Planck ihn für einen der begehrten Sitze in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vor. Der Brief, den Planck und andere Befürworter des Antrags geschrieben hatten, war voll des Lobes, doch Planck fügte hinzu: »Daß er in seinen Spekulationen gelegentlich auch einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie z. B. in seiner Hypothese der Lichtquanten , wird man ihm nicht allzu schwer anrechnen dürfen.« 23
Kurz vor seinem Tod dachte Planck daran, dass er so lange vor den Folgen seiner Entdeckung zurückgeschreckt war. »Meine vergeblichen Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie der klassischen Theorie einzugliedern, erstreckten sich auf eine Reihe von Jahren und kosteten mich viel Arbeit«, schrieb er. »Manche Fachgenossen haben darin eine Art Tragik erblickt.«
Ironischerweise wurde Einsteins Situation später ganz ähnlich beschrieben. Als er sich zunehmend ablehnend und skeptisch gegenüber den Quantenentdeckungen verhielt, die er selbst eingeleitet hatte, sagte Born : »Viele von uns empfinden das als tragisch.« 24
Einsteins Theorie führte zu einem Gesetz für den photoelektrischen Effekt , das sich experimentell überprüfen ließ: Gemäß einer einfachen mathematischen Formel, in der das plancksche Wirkungsquantum vorkam, hing die Energie der emittierten Elektronen von der Frequenz des emittierten Lichts ab. In der Folgezeit stellte sich heraus, dass die Formel richtig war. Das entscheidende Experiment führte der Physiker Robert Millikan durch, der später der Direktor des California Institute of Technology wurde und Einstein anzuwerben versuchte.
Doch selbst nachdem er Einsteins photoelektrische Formeln verifiziert hatte, lehnte Millikan die Theorie noch ab. »Trotz des scheinbar vollständigen Erfolgs der Einstein-Gleichungen«, erklärte er, »erweist sich die physikalische Theorie, als deren symbolischer Ausdruck sie gedacht ist, als so unhaltbar, dass Einstein selbst sie, wie ich glaube, nicht mehr vertritt.« 25
Millikan irrte, als er behauptete, Einsteins Formulierung des photoelektrischen Effekts sei aufgegeben worden. Tatsächlich bekam Einstein für diese Entdeckung – das Gesetz des photoelektrischen Effekts – seinen einzigen Nobelpreis . Mit dem Aufkommen der Quantenmechanik in den 1920er-Jahren wurde die Wirklichkeit des Photons ein grundlegendes Element der Physik.
Doch in einem viel wichtigeren Punkt hatte Millikan recht. In zunehmendem Maße fand Einstein den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts mit seinen spukhaften Implikationen beunruhigend. Gegen Ende seines Lebens, als die Quantenmechanik praktisch von jedem lebenden Physiker akzeptiert worden war, schrieb er in einem Brief an seinen guten Freund Michele Besso : »Die ganzen 50 Jahre bewusster Grübelei haben mich der Antwort der Frage ›Was sind Lichtquanten ‹ nicht näher gebracht.« 26
Einstein hatte eine Abhandlung geschrieben, die die Wissenschaft revolutionieren sollte, aber die Promotion war ihm noch nicht gelungen. Daher versuchte er ein weiteres Mal, eine Dissertation zu schreiben, die angenommen wurde.
Ihm war klar, dass er ein sicheres Thema brauchte, kein radikales wie Quanten oder Relativität, daher entschied er sich für den zweiten Aufsatz, an dem er arbeitete: »Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen« . Am 30. April beendete er ihn und reichte ihn im Juli an der Universität Zürich ein. 27
Vielleicht mit Rücksicht auf die konservative Einstellung seines Doktorvaters Alfred Kleiner vermied er nach Möglichkeit die statistischen physikalischen Verfahren, die er in seinen vorhergehenden Aufsätzen (und in der elf Tage später fertiggestellten Abhandlung über die Brown’sche Bewegung ) verwendet hatte, und verließ sich stattdessen hauptsächlich auf die klassische Hydrodynamik . 28 Trotzdem war er noch in der Lage, zu beschreiben, wie sich das Verhalten zahlloser winziger Teilchen (Atome, Moleküle) in beobachtbaren Phänomenen widerspiegelte, und umgekehrt zu erkennen, was beobachtbare Phänomene uns über die Beschaffenheit dieser winzigen, unsichtbaren Teilchen verraten.
Fast ein Jahrhundert zuvor hatte der italienische Naturforscher Amedeo Avogadro (1776 – 1856) die – wie sich herausstellte: richtige – Hypothese aufgestellt, dass gleiche Volumina eines Gases die gleiche Anzahl von Molekülen aufweisen, wenn Temperatur und Druck bei den Messungen gleich sind. Das führte zu einer schwierigen Prüfaufgabe: herauszufinden, wie viele es tatsächlich sind.
Das Volumen, das gewöhnlich gewählt wird, ist das eines Mols des Gases (sein Molekulargewicht in Gramm), und das entspricht bei Standardtemperatur und -druck einem Volumen von 22,4 Litern.. Die Zahl der Moleküle, die unter diesen Normalbedingungen gemessen wurden, hat man später Avogadro -Konstante genannt. Sie genau zu bestimmen, war – und ist noch immer – ziemlich schwierig. Gegenwärtig schätzt man sie auf ungefähr 6,02214 × 1023 . (Das ist eine Riesenzahl: Überschüttete man die Vereinigten Staaten mit so vielen Popcornkernen, wäre die Schicht knapp 15 Kilometer hoch.) 29
Die meisten früheren entsprechenden Messungen an Molekülen waren an Gasen vorgenommen worden, wie Einstein in seinem einleitenden Satz bemerkte, »während die an Flüssigkeiten beobachteten physikalischen Phänomene bis jetzt zur Bestimmung der Molekülgrössen nicht gedient haben«. Mit dieser Dissertation hat Einstein (nach kleinen Korrekturen an den Berechnungen und Daten, die später vorgenommen wurden) als erster Forscher ein brauchbares Ergebnis für Flüssigkeiten erzielt.
Bei seiner Methode verwendete er Daten über die Viskosität einer Flüssigkeit, einem Maß für den Widerstand, den eine Flüssigkeit leistet, wenn man versucht, ein Objekt durch sie hindurchzubewegen. Teer und Melasse sind Beispiele für sehr viskose Flüssigkeiten. Löst man Zucker in Wasser auf, wächst die Viskosität , je sirupartiger die Lösung wird. Einstein stellte sich vor, dass sich die Zuckermoleküle allmählich unter die kleineren Wassermoleküle mischten. So entwickelte er zwei Gleichungen, von denen jede die zwei Unbekannten enthielt – die Größe der Zuckermoleküle und ihre Anzahl im Wasser –, die er bestimmen wollte. Anschließend konnte er seine Gleichungen nach den beiden Unbekannten auflösen und erhielt ein Ergebnis für die Avogadro -Konstante : 2,1 × 1023 .
Das kam dem richtigen Wert leider nicht sehr nahe. Als er die Arbeit im August bei den Annalen der Physik einreichte, kurz nachdem sie von der Universität Zürich angenommen worden war, hielt der Herausgeber Paul Drude (der zum Glück nichts von Einsteins einstigen Plänen wusste, sich über ihn lustig zu machen) den Aufsatz noch zurück, weil ihm einige bessere Daten über die Eigenschaften von Zuckerlösungen bekannt waren. Mit diesen neuen Daten kam Einstein zu einem Ergebnis, das näher an dem richtigen Wert lag: 4,15 × 1023 .
Einige Jahre später überprüfte ein französischer Student den Ansatz experimentell und entdeckte eine Unstimmigkeit. Daher bat Einstein einen Assistenten in Zürich , sich das Ganze noch einmal anzusehen. Dieser fand einen kleinen Fehler, nach dessen Korrektur das Ergebnis 6,56 × 1023 lautete und damit ziemlich respektabel war. 30
Halb im Scherz erzählte Einstein später, Professor Kleiner habe die Dissertation zunächst abgelehnt, weil sie zu kurz sei, daher habe er noch einen Satz hinzugefügt, woraufhin sie prompt angenommen worden sei. Es gibt allerdings keine Belege dafür. 31 Wie dem auch sei, seine Dissertation wurde eine seiner meistzitierten und in der Praxis am häufigsten genutzten Arbeiten, mit Anwendungen auf so vielfältigen Gebieten wie Zementmischung, Milchwirtschaft und Aerosolprodukten. Zwar verhalf ihm die Dissertation nicht zu einer akademischen Stellung, aber sie ermöglichte es ihm, endlich als Dr. Einstein bekannt zu werden.
Elf Tage nach Beendigung seiner Dissertation schloss Einstein eine weitere Abhandlung ab, in der er sich mit unsichtbaren Dingen beschäftigte. Wie stets seit 1901 befasste er sich mit der statistischen Analyse des Zufallsverhaltens von unsichtbaren Teilchen, um zu zeigen, wie es sich in der sichtbaren Welt widerspiegelt.
In dieser Arbeit erklärte Einstein die sogenannte Brown’sche Bewegung , ein Phänomen, an dem sich die Forschung seit fast achtzig Jahren die Zähne ausbiss. Es ging um die Frage, warum kleine, in einer Flüssigkeit suspendierte Teilchen kurze, ruckartige Bewegungen ausführen. Nebenbei bewies er ein für alle Mal, dass Atome und Moleküle tatsächlich als physische Objekte existieren.
Benannt war die Brown’sche Bewegung nach dem schottischen Botaniker Robert Brown , der 1828 detailliert beschrieben hatte, wie winzige Pollenteilchen im Wasser hin und her zucken und wandern, wenn man sie unter einem starken Mikroskop betrachtet. Die Untersuchung wurde mit anderen Teilchen, unter anderem Kalksteinteilchen der Sphinx, wiederholt und mit einer Vielzahl von Erklärungsversuchen bedacht. Vielleicht hatte sie etwas mit winzigen Wasserströmungen oder Einwirkungen des Lichts zu tun. Aber keine dieser Theorien erwies sich als überzeugend.
Als in den 1870er-Jahren die kinetische Theorie entwickelt wurde, um das Verhalten von Gasen durch die Zufallsbewegungen von Molekülen zu erklären, versuchten einige Forscher, sie auch auf die Brown’sche Bewegung anzuwenden. Doch da die suspendierten Teilchen 10.000-mal größer waren als ein Wassermolekül, nahm man an, ein Molekül sei genauso wenig in der Lage, solch ein Teilchen in Bewegung zu versetzen, wie ein Baseball ein Objekt von 800 Meter Durchmesser. 32
Einstein wies nach, dass, auch wenn ein Zusammenstoß das Teilchen nicht von der Stelle bringen konnte, die Wirkung von Millionen Zufallskollisionen pro Sekunde die von Brown beobachteten ruckartigen Bewegungen durchaus erklären konnte. »In dieser Arbeit soll gezeigt werden«, erläuterte er in seinem ersten Satz, »daß nach der molekularkinetischen Theorie der Wärme in Flüssigkeiten suspendierte Körper von mikroskopisch sichtbarer Größe infolge der Molekularbewegung der Wärme Bewegungen von solcher Größe ausführen müssen, daß diese Bewegungen leicht mit dem Mikroskop nachgewiesen werden können.« 33
Er fuhr fort mit einer Aussage, über die man sich bei oberflächlicher Betrachtung wundern dürfte: Seine Arbeit sei nicht als Versuch zu verstehen, die Beobachtungen der Brown’schen Bewegung zu erklären. Tatsächlich verfuhr er, als sei er sich nicht einmal sicher, dass die Bewegungen, die er aus seiner Theorie herleitete, dieselben seien, die Brown beobachtet hatte: »Es ist möglich, daß die hier zu behandelnden Bewegungen mit der sogenannten ›Brownschen Molekularbewegung ‹ identisch sind; die mir erreichbaren Angaben über letztere sind jedoch so ungenau, daß ich mir hierüber kein Urteil bilden konnte.« Später distanzierte er sich noch stärker von der Absicht, er habe die Brown’sche Bewegung erklären wollen: »Dabei entdeckte ich, daß es nach der atomistischen Theorie eine der Beobachtung zugängliche Bewegung suspendierter mikroskopischer Teilchen geben müsse, ohne zu wissen, daß Beobachtungen über die ›Brownsche Bewegung ‹ schon lange bekannt waren.« 34
Auf den ersten Blick erschien die Art, wie er mit der Brown’schen Bewegung umging, seltsam, sogar etwas unaufrichtig. Schließlich hatte er Conrad Habicht wenige Monate zuvor geschrieben: »Es sind unerklärte Bewegungen lebloser kleiner suspendirter Körper in der That beobachtet worden von den Physiologen, welche Bewegungen von ihnen ›Brownsche Molekularbewegung ‹ genannt wird.« Doch Einsteins Anliegen war ehrlich und wichtig: Seine Arbeit begann nicht mit den beobachteten Fakten der Brown’schen Bewegung , um dann eine Erklärung für sie zu entwickeln. Vielmehr handelte es sich um eine Fortsetzung seiner früheren statistischen Analyse, in der es um die Frage ging, wie die Wirkungen von Molekülen in der sichtbaren Welt manifest werden können.
Mit anderen Worten, Einstein wollte deutlich machen, dass er eine Theorie entwickelt hatte, die sich aus bedeutenden Prinzipien und Postulaten ableiten ließ, und nicht eine Theorie, die auf der Basis vorliegender physikalischer Daten entstanden war. (In dem gleichen Geist hatte er klargemacht, dass er in seiner Arbeit über Lichtquanten nicht von den Experimentaldaten ausgegangen war, die Philipp Lenard gesammelt hatte.) Das war eine Klarstellung, auf die er, wie wir sehen werden, genauso großen Wert legte, als er betonte, seine Relativitätstheorie sei nicht aus dem bloßen Versuch hervorgegangen, Experimentalergebnisse über die Lichtgeschwindigkeit und den Äther zu erklären.
Einstein war klar, dass ein Stoß von einem einzigen Wassermolekül bei keinem im Wasser suspendierten Pollenteilchen eine sichtbare Bewegung auslösen konnte. Vielmehr wurde das Teilchen in jedem gegebenen Augenblick auf allen Seiten von Tausenden Molekülen getroffen. Dabei musste es Momente geben, wo viele Stöße vermehrt auf eine bestimmte Seite des Teilchens einwirkten. Schon im nächsten Augenblick konnte eine andere Seite dem stärksten Sperrfeuer ausgesetzt sein.
Das Ergebnis wäre ein zufälliges kleines Schlingern, eine sogenannte Zufallsbewegung (Random Walk ). Am besten lässt sich dieser Vorgang vergegenwärtigen, indem wir uns einen Betrunkenen vorstellen, der an einem Laternenpfahl beginnt und in jeder Sekunde einen taumelnden Schritt in eine zufällig bestimmte Richtung macht. Nach zwei solchen Schritten könnte er durch eine Bewegung nach vorn und eine nach hinten wieder bei der Lampe landen. Oder er könnte einen Schritt nach Westen und einen nach Nordwesten machen. Untersucht man die zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeiten, zeigt sich eine einfache Gesetzmäßigkeit: Statistisch gesehen ist die Entfernung des Betrunkenen von der Lampe proportional zu der Quadratwurzel aus der Zahl der verstrichenen Sekunden. 35
Einstein erkannte, dass es weder möglich noch notwendig war, jedes Zickzack-Manöver der Brown’schen Bewegung oder die Geschwindigkeit der Teilchen in jedem Augenblick zu messen. Dafür war es relativ leicht, die Gesamtdistanzen zu messen, die die zufällig umhertaumelnden Teilchen zurücklegten – Distanzen, die mit der Zeit anwuchsen. Einstein wollte konkrete Vorhersagen aufstellen, die sich überprüfen ließen, also verwendete er sein theoretisches Wissen und die Experimentaldaten über Viskosität und Diffusionsraten , um zu genauen Vorhersagen zu gelangen, die angaben, welche Distanz ein Teilchen abhängig von seiner Größe und der Temperatur der Flüssigkeit zurücklegen musste. Beispielsweise erklärte er von einem Teilchen mit einem Durchmesser von einem Tausendstelmillimeter in Wasser von 17 Grad: »Die mittlere Verschiebung in 1 Min. wäre also ca. 6 Mikron.«
Das war eine Aussage von enormer Tragweite, die sich tatsächlich überprüfen ließ. »Wenn sich die hier zu behandelnde Bewegung (…) wirklich beobachten läßt«, schrieb er, »so ist die klassische Thermodynamik (…) nicht mehr als genau gültig anzusehen.« Da Einsteins Stärke eher in der Theorie als im Experiment lag, beendete er seine Arbeit mit einem frommen Wunsch: »Möge es bald einem Forscher gelingen, die hier aufgeworfene, für die Theorie der Wärme wichtige Frage zu entscheiden.«
Binnen wenigen Monaten hatte der deutsche Experimentalphysiker Henry Siedentopf Einsteins Vorhersagen mit einem starken Mikroskop bestätigt. Damit war die physische Realität von Atomen und Molekülen in der Praxis schlüssig bewiesen. Damals habe man Atome und Moleküle durchaus noch nicht als real angesehen, schrieb der Physiker Max Born später. »Ich denke, diese Forschungen Einsteins haben mehr als alles andere dazu beigetragen, die Physiker von der Realität der Atome und Moleküle (…) zu überzeugen.« 36
Obendrein lieferte Einstein in dieser Arbeit auch noch eine Methode, die Avogadro -Konstante zu bestimmen. »Sie quillt vor neuen Ideen geradezu über«, sagte Abraham Pais von der Arbeit. »Die Schlussfolgerung, dass die Avogadro -Zahl im Wesentlichen aus Beobachtungen mit einem gewöhnlichen Mikroskop bestimmt werden kann, erstaunt immer von Neuem, sogar wenn man die Arbeit zuvor gelesen hat und ihre Quintessenz bereits kennt.«
Zu den Stärken des Einstein’schen Denkens gehörte, dass es gleichzeitig mit einer Vielfalt von Ideen jonglieren konnte. Selbst als er noch über tanzende Teilchen in einer Flüssigkeit nachdachte, rang er bereits mit einer anderen Theorie, die bewegte Körper und Lichtgeschwindigkeit betraf. Einen Tag nachdem er die Arbeit über die Brown’sche Bewegung eingereicht hatte, überfiel ihn ein neuer Gedankensturm, als er sich gerade mit seinem Freund Michele Besso unterhielt. Er sollte, wie er in seinem berühmten Brief an Conrad Habicht von diesem Monat schrieb, eine »Modifikation der Lehre von Raum und Zeit« bewirken.