Im Jahr 1905 erlebte Einstein einen außergewöhnlichen Kreativitätsschub. Nach der Entwicklung einer revolutionären Quantentheorie des Lichts half er, die Existenz von Atomen nachzuweisen, erklärte die Brown’sche Bewegung , stellte den Begriff von Raum und Zeit auf den Kopf und entwickelte die Formel, die die bekannteste Gleichung der Welt werden sollte. Laut seiner Schwester hatte Einstein gehofft, diese Flut von Aufsätzen in einer sehr angesehenen Zeitschrift würde ihn aus der Anonymität eines Patentexperten III . Klasse herausheben und ihm akademische Anerkennung und vielleicht sogar eine Stellung an einer Universität bringen. »Aber er wurde sehr enttäuscht«, berichtete sie. »Eisiges Schweigen folgte dieser Veröffentlichung.« 1
So ganz richtig war das nicht. Eine kleine, aber auserwählte Schar von Physikern nahm durchaus Notiz von Einsteins Arbeiten, und einer von ihnen erwies sich dank einer glücklichen Fügung als der wichtigste Bewunderer, der überhaupt möglich war: Max Planck , Europas verehrter Monarch der theoretischen Physik , dessen geheimnisvolle mathematische Konstante die Schwarzkörperstrahlung erklärte. Einstein hatte die Konstante in eine radikale neue Wirklichkeit der Natur verwandelt. Als Mitglied des Herausgebergremiums der Annalen der Physik verantwortlich für eingereichte Beiträge aus der theoretischen Physik , hatte Planck Einsteins Arbeiten geprüft, und die eine über Relativität hatte »sofort meine rege Aufmerksamkeit erweckt«, berichtete er später. Sobald sie erschienen war, hielt Planck eine Vorlesung über Relativität an der Universität Berlin . 2
Planck wurde der erste Physiker, der auf Einsteins Theorie aufbaute. Im Frühjahr 1906 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er die Auffassung vertrat, dass sich die Relativität mit dem Prinzip der kleinsten Wirkung vertrage, einem Grundpfeiler der Physik, nach dem Licht oder irgendein bewegtes Objekt zwischen zwei Punkten dem leichtesten Weg folgt. 3
Plancks Arbeit trug nicht nur zur Entwicklung der Relativitätstheorie bei, sie verhalf ihr auch zu Anerkennung bei anderen Physikern. Welche Enttäuschung Maja Einstein auch immer bei ihrem Bruder entdeckt haben mochte, sie verflüchtigte sich. »Meine Arbeiten finden viel Würdigung und geben Anlass zu weiteren Untersuchungen«, schrieb er begeistert an Solovine . »Professor Planck (Berlin ) schrieb mir neulich darüber.« 4
Schon bald befand sich der stolze Patentbeamte in regem Briefwechsel mit dem bedeutenden Professor. Als ein anderer theoretischer Physiker Plancks Behauptung anzweifelte, in der Relativitätstheorie gelte auch das Prinzip der geringsten Wirkung, verteidigte Einstein Plancks Auffassung, indem er dem Skeptiker diese auf einer Postkarte mitteilte. Planck war erfreut. »Solange die Vertreter des Relativitätsprinzips noch so ein bescheidenes Häuflein bilden, wie es jetzt der Fall ist, ist es von doppelter Wichtigkeit, daß sie miteinander übereinstimmen.« Freundlich fügte er hinzu, er hoffe, Bern im folgenden Jahr einen Besuch abzustatten und Einstein persönlich kennenzulernen. 5
Am Ende schaffte Planck es doch nicht nach Bern , aber statt seiner kam sein überaus ernsthafter Assistent Max Laue . 6 Der hatte bereits mit Einstein über dessen Lichtquanten -Arbeit korrespondiert. Laue hatte sich mit Einsteins »heuristischem Gesichtspunkt« einverstanden erklärt, nach dem »Strahlungsenergie nur in gewissen endlichen Quanten absorbiert und emittiert werden kann«.
Doch wie Planck vertrat Laue entschieden den Standpunkt, Einstein irre, wenn er annehme, die Quanten seien für die Strahlung selbst charakteristisch. Stattdessen behauptete Laue , die Quanten beschrieben lediglich, wie Strahlung von einem Stück Materie emittiert oder absorbiert werde. »Nun ist dies keine Eigentümlichkeit der elektromagnetischen Vorgänge im Vakuum , sondern der absorbierenden oder emittierenden Materie«, schrieb er, »die Strahlung besteht daher nicht aus Lichtquanten , wie in § 6 der ersten Arbeit steht.« 7 (In diesem Abschnitt hatte Einstein erklärt: »Strahlung […] verhält sich in wärmetheoretischer Beziehung so, wie wenn sie aus voneinander unabhängigen Energiequanten […] bestünde.«)
Als Laue seinen Besuch im Sommer 1907 vorbereitete, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass Einstein nicht an der Universität Bern tätig war, sondern im Patentamt , das im dritten Stock des Post- und Telegrafengebäudes lag. Als er Einstein dann schließlich traf, wurde seine Verwunderung nicht geringer. »Der junge Mann, der mir entgegenkam, machte mir einen so unerwarteten Eindruck, daß ich nicht glaubte, er könne der Vater der Relativitätstheorie sein«, sagte Laue. »So ließ ich ihn an mir vorüberziehen.« Nach einer Weile schlenderte Einstein wieder durch den Empfangsbereich, und da wurde Laue schließlich klar, wer er war.
Stundenlang gingen sie spazieren und unterhielten sich. Irgendwann bot Einstein seinem Begleiter eine Zigarre an, die diesem aber so wenig schmeckte, dass er sie »›versehentlich‹ von der Aarebrücke in die Aare hinunterfallen ließ«. Einsteins Theorien dagegen gefielen ihm ausnehmend gut. »In den ersten beiden Stunden unserer Unterhaltung warf er die gesamte Mechanik über den Haufen«, schrieb Laue später. Tatsächlich war er so fasziniert, dass er im Laufe der nächsten vier Jahre acht Artikel über Einsteins Relativitätstheorie veröffentlichte und ein guter Freund wurde. 8
Einige Theoretiker fanden die erstaunliche Flut von Arbeiten aus dem Patentamt unangenehm abstrakt. Arnold Sommerfeld , später ein Freund, gehörte zu den Ersten, die etwas charakteristisch Jüdisches in Einsteins theoretischem Ansatz zu erkennen meinten, ein Thema, das später von Antisemiten aufgegriffen wurde. Es fehle ihm an der Achtung für geordnete und absolute Begriffe und an einem soliden Fundament. »So genial sie sind, so scheint mir doch in dieser unkonstruierbaren und anschauungslosen Dogmatik fast etwas Ungesundes zu liegen. Ein Engländer hätte schwerlich diese Theorie gegeben, vielleicht spricht sich hierin, wie bei Cohn , die abstrakt-begriffliche Art des Semiten aus.« 9
Doch all dies Interesse verhalf Einstein weder zu Berühmtheit noch zu akademischen Stellenangeboten. »Ich muss Ihnen offen sagen, dass ich mit Staunen gelesen habe, dass Sie 8 Stunden im Tage in einem Bureau sitzen müssen«, schrieb ein anderer junger Physiker, der vorhatte, ihn zu besuchen. »Es gibt oft einen Treppenwitz in der Geschichte.« 10 Doch da er endlich promoviert worden war, wurde er jetzt im Patentamt wenigstens vom technischen Experten III . Klasse zum technischen Experten II . Klasse befördert, was ihm eine beträchtliche Gehaltserhöhung von 1000 Franken eintrug, sodass er jetzt jährlich 4500 Franken erhielt. 11
Seine Kreativität war verblüffend. Neben den sechs Tagen im Patentamt blieb ihm noch Zeit, weiterhin eine Flut von Artikeln und Rezensionen zu produzieren: sechs im Jahr 1906 und weitere zehn 1907. Mindestens einmal pro Woche spielte er in einem Streichquartett. Und er kümmerte sich liebevoll um seinen dreijährigen Sohn , den er stolz als frech bezeichnete. An ihre Freundin Helene Savić schrieb Marić : »Mein Mann spielt manchmal während seiner ganzen Freizeit zu Hause mit dem Jungen .« 12
Im Sommer 1907 fand Einstein obendrein noch die Zeit, sich mit einem Projekt zu beschäftigen, das ihm vielleicht, wenn das Schicksal etwas mutwilliger gewesen wäre, einen neuen Berufsweg eröffnet hätte: den eines Erfinders und Verkäufers von elektrischen Geräten, ganz in der Nachfolge von Onkel und Vater . In Zusammenarbeit mit Conrad Habicht , dem Mitglied der Akademie Olympia , und dessen Bruder Paul entwickelte Einstein ein Gerät zur Verstärkung winziger elektrischer Ladungen, die man dann besser messen und untersuchen konnte. Es war eher für wissenschaftliche als praktische Zwecke bestimmt; die drei wollten ein Laborgerät entwickeln, das Experimente mit kleinen elektrischen Schwankungen ermöglichte.
Das Konzept war einfach. Wenn zwei Metallstreifen einander angenähert werden, wird die elektrische Ladung des einen eine entgegengesetzte Ladung im anderen induzieren und diese dann auf ein anderes Plättchen übertragen. Dieser Prozess sollte wiederholt werden, bis die ursprünglich winzige Ladung um ein Vielfaches verstärkt und leicht messbar wäre. Der Trick funktionierte tatsächlich. 13
Mit den Genen des Vaters , den Erfahrungen in dessen Unternehmen und den Jahren im Patentamt besaß Einstein die Voraussetzungen, um ein technisches Genie zu werden. Doch wie sich herausstellte, eignete er sich besser für die Theorie. Zum Glück war Paul Habicht ein guter Techniker, und im August 1907 war ein Prototyp des Maschinchens fertig. »Ich bin nicht wenig erstaunt über die rasende Schnelligkeit, mit der Ihr das Maschinchen gemacht habt«, schrieb Einstein. Unglücklicherweise funktionierte es nicht. »Mörderische Neugier zwingt mich, Euch zu fragen, was Ihr denkt und treibet«, fragte Einstein einen Monat später, als die Brüder versuchten, den Fehler zu beseitigen.
Während des Jahrs 1908 herrschte ein reger Briefwechsel zwischen Einstein und den Habichts , angereichert mit komplizierten Diagrammen und einer Fülle von Ideen, wie man das Gerät zum Laufen bringen könnte. In einer Zeitschrift veröffentlichte Einstein eine Beschreibung, die vorübergehend die Aussicht auf einen Geldgeber eröffnete. Im Oktober gelang es Paul Habicht , eine bessere Version zu konstruieren, aber sie hatten Schwierigkeiten, die Ladung zu erhalten. Er brachte das Maschinchen nach Bern , wo Einstein ein Labor in einer örtlichen Schule mit Beschlag belegte und einen Mechaniker einspannte. Im November schien das Gerät zu funktionieren. Als sie ein Jahr später ein Patent hatten, begannen sie, einige Exemplare für den Verkauf herzustellen. Aber es fand nie wirklich Anklang auf dem Markt, und Einstein verlor schließlich das Interesse. 14
Diese Ausflüge in die Welt des Praktischen mögen ja Spaß gemacht haben, aber Einsteins stolze Distanz zur Priesterschaft der akademischen Physiker begann allmählich mehr Nachteile als Vorteile zu zeitigen. In einer Arbeit, die er im Frühjahr 1907 schrieb, bekannte er am Anfang fröhlich und selbstgefällig, er habe weder die Möglichkeit – mangels einer Bibliothek – noch den Wunsch, in Erfahrung zu bringen, was andere Theoretiker zu dem Thema geschrieben hätten. Er vermute, so schrieb er, »daß das Nachfolgende zum Teil bereits von anderen Autoren klargestellt sein dürfte«, und glaube daher, »von einer für mich sehr umständlichen Durchmusterung der Literatur absehen zu dürfen, zumal zu hoffen ist, daß diese Lücke von anderen Autoren noch ausgefüllt werden wird«. Doch als er den Auftrag erhielt, für das Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik einen Beitrag über die Relativitätstheorie zu schreiben, war er nicht ganz so keck, als er den Herausgeber warnend darauf hinwies, dass er möglicherweise nicht die ganze Literatur berücksichtigt habe. »Auch muss ich bemerken, dass ich leider nicht in der Lage bin, mich über alles in der Sache Erschienene zu orientieren«, schrieb er, »weil in meiner freien Zeit die Bibliothek geschlossen ist.« 15
In diesem Jahr bewarb er sich um eine Stellung als Privatdozent an der Universität Bern , die niedrigste Sprosse auf der akademischen Erfolgsleiter – man hält Vorlesungen und bezieht ein kleines Honorar von den freiwilligen Hörern. An den meisten europäischen Universitäten half eine solche Lehrzeit bei der Bewerbung um einen Lehrstuhl. Dem Bewerbungsschreiben für die Privatdozentur fügte Einstein siebzehn Abhandlungen bei, die er veröffentlicht hatte, einschließlich der Arbeiten über die Relativitätstheorie und die Lichtquanten . Außerdem erwartete man von ihm, dass er auch eine unveröffentlichte Arbeit vorlegte – seine Habilitationsschrift –, aber er beschloss, auf sie zu verzichten, weil bei Kandidaten, die »andere herausragende Voraussetzungen« vorzuweisen hatten, auf die Bedingung manchmal verzichtet wurde.
Nur ein Professor der Fakultät unterstützte Einsteins Antrag, ihn ohne Habilitationsschrift einzustellen, »in Anbetracht der bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen des Herrn Einstein«. Die anderen entschieden dagegen, und auf die Vorbedingung wurde nicht verzichtet. Wie nicht anders zu erwarten, fand Einstein die Angelegenheit »amüsant«. Er verfasste keine Habilitationsschrift und bekam den Posten nicht. 16
Einsteins langer Weg zur allgemeinen Relativitätstheorie begann im November 1907, als er sich mühte, die Abgabefrist eines Beitrags über seine spezielle Relativitätstheorie für ein wissenschaftliches Jahrbuch einzuhalten. Zwei Einschränkungen der Theorie machten ihm noch zu schaffen: Sie galt nur für Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit (Wirkung und Verhalten von Dingen waren anders, wenn sich Tempo und Richtung der eigenen Bewegung veränderten), und sie war nicht mit Newtons Gravitationstheorie vereinbar.
»Ich saß in meinem Stuhl im Patentamt , als ich plötzlich einen Einfall hatte«, erinnerte er sich. »Wenn sich jemand im freien Fall befindet, wird er sein eigenes Gewicht nicht spüren.« Diese Erkenntnis »verblüffte« ihn, bescherte ihm acht Jahre schwierigster Mühen »und trieb mich auf den Weg zu einer Gravitationstheorie «. 17 Später nannte er sie überschwänglich den »glücklichsten Gedanken meines Lebens«. 18 Die Erzählung vom fallenden Mann bekam Symbolcharakter, und in einigen Berichten ist tatsächlich von einem Maler die Rede, der vom Dach eines Mehrfamiliengebäudes unweit des Patentbüros gefallen sei. 19 Wahrscheinlich passierte hier, was auch mit anderen bekannten Narrativen über die Entdeckung der Gravitation geschah – Galilei , der Gegenstände vom Turm in Pisa fallen ließ, und Newton , dem ein Apfel auf den Kopf fiel 20 –, sie wurden von der volkstümlichen Fantasie ausgeschmückt, obwohl sie in Wirklichkeit eher Gedankenexperimente waren als reale Ereignisse. Trotz Einsteins Neigung, die Wissenschaft dem rein Persönlichen vorzuziehen, ist nicht davon auszugehen, dass er beim Anblick eines Menschen, der tatsächlich vom Dach fiel, an seine Gravitationstheorie gedacht, und noch weniger, dass er dann vom »glücklichsten Gedanken« seines Lebens gesprochen hätte.
Einstein arbeitete sein Gedankenexperiment aus: Der stürzende Mann befand sich jetzt in einem geschlossenen Kasten, etwa einem Fahrstuhl im freien Fall über der Erde. In diesem fallenden Kasten würde sich der Insasse (zumindest bis zum Aufschlag) schwerelos fühlen. Jeder Gegenstand, den er aus der Tasche zöge und losließe, würde neben ihm schweben.
Einstein veränderte das Bild ein wenig, indem er sich einen Mann vorstellte, der in einem geschlossenen Kasten im All schwebt, »weit weg von Sternen und erheblichen Massen«. Er würde das gleiche Gefühl der Schwerelosigkeit erleben. »Für diesen [Beobachter] gibt es natürlich keine Schwere. Er muß sich mit Schnüren am Boden befestigen, wenn er nicht beim leisesten Stoß gegen den Boden langsam gegen die Decke des Zimmers entschweben will.«
Nun stellte Einstein sich vor, dass man ein Seil am Dach des Kastens befestigt und ihn mit konstanter Kraft nach oben zieht. »Dann beginnt der Kasten samt dem Beobachter in gleichförmig beschleunigtem Fluge nach ›oben‹ zu fliegen.« Der Mensch im Inneren spürt, dass er nach unten gedrückt wird. »Er steht dann im Kasten genau wie einer in einem Zimmer eines Haus auf unserer Erde steht.« Wenn er etwas aus der Tasche zieht und loslässt, fällt es auf den Boden – und zwar »in beschleunigter Relativbewegung«, die unabhängig vom Gewicht gleich ist, so wie es Galilei im Fall der Schwerkraft entdeckt hat. »Der Mann im Kasten wird also, gestützt auf seine Kenntnisse vom Schwerefelde (…), zu dem Ergebnis kommen, daß er samt dem Kasten sich in einem ziemlich konstanten Schwerefelde befinde. Er wird allerdings einen Augenblick verwundert sein darüber, daß der Kasten in diesem Schwerefelde nicht falle. Da entdeckt er aber den Haken in der Mitte der Decke und das an demselben befestigte gespannte Seil, und er kommt folgerichtig zu dem Ergebnis, daß der Kasten in dem Schwerefeld ruhend aufgehängt sei.«
»Dürfen wir über den Mann lächeln und sagen, er befinde sich mit seiner Auffassung im Irrtum?«, fragte Einstein. Wie in der speziellen Relativitätstheorie gibt es weder richtig noch falsch. »Wir müssen zugeben, daß seine Auffassungsweise weder gegen die Vernunft noch gegen die bekannten mechanischen Gesetze verstößt.« 21
Wie sich Einstein auf eine andere, ähnliche Weise mit dieser Frage befasste, war typisch für seinen Einfallsreichtum: Er untersuchte eine Erscheinung, die so bekannt war, dass sich kaum ein Wissenschaftler jemals Gedanken darüber gemacht hatte. Jedes Objekt hat eine »schwere Masse«, die sein Gewicht auf der Erdoberfläche bestimmt oder, allgemeiner, die Anziehungskraft zwischen ihm und einem beliebigen anderen Objekt. Außerdem besitzt es eine »träge Masse«, die bestimmt, wie viel Kraft aufgewendet werden muss, um es zu beschleunigen . Wie bereits Newton feststellte, ist die träge Masse dabei immer gleich der schweren Masse, auch wenn beide ganz unterschiedlich definiert sind. Offenkundig war das mehr als ein bloßer Zufall, trotzdem hatte noch niemand wirklich erklärt, warum sich das so verhält.
Unzufrieden mit zwei Erklärungen für etwas, das ein und dasselbe Phänomen zu sein schien, ging Einstein der Äquivalenz von träger Masse und schwerer Masse durch eines seiner Gedankenexperimente auf den Grund. Wenn wir uns vorstellen, dass der geschlossene Fahrstuhl irgendwo im All, wo es keine Gravitation gibt, aufwärts beschleunigt wird, dann ist die abwärts gerichtete Kraft, die der Mann im Inneren verspürt (oder die Kraft, die an einem mit einem Strick an der Decke aufgehängten Strick nach unten zieht), der trägen Masse zuzuschreiben. Nun ist die träge Masse immer gleich der schweren Masse. »Aus dieser Korrespondenz folgt«, sagte Einstein, »daß es unmöglich ist, durch Experimente herauszufinden, ob ein gegebenes Koordinatensystem beschleunigt wird oder ob (…) die beobachteten Effekte auf ein Gravitationsfeld zurückzuführen sind.« 22
Das nannte Einstein »Äquivalenzprinzip «. 23 Die lokalen Effekte von Gravitation und Beschleunigung sind äquivalent. Auf dieser Erkenntnis baute sein Versuch auf, die Relativitätstheorie so zu verallgemeinern, dass sie nicht nur auf Systeme beschränkt war, die sich gleichförmig bewegen. Die entscheidende Erkenntnis, zu der er im Laufe der nächsten acht Jahre gelangen sollte, lautete: »Die Effekte, die wir der Gravitation zuschreiben, und die Effekte, die wir der Beschleunigung zuschreiben, werden durch ein und dieselbe Struktur hervorgebracht.« 24
Der Ansatz, den Einstein zur Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie wählte, zeigt abermals, wie sein Verstand arbeitete:
Er war höchst unzufrieden, wenn es zwei voneinander unabhängige Theorien für das gleiche beobachtbare Phänomen gab. Das war der Fall, als ein bewegter Leiter oder ein bewegter Magnet den gleichen beobachtbaren elektrischen Strom erzeugte – ein Problem, das er durch die spezielle Relativitätstheorie löste. Jetzt hatte er Schwierigkeiten mit den unterschiedlichen Definitionen von träger und schwerer Masse, die er durch die Entwicklung des Äquivalenzprinzips beseitigte.
Er war ähnlich unglücklich, wenn eine Theorie Unterschiede machte, die in der Natur nicht zu beobachten waren. So war es mit Beobachtern in gleichförmiger Bewegung gewesen: Es gab keine Möglichkeit zu entscheiden, wer in Ruhe und wer in Bewegung war. Offenbar verhielt es sich jetzt ähnlich mit Beobachtern in beschleunigter Bewegung: Es ließ sich beim besten Willen nicht entscheiden, wer beschleunigt wurde und wer sich in einem Gravitationsfeld befand.
Er war bestrebt, Theorien zu verallgemeinern, statt sich mit Situationen zufriedenzugeben, in denen sie auf einen bestimmten Fall beschränkt waren. Er war nicht damit einverstanden, dass ein Satz von Prinzipien für den Sonderfall der Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit und ein anderer Satz für alle anderen Arten von Bewegungen gelten sollte. Sein Leben war eine ständige Suche nach einheitlichen Theorien.
Im November 1907, als er bemüht war, die Ablieferungsfrist einzuhalten, die ihm für seinen Beitrag über die Relativitätstheorie in dem Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik gesetzt war, entwickelte er in dem fünften Abschnitt einige neue Ideen. »Bisher haben wir das Prinzip der Relativität (…) nur auf beschleunigungsfreie Bezugsysteme angewendet«, begann er. »Ist es denkbar, daß das Prinzip der Relativität auch für Systeme gilt, welche relativ zueinander beschleunigt sind?«
Man stelle sich zwei Systeme vor, sagte er, das eine werde beschleunigt, und das andere ruhe in einem Gravitationsfeld . 25 Es gebe kein physikalisches Experiment, durch das sich die beiden Situationen unterscheiden ließen. »[Wir] wollen daher im folgenden die völlige physikalische Gleichwertigkeit von Gravitationsfeld und entsprechender Beschleunigung des Bezugsystems annehmen.«
Anhand einiger Berechnungen, die Einstein an dem beschleunigten System vornahm, konnte er zeigen, dass Uhren, wenn seine Berechnungen stimmten, in einem stärkeren Gravitationsfeld langsamer laufen sollten. Er machte noch weitere Vorhersagen, die sich überprüfen ließen, unter anderem die Ablenkung von Licht durch Gravitation und die leichte Zunahme der Wellenlänge von Licht, das von einer massereichen Quelle wie der Sonne emittiert wird – ein Phänomen, das später als Gravitations -Rotverschiebung bezeichnet wurde. »Ich dagegen bin auf Grund einiger Spintisiererei, die zwar etwas gewagt ist, aber doch manches für sich hat, zu der Ansicht gekommen, dass die Gravitations -Potentialdifferenz Ursache der Linienverschiebung sein könne«, erläuterte er einem Kollegen. »Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch eine Krümmung der Lichtstrahlen durch Schwerefelder.« 26
Weitere acht Jahre, bis zum Dezember 1915, sollte Einstein noch benötigen, um die Grundlagen seiner Theorie auszuarbeiten und die mathematischen Voraussetzungen zu entwickeln, die er für ihre Formulierung brauchte. Dann dauerte es noch einmal vier Jahre, bis seine aufsehenerregendste Vorhersage, das Ausmaß der Ablenkung, die das Licht durch Gravitation erfährt, anhand von dramatischen Beobachtungen bestätigt wurde. Doch zumindest hatte Einstein jetzt eine konkrete Vorstellung. Der Weg war vorgezeichnet, auf dem ihm eine der elegantesten und eindrucksvollsten Entdeckungen der Physikgeschichte gelingen sollte: die allgemeine Relativitätstheorie .
Anfang 1908, als bereits akademische Größen wie Max Planck und Wilhelm Wien ihn anschrieben, um Näheres über seine Theorie zu erfahren, machte sich Einstein wohl keine großen Hoffnungen mehr auf eine Professur. Stattdessen hatte er begonnen – man mag es kaum glauben –, sich nach einer Stellung als Lehrer an einem Gymnasium umzusehen. »Ich komme (…) auf solche Gelüste nur«, schrieb er an Marcel Grossmann , der ihm geholfen hatte, den Posten im Patentamt zu bekommen, »durch den sehnlichen Wunsch, meine private wissenschaftliche Beschäftigung unter weniger ungünstigen Bedingungen fortsetzen zu können.«
Er wollte gerne an das Technikum in Winterthur zurück, in dem er kurzzeitig als Aushilfe gearbeitet hatte. »Wie macht man das?«, fragte er Grossmann . »Kann ich da vielleicht jemanden aufsuchen, um ihm den hohen Wert meiner löblichen Person als Lehrer und Bürger mündlich zu demonstrieren? Wer wär der betreffende? Mache ich nicht auf ihn wahrscheinlich einen schlechten Eindruck (kein Schweizer-deutsch, semitisches Aussehen etc.)?« Zwar hatte er Arbeiten veröffentlicht, die die Physik verwandelten, aber er wusste nicht, ob ihm das helfen könnte. »Hätte es ferner Sinn, wenn ich bei dieser Gelegenheit meine wissenschaftlichen Arbeiten herausstreichen würde?« 27
Er bewarb sich auch auf eine ausgeschriebene »Lehrstelle für Mathematik und darstellende Geometrie « an einem Gymnasium in Zürich , wobei er hinzufügte, dass er auch bereit wäre, »in Physik zu unterrichten«. Am Ende entschloss er sich, alle Artikel beizufügen, die er bis dahin geschrieben hatte, einschließlich der Arbeit über die spezielle Relativitätstheorie . Es gab einundzwanzig Bewerber. Er kam noch nicht einmal unter die drei Finalisten. 28
Daher überwand Einstein schließlich seinen Stolz und verfasste eine Habilitationsschrift , um Privatdozent in Bern werden zu können. Dem Förderer, der ihn bei seinem ersten Versuch unterstützt hatte, erklärte er: »Mein Gespräch mit Ihnen in der Stadtbibliothek sowie der Rat von mehreren Freunden haben mich nun veranlasst, ein zweites Mal den Entschluss zu wechseln und es nun doch mit der Habilitation an der Bernischen Universität zu versuchen.« 29
Die Schrift, die er einreichte, eine erweiterte Version seiner revolutionären Arbeit über Lichtquanten , wurde sofort akzeptiert, und Ende Februar 1908 ernannte man ihn zum Privatdozenten. Endlich hatte er die Mauern, zumindest die äußere Mauer, der akademischen Welt überwunden. Doch leider warf seine Stellung nicht genug ab oder war ihm bedeutend genug, um ihm zu ermöglichen, seine Tätigkeit im Patentamt aufzugeben. Seine Vorlesungen an der Universität Bern wurden einfach eine Pflicht mehr.
Im Sommer 1908 war sein Thema die Wärmetheorie ; die Vorlesungen fanden am Dienstag und Samstag um 7 Uhr morgens statt. Ursprünglich waren es nur drei Teilnehmer: Michele Besso und zwei andere Kollegen aus dem Patentamt . Im Wintersemester wechselte er zur Strahlungstheorie über, und seine drei Studenten wurden durch einen echten Studenten namens Max Stern ergänzt. Im Sommer 1909 war Stern der einzige Hörer, und Einstein brach seine Vorlesung ab. In der Zwischenzeit hatte er sein allbekanntes professorales Erscheinungsbild angenommen: Haar wie Kleidung überließ er ihrer natürlichen Tendenz zur Entropie . 30
Alfred Kleiner , der Physikprofessor an der Universität Zürich , der Einstein bei seiner Promotion geholfen hatte, ermutigte ihn jetzt, an seiner Position als Privatdozent festzuhalten. 31 Hartnäckig bemühte er sich, die Züricher Behörden davon zu überzeugen, dass es dem Ruf der Universität zugutekäme, wenn man einen Lehrstuhl für theoretische Physik einrichtete. Es war keine ordentliche Professur, sondern nur ein Extraordinariat unter Kleiner .
Natürlich war Einstein der geeignete Mann, aber es gab ein Hindernis. Kleiner hatte eigentlich einen anderen Kandidaten im Auge gehabt: seinen Assistenten Friedrich Adler , einen blassen, politisch leidenschaftlich engagierten Wissenschaftler, der mit Einstein befreundet gewesen war, als sie beide am Polytechnikum studiert hatten. Adler , dessen Vater Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich war, fühlte sich stärker zur politischen Philosophie als zur theoretischen Physik hingezogen. Daher suchte er Kleiner eines Morgens im Juni 1908 auf und kam mit diesem zusammen zu dem Fazit, dass er für diese Position weniger geeignet sei als Einstein.
In einem Brief an den Vater berichtete Adler von der Unterredung und meinte, Einstein habe »kein Verständnis, mit den Leuten umzugehen« und sei »von den Professoren am Polytechnikum recht verächtlich behandelt worden«. Aber Adler erklärte, Einstein verdiene die Stellung aufgrund seiner Begabung und werde sie vermutlich auch bekommen. Mit den Professoren verhalte es sich so, »daß sie sich einerseits Gewissensbisse machen, wie sie ihn früher behandelt, andererseits der Skandal nicht nur hier, sondern in Deutschland empfunden wird, dass so ein Mann im Patentamt sitzen soll«. 32
Dabei erweckte Adler bei der Züricher Behörde – aber auch sonst bei aller Welt – den Eindruck, dass er offiziell für seinen Freund Platz mache. »Wenn ein Mann wie Einstein für unsere Universität zu haben ist, wäre es unsinnig, mich zu ernennen«, schrieb er. Das löste das politische Problem des für das Bildungswesen zuständigen sozialdemokratischen Politikers. Denn eigentlich »wollte ihn Regierungsrat Ernst gerne berufen, da er sein Parteigenosse war«, erklärte Einstein in einem Brief an Michele Besso . »Er aber sagte Ernst gegenüber so über sich und mich aus, dass es Ernst unmöglich war, für seine Berufung einzutreten.« 33
So kam es, dass Kleiner Ende Juni 1908 von Zürich nach Bern reiste, um sich eine Vorlesung des Privatdozenten Einstein anzuhören oder um, wie Einstein es ausdrückte, »das Tier zu visitieren«. Leider hinterließ er nicht den besten Eindruck. »Damals habe ich wirklich nicht himmlisch gelesen«, klagte Einstein einem Freund gegenüber, »teils, weil ich nicht sehr gut vorbereitet war, teils weil mir der Zustand des Ergründet-Werden-Sollens etwas auf die Nerven ging.« Stirnrunzelnd lauschte Kleiner seinen Ausführungen und teilte Einstein nach der Vorlesung mit, dass seine Lehrweise nicht ausreiche, um ihn für eine Professur zu qualifizieren. Seelenruhig antwortete Einstein ihm, dass er die Stellung »für ziemlich unnötig« halte. 34
Kleiner kehrte nach Zürich zurück und berichtete, Einstein »hält Monologe«; es sei für ihn noch »ein langer Weg bis zum Lehrer«. Damit schienen sich seine Aussichten erledigt zu haben. Adler teilte seinem einflussreichen Vater mit: »Die Lage hat sich daher geändert und der Fall Einstein ist erledigt.« Einstein gab sich gleichmütig. »Die Geschichte mit der Professur ist ins Wasser gefallen, was mir aber ganz gleich ist«, schrieb er an einen Freund. »Es gibt ohne mich auch schon Schulmeister genug.« 35
Tatsächlich war Einstein verärgert, und das umso mehr, als er hörte, dass Kleiners Kritik an seinen Lehrfähigkeiten weithin die Runde machte, sogar in Deutschland. Daher schrieb er an Kleiner und warf ihm ungehalten vor, »dass er ungünstige Gerüchte über mich ausstreue«. Er hatte ohnehin schon Schwierigkeiten, eine angemessene akademische Stellung zu bekommen, und Kleiners Bewertung schien es ihm unmöglich zu machen.
Kleiners Kritik war nicht völlig unbegründet. Einstein war nie ein begnadeter Lehrer. Seine Vorlesungen galten als unorganisiert, bis sein Berühmtheitsgrad dafür sorgte, das jedes Stocken und Straucheln in eine liebenswerte Anekdote verwandelt wurde. Trotzdem lenkte Kleiner ein. Er sagte, er werde ihm gerne helfen, die Züricher Stellung zu bekommen, wenn er ihm nur »einiges Lehrtalent« zeigen könne.
Daraufhin schlug Einstein vor, er werde eine vollständige (und vermutlich gut vorbereitete) Vorlesung vor der dortigen physikalischen Gesellschaft halten, was dann im Februar 1909 auch geschah. »Dabei hatte ich Glück«, berichtete Einstein kurz darauf. »Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit trug ich damals gut vor.« 36 Als er Kleiner später anrief, deutete der Professor an, dass ein Stellenangebot bald folgen werde.
Einige Tage nachdem Einstein nach Bern zurückgekehrt war, legte Kleiner der Fakultät der Züricher Universität seine offizielle Empfehlung vor. »Einstein gehört gegenwärtig zu den bedeutendsten theoretischen Physikern und ist seit seiner Arbeit über das Relativitätsprinzip ziemlich allgemein als solcher anerkannt«, schrieb er. In Hinblick auf Einsteins Lehrfähigkeit formulierte er so höflich wie möglich, dass sie verbesserungsfähig sei, bescheinigte aber, »daß Dr. Einstein auch als Dozent seinen Mann stellen wird, weil er zu gescheit und zu gewissenhaft ist, um allfälliger Belehrung nicht zugänglich zu sein«. 37
Eine Schwierigkeit war die Tatsache, dass Einstein Jude war. Einige Fakultätsmitglieder hielten das für ein potenzielles Problem, Kleiner jedoch versicherte ihnen, Einstein weise nicht die »unangenehmen Charaktereigentümlichkeiten« auf, die man Juden nachsage. Ihre abschließende Einschätzung ist ein aufschlussreiches Dokument, das den Antisemitismus der Zeit erkennen lässt, aber auch den Versuch zeigt, ihm nicht nachzugeben:
Diese, auf mehrjährigen Verkehr gegründeten Äusserungen unseres Kollegen Kleiner waren sowohl für die Kommission, als für die Gesamtfakultät von umso grösserem Wert, als Herr Dr. Einstein Israelit ist und als gerade den Israeliten unter den Gelehrten allerlei unangenehme Charaktereigentümlichkeiten, wie Zudringlichkeit, Unverschämtheit, Krämerhaftigkeit in der Auffassung ihrer akademischen Stellung und dergl. nachgeredet werden, und zwar in zahlreichen Fällen nicht ganz mit Unrecht. Indessen darf doch gesagt werden, daß es auch unter den Israeliten Männer gibt, bei denen nicht die Spur dieser unangenehmen Eigenschaften vorhanden ist und daß es daher nicht angeht, einen Mann bloß deswegen zu disqualifizieren, weil er zufällig Jude ist. Gibt es doch auch unter den nicht-jüdischen Gelehrten gelegentlich Leute, die in bezug auf merkantile Auffassung ihres akademischen Berufs Auffassungen entwickeln, die man sonst als spezifisch »jüdisch « zu betrachten gewohnt ist.
Weder die Kommission, noch die Gesamtfakultät hielt es daher mit ihrer Würde vereinbar, den ›Antisemitismus ‹ als Prinzip auf ihre Fahne zu schreiben, und die Auskünfte, die Herr Kollege Kleiner über Herrn Dr. Einstein zu erteilen in der Lage war, haben uns vollkommen beruhigt. 38
Die geheime Fakultätsabstimmung Ende März 1909 ergab 10 Ja-Stimmen und eine Enthaltung. Vier Jahre nachdem er die Physik revolutioniert hatte, wurde Einstein seine erste Professur angeboten. Leider war das vorgeschlagene Gehalt geringer als das im Patentamt , daher lehnte er ab. Schließlich erhöhte die Züricher Behörde ihr Angebot, und Einstein erklärte sich einverstanden. »Nun bin ich also auch ein offizieller von der Gilde der Huren«, teilte er einem Kollegen übermütig mit. 39
Eine Person, die die Zeitungsnotiz über Einsteins Berufung entdeckte, war Anna Meyer-Schmid , eine Hausfrau aus Basel . Zehn Jahre zuvor war sie ein unverheiratetes Mädchen von 17 Jahren, das Einstein bei einem Urlaubsaufenthalt mit seiner Mutter im Hotel Paradies kennengelernt hatte. Die meisten Gäste tat er als »Philister« ab, aber an Anna hatte er Gefallen gefunden und ihr sogar ein kleines Gedicht ins Poesiealbum geschrieben: »Du Mädel klein und fein / was schreib ich Dir hinein? / Wüßte Dir gar mancherlei / Ein Kuß ist auch dabei / Aufs Mündchen klein. / Wenn Du drum böse bist / Mußt nit gleich greinen / Die beste Strafe ist- / Gibst mir auch einen.« Unterschrift: »Ihr spitzbübisches Freunderl Albert Einstein«. 40
Als Antwort auf eine Glückwunschkarte schrieb Einstein ihr einen höflichen und leicht anzüglichen Brief. »Mit sicher noch mehr Freude als Sie denke ich an die hübschen Wochen, welche ich im Paradies in Ihrer Nähe verbringen durfte«, hieß es dort. »Nun bin ich also ein grosser Schulmeister, dass sogar mein Name in der Zeitung steht. Aber ein simpler Kerl bin ich geblieben.« Er erwähnte, dass er seine Kommilitonin Marić geheiratet habe, gab ihr aber seine Dienstadresse. »Wenn Sie einmal nach Zürich kommen und Zeit haben, so suchen Sie mich dort auf, wenn Sie mir eine Freude machen wollen.« 41
Ob von Einstein so beabsichtigt oder nicht, jedenfalls schwankte seine Antwort unentschieden zwischen Unschuld und Anzüglichkeit. Offenbar hatten Annas Augen eher die zweite Deutungsmöglichkeit herausgelesen. Sie schickte einen Antwortbrief, den Marić abfing. Von Eifersucht gepackt, schrieb diese an Annas Ehemann und behauptete (eher ihrem Wunsch als der Wahrheit folgend), Einstein sei empört über Annas »unangemessenen Brief« und ihren dreisten Versuch, eine alte Beziehung wiederaufleben zu lassen.
Schließlich musste Einstein, um die Gemüter zu beruhigen, eine Entschuldigung an den Ehemann schreiben. »Ich bedauere es sehr, wenn ich Ihnen durch mein unvorsichtiges Verhalten Kummer bereitet habe«, erklärte er. »Ich habe das Gratulationskärtchen, welches mir Ihre Frau bei Gelegenheit meiner Ernennung sandte, zu herzlich beantwortet und dadurch frühere Sympathie, die zwischen uns bestand, wieder erweckt. Aber es geschah dies nicht mit unlauteren Absichten. Das Verhalten Ihrer Frau , vor welcher ich alle Achtung habe, war ein durchaus ehrenwertes. Es war ein nur durch starke Eifersucht entschuldbares Unrecht meiner Frau , sich so zu verhalten, wie sie es ohne mein Wissen gethan hat.«
Obwohl der Vorfall ohne Folgen blieb, bedeutete er einen Einschnitt in Einsteins Beziehung zu Marić . Ihre schwelende Eifersucht trübte das Bild, das er von ihr hatte. Jahrzehnte später, immer noch mit Marić’ Verhalten hadernd, teilte er Annas Tochter mit brutaler Offenheit mit, dass die Eifersucht seiner Frau krankhaft gewesen sei, typisch für Frauen von solch »ungewöhnlicher Hässlichkeit«. 42
Tatsächlich hatte Marić einen Hang zu Eifersucht. Sie nahm ihrem Mann nicht nur seine Flirts mit anderen Frauen übel, sondern auch die Zeit, die er mit männlichen Kollegen verbrachte. Jetzt, da er Professor geworden war, litt sie unter beruflichen Neidgefühlen, die angesichts ihrer eigenen gescheiterten Laufbahn durchaus verständlich waren. »Bei solchem Ruhm bleibt ihm nicht viel Zeit für seine Frau «, teilte sie ihrer Freundin Helene Savić mit. »Du schreibst, dass ich auf die Wissenschaft eifersüchtig sein soll. Aber was kann ich tun? Einer bekommt die Perle, der andere die Schachtel.«
Vor allem beklagte Marić , dass der Ruhm ihren Mann kälter und egozentrischer gemacht habe. »Ich bin sehr glücklich über seinen Erfolg, weil er ihn wirklich verdient«, schrieb sie in einem anderen Brief. »Ich hoffe nur, dass der Ruhm ihm nicht menschlich schadet.« 43
Allerdings erwiesen sich Marić’ Befürchtungen in einer Hinsicht als unbegründet. Selbst als sein Ruhm exponentiell anwuchs, behielt Einstein seine Einfachheit bei, sein schlichtes Auftreten oder zumindest eine Fassade von natürlicher Bescheidenheit. Doch von einem anderen Bezugsystem aus betrachtet, gab es wohl Veränderungen seiner menschlichen Seite. Um das Jahr 1909 begann er sich innerlich von seiner Frau zu entfernen. Sein Widerwille gegen Ketten und Bande veranlasste ihn zunehmend, sich in seine Arbeit zu flüchten, während er sich von dem Bereich distanzierte, den er als »rein persönlich« bezeichnete.
An einem seiner letzten Arbeitstage im Patentamt erhielt er einen großen eleganten Umschlag, in dem sich ein offenbar lateinisches Schreiben »auf noblem Papier« befand. Da es ihm merkwürdig und unpersönlich erschien, warf er es in den Papierkorb. Tatsächlich handelte es sich um eine Einladung der Universität Genf zur 350-jährigen Gründungsfeier im Juli 1909, bei der er den Ehrendoktor bekommen sollte. Schließlich überredete ihn ein Freund im Auftrag der Universität doch noch, an der Feier teilzunehmen. Einstein hatte nur einen Strohhut und einen legeren Anzug mit, daher fiel er bei der Zeremonie und dem opulenten Abendbankett ziemlich aus dem Rahmen. Von der ganzen Situation belustigt, wandte er sich an seinen vornehmen Tischnachbarn und brachte den gestrengen protestantischen Reformator, der die Universität gegründet hatte, ins Spiel: »Wissen Sie, was Calvin gemacht hätte, wenn er noch da wäre?« Verwirrt verneinte der Angesprochene. Einstein erwiderte: »Er würde einen großen Scheiterhaufen errichtet und uns alle wegen sündhafter Schlemmerei verbrannt haben.« Einstein fügte an: »Der Mann sprach kein Wort mehr.« 44
Gegen Ende des Sommers 1909 wurde Einstein auch gebeten, einen Vortrag auf der Naturforscherversammlung zu halten, der wichtigsten Tagung deutschsprachiger Wissenschaftler, die dieses Jahr in Salzburg stattfand. Die Organisatoren hatten Relativitätstheorie und Quantennatur des Lichts auf die Tagesordnung gesetzt und erwarteten von Einstein, dass er über ersteres Thema sprach. Stattdessen beschloss Einstein jedoch, sich mit der Frage zu beschäftigen, die ihm dringender erschien: wie man die Quantentheorie deutet und wie man sie mit der Wellentheorie des Lichts vereinbaren kann, die Maxwell so elegant formuliert hatte.
Nach seinem »glücklichsten Gedanken«, den er Ende 1907 hatte und der ihm verriet, wie die Äquivalenz von Gravitation und Beschleunigung zu einer Verallgemeinerung der Relativitätstheorie führen könnte, hatte Einstein das Thema zurückgestellt, um sich stattdessen der Frage zu widmen, die er als »Strahlenproblem« bezeichnete (gemeint ist die Quantentheorie ). Je mehr er über die »heuristische« Idee nachdachte, dass das Licht aus Quanten – oder unsichtbaren Päckchen – bestehe, desto größer wurde seine Sorge, Planck und er könnten eine Revolution losgetreten haben, die in der Lage sei, die klassischen Grundlagen der Physik, besonders die Maxwell ’schen Gleichungen, zu zerstören. »Zu dieser pessimistischen Ansicht komme ich hauptsächlich infolge endloser vergeblicher Bemühungen, die [Planck -Konstante ] in anschaulicher Weise zu deuten«, schrieb er 1908 an einen physikalischen Kollegen. »Ich zweifle sogar ernstlich daran, dass man an der Allgemeingültigkeit der Maxwell ’schen Gleichungen für den leeren Raum wird festhalten können.« 45 (Wie sich herausstellte, war seine Vorliebe für Maxwells Gleichungen durchaus berechtigt. Denn sie gehörten zu den wenige Elementen der theoretischen Physik , die nicht durch die von Einstein mitverursachten Relativitäts- und Quantenrevolutionen angetastet wurden.)
Als Einstein im September 1909, offiziell noch kein Professor, nach Salzburg kam, lernte er endlich Max Planck und die anderen Größen kennen, mit denen er bisher nur brieflich verkehrt hatte. Am Nachmittag des dritten Tages trat er vor die Versammlung von mehr als hundert hoch angesehenen Wissenschaftlern und hielt eine Rede, die Wolfgang Pauli , der ein Pionier der Quantenmechanik werden sollte, später als »Meilenstein in der Entwicklung der theoretischen Physik « bezeichnete.
Zunächst erklärte Einstein, dass die Wellentheorie des Lichts nicht mehr vollständig sei. Licht (oder eine andere beliebige Strahlung) lasse sich auch als Teilchenstrahl oder Energiepäckchen betrachten, ähnlich, wie es Newton behauptet habe. Es zeige sich, »daß dem Lichte gewisse fundamentale Eigenschaften zukommen, die sich weit eher vom Standpunkte der Newtonschen Emissionstheorie des Lichtes als vom Standpunkte der Undulationstheorie begreifen lassen«, erklärte er. »Deshalb ist es meine Meinung, daß die nächste Phase der Entwickelung der theoretischen Physik uns eine Theorie des Lichtes bringen wird, welche sich als eine Art Verschmelzung von Undulations- und Emissionstheorie des Lichtes auffassen läßt.«
Warnend wies er darauf hin, dass die Verschmelzung von Teilchentheorie und Wellentheorie »eine tiefgehende Änderung« bringen werde. Das verspreche nichts Gutes, meinte er. Es werde wohl die Gewissheit und Bestimmtheit der klassischen Physik untergraben.
Einen Augenblick verweilte Einstein bei dem Gedanken, dass sich diese Entwicklung vielleicht vermeiden lasse, indem man Plancks eingeschränkte Interpretation der Quanten übernehme: dass diese nur charakterisierten, wie Strahlung von einer Oberfläche absorbiert und emittiert würde, aber keine Eigenschaft der tatsächlichen Lichtwelle beschrieben, wie sie sich im Raum ausbreite. »Könnte man nicht wenigstens die Gleichungen der Ausbreitung der Strahlung beibehalten und nur die Elementarvorgänge der Emission und Absorption anders auffassen als bisher?« Aber nach einem Vergleich zwischen dem Verhalten von Licht und von Gasmolekülen, wie er ihn 1905 in seiner Arbeit über Lichtquanten vorgenommen hatte, gelangte Einstein zu dem Schluss, dass das leider nicht möglich sei.
Daher meinte er, man müsse davon ausgehen, dass sich Licht sowohl als Welle wie als Teilchenstrom verhalte. »[D]ie beiden Struktureigenschaften (Undulationsstruktur und Quantenstruktur), welche gemäß der Planckschen Formel beide der Strahlung zukommen sollen«, erklärte er am Ende seines Vortrags, seien »nicht als miteinander unvereinbar anzusehen«. 46
Damit war zum ersten Mal der Welle-Teilchen-Dualismus in schlüssiger Form dargestellt worden, ein Ereignis, das genauso weitreichende Folgen haben sollte wie Einsteins frühere theoretischen Entdeckungen. »Lassen sich die Energiequanten einerseits und das Huygens’sche Prinzip [Wellencharakter ] andererseits vereinigen?«, schrieb er hoffnungsvoll an einen Kollegen und Freund. »Der Schein ist dagegen, aber der Herrgott hat – wie es scheint – doch den Rank gefunden.« 47
An Einsteins Vortrag schloss sich eine lebhafte, von Planck selbst geleitete Diskussion an. Dieser, nach wie vor nicht bereit, die physikalische Realität anzuerkennen, die der neun Jahre zuvor von ihm gefundenen Konstanten zugrunde lag, oder die von Einstein vermuteten revolutionären Verzweigungen ernst zu nehmen, spielte nun den Hüter der alten Ordnung. Zwar konzedierte er in der Strahlung die Existenz diskreter »Quanten, die als Wirkungsatome zu denken sind«, aber er beharrte darauf, dass sie nur im Prozess der Emission oder Absorption von Strahlung vorhanden seien. »Es fragt sich nun, wo man diese Quanten suchen soll. Nach den letzten Ausführungen von Herrn Einstein wäre es notwendig, die freie Strahlung im Vakuum , also die Lichtwellen selber als atomistisch konstituiert anzunehmen, mithin die Maxwell’schen Gleichungen aufzugeben. Das scheint mir ein Schritt, der in meiner Auffassung noch nicht als notwendig geboten ist.« 48
Zwei Jahrzehnte später sollte Einstein die Rolle des Hüters der alten Ordnung selbst übernehmen. Tatsächlich suchte er jetzt schon nach Auswegen aus dem spukhaften Dilemma der Quantentheorie . »Gegenwärtig habe ich grosse Hoffnung, das Strahlungsproblem zu lösen, u. zwar ohne Lichtquanten «, schrieb er einem jungen Physiker, mit dem er zusammenarbeitete. 49
Wenigstens zum damaligen Zeitpunkt war alles noch zu rätselhaft. Während er also an den deutschsprachigen Universitäten Europas die professorale Erfolgsleiter erklomm, widmete er sich wieder seinem ureigensten Thema. Eine Zeit lang kehrte er dem Wunderland der Quanten den Rücken. Gegenüber einem Freund klagte er: »Je mehr Erfolge die Quantentheorie hat, desto dümmer sieht sie aus.« 50