Zürich, 1909

Als selbstsicherer 17-Jähriger hatte sich Einstein am Züricher Polytechnikum eingeschrieben und Mileva Marić kennengelernt, die Frau, die er einige Jahre später heiratete. Jetzt, im Oktober 1909, als Dreißigjähriger, kehrte er in die Stadt zurück, um seinen Posten als Extraordinarius an der Universität Zürich anzutreten.

Diese Rückkehr erweckte zumindest vorübergehend ihre ursprünglichen Gefühle wieder zu neuem Leben. Nach Ende des ersten Monats war Marić , vielleicht vom alten Brutrevier angeregt, wieder schwanger.

Die Wohnung, die sie gemietet hatten, befand sich, wie sie zu ihrer Freude bemerkten, in demselben Haus, in dem auch Friedrich Adler und seine Frau wohnten. »Sie haben eine ähnliche Bohemien-Wirtschaft wie wir«, schrieb Adler seinem Vater erfreut. »Je mehr ich mit Einstein spreche, um so mehr sehe ich, dass meine günstige Meinung von ihm berechtigt war.«

An den meisten Abenden diskutierten die beiden Männer über Physik und Philosophie, wobei sie sich oft in das Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses zurückzogen, wo sie nicht von Kindern oder Ehefrauen gestört wurden. Adler machte Einstein mit dem Werk von Pierre Duhem bekannt, dessen Buch La Théorie Physique aus dem Jahr 1906 gerade in der deutschen Übersetzung erschienen war. In Hinblick auf die Beziehung zwischen Theorien und experimenteller Evidenz vertrat Duhem einen ganzheitlicheren Ansatz als Mach , einen Ansatz, der Einstein offenbar beeinflusste, als er seine eigene Wissenschaftsphilosophie entwickelte. 1

Adler hatte große Hochachtung vor Einstein, einem »der unabhängigsten Köpfe«. In dessen nonkonformistischer Haltung komme innere Sicherheit und nicht Überheblichkeit zum Ausdruck. »Wir sind in Fragen einer Meinung, deren Stellung die Überzahl der anderen Physiker überhaupt nicht begreift«, erklärte Adler etwas anmaßend. 2

Einstein versuchte, Adler zu überreden, sich auf die Wissenschaft zu konzentrieren, statt sich in die Politik locken zu lassen. »Haben Sie doch etwas Geduld!«, sagte er. »Sie werden in Zürich bestimmt einmal mein Nachfolger werden.« (Einstein ging bereits davon aus, dass er bald an eine angesehenere Universität berufen würde.) Doch Adler wollte davon nichts wissen und wurde Redakteur der sozialdemokratischen Parteizeitung. Nach Einsteins Auffassung bedeutete Parteitreue, dass man einen Teil seines unabhängigen Denkens aufgab. Ein solches Maß an Konformität konnte er nicht verstehen. »Wie sich ein intelligenter Mensch irgendeiner Partei verschreiben kann, ist mir einfach ein Rätsel«, meinte Einstein später in Hinblick auf Adler . 3

Einstein kam auch wieder mit seinem ehemaligen Kommilitonen und Mitschriftlieferanten Marcel Grossmann zusammen, der ihm zu seiner Stellung am Patentamt verholfen hatte und jetzt Mathematikprofessor an ihrem alten Polytechnikum war. Oft suchte Einstein Grossmann nach dem Mittagessen auf, um sich von ihm bei den komplexen Geometrie - und Differentialproblemen helfen zu lassen, die er lösen musste, um die spezielle Relativitätstheorie zu einer allgemeinen Feldtheorie zu erweitern.

Sogar mit Adolf Hurwitz , dem anderen bedeutenden Mathematiker des Polytechnikums , dessen Kurse Einstein oft geschwänzt und der ihm eine Assistentenstelle verweigert hatte, konnte er Freundschaft schließen. Regelmäßig nahm er an den sonntäglichen Hausmusikabenden bei Hurwitz teil. Als dieser ihm eines Tages auf einem Spaziergang erzählte, seine Tochter habe eine Hausaufgabe in Mathematik bekommen, die sie nicht verstehe, kam Einstein nachmittags vorbei und half ihr bei der Lösung des Problems. 4

Wie Kleiner vorhergesagt hatte, verbesserten sich Einsteins Lehrfähigkeiten. Er war kein geschliffener Kathederstar, nahm aber die Studenten durch seine Ungezwungenheit für sich ein. »Als er in seiner etwas abgetragenen Kleidung und mit den zu kurzen Hosen und der eisernen Uhrkette das Katheder betrat, waren wir eher skeptisch«, erinnerte sich Hans Tanner , der die meisten Züricher Vorlesungen Einsteins besuchte. Statt vorbereiteter Notizen benutzte Einstein einen dicht bekritzelten Zettel von der Größe einer Visitenkarte. Daher erlebten die Studenten, wie er seine Gedanken entwickelte, während er sprach, »so daß wir einen direkten Einblick in seine Arbeitstechnik erhielten«, schrieb Tanner . »Wieviel mehr schätzten wir das als einen stilistisch vollkommenen (…) Vortrag.«

Bei jedem Schritt seiner Darlegungen hielt Einstein inne und fragte die Studenten, ob sie ihm folgen konnten, und ließ sogar Unterbrechungen zu. »Dieser kameradschaftliche Kontakt zwischen Dozenten und Studenten war damals gar nicht so selbstverständlich«, meinte Adolf Fisch , ein anderer Hörer. Gelegentlich machte Einstein eine Pause und rief die Studenten zu einer zwanglosen Unterhaltung zusammen. »In seiner Impulsivität und Natürlichkeit nahm er bald den einen, bald den anderen Studenten am Arm (…), um irgendeine Materie zu besprechen.«

Bei einer Vorlesung hatte Einstein vorübergehend vergessen, welche Schritte erforderlich waren, um die Berechnung abzuschließen. »Hier muss es eine blöde mathematische Umformung geben, die ich momentan einfach nicht finde«, sagte er. »Sieht sie vielleicht einer der Herren?« Wie nicht anders zu erwarten, tat es keiner der Anwesenden. Daher fuhr Einstein fort: »Dann lassen wir eine Viertelseite aus! Wir wollen keine Zeit verlieren.« Zehn Minuten später unterbrach Einstein sich selbst und rief aus: »Ich hab’s!« Bewundernd meinte Tanner : »Während der komplizierten Vorlesung hatte er noch Zeit gefunden, nachzudenken, wie wohl jene mathematische Umformung lauten könnte.«

Oft fragte Einstein am Ende der Abendvorlesungen: »Wer kommt noch mit ins Café Terrasse?« Dort, im informellen Rahmen einer Terrasse über der Limmat, unterhielten sie sich bis zur Sperrstunde.

Einmal fragte Einstein, ob noch jemand mit in seine Wohnung kommen wolle. »Heut morgen habe ich eine Arbeit von Planck erhalten, in der ein Fehler stecken muß«, sagte er. »Wir können sie noch zusammen lesen.« Tanner und ein anderer Student nahmen das Angebot an und folgten ihm nach Hause. Dort machten sie sich alle über Plancks Arbeit her. »Sucht inzwischen den Fehler, während ich euch einen Kaffee braue«, sagte Einstein.

Nach einer Weile meinte Tanner : »Da müssen Sie sich irren, Herr Professor! Da steckt kein Fehler drin.«

»Doch«, sagte Einstein und wies auf einige Widersprüche in den Daten hin. »Denn das und das würde das und das bedeuten.« Das war ein anschauliches Beispiel für Einsteins besondere Stärke: Bei der Betrachtung einer komplexen mathematischen Gleichung, die für andere eine bloße Abstraktion war, konnte er sich eine bildliche Vorstellung der zugrunde liegenden physikalischen Realität machen.

Tanner war erstaunt. »Jetzt schreiben wir Professor Planck gleich nach Berlin , was für einen Lapsus er gemacht hat.«

Inzwischen war Einstein etwas taktvoller gegenüber seinen Kollegen geworden, vor allem gegenüber jenen, die er auf einen Sockel stellte wie Planck und Lorentz . »Wir schreiben ihm nicht, dass ihm ein Lapsus passiert ist«, sagte er. »Das Resultat stimmt nämlich. Nur der Beweis ist falsch. Wir schreiben ihm einfach, wie der richtige Beweis lauten könnte. Die Hauptsache ist doch der Inhalt, nicht die Mathematik.« 5

Trotz seiner Arbeit an einer Maschine zur Messung elektrischer Ladungen war Einstein kein Experimentalphysiker, sondern ein eingefleischter Theoretiker geworden. Als er in seinem zweiten Jahr feststellte, dass es zu seinen Pflichten als Professor gehörte, Laborarbeiten zu beaufsichtigen, war er entsetzt. »Ich getraue mich nämlich kaum«, so gestand er Tanner , »einen Apparat in die Hände zu nehmen, aus Angst, er könnte explodieren.« Einem anderen bedeutenden Professor vertraute er an: »Meine Ängste bezüglich des Labors waren ziemlich begründet.« 6

Im Juli 1910, gegen Ende seines ersten akademischen Jahrs in Zürich , brachte Marić , wieder unter Schwierigkeiten, ihren zweiten Sohn zur Welt, der auf den Namen Eduard getauft und Tete genannt wurde. Danach war sie wochenlang krank. Ihr Arzt behauptete, sie sei überarbeitet, und schlug Einstein vor, neue Verdienstmöglichkeiten zu erschließen, damit er ein Dienstmädchen bezahlen konnte. Verärgert nahm Marić Einstein in Schutz. »Ist es denn nicht für jedermann ersichtlich, dass mein Mann sich fast zu Tode arbeitet?«, sagte sie. Stattdessen kam ihre Mutter aus Novi Sad und half ihr. 7

Sein Leben lang wirkte Einstein manchmal distanziert gegenüber seinen Söhnen, besonders gegenüber Eduard , der unter einer progressiven psychischen Erkrankung litt, als er älter wurde. Doch als die Kinder jung waren, war Einstein meist ein guter Vater. »Wenn meine Mutter mit dem Haushalt beschäftigt war, legte Vater seine Arbeit beiseite, passte stundenlang auf uns auf und ließ uns auf seinen Knien reiten«, erzählte Hans Albert später. »Ich weiß noch, dass er uns Geschichten erzählte – und oft spielte er auf der Geige , um uns zu beruhigen.«

Eine seiner Stärken als Denker, wenn auch vielleicht nicht als Vater, waren die Fähigkeit und die Bereitschaft, alle Ablenkungen auszuschalten, die manchmal auch seine Kinder und andere Familienmitglieder einschloss. »Selbst das lauteste Babygeschrei schien Vater nicht zu stören«, sagte Hans Albert . »Vollkommen unempfindlich gegen alle Geräusche widmete er sich seiner Arbeit.«

Eines Tages traf der Student Tanner seinen Professor in dessen Arbeitszimmer vor einem Stapel Papieren an. Er schrieb mit der rechten Hand und hielt Eduard auf dem linken Arm, während Hans Albert mit Bauklötzchen spielte und um die Aufmerksamkeit des Vaters buhlte. »Ich bin gleich fertig«, sagte Einstein, während er Eduard seinem Besucher in den Arm drückte und weiter an seinen Gleichungen arbeitete. »Ich konnte daraus sehen«, sagte Tanner , »wie konzentriert er nachzudenken verstand.« 8

Prag, 1911

Einstein war weniger als sechs Monate in Zürich , als er im März 1910 ein prestigeträchtigeres Stellenangebot bekam: eine ordentliche Professur an der Deutschen Universität Prag . Sowohl die Universität wie die akademische Stellung waren eine Stufe höher auf der Erfolgsleiter, doch der Umzug aus dem bekannten und freundlichen Zürich in das weniger vertraute Prag bedeutete einen erheblichen Bruch für die Familie. Für Einstein schlugen jedoch die beruflichen Gründe stärker als die persönlichen zu Buche.

Er hatte schon wieder Schwierigkeiten zu Hause. »Die schlechte Laune, die Du an mir bemerktest, galt nicht Dir«, schrieb er der Mutter , die jetzt in Berlin lebte. »Wenn man das, was einen bedrückt oder ärgert, mit andern breit schlägt, so kommt man darum nicht besser drüber hinaus. Man muss es allein hinuntermurgsen.«

Seine wissenschaftliche Arbeit dagegen bereitete ihm größtes Vergnügen, und er war sehr optimistisch angesichts der neuen Möglichkeiten, die sich auftaten. »Ich werde höchst wahrscheinlich als ordentlicher Professor mit bedeutend besserem Gehalt, als ich ihn jetzt habe, an eine grosse Universität berufen werden.« 9

Als sich die Nachricht von Einsteins möglichem Wechsel in Zürich herumsprach, unterzeichneten fünfzehn seiner Studenten auf Initiative von Hans Tanner eine Bittschrift, in der die Behörde dringend aufgefordert wurde, »das bestmögliche zu thun, um unserer Universität diesen hervorragenden Forscher & Dozenten zu erhalten«. Sie wiesen darauf hin, wie wichtig es sei, einen Professor in »dieser neu geschaffenen Disziplin« für theoretische Physik zu haben, und sie lobten ihn persönlich in den höchsten Tönen. »Herr Prof. Einstein versteht in bewunderungswürdiger Weise, die schwierigsten Probleme der theoretischen Physik so klar & verständlich darzustellen, dass es für uns ein grosser Genuss ist, seinen Vorlesungen zu folgen, und er versteht dabei in so vollkommener Weise mit den Hörern in Kontakt zu kommen, dass wir überzeugt sind, dass eine solche Lehrtätigkeit unserer Universität zu großem Vorteil gereichen dürfte.« 10

Der Stadt Zürich war so daran gelegen, Einstein zu behalten, dass sie seine Bezüge von den gegenwärtigen 4500 Franken, die seinem Gehalt als Patentbeamter entsprachen, auf 5500 Franken erhöhten. Dagegen hatten diejenigen, die ihn gerne nach Prag geholt hätten, mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen.

Der Fakultätsrat in Prag hatte sich für Einstein entschieden und legte dem Erziehungsministerium in Wien eine entsprechende Empfehlung vor (Prag gehörte damals zu Österreich-Ungarn, daher musste eine solche Ernennung von Kaiser Franz Joseph und seinen Ministern gebilligt werden). Der Bericht war begleitet von der bestmöglichen Empfehlung der höchstmöglichen Autorität, nämlich der Beurteilung von Max Planck . Einsteins Relativitätstheorie »übertrifft an Kühnheit wohl alles, was bisher in der spekulativeren Naturforschung, ja in der philosophischen Erkenntnistheorie geleistet wurde«, erklärte Planck . »Mit der durch dies Prinzip im Bereiche der physikalischen Weltanschauung hervorgerufenen Umwälzung ist (…) wohl nur noch die durch die Einführung des Copernicanischen Weltsystems bedingte zu vergleichen.« In einer weiteren Bemerkung, die auf Einstein bezogen geradezu hellseherisch erscheint, meint Planck : »Die nichteuklidische Geometrie ist ein Kinderspiel dagegen.« 11

Plancks Empfehlung hätte eigentlich genügen sollen. Tat sie aber nicht. Das Ministerium entschied sich für den Kandidaten, der auf dem zweiten Platz gelandet war, Gustav Jaumann , der zwei Vorzüge besaß: Er war Österreicher, und er war kein Jude . »Nach Prag bin ich nicht berufen worden«, klagte Einstein im August gegenüber einem Freund. »Ich war nur von der Fakultät vorgeschlagen, das Ministerium hat aber wegen meiner semitischen Abstammung den Vorschlag nicht angenommen.«

Doch Jaumann entdeckte bald, dass er für die Fakultät nur die zweite Wahl war, und reagierte empört. »Wenn man Einstein in dem Vorschlag vor mich setzt und glaubt, daß er größere Verdienste hat als ich«, erklärte er, »so will ich mit einer Universität nichts zu tun haben, die der Modernität nachjagt und das wahre Verdienst verkennt.« So konnte Einstein im Oktober 1910 voller Zuversicht verkünden, dass seine Berufung »fast sicher« sei.

Blieb noch eine letzte Hürde, die ebenfalls mit der Religion zu tun hatte. Jude zu sein, war ein Nachteil, keiner Religion anzugehören hingegen ein Ausschlussgrund. Das Kaiserreich verlangte von all seinen Bediensteten, einschließlich der Professoren, dass sie Mitglieder irgendwelcher Religionen waren. Auf seinen offiziellen Formularen hatte Einstein geschrieben, er sei religionslos . »In Fällen wie diesen ist Einstein so unpraktisch wie ein Kind«, meinte Friedrich Adlers Frau.

Wie sich herausstellte, war Einsteins Wunsch, die Stellung zu bekommen, größer als sein hinderlicher Dickschädel. Er erklärte sich bereit, »mosaisch« als seinen Glauben anzugeben und auch die österreichisch-ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen, unter der Voraussetzung, dass er auch seine Schweizer Nationalität behalten durfte. Mit der abgelegten deutschen Staatsbürgerschaft , die ihm aber schon bald wieder aufgedrängt wurde, bedeutete dies, dass er im Alter von 32 Jahren – manchmal im Wechsel – drei Nationalitäten besaß. Im Januar 1911 wurde er offiziell auf den Lehrstuhl berufen mit einem Salär, das doppelt so hoch war wie seine bisherige Vergütung nach der letzten Gehaltserhöhung. Er willigte ein, im März nach Prag zu ziehen. 12

Einstein hatte zwei wissenschaftliche Helden, denen er noch nie begegnet war, Ernst Mach und Hendrik Lorentz . Beide konnte er vor seinem Umzug nach Prag besuchen. Als er nach Wien fuhr, um sich den Ministern dort offiziell vorzustellen, besuchte er Mach , der in einem Vorort der Stadt lebte. Der alternde Physiker und Verkünder des Empirismus , der die Akademie Olympia so nachhaltig beeinflusst hatte und Einstein die Skepsis gegenüber unbeobachtbaren Begriffen wie der absoluten Zeit eingepflanzt hatte, besaß einen störrischen Bart und einen noch störrischeren Charakter. »Bitte reden Sie laut mit mir«, blaffte er, als Einstein das Zimmer betrat. »Neben meinen sonstigen unangenehmen Eigenschaften bin ich auch noch fast taub.«

Einstein wollte Mach von der Wirklichkeit der Atome überzeugen, die der alte Mann lange Zeit als Fantasiegebilde des menschlichen Verstandes abgelehnt hatte. »Nehmen wir an, wir könnten durch die Annahme von Atomen in einem Gase eine beobachtbare Eigenschaft dieses Gases vorhersagen, die man aus der nicht atomistischen Physik nicht vorhersagen kann«, bemerkte Einstein. »Würden Sie dann eine solche Hypothese zulassen?«

»Wenn man wirklich einen Zusammenhang zwischen mehreren beobachtbaren Eigenschaften mit Hilfe der Atomhypothese ableiten kann, von denen ohne diese Hypothese jede für sich stünde, so würde ich Ihnen sagen, daß diese Hypothese eine ›ökonomische‹ ist«, räumte Mach widerwillig ein.

Das war keine uneingeschränkte Zustimmung, aber Einstein genügte sie. »Damit war Einstein sehr zufrieden«, notierte sein Freund Philipp Frank . Trotzdem begann Einstein, sich von Machs Skeptizismus zu entfernen, der sich gegen alle nicht direkt auf beobachtbaren Daten aufbauenden Theorien der Wirklichkeit richtete. Er entwickelte »eine gewisse Reserviertheit gegen die ›Machsche Philosophie‹«, sagte Frank . 13 Es war der Beginn einer tiefgreifenden Bekehrung.

Kurz bevor Einstein nach Prag ging, fuhr er in die niederländische Stadt Leiden , um Lorentz aufzusuchen. Marić begleitete ihn, und sie akzeptierten die Einladung, bei Lorentz und seiner Frau zu wohnen. Einstein schrieb, er freue sich auf ein Gespräch »über das Strahlungsproblem«, und fügte hinzu: »Schon im Voraus beteuere ich Ihnen, dass ich nicht der orthodoxe Lichtquantler bin, für den Sie mich halten.« 14

Lange hatte Einstein den älteren Kollegen aus der Ferne verehrt. Kurz bevor er zu dem Besuch aufbrach, schrieb er an einen Freund: »Ich bewundere diesen Mann wie keinen andern, ich möchte sagen, ich liebe ihn.« Das Gefühl verstärkte sich, als er ihn schließlich kennenlernte. Lange blieben sie am Samstagabend auf und diskutierten über Fragen wie die Beziehung zwischen Temperatur und elektrischer Leitfähigkeit.

Lorentz dachte, er habe Einstein bei einem kleinen mathematischen Fehler in einer seiner Arbeiten über Lichtquanten ertappt, doch wie Einstein anmerkte, handelte es sich »nur um einen Schreibfehler«. Er hatte ein »½« ausgelassen, das dann in der Arbeit aber wieder aufgenommen wurde. 15 Gastfreundschaft wie die »bedeutenden wissenschaftlichen Anregungen« führten in Einsteins nächstem Brief zu einem fast überschwänglichen Ton. »Es strahlt von Ihnen so viel Güte und Menschenfreundlichkeit aus«, schrieb er, »dass während meines Aufenthaltes bei Ihnen nicht einmal die quälende Überzeugung sich entwickeln konnte, dass mir so viel Güte und Auszeichnung unverdient zuteil wird.« 16

Abraham Pais erinnert sich, dass Einstein »von Lorentz als einer Vaterfigur seines Lebens« sprach. Nach diesem überaus angenehmen Besuch in Lorentz’ Arbeitszimmer kehrte er nach Leiden zurück, wann immer er einen Vorwand fand. Die Atmosphäre dieser Treffen hat ihr Kollege Paul Ehrenfest beschrieben:

Der bequemste Stuhl wurde für seinen geschätzten Gast sorgsam an den großen Arbeitstisch gerückt. Er erhielt eine Zigarre und dann begann Lorentz leise, Fragen im Hinblick auf Einsteins Theorie der Krümmung von Licht in einem Gravitationsfeld zu formulieren. (…) Als Lorentz weitersprach, zog Einstein weniger häufig an seiner Zigarre und er saß gerader und aufmerksamer. Und als Lorentz zu Ende gesprochen hatte, saß Einstein über das Stück Papier gebeugt, auf das Lorentz während seines Redens mathematische Formeln geschrieben hatte. Einstein wickelte seinen Finger gedankenvoll um eine Haarlocke über seinem rechten Ohr; eine Gewohnheit, die einigen Freunden an ihm auffiel. Lorentz jedoch saß lächelnd bei einem völlig in Gedanken vertieften Einstein, ganz genau wie ein Vater über einen besonders geliebten Sohn wacht – mit Zuversicht erfüllt, dass der Sprössling die ihm aufgegebene Nuss knacken wird, jedoch begierig darauf, zu sehen, wie er das tut. Plötzlich schoss Einsteins Kopf freudig hoch, er »hatte es«. Noch einige Momente des Gebens und Nehmens, des einander Unterbrechens, der Meinungsverschiedenheit in einigen Punkten, der sehr schnellen Klärung und des völligen gegenseitigen Verstehens, und dann ließen die beiden Männer ihre strahlenden Augen über die funkelnden Schätze der neuen Theorie streifen. 17

Als Lorentz 1928 starb, sagte Einstein in seiner Trauerrede, er stehe »am Grabe des größten und edelsten Zeitgenossen«. Und 1953 zur Feier von Lorentz’ hundertstem Geburtstag schrieb Einstein einen Essay über die Bedeutung seines väterlichen Freundes. »Alles, was von diesem überragenden Geist kam, war klar und schön wie ein gutes Kunstwerk«, hieß es dort. »Er war mir persönlich mehr als alle anderen, die mir auf meinem Lebensweg begegnet sind.« 18

Marić war unglücklich über den Umzug nach Prag . »Ich bin nicht sehr froh und erwarte wenig Freude«, schrieb sie an eine Freundin. Doch zunächst, bis dann der Schmutz und der Snobismus der Stadt sie zu bedrücken begannen, war ihr Leben ganz angenehm. Zum ersten Mal hatten sie elektrisches Licht im Haus und genügend Platz und Geld für ein Dienstmädchen. »Die Leute sind je nach ihrem Schicksal hochmütig, schäbig-gentil, unterwürfig«, schrieb Einstein. »Eine gewisse Grazie ist vielen von ihnen eigen.« 19

Aus seinem Büro sah Einstein in einen schönen Park mit schattigen Bäumen und gepflegten Blumenbeeten hinab. Am Morgen waren nur Frauen in ihm unterwegs, am Nachmittag nur Männer. Einige gingen allein, tief in Gedanken versunken, andere in Gruppen, die lebhaft diskutierten. Schließlich fragte Einstein, was es mit dem Park auf sich habe. Man berichtete ihm, es handle sich um eine psychiatrische Anstalt. Als Einstein seinem Freund Philipp Frank den Anblick präsentierte, meinte er scherzend: »Sie sehen dort den Teil der Verrückten, der sich nicht mit der Quantentheorie beschäftigt.« 20

Die Einsteins machten die Bekanntschaft von Bertha Fanta , einer charmanten, kultivierten Frau, die einen literarischen und musikalischen Salon für Prags jüdische Intellektuelle unterhielt. Einstein war ein kapitaler Fang: ein aufgehender Stern am Wissenschaftshimmel, der bereit war, je nach Situation mit gleicher Begeisterung Geige zu spielen wie über Hume und Kant zu diskutieren. Zu den regelmäßigen Besuchern gehörten unter anderem der junge Schriftsteller Franz Kafka und sein Freund Max Brod .

In seinem Buch Tycho Brahes Weg zu Gott hatte Brod anscheinend (obwohl er das gelegentlich abstritt) Einstein als Vorbild für die Figur des Johannes Kepler genommen, den brillanten Astronomen, der 1600 Brahes Gehilfe in Prag war. Diese Figur ist ihrer wissenschaftlichen Arbeit völlig hingegeben und immer bereit, herkömmliches Denken über Bord zu werfen. Doch seinen persönlichen Bereich schützt er durch etwas »unbegreiflich Gefühlloses, aus einer fernen Eisregion Herwehendes«, wie es bei Brod heißt. »Er hatte kein Herz. Und deshalb eben hatte er von der Welt nichts zu fürchten.« Und weiter: »Er hatte kein Gefühl, keine Liebe.« Als der Roman erschien, sagte Walther Nernst zu Einstein: »Dieser Kepler , das sind Sie.« 21

Nicht ganz. Trotz des Images des Einzelgängers, das er sich gelegentlich zulegte, knüpfte er auch hier – wie schon in Zürich und Bern  – enge Freundschaften und Bindungen, besonders mit Kollegen und anderen Wissenschaftlern. Einer dieser Freunde war Paul Ehrenfest , ein junger jüdischer Physiker aus Wien , der an der Universität in Sankt Petersburg lehrte, sich aber durch diesen Hintergrund beruflich benachteiligt fühlte. Anfang 1912 unternahm er eine Reise durch Europa, um eine neue Stellung zu finden. Auf dem Weg nach Prag schrieb er Einstein an, mit dem er einen Briefwechsel über Gravitation und Strahlung geführt hatte. »Wohnen Sie bei mir, dass wir die Zeit gut benützen können«, antwortete Einstein. 22 Als Ehrenfest an einem regnerischen Freitagnachmittag im Februar eintraf, standen ein Zigarre paffender Einstein und seine Frau am Bahnhof, um ihn abzuholen. Sie gingen in ein Café, wo sie die europäischen Großstädte miteinander verglichen. Als Marić ging, wandte sich das Gespräch wissenschaftlichen Fragen zu, vor allem der statistischen Mechanik. Unterwegs zu Einsteins Büro setzten sie ihr Gespräch fort. »Auf dem Weg ins Institut schon Streit über alles«, notierte Ehrenfest in seinem Tagebuch zu den sieben in Prag verbrachten Tagen.

Ehrenfest war ein scheuer, unsicherer Mensch, aber seine Sehnsucht nach Freundschaft und seine Liebe zur Physik ebneten ihm den Weg für eine enge Beziehung zu Einstein. 23 Beide schienen sie danach zu hungern, über physikalische Fragen zu diskutieren. Und so sagte Einstein später: »Nach wenigen Stunden waren wir Freunde, Menschen, die durch ihr Streben und Schaffen wie füreinander geschaffen waren.« Am nächsten Tag setzten sie ihre intensiven Gespräche fort, in denen Einstein von seinen Bemühungen berichtete, die Relativitätstheorie zu verallgemeinern. Am Samstagabend entspannten sie sich ein wenig bei einer Brahms-Sonate, Ehrenfest am Klavier, Einstein auf der Geige , während der siebenjährige Hans Albert dazu sang. »Ja, wir werden Freunde sein«, schrieb Ehrenfest an diesem Abend in sein Tagebuch, »war furchtbar froh.« 24

Einstein dachte bereits daran, Prag zu verlassen, und brachte Ehrenfest als möglichen Nachfolger ins Spiel. Aber er »versteift sich darauf, konfessionslos zu bleiben«, klagte Einstein. Er hatte am Ende nachgegeben und »mosaisch« in das offizielle Formular eingetragen, Ehrenfest aber hatte sich vom Judaismus losgesagt und wollte nichts anderes schreiben. »Es wurmt mich geradezu, dass Sie den Spleen der Konfessionslosigkeit haben«, schrieb Einstein im April, »lassen Sie ihn Ihren Kindern zuliebe fallen. Wenn Sie einmal hier Professor wären, könnten Sie übrigens wieder zu diesem kuriosen Steckenpferd zurückkehren.« 25

Die Dinge nahmen dann doch noch eine glückliche Wendung, als Ehrenfest ein Angebot akzeptierte, das Einstein zuvor erhalten und abgelehnt hatte: den verehrten Lorentz zu ersetzen, der sein Amt nur noch sehr reduziert wahrnehmen wollte. Einstein war begeistert, denn es bedeutete, dass er dort jetzt zwei Freunde hatte, die er regelmäßig besuchen konnte. Für Einstein wurde Leiden damit fast zu einer zweiten Heimat und einer Möglichkeit, der beklemmenden Atmosphäre zu entkommen, die er später in Berlin vorfand. Fast jedes Jahr während der beiden Jahrzehnte bis 1933, als Ehrenfest Selbstmord beging und Einstein nach Amerika emigrierte, unternahm dieser regelrechte Pilgerfahrten nach Leiden , um ihn und Lorentz dort oder in einem nahen Seebad zu treffen. 26

Die Solvay-Konferenz 1911

Ernest Solvay war ein belgischer Chemiker und Industrieller, der mit einer Methode zur Herstellung von Soda ein Vermögen verdient hatte. Da er mit dem Geld etwas Ungewöhnliches, aber Nützliches anfangen wollte und weil er einige ungewöhnliche Gravitationstheorien ersonnen hatte, die er Wissenschaftlern vortragen wollte, beschloss er, eine Konferenz für die Elite der europäischen Physik zu organisieren. Festgesetzt auf Ende Oktober 1911, sollte sie die erste einer Reihe von einflussreichen Konferenzen sein, die während der folgenden Jahre unregelmäßig stattfanden und als Solvay-Konferenzen in die Wissenschaftsgeschichte eingingen.

In Brüssels Grand Hotel Metropole fanden sich zwanzig der berühmtesten europäischen Wissenschaftler ein. Gekommen waren unter anderen Max Planck , Henri Poincaré , Marie Curie , Ernest Rutherford und Wilhelm Wien . Der Chemiker Walther Nernst organisierte die Veranstaltung und fungierte als Manager für den etwas schrulligen Ernest Solvay . Der freundliche Hendrik Lorentz übernahm den Vorsitz mit, wie sein Bewunderer Einstein es ausdrückte, »unvergleichlichem Takt und unglaublicher Virtuosität«. 27

Das beherrschende Thema der Konferenz war das »Quantenproblem«. Einstein wurde gebeten, einen Vortrag zu dem Thema zu halten, was ihn als eines von acht »besonders kenntnisreichen Mitgliedern« auszeichnete. Er äußerte sich etwas genervt – vielleicht eher gespielt als ehrlich – über die ehrenvolle Rolle, die man ihm zugedacht hatte. Den »Hexensabbat in Brüssel « nannte er die bevorstehende Konferenz und beklagte sich bei Besso , er sei durch seinen »Seich für den Brüssler Kongress geplagt«. 28

Einsteins Vortrag trug den Titel »Zum gegenwärtigen Stande des Problems der spezifischen Wärme«. Spezifische Wärme – die Energiemenge, die erforderlich ist, um die Temperatur einer Mengeneinheit einer Substanz um einen bestimmten Betrag zu erhöhen – war das Steckenpferd von Heinrich Weber , seinem ehemaligen Professor und Gegenspieler am Züricher Polytechnikum . Weber hatte, vor allem bei niedrigen Temperaturen, einige Anomalien in den Gesetzen entdeckt, die, wie man annahm, die spezifische Wärme bestimmten. Ende 1906 hatte Einstein einen »gequantelten« Ansatz vorgeschlagen, wie er ihn nannte, das heißt, er ging von der Annahme aus, die Atome in jedem Stoff könnten nur diskrete Energiepäckchen aufnehmen.

1911, in seinem Solvay -Vortrag, handelte Einstein dieses Thema im größeren Rahmen des sogenannten Quantenproblems ab. Ob es möglich sei, so fragte er, die physikalische Realität dieser atomistischen Lichtteilchen zu leugnen, die gleich Kugeln auf das Herz der Maxwell’schen Gleichungen, ja der gesamten klassischen Physik gerichtet seien?

Planck , der den Begriff der Quanten entwickelt hatte, behauptete weiterhin, sie kämen nur ins Spiel, wenn Licht emittiert oder absorbiert werde. Sie seien keine realen Eigenschaften. Widerwillig räumte Einstein in seinem Vortrag auf der Konferenz ein: »Jene Unstetigkeiten, die uns an Plancks Theorie so sehr abstoßen, scheinen in der Natur wirklich vorhanden zu sein.« 29

In der Natur wirklich vorhanden zu sein. Das war für Einstein eine seltsame Formulierung. Für einen reinen Vertreter der Mach ’schen Philosophie, oder auch der Hume ’schen, ergibt der ganze Ausdruck »in der Natur wirklich vorhanden sein« überhaupt keinen Sinn. In der speziellen Relativitätstheorie hatte Einstein es vermieden, die Existenz von Dingen wie absoluter Zeit und absoluter Entfernung vorauszusetzen, denn es erschien sinnlos, von ihnen zu behaupten, sie seien »wirklich« in der Natur vorhanden, wenn man sie nicht beobachten konnte. Doch fortan, in den mehr als vier Jahrzehnten, in denen er sein Unbehagen an der Quantentheorie zum Ausdruck brachte, klang er zunehmend wie ein wissenschaftlicher Realist, also jemand, der glaubte, es gebe eine fundamentale Realität in der Natur, unabhängig von unserer Fähigkeit, sie zu beobachten oder zu messen.

Nach Beendigung seines Referats sah sich Einstein in einem Kreuzfeuer der Fragen von Lorentz , Planck , Poincaré und anderen. Lorentz stand auf und sagte, einige von Einsteins Aussagen schienen »mit den Maxwell’schen Gleichungen (…) vollständig unvereinbar zu sein«.

Vielleicht zu bereitwillig ließ sich Einstein das Zugeständnis abringen, dass es sich bei der Quantenhypothese um eine »Hilfsvorstellung« mit »provisorischem Charakter« handle, »die sich mit den experimentell gesicherten Folgerungen der Undulationstheorie nicht vereinigen zu lassen scheint«. Zum Verständnis des Lichts sei es notwendig, so antwortete er auf die Fragen, die Wellen - und die Teilchenthese in irgendeiner Weise miteinander zu vereinbaren. Daher »muß man neben der für uns unentbehrlichen Maxwell’schen Elektromagnetik eine Hypothese wie die der Quanten in irgendeiner Gestalt zulassen«. 30

Selbst Einstein wusste nicht recht, ob Planck von der Realität der Quanten überzeugt sei. »Planck habe ich grossenteils von meiner Auffassung überzeugen können, nachdem er sich nun schon jahrelang dagegen gesträubt hatte«, schrieb Einstein an Heinrich Zangger . Doch eine Woche später berichtete Einstein seinem Freund etwas ganz anderes: »Planck ist verrannt in einige ohne Zweifel falsche vorgefasste Meinungen.«

Für Lorentz hatte Einstein wie immer nur Bewunderung: »Ein lebendiges Kunstwerk! Er ist nach meiner Meinung immer noch der intelligenteste unter den anwesenden Theoretikern gewesen.« Poincaré , der ihm wenig Aufmerksamkeit schenkte, tat er brüsk ab: »Poincaré war einfach allgemein ablehnend, zeigte bei allem Scharfsinn wenig Verständnis für die Situation.« 31 Insgesamt gab er der Konferenz schlechte Zensuren, da sie die Gefahr, die der klassischen Mechanik durch die Quantentheorie drohe, nur bejammert hätten, statt sie zu bekämpfen. Der Kongress in Brüssel »sah überhaupt einer Wehklage auf den Trümmern Jerusalems ähnlich«, schrieb er an Besso . »Positives kam nicht zustande.« 32

Für Einstein gab es nur einen interessanten Nebenschauplatz: die Romanze zwischen der verwitweten Marie Curie und dem verheirateten Paul Langevin . Als hervorragende und passionierte Forscherin war Madame Curie die erste Frau, die einen Nobelpreis erhielt; 1903 war sie zusammen mit ihrem Ehemann und einem anderen Wissenschaftler für ihre Arbeit über Strahlung mit einem geteilten Nobelpreis ausgezeichnet worden. Drei Jahre später wurde ihr Mann von einer Kutsche getötet. Sie war in tiefer Trauer, genauso wie der Schützling ihres Mannes, Paul Langevin , der mit den Curies Physik an der Sorbonne lehrte. Langevin war in einer Ehe mit einer Frau gefangen, die ihn körperlich misshandelte. Wenig später begannen Marie Curie und er eine Affäre in seiner Pariser Wohnung. Seine Frau ließ dort jemanden einbrechen und ihre Liebesbriefe stehlen.

Gleich zu Beginn der Solvay-Konferenz , bei der Curie und Langevin anwesend waren, begann eine Pariser Boulevardzeitung die entwendeten Briefe zu veröffentlichen, das Vorspiel zu einem sensationellen Scheidungsprozess. Zum selben Zeitpunkt wurde bekannt gegeben, dass Marie Curie für die Entdeckung von Radium und Polonium den Nobelpreis in Chemie bekommen habe. 33 Ein Mitglied der Schwedischen Akademie riet ihr, sie solle angesichts der Empörung über ihre Beziehung zu Langevin den Preis lieber nicht persönlich entgegennehmen, aber sie erwiderte kaltblütig: »Ich glaube, es besteht keine Verbindung zwischen meiner wissenschaftlichen Arbeit und (…) meinem Privatleben.« So fuhr sie nach Stockholm und ließ sich den Preis überreichen. 34

Die ganze Empörung erschien Einstein töricht. »Sie ist eine schlichte, ehrliche Person«, meinte er. »Sie hat eine sprühende Intelligenz.« Ziemlich unverblümt gelangte er zu dem nicht gerechtfertigten Schluss, sie sei nicht hübsch genug, um irgendeine Ehe zu zerstören. »Trotz ihrer Leidenschaftlichkeit«, schrieb er, »[war sie] nicht anziehend genug, um jemandem gefährlich zu werden.« 35 Weit liebenswürdiger war der kompromisslose Zuspruch, den er ihr einen Monat später in einem Brief zuteilwerden ließ:

Lachen Sie nicht über mich, wenn ich Ihnen schreibe, ohne Ihnen etwas Verständiges zu sagen zu haben. Aber ich bin so wütend über die niederträchtige Art, in der sich der Pöbel gegenwärtig mit Ihnen zu befassen wagt, dass ich diesem Gefühl unbedingt Ausdruck geben muss. (…) Es drängt mich, Ihnen zu sagen, wie ich Ihren Geist, Ihre Thatkraft und Ihre Ehrlichkeit bewundern gelernt habe, und dass ich mich glücklich schätze, Ihre persönliche Bekanntschaft in Brüssel gemacht zu haben. Wer nicht zu den Reptilien zählt, wird sich nach wie vor freuen, dass wir solche Persönlichkeiten wie Sie und auch Langevin unter uns haben, wirkliche Menschen, im Verkehr mit denen man sich glücklich fühlt. Wenn sich der Pöbel noch weiter mit Ihnen befasst, so lesen Sie einfach das Gewäsch nicht, sondern überlassen Sie das dem Reptil, für das es fabriziert ist. 36

Auftritt Elsa

Während Einstein durch Europa wanderte, Vorträge hielt und seinen wachsenden Ruhm genoss, blieb seine Frau in Prag zurück, einer Stadt, die sie hasste, und haderte mit dem Umstand, dass sie nicht zu den wissenschaftlichen Kreisen zählte, denen anzugehören sie einst gehofft hatte. »Ich hätte gar zu gerne auch ein wenig zugehört, und alle diese feinen Leute gesehen«, schrieb sie ihm nach einem seiner Vorträge im Oktober 1911. »Es ist jetzt schon eine Ewigkeit, dass wir uns nicht gesehen, ob Du mich wohl noch erkennen wirst?« Sie unterschrieb mit »Deine alte D«, als wäre sie noch das frühere Doxerl, nur ein bisschen älter. 37

Die Umstände, möglicherweise in Verbindung mit einer angeborenen Anlage, lösten eine Schwermut, vielleicht sogar Depression aus. Als Philipp Frank sie zum ersten Mal in Prag traf, dachte er, sie könnte schizophren sein. Einstein pflichtete ihm bei und schrieb später einem Kollegen, ihre Schwermut »ist sicherlich auf genetisch bedinge Anlage zur Schizophrenie von der mütterlichen Seite zurückzuführen«. 38

So befand sich Einsteins Ehe schon wieder in einem prekären Zustand, als er während der Osterferien 1912 allein nach Berlin reiste. Dort traf er eine Cousine wieder, die drei Jahre älter war und die er als Kind gekannt hatte.

Elsa Einstein 39 war die Tochter von Rudolf (»dem reichen«) Einstein und Fanny Koch Einstein . Mütterlicherseits wie väterlicherseits war sie Einsteins Cousine. Ihr Vater war ein Cousin ersten Grades von Einsteins Vater Hermann und hatte dessen Firma mitfinanziert. Ihre Mutter war die Schwester von Einsteins Mutter Pauline (was Elsa und Albert zu Cousin und Cousine ersten Grades machte). Nach Hermanns Tod war Pauline ein paar Jahre lang bei Rudolf und Fanny eingezogen und hatte im Haushalt geholfen.

Als Kinder hatten Albert und Elsa zusammen im Haus von Alberts Eltern in München gespielt und waren einmal zusammen in der Oper gewesen. 40 In der Zwischenzeit hatte Elsa geheiratet, sich scheiden lassen und lebte nun, 36 Jahre alt, mit ihren beiden Töchtern Margot und Ilse im gleichen Mehrfamilienhaus wie ihre Eltern.

Der Gegensatz zu Einsteins Frau war groß. Mileva Marić war exotisch, intellektuell und kompliziert. Elsa nicht. Sie war eine durchschnittlich gut aussehende Frau, häuslich und fürsorglich. Sie hatte eine Vorliebe für schwere deutsche Hausmannskost und Schokolade, sodass sie ziemlich korpulent und matronenhaft aussah. Ihr Gesicht glich dem ihres Cousins, eine Ähnlichkeit, die im Alter noch auffälliger wurde. 41

Einstein suchte nach einer neuen Gefährtin und flirtete zunächst mit Elsas Schwester, entschied sich aber dann doch für Elsa , weil sie die Geborgenheit und Fürsorge versprach, nach der er sich sehnte. Offenbar war die Liebe, die er suchte, keine wilde Affäre, sondern unkomplizierte Zuwendung und Zuneigung.

Und Elsa , die ihren Cousin verehrte, war bereit, ihm zu geben, was er brauchte. Als er nach Prag zurückkehrte, schickte sie ihm sofort einen Brief ins Büro und nicht zu ihm nach Hause, in dem sie ihm erläuterte, wie sie heimlich miteinander korrespondieren konnten. »Wie lieb von Dir, dass Du nicht zu stolz bist, auf solche Art mit mir zu verkehren!«, antwortete er. »Ich habe Dich in diesen wenigen Tagen so lieb gewonnen, dass ich Dirs kaum sagen kann.« Sie bat ihn, die Briefe zu vernichten, was er auch tat, während sie seine Antworten bis an ihr Lebensende in einem Ordner aufbewahrte, den sie zuband und mit den Worten »Besonders schöne Briefe aus bester Zeit!« beschriftete. 42

Einstein entschuldigte sich für seinen Flirt mit ihrer Schwester Paula . »Ich begreife nur schwer, wie ich an ihr habe Gefallen finden können«, sagte er. »Eigentlich ist es aber einfach. Sie war jung, ein Mädchen, und entgegenkommend.« Ein Jahrzehnt zuvor, als er das exklusive Bohemeleben mit Marić so schätzte, hätte er Verwandte wie Elsa als »Philister« abgetan. Aber jetzt bekannte er in Briefen, die fast so überschwänglich waren wie einst die an Marić , seine neue Leidenschaft für Elsa . »Jemand lieb haben muss ich aber, sonst ist es jämmerlich zu existieren«, schrieb er. »Und dieser jemand bist Du.«

Sie wusste, wie sie ihn aus der Reserve locken konnte: Sie zog ihn damit auf, dass er vor Marić kusche, dass er bei ihr »unter dem Pantoffel« stehe. Wie gehofft, reagierte Einstein mit der Ankündigung, er werde ihr das Gegenteil beweisen. »Denke aber nicht so über mich!«, schrieb er. »Ich versichere Dir mit aller Überzeugung, dass ich mich für ein vollwertiges Mannsbild halte. Vielleicht gibts einmal eine Gelegenheit Dirs zu beweisen.«

Angespornt von seiner neuen Liebe und von der Aussicht, in der Welthauptstadt der theoretischen Physik arbeiten zu können, reifte in Einstein der Entschluss, nach Berlin zu ziehen. »Die Aussicht, dass ich nach Berlin gerufen werde, ist leider recht gering«, räumte er gegenüber Elsa ein. Aber von sich aus tat er, was er konnte, um seine Aussichten zu verbessern, dort eines Tages eine Stellung zu bekommen. In seinem Notizbuch listete er die wichtigen Vertreter der akademischen Welt auf, mit denen er Verabredungen getroffen hatte, unter anderem die Wissenschaftler Fritz Haber , Walther Nernst und Emil Warburg . 43

Einsteins Sohn Hans Albert erinnerte sich später, er habe kurz nach seinem achten Geburtstag, im Frühjahr 1912, bemerkt, dass die Ehe seiner Eltern in die Brüche ging. Doch als Einstein von Berlin nach Prag zurückgekehrt war, schien er Bedenken wegen seiner Affäre mit seiner Cousine zu bekommen. In zwei Briefen versuchte er, sie zu beenden. »Aber es wird nur Verwirrung und Unglück entstehen, wenn wir unserer Zuneigung zu einander nachgeben«, schrieb er Elsa .

Etwas später in diesem Monat versuchte er, noch entschiedener zu klingen: »Ich habe das Gefühl, dass es uns beiden und andern nicht zum Guten gereicht, wenn wir uns enger aneinander anschliessen. Ich schreibe Dir also heute zum letzten mal und begebe mich in das Unvermeidliche zurück, und Du musst es auch. Du weisst, dass es nicht hart und gefühllos von mir ist, wenn ich so rede, denn Du weisst, dass ich ohne Hoffnung, wie Du, mein Kreuz schleppe.« 44

Eines hatten Einstein und Marić gemeinsam: das Gefühl, dass das Leben im deutschen Bürgertum Prags zunehmend schwierig wurde. »Das sind gar keine Menschen mit natürlichem Empfinden«, teilte er Besso mit. Ihr Verhalten sei »ein eigentümliches Gemisch von standesdünkelhaft und servil, ohne irgend welches Wohlwollen gegen die Mitmenschen«. Das Wasser war ungenießbar, die Luft voller Ruß, und auf der Straße stießen protziger Luxus und entsetzliche Armut unmittelbar aufeinander. Am schlimmsten aber fand Einstein die künstlichen Klassenstrukturen. »Wenn ich ins Institut komme«, schrieb er angewidert, »verbeugt sich ein serviler, nach Alkohol riechender Mensch und sagt ›ergebenster Diener‹.« 45

Marić befürchtete, die schlechte Qualität von Wasser, Milch und Luft könnte ihrem jüngeren Sohn Eduard schaden. Er hatte wenig Appetit und schlief schlecht. Inzwischen war auch klar, dass ihrem Mann die Forschung mehr am Herzen lag als seine Familie. »Ununterbrochen arbeitet er an seinen Problemen; man könnte sagen, er lebt nur für sie«, klagte sie ihrer Freundin Helene Savić . »Ich muss gestehen, es demütigt mich ein wenig, dass wir für ihn so unbedeutend sind und erst an zweiter Stelle kommen.« 46

So kam es, dass Einstein und seine Frau beschlossen, an den einzigen Ort zurückzukehren, von dem sie glaubten, er könne ihre Beziehung retten.

Zürich, 1912

Das Züricher Polytechnikum , an dem Einstein und Marić in glückseliger Bücher- und Seelengemeinschaft studiert hatten, war im Juni 1911 zu einer vollgültigen Universität geworden, hatte den Namen Eidgenössische Technische Hochschule (ETH ) bekommen und das Recht erhalten, alle Hochschulgrade zu verleihen. 32 Jahre alt und mittlerweile eine ziemliche Berühmtheit in der Welt der theoretischen Physik , hätte Einstein eigentlich ein geeigneter und naheliegender Kandidat für die dort zu vergebenden neuen Professorenstellen sein müssen.

Diese Möglichkeit war schon ein Jahr zuvor erörtert worden. Noch vor seiner Abreise nach Prag hatte Einstein eine Abmachung mit den Verantwortlichen in Zürich getroffen. »Ich [habe] in Zürich privatim versprochen, dort Mitteilung zu machen, bevor ich irgendwo eine andere Berufung annehme, damit die Leitung des Polytechnikums mir ebenfalls einen Ruf zukommen lassen kann, falls sie es für gut findet«, teilte er einem niederländischen Professor mit, der versuchte, ihn für Utrecht zu gewinnen. 47

Im November 1911 hatte Einstein ein solches Angebot aus Zürich erhalten – oder zumindest glaubte er das –, deshalb sagte er Utrecht ab. Doch die Angelegenheit war noch nicht in trockenen Tüchern, weil einige Vertreter der Stadt Zürich Einwände hatten. Erstens war nach ihrer Ansicht ein Professor in theoretischer Physik ein »Luxus«, zweitens gab es nicht genügend Laborräume, um ihn unterzubringen, drittens, so die Offiziellen abschließend, war Einstein persönlich kein guter Lehrer.

Heinrich Zangger , ein langjähriger Freund und Medizinforscher in Zürich , setzte sich für Einstein ein. »Ein ordentlicher theoret. Physiker ist heute eine Forderung«, schrieb er in einem Brief an einen einflussreichen Bundesrat. Außerdem wies er darauf hin, dass Einstein »gar kein Laboratorium brauche«. Für Einsteins Lehrfähigkeit lieferte Zangger eine wunderbar differenzierte und aufschlussreiche Beschreibung:

Es ist kein guter Lehrer für denkfaule Herrn, die nur ein Heft voll schreiben wollen u es auswendig lernen wollen für das Examen, es ist kein Schönredner, aber wer lernen will ehrlich, tief innerlich seine physikal. Gedanken aufzubauen, alle Praemissen umsichtig zu prüfen die Klippen u die Probleme zu sehen, die Zuverlässigkeitsgrenzen einer Überlegung zu übersehen, der findet in Einstein einen erstklassigen Lehrer, denn alles das kommt im Vortrag zum suggestiven Ausdruck, der zum mitdenken zwingt. 48

Zangger empörte sich in einem Brief an Einstein über die Zögerlichkeit in Zürich , worauf dieser antwortete: »Und die lieben Züricher können mich auch … gern haben bis auf Sie.« Er bat Zangger , in der Sache keinen weiteren Druck auszuüben. »Das Polytechnikum überlassen Sie vertrauensvoll Gottes unerforschlichem Ratschluss.« 49

Doch Einstein war keinesfalls gewillt, die Sache fallen zu lassen, sondern suchte das Polytechnikum durch eine kleine List unter Zugzwang zu setzen. Die Universität Utrecht war im Begriff, ihre offene Stelle Peter Debye anzubieten, als Einstein sie bat, noch etwas zu warten. »Ich komme noch nachträglich mit einer eigentümlichen Bitte zu Ihnen«, schrieb er. Anfänglich sei das Züricher Polytechnikum sehr an ihm interessiert gewesen und habe sich sehr beeilt aus Furcht, er könne nach Utrecht gehen. »Wenn sie nun aber übermorgen oder sonst sehr bald erfahren, dass Debije nach Utrecht kommt, dann werden sie ihr Temperament sofort verlieren und mich endlos im Ungewissen lassen. Deshalb bitte ich Sie, mit der offiziellen Anfrage an Debije noch ein wenig zu warten.« 50

Sehr zu seiner Überraschung sah Einstein sich genötigt, Empfehlungsschreiben vorzulegen, um eine Stellung bei seiner eigenen Alma Mater zu bekommen. Eines verfasste Marie Curie : »In Brüssel , wo ich eine wissenschaftliche Konferenz besuchte, an der auch M. Einstein teilnahm, konnte ich die Klarheit seines Verstandes, die Weite seiner Kenntnisse und die Profundität seines Wissens bewundern«, schrieb sie. 51

Eine zusätzliche Ironie lag darin, dass sein anderes Empfehlungsschreiben von Henri Poincaré kam, dem Mann, der beinahe selbst eine Relativitätstheorie entwickelt hätte, aber dann doch nicht zu ihr durchzudringen vermochte. Einstein sei »einer der originellsten Denker, denen ich je begegnet bin«, schrieb er. Besonders bemerkenswert war der Umstand, dass er die – ihm selbst fehlende – Bereitschaft Einsteins zu radikalen begrifflichen Sprüngen hervorhob: »Besonders bewundere ich, wie leicht er mit neuen Begriffen arbeiten kann. Er klammert sich nicht an klassische Prinzipien, und wenn er sich einem physikalischen Problem gegenübersieht, erkennt er sofort alle Möglichkeiten.« Allerdings konnte sich Poincaré , vielleicht im Gedanken an die Relativitätstheorie , den Hinweis nicht verkneifen, dass Einstein wohl nicht in allen seinen Theorien recht habe: »Da seine Suche in alle Richtungen geht, muss man davon ausgehen, dass die Mehrheit seiner Wege sich als Sackgassen erweisen.« 52

Bald zeigten alle diese Maßnahmen Wirkung. Im Juli 1912 zog Einstein nach Zürich zurück. Er dankte Zangger noch einmal, dass er ihm geholfen habe, sich »gegen alle Wahrscheinlichkeit« durchzusetzen, und bekannte: »Ich bin außerordentlich glücklich, dass wir wieder zusammen sein werden.« Auch Marić war überglücklich. Sie glaubte, die Rückkehr werde ihrer Gesundheit und ihrer Ehe guttun. Selbst die Kinder schienen froh darüber zu sein, Prag verlassen und in ihre Geburtsstadt zurückkehren zu können. Auf eine Postkarte an einen anderen Freund schrieb er: »Darob bei uns Alten und beiden Bärchen grosse Freude.« 53

Sein Fortgang führte zu einer kleinen Kontroverse in Prag . In einigen Zeitungsartikeln wurde behauptet, Antisemitismus könnte dabei eine Rolle gespielt haben. Einstein fühlte sich genötigt, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben. »Von irgend einer konfessionellen Voreingenommenheit, die gemutmaßt wird«, schrieb er, »habe ich nichts empfunden und nichts bemerkt.« Schließlich bestätige die Berufung von Philipp Frank , einem Juden , zu seinem Nachfolger, dass »derlei Rücksichten« keine große Rolle gespielt hätten. 54

Das Leben in Zürich sollte großartig werden. Die Einsteins konnten sich eine moderne Sechszimmerwohnung mit wundervoller Aussicht leisten. Sie waren wieder mit Freunden wie Zangger und Grossmann vereinigt, und es gab auch einen Feind weniger. »Dort ist der grimmige Weber gestorben, sodass es auch persönlich sehr angenehm sein wird«, so Einsteins Mitteilung über seinen ehemaligen Physikprofessor und erbitterten Widersacher Heinrich Weber . 55

Wieder gab es musikalische Zusammenkünfte im Haus des Mathematikprofessors Adolf Hurwitz . Auf dem Programm stand nicht nur Mozart , Einsteins Lieblingskomponist, sondern auch Schumann , der Marić’ Favorit war. An den Sonntagnachmittagen stand Einstein mit Ehefrau und zwei kleinen Jungen auf der Türschwelle und verkündete: »Da kommt der Einstein mit dem ganzen Hühnerhof.«

Trotz der Freunde und der Ablenkung versank Marić immer tiefer in ihrer Depression, und auch ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Sie bekam Rheumatismus, der ihr das Ausgehen erschwerte, wobei ihr besonders die vereisten Straßen im Winter Probleme bereiteten. Auch zu den Musiknachmittagen bei Hurwitz erschien sie seltener, und wenn sie kam, trat ihre Schwermut immer deutlicher zutage. Im Februar 1913 plante die Familie Hurwitz ihretwegen eine Zusammenkunft, bei der ausschließlich Schumann gespielt wurde. Zwar kam sie , schien aber von körperlichem und seelischem Schmerz wie gelähmt zu sein. 56

Die Atmosphäre war also reif für einen Katalysator, der diese instabile Familiensituation aufbrach. Er kam in Form eines Briefs. Nach fast einjährigem Schweigen schrieb Elsa Einstein ihrem Cousin.

Im Mai des zurückliegenden Jahres hatte Einstein zwar erklärt, er schreibe ihr nun »zum letzten mal«, ihr aber nichtsdestotrotz die Adresse seiner neuen Wirkungsstätte in Zürich genannt. Jetzt beschloss Elsa , ihm einen Glückwunsch zum 34. Geburtstag zu schicken. Angefügt war die Bitte um ein Bild und um eine Empfehlung für ein gutes, für sie lesbares Buch über die Relativitätstheorie . Sie wusste, wie sie ihm schmeicheln konnte. 57

»Über die Relativität gibt es kein für Laien verständliches Buch« antwortete er. »Für was hast Du aber einen Relat. Vetter? Wenn Dich Dein Weg nach Zürich führt, dann machen wir (ohne meine leider so eifersüchtige Frau ) einen schönen Spaziergang, und ich erzähle Dir von all den merkwürdigen Dingen, die ich damals fand.« Dann ging er noch einen Schritt weiter, indem er sie fragte, ob es nicht schöner sei, anstatt sein Porträt zu schicken, sich persönlich zu sehen. »Wenn Du mir eine grosse Freude machen willst, dann richte es einmal ein, dass Du Dich einige Tage hier aufhältst.« 58

Einige Tage später schrieb er wieder einen Brief, in dem er ihr mitteilte, dass er einen Fotografen beauftragt habe, ihr ein Bild zu schicken. Er habe an der Verallgemeinerung seiner Relativitätstheorie gearbeitet, berichtete er, und das sei eine Strapaze. Wie schon im Jahr zuvor beklagte er sich auch jetzt über seine Ehe mit Marić : »Ich würde etwas drum geben, wenn ich einige Tage mit Dir verbringen könnte, aber ohne … mein Kreuz.« Er fragte Elsa , ob sie im Sommer in Berlin sein werde. »[Ich] würde (…) gern ein wenig zu Euch kommen.« 59

Insofern kann es nicht überraschen, dass sich Einstein sehr interessiert zeigte, als einige Monate später die beiden tragenden Säulen des wissenschaftlichen Establishments in Berlin  – Max Planck und Walther Nernst  – mit einem verlockenden Vorschlag nach Zürich kamen. Von Einstein auf der Solvay-Konferenz 1911 beeindruckt, hatten sie schon bei Kollegen vorgefühlt, was diese von einer Berufung Einsteins nach Berlin hielten.

Das Angebot, das sie mitbrachten, als sie mit ihren Frauen am 11. Juni 1913 mit dem Nachtzug aus Berlin eintrafen, wies drei eindrucksvolle Aspekte auf: Einstein sollte in eine begehrte Vakanz der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt werden, was mit einer stattlichen Vergütung verbunden war; er sollte der Direktor eines neuen Physikinstituts werden; und er sollte eine Professur an der Universität Berlin erhalten. Das Paket versprach eine Menge Geld und bedeutete nicht annähernd so viel Arbeit, wie man auf den ersten Blick vermuten würde. Planck und Nernst erklärten ihm, er werde keine Lehrverpflichtungen an der Universität und keine echten Verwaltungsaufgaben am Institut haben. Und obwohl er die deutsche Staatsbürgerschaft wieder annehmen müsse, könne er die Schweizer Staatsbürgerschaft behalten.

Während eines langen Besuchs in Einsteins sonnigem Büro im Polytechnikum erläuterten die beiden Wissenschaftler ihr Angebot. Einstein sagte, er brauche ein paar Stunden, um die Sache zu überdenken, obwohl er wahrscheinlich schon wusste, dass er annehmen würde. Also fuhren Planck und Nernst nebst ihren Frauen mit einer Seilbahn auf einen der nahen Berge. Mit verschmitztem Humor teilte Einstein ihnen mit, er werde an der Station der Seilbahn mit einem Signal auf sie warten. Wenn er sich zur Ablehnung entschlossen habe, werde er eine weiße Rose tragen, und wenn er akzeptiere, eine rote Rose (nach einigen Autoren hat es sich um ein Taschentuch gehandelt). Als sie aus der Bahn stiegen, entdeckten sie zu ihrer großen Freude, dass er akzeptiert hatte. 60

Die Abmachung bedeutete, dass Einstein mit 34 Jahren das jüngste Mitglied der Preußischen Akademie würde. Zunächst aber musste Planck erst einmal dafür sorgen, dass Einstein gewählt wurde. Plancks  – auch von Nernst und anderen unterzeichnetes – Empfehlungsschreiben enthielt die denkwürdige, aber falsche Einschränkung, »daß er in seinen Spekulationen gelegentlich auch einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie z. B. in seiner Hypothese der Lichtquanten «. Aber der Rest des Schreibens war voll des Lobes über seine vielen wissenschaftlichen Verdienste. »Zusammenfassend kann man sagen, daß es unter den großen Problemen, an denen die moderne Physik so reich ist, kaum eines gibt, zu dem nicht Einstein in bemerkenswerter Weise Stellung genommen hätte.« 61

Einstein war klar, dass die Berliner ein Risiko eingingen. Man hatte ihn nicht wegen seiner Lehrfähigkeiten eingestellt (denn er würde gar nicht lehren), noch wegen seiner administrativen Kenntnisse. Und obwohl er Skizzen und Aufsätze veröffentlicht hatte, aus denen hervorging, dass er unablässig bemüht war, die Relativitätstheorie zu verallgemeinern, war unklar, ob diese Suche erfolgreich sein würde. »Die Herren Berliner spekulieren mit mir wie mit einem prämiierten Leghuhn«, sagte er zu einem Freund, als sie ein Fest verließen, »aber ich weiß nicht, ob ich noch Eier legen kann.« 62

Genauso ging Einstein ein Risiko ein. Er hatte einen sicheren und einträglichen Posten in einer Stadt und einem Land, das er, seine Frau und seine Kinder liebten. Die Schweizer Wesensart lag ihm. Seine Frau hegte eine slawische Abneigung gegen alles Teutonische, während ihm in der Kindheit ein ähnlicher Widerwille eingepflanzt worden war. Als Junge hatte er vor der preußischen Marschiererei und dem deutschen Drill die Flucht ergriffen. Nur das Angebot einer so privilegierten Sonderstellung in der Welthauptstadt der Naturwissenschaften konnte ihn zu diesem Schritt bewegen.

Einstein erschien die Aussicht aufregend und ein bisschen erheiternd. »[Ich] gehe (…) nach Berlin als Akademie-Mensch ohne irgendeine Verpflichtung, quasi als lebendige Mumie«, schrieb er. »Ich freue mich sehr auf diesen schwierigen Beruf!« 63 Ehrenfest gegenüber räumte er ein: »Ich nahm diese kuriose Sinekure an, weil mir das Kolleghalten so kurios auf die Nerven geht.« 64 Doch gegenüber dem verehrten Hendrik Lorentz in den Niederlanden legte Einstein etwas mehr Ernst an den Tag: »Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Stelle anzunehmen, in der mir alle Verpflichtungen abgenommen sind, sodass ich mich ganz der Grüblerei hingeben kann.« 65

Natürlich gab es an der neuen Stellung noch einen anderen Aspekt, der ihm verlockend erschien: die Möglichkeit, mit Elsa , seiner Cousine und neuen Liebe, zusammen zu sein. Später räumte er gegenüber seinem Freund Zangger ein: »Sie war ja auch für mich der Hauptgrund, aus dem ich nach Berlin gegangen bin.« 66

Noch an dem Abend, als Planck und Nernst Zürich verließen, schrieb Einstein einen Brief, in dem er Elsa aufgeregt schilderte, welche »kolossale Ehre« ihm zuteilgeworden sei. »Längstens nächstes Frühjahr komme ich also für immer nach Berlin «, teilte er ihr begeistert mit. »Ich freue mich schon sehr auf die schönen Zeiten, die wir zusammen verbringen werden!« In der folgenden Woche schickte er ihr noch zwei solchen Nachrichten. »Ich bin sehr freudig in dem Gedanken nun bald zu Euch zu kommen«, schrieb er ihr in der ersten. Und ein paar Tage später: »Nun kommen wir zusammen und wollen uns miteinander freuen!« Mit Sicherheit lässt sich nicht sagen, wie die Faktoren, die ihn nach Berlin zogen, zu gewichten sind: die unübertreffliche wissenschaftliche Gemeinschaft dort, das Prestige und die Einkünfte, die man ihm bot, oder die Aussicht, mit Elsa zusammen zu sein. Doch zumindest ihr gegenüber bezeichnete er letzteres Motiv als den Hauptgrund. »Nach Berlin freue ich mich sehr, und zwar hauptsächlich, weil ich mich auf Dich freue.« 67

Tatsächlich hatte Elsa versucht, ihm zu diesem Angebot zu verhelfen. Einige Zeit zuvor hatte sie in demselben Jahr von sich aus Fritz Haber aufgesucht, den Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie , und ihm mitgeteilt, dass ihr Cousin vermutlich an einer Position in Berlin interessiert sei. Als Einstein von Elsas Intervention erfuhr, reagierte er amüsiert. »Deine Beihilfe an meiner Berufung ist vielleicht gar nicht so unwirksam gewesen: Haber kennt seine Pappenheimer. Er weiss den Einfluss einer freundlichen Cousine schon einzuschätzen. (…) Die Ungeniertheit, mit der Du Haber auf die Bude stiegst, ist echt Elsa . Hast Du davon irgendjemand etwas gesagt, oder es mit Deiner schwarzen Seele allein abgemacht? Da hätte ich zusehen mögen!« 68

Noch bevor Einstein nach Berlin zog, begannen Elsa und er miteinander zu korrespondieren, als wären sie schon ein Paar. Sie zeigte sich besorgt über seinen Erschöpfungszustand und schrieb ihm einen langen Brief mit Vorschriften, die körperliche Bewegung, Ruhe und eine gesündere Ernährungsweise betrafen. In seiner Antwort beschrieb er ihr seine Absichten: »Rauchen wie ein Schlot, Arbeiten wie ein Ross, Essen ohne Überlegung und Auswahl, Spazierengehen nur in wirklich angenehmer Gesellschaft, also leider selten«.

Er machte ihr allerdings klar, dass er nicht vorhabe, seine Frau zu verlassen: »Du kannst aber sehr wohl mit mir zusammen Dich freuen, ohne dass sie gekränkt zu werden braucht.« 69

Tatsächlich versuchte Einstein, ungeachtet der zwischen ihm und Elsa hin- und herwogenden Flut von Briefen, immer noch seiner Rolle als Familienvater gerecht zu werden. Für den Urlaub im August beschloss er, mit seiner Frau und den beiden Söhnen einen gemeinsamen Wanderurlaub mit Marie Curie und ihren beiden Töchtern zu unternehmen. Sie hatten vor, durch die Berge der Südwestschweiz zum Comer See hinunterzuwandern, an dem er und Marić zwölf Jahre zuvor ihre leidenschaftlichste und romantischste Zeit verbracht hatten.

Doch dann zeigte sich, dass der kränkliche Eduard an der Wanderung nicht teilnehmen konnte, sodass Marić noch ein paar Tage bleiben musste, bis er sich an die Familie der Freunde gewöhnt hatte. Dann schloss sie sich unweit des Comer Sees der Gruppe an. Während der Wanderungen verlangte Curie von Einstein, ihr die Namen aller Gipfel aufzuzählen. Sie sprachen auch über wissenschaftliche Themen, vor allem wenn die Kinder vorausliefen. Einmal blieb Einstein plötzlich stehen, ergriff Curie am Arm. »Sie begreifen, dass ich genau wissen muß, was den Insassen eines Fahrstuhls geschieht, der ins Leere fällt«, sagte er, um seine Ideen über die Äquivalenz von Gravitation und Beschleunigung zu erläutern. Später schrieb Curies Tochter darüber: »Solche rührende Besorgnis lässt die junge Generation in Lachen ausbrechen.« 70

Dann stattete Einstein mit seiner Frau und den Kindern ihrer Familie in Novi Sad und in dem Sommerhaus in Kać einen Besuch ab. An ihrem letzten Sonntag in Serbien ließ Marić die Kinder  – ohne ihren Ehemann – taufen. Hans Albert erinnerte sich später an die schönen Gesänge; sein dreijähriger Bruder Eduard störte die Zeremonie. Der Vater schien das Ganze gelassen und amüsiert hinzunehmen. »Wissen Sie mit welchem Effekt?«, fragte er Hurwitz . »Die Kinder sind dort katholisch geworden. (…) Mir aber ist es ganz egal.« 71 Die Fassade familiärer Eintracht täuschte aber über die Verschlechterung der Ehe hinweg. Nach dem Besuch in Serbien und einem Zwischenstopp in Wien , wo Einstein wie immer an der Jahrestagung deutschsprachiger Physiker teilnahm, fuhr er alleine weiter nach Berlin . Dort war er wieder mit Elsa vereint. »Ich habe jetzt jemand, an den ich mit ungetrübtem Vergnügen denken und für den ich leben kann.« 72

Elsas Kochkünste, mit denen sie ihn liebevoll und mütterlich verwöhnte, waren ein wichtiges Thema in ihren Briefen. Ihre Korrespondenz stand, wie ihre Beziehung, in krassem Gegensatz zu dem, was sich zwölf Jahre zuvor zwischen Einstein und Marić abgespielt hatte. Elsa und er tauschten sich lieber über häusliche Annehmlichkeiten aus als über romantische Gefühle und Handlungen, seelische Befindlichkeiten und tiefe Gedanken.

Trotz solcher eher bodenständigen Interessen glaubte Einstein noch immer, er könne ihre Beziehung vor Spießigkeit bewahren. »Wie hübsch wäre es, wenn wir einmal zusammen eine kleine Zigeunerwirtschaft betreiben könnten«, schrieb er. »Du hast keine Ahnung wie reizend so ein Leben mit winzigen Bedürfnissen und ohne Grandezza ist!« 73 Als Elsa ihm eine Haarbürste schenkte, rühmte er sich anfangs seiner Fortschritte in der Körperpflege, verfiel dann aber wieder in die frühere Schlampigkeit und erklärte ihr, halb im Scherz, es geschehe zum Schutz gegen Philistertum und Bürgerlichkeit. Das waren dieselben Ausdrücke, die er bei Marić verwendet hatte, allerdings dort mit größerem Ernst.

Elsa wollte Einstein nicht nur zähmen, sondern auch heiraten. Noch bevor er nach Berlin zog, drängte sie ihn, sich von Marić scheiden zu lassen. Es wurde ein jahrelanger, fortwährender Kampf, bis sie sich schließlich durchsetzte. Doch im Augenblick leistete Einstein noch Widerstand. »Glaubst du«, fragte er sie, »es sei so leicht, sich scheiden zu lassen, wenn man von der Schuld des andern keinen Beweis hat?« Sie solle sich damit zufriedengeben, dass er sich praktisch von Marić getrennt habe, auch wenn er noch nicht von ihr geschieden sei. »Andererseits behandle ich meine Frau wie eine Angestellte, der ich allerdings nicht kündigen kann. Ich habe mein eigenes Schlafzimmer und vermeide es, mit ihr allein zu sein.« Elsa war empört, dass Einstein sie nicht heiraten wollte, und befürchtete, eine uneheliche Beziehung könne sich negativ auf ihre Töchter auswirken, Einstein jedoch beharrte darauf, dass es so am besten sei. 74

Verständlicherweise war Marić deprimiert von der Aussicht, nach Berlin zu ziehen. Dort würde sie es mit Einsteins Mutter zu tun bekommen, die sie nie gemocht hatte, und mit seiner Cousine , in der sie zu Recht eine Rivalin vermutete. Außerdem verhielt man sich in Berlin Slaven gegenüber manchmal noch ablehnender als selbst Juden gegenüber. »Meine Frau heult mir unausgesetzt vor von Berlin und ihrer Angst vor den Verwandten«, teilte Einstein Elsa mit. »Nun, etwas Wahres ist dabei.« Als er Elsa in einem anderen Brief berichtete, Marić habe Angst vor ihr, fügte er hinzu: »Hoffentlich mit Recht!« 75

Tatsächlich lagen bis zu diesem Zeitpunkt alle Frauen in seinem Leben – seine Mutter , Schwester , Ehefrau und verliebte Cousine  – im Streit miteinander. Als Weihnachten 1913 nahte, hatte das Ringen um die Verallgemeinerung der Relativitätstheorie den zusätzlichen Vorteil, dass es ihm die Flucht aus dem familiären Gefühlschaos ermöglichte. Diese Situation veranlasste ihn ein weiteres Mal dazu, die Wissenschaft zu preisen, weil sie ihn vor dem rein Persönlichen bewahrte. »Kein Wunder, wenn unter diesen Verhältnissen die Liebe zur Wissenschaft gedeiht«, berichtete er Elsa , »die mich aus dem Jammerthal emporhebt in ruhige Sphären, unpersönlich und ohne Schimpfen und Jammern.« 76

Als das Frühjahr 1914 und damit ihr Umzug nach Berlin näher rückte, bekam Eduard eine Ohrenentzündung, die Marić nötigte, ihn zu einem Kuraufenthalt in die Alpen zu begleiten. »Dies hat sein Gutes«, so Einstein zu Elsa . Er werde zunächst allein nach Berlin reisen, und »[u]m dies zu geniessen«, beschloss er, eine Konferenz in Paris abzusagen, damit er früher ankomme.

An einem ihrer letzten Abende in Zürich gingen er und Marić zu einem musikalischen Abschiedsabend bei Hurwitz . Abermals hatte man Schumann ins Programm aufgenommen, um sie aufzuheitern. Vergebens. Sie saß allein in einer Ecke und sprach mit niemandem. 77

Berlin, 1914

Im April 1914 war Einstein in eine geräumige Wohnung im Berliner Westend gezogen. Marić hatte sie ausgesucht, als sie Berlin während der Weihnachtsferien besuchte. Sie traf Ende April ein, als Eduard seine Ohrenentzündung überwunden hatte. 78

Die Spannungen in der Ehe der Einsteins wurden durch Überarbeitung und psychischen Stress verstärkt. Er musste sich an einen neuen Aufgabenbereich – eigentlich drei Bereiche – gewöhnen und unternahm immer wieder mühevolle neue Anläufe zu einer Verallgemeinerung der speziellen Relativitätstheorie und ihrer Verknüpfung mit einer Gravitationstheorie . Am 1. April dieses Jahres führte er beispielsweise einen regen Briefwechsel mit Paul Ehrenfest über die Frage, wie man die Kräfte berechnet, die auf Elektronen einwirken, die in einem Magnetfeld auf Kreisbahnen umlaufen. Er begann eine Theorie für solche Situationen zu formulieren, stellte dann aber fest, dass sie falsch war. »Der Engel hatte sich schon halb in seiner Herrlichkeit ent[h]üllt«, berichtete er Ehrenfest , »dann zeigte es sich, d[a]ss bei weiterer Enthüllung ein Pferdefuss herauskam, und ich lief fort.«

Noch aufschlussreicher – vielleicht sogar aufschlussreicher als gewollt – war der Kommentar, den er Ehrenfest über sein persönliches Leben in Berlin lieferte. »Dagegen habe ich wirkliche Freude an meinen hiesigen Verwandten«, berichtete er, »besonders an einer Cousine meines Alters.« 79

Als Ehrenfest Ende April zu Besuch kam, war Marić gerade eingetroffen, und er fand sie niedergeschlagen und voller Nostalgie bezüglich Zürichs . Einstein dagegen hatte sich in seine Arbeit gestürzt. »Er hatte den Eindruck, seine Familie stehle ihm zu viel von seiner Zeit und er habe die Pflicht, sich ganz auf seine Arbeit zu konzentrieren«, berichtet sein Sohn Hans Albert später in seiner Erinnerung an jenes schicksalhafte Jahr 1914. 80

An persönlichen Beziehungen sind die rätselhaftesten Kräfte der Natur beteiligt. Urteile sind von Außenstehenden nicht leicht zu treffen und noch schwerer zu überprüfen. Einstein hat gegenüber allen ihren gemeinsamen Freunden – vor allem den Bessos , Habers und Zanggers  – wiederholt und voller Selbstmitleid darauf gedrungen, dass sie das Scheitern seiner Ehe – trotz seiner offenkundigen Schuld – aus seiner Sicht betrachten müssten.

Wahrscheinlich ist richtig, dass er nicht allein verantwortlich war. Die Verschlechterung der Ehe war das Ergebnis einer Abwärtsspirale. Er hatte sich emotional zurückgezogen, während Marić immer deprimierter und schwermütiger geworden war, jede Handlung verstärkte die andere. Einstein neigte dazu, sich in seiner Arbeit zu vergraben, um schmerzlichen persönlichen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Marić war verbittert über das Scheitern ihrer eigenen Hoffnungen und zunehmend neidisch auf den Erfolg ihres Mannes. Infolge ihrer Eifersucht begegnete sie allen Menschen, die Einstein nahestanden – einschließlich seiner Mutter (die ihrer Schwiegertochter gegenüber genauso empfand) und seinen Freunden –, mit Eifersucht. Verständlicherweise ging ihr misstrauisches Verhalten teilweise auf Einsteins Distanziertheit zurück, war aber zugleich deren Ursache.

Zu der Zeit, als Marić nach Berlin zog, hatte sie selbst zumindest eine persönliche Beziehung geknüpft, und zwar zu einem Zagreber Mathematikprofessor namens Vladimir Varićak , der infrage stellte, wie Einstein die Anwendung der speziellen Relativitätstheorie auf eine rotierende Scheibe interpretierte. Einstein wusste davon. »Er hatte eine Art Verhältnis mit meiner Frau , was keinem der beiden zu verargen ist«, schrieb er Zangger . »Ich empfand dabei nur doppelt schmerzlich das Gefühl der Vereinsamung.« 81

Im Juli kam dann das Ende. Inmitten dieser Turbulenzen zog Marić mit ihren beiden Jungen in das Haus von Fritz Haber , der an Einsteins Berufung beteiligt war und in dessen Institut Einsteins Büro lag. Haber hatte seine eigenen Erfahrungen mit ehelicher Zwietracht. Nach einem Streit über Habers Kriegsbeteiligung nahm sich seine Frau Clara im folgenden Jahr das Leben. Doch im Augenblick war sie Mileva Marić ’ einzige Freundin in Berlin , und so wurde Fritz Haber zum Vermittler, als der Streit zwischen den Einsteins offen ausbrach.

Durch die Habers übermittelte Einstein seiner Frau Mitte Juli ein brutales Waffenstillstands-Ultimatum. Es hatte die Form eines Vertragsentwurfs, in dem Einstein eine objektive wissenschaftliche Vorgehensweise in Verbindung mit seiner persönlichen Feindseligkeit und emotionalen Entfremdung zu einem erstaunlichen Dokument verknüpfte. Der vollständige Text lautete:

Bedingungen

  1. Du sorgst dafür,

    1. dass meine Kleider und Wäsche ordentlich im Stand gehalten werden;

    2. dass ich die drei Mahlzeiten im Zimmer ordnungsgemäss vorgesetzt bekomme;

    3. dass mein Schlafzimmer und Arbeitszimmer stets in guter Ordnung gehalten sind, insbesondere, dass der Schreibtisch mir allein zur Verfügung steht.

  2. Du verzichtest auf alle persönlichen Beziehungen zu mir, soweit deren Aufrechterhaltung aus gesellschaftlichen Gründen nicht unbedingt geboten ist. Insbesondere verzichtest Du darauf,

    1. dass ich zuhause bei Dir sitze;

    2. dass ich zusammen mit Dir ausgehe oder verreise.

  3. Du verpflichtest Dich ausdrücklich, im Verkehr mit mir folgende Punkte zu beachten:

    1. Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.

    2. Du hast eine an mich gerichtete Rede sofort zu sistieren, wenn ich darum ersuche.

    3. Du hast mein Schlaf- bzw. Arbeitszimmer sofort ohne Widerrede zu verlassen, wenn ich darum ersuche.

  4. Du verpflichtest Dich, weder durch Worte noch durch Handlungen mich in den Augen meiner Kinder herabzusetzen. 82

Marić akzeptierte die Bedingungen. Als Haber ihm die Antwort überbrachte, bestand Einstein darauf, ihr noch einmal zu schreiben – »damit Du Dir über die Situation ganz klar bist«. Er sei bereit, wieder mit ihr zusammenzuleben, »weil ich die Kinder nicht verlieren will und weil ich nicht will, dass sie mich verlieren«. Er sehe keine Möglichkeit, eine »kameradschaftliche« Beziehung zu ihr zu unterhalten, sondern strebe ein rein »geschäftliches« Verhältnis an. »Das Persönliche muss auf einen kleinen Rest reduziert werden«, sagte er. »Dafür sichere ich Dir aber ein korrektes Benehmen von meiner Seite zu, wie ich es einer fremden Frau gegenüber üben würde.« 83

Erst jetzt wurde Marić klar, dass die Beziehung nicht zu retten war. An einem Freitagabend kamen sie alle in Habers Haus zusammen, um eine Trennungsvereinbarung zu treffen. Es dauerte drei Stunden. Einstein erklärte sich bereit, Marić und seinen Kindern jährlich 5600 Mark zu zahlen. Haber und Marić gingen zu einem Anwalt, um den Vertrag aufsetzen zu lassen; Einstein begleitete sie nicht, sondern schickte stattdessen seinen Freund Michele Besso , der aus Triest gekommen war, um ihn zu vertreten. 84

Einstein verließ das Treffen in Habers Haus und ging direkt zu Elsas Eltern, die für ihn ja zugleich Tante und Onkel waren. Sie kamen von einem Abendessen spät nach Hause und fanden ihn dort vor. Auf die veränderte Situation reagierten sie »nicht ohne gelinden Schauder«. Trotzdem luden sie ihn zum Bleiben ein. Elsa machte mit ihren beiden Töchtern Urlaub in den Bayerischen Alpen, und Einstein schrieb ihr, dass er nun in der Wohnung oben in ihrem Bett schlafe. »Sonderbar, wie verworren man empfindet«, bemerkte er. »Es ist doch ein Bett wie ein anderes, wie wenn Du noch nie darin geschlafen hättest. Und doch empfinde ich es als eine Wohlthat.« Sie hatte ihn aufgefordert, sie in den Alpen zu besuchen, aber er sagte, das sei ihm unmöglich, »schon wegen der Angst, Deinem guten Ruf wieder zu schaden«. 85

Damit sei der Weg zur Scheidung frei, versicherte er ihr und nannte es »ein Opfer«, das er ihr gebracht habe. Marić wollte wieder nach Zürich ziehen und das Sorgerecht für die beiden Jungen übernehmen. Wenn sie ihren Vater besuchen wollten, so die Vereinbarung, könne das nur auf »neutralem Boden« geschehen und nicht in irgendeinem Haus, das er mit Elsa teile. »Dies ist gerechtfertigt«, erläuterte er Elsa , »weil es unrecht ist, den Kindern den Vater mit einer andern Frau als ihrer Mutter vor Augen zu führen.«

Die Aussicht, sich von den Kindern trennen zu müssen, war entsetzlich für Einstein. Er behauptete gern, er sei frei von persönlichen Gefühlen, und manchmal war er das auch. Aber er wurde hochemotional, wenn er sich ein Leben ohne seine Söhne vorstellte. »Ich wäre doch ein wahrer Unmensch, wenn ich anders empfände«, schrieb er Elsa . »Ich habe diese Kinder unzählige Male Tag und Nacht herumgetragen, im Kinderwagen herumgefahren, habe mit ihnen gespielt, geturnt, gescherzt. Früher jubelten sie, wenn ich kam, der Kleine jubelte auch jetzt noch, weil er noch zu klein war, um die Situation instinktiv zu erfassen. Nun sind sie fort für immer, und das Bild ihres Vaters in ihrem Geist wird systematisch verdorben!« 86

Am Mittwoch, dem 29. Juli 1914, verließen Marić und die beiden Jungen mit dem Morgenzug nach Zürich in Begleitung von Michele Besso Berlin . Haber ging mit Einstein zum Zug. »Weinend ist er vom Bahnhof zurückgegangen.« Das war ein höchst qualvoller Augenblick für einen Mann, der absurderweise seinen Stolz daraus zog, solche persönlichen Auftritte zu vermeiden. Obwohl er in dem Ruf stand, gegen tiefere menschliche Bindungen gefeit zu sein, hatte er Mileva Marić leidenschaftlich geliebt und empfand eine tiefe Bindung zu seinen Kindern . Es war einer der ganz seltenen Augenblicke seines Erwachsenenlebens, in denen er weinte.

Am folgenden Tag ging er seine Mutter besuchen, die ihn aufmunterte. Sie hatte Marić nie gemocht und war hocherfreut, dass sie diese Schwiegertochter los war. »Ach, wenn unser armer Papa das erlebt hätte!«, meinte sie zur Trennung. Sie behauptete sogar, sie freue sich für Elsa , obwohl die beiden gelegentlich aneinandergeraten waren. Auch Elsas Eltern schienen mit der veränderten Situation zufrieden zu sein, obwohl sie einwandten, Einstein habe sich Marić gegenüber zu großzügig gezeigt, und nun, laut Einstein, befürchteten, »dass unser Einkommen etwas knapp wird«. 87

Die ganze Tortur hatte Einstein so mitgenommen, dass er trotz des Versprechens, das er Elsa eine Woche zuvor gegeben hatte, zu der Entscheidung gelangte, er sei für eine neuerliche Heirat noch nicht bereit. Das ersparte ihm, eine offizielle Scheidung durchzusetzen, gegen die Marić sich erbittert wehrte. Elsa , die noch immer im Urlaub war, empfand »arge Enttäuschung« angesichts der Neuigkeiten. Einstein versuchte, sie zu beruhigen. »Es gibt für mich kein anderes weibliches Wesen als Dich«, schrieb er. »Es ist nicht Mangel an echter Zuneigung, was mir immer aufs Neue den Schreck gegen das Heiraten einflösst! Ist es die Furcht vor dem bequemen Leben, vor den guten Möbeln, vor dem Odium, das ich auf mich lade, oder gar davor, eine Art behaglicher Spiessbürger zu werden? Ich weiss es selber nicht; aber Du wirst sehen, dass meine Anhänglichkeit an Dich stets fortbestehen wird.«

Er versicherte ihr, dafür zu sorgen, dass sie weder einen Grund zum Schämen noch das Mitleid anderer zu fürchten haben werde, weil sie mit einem Mann zusammenlebe, der sie nicht heirate. Sie würden miteinander spazieren gehen und füreinander da sein. Sollte sie sich entschließen, ihm noch mehr zu bieten, werde er es mit Dankbarkeit annehmen. Aber der Verzicht auf Heirat sei dazu angetan, sie vor der Lebensweise »behaglicher Spiessbürger« und ihre Beziehung »vor der Alltäglichkeit und Verblassung zu schützen«. Für ihn bedeute die Heirat eine Einengung, und das sei ein Zustand, gegen den er sich instinktiv sträube. »Ich freue mich, dass unsere zarten Beziehungen nicht in der Spiessbürgerei untergehen müssen.« 88

Einst war Marić eine Seelengefährtin gewesen, die solche bohemehaften Empfindungen teilte. Elsa war ein anderer Typ. Ihr sagte ein bequemes Leben in bequemen Möbeln zu. Gleiches galt für die Ehe. Sie war bereit, den Verzicht auf Heirat eine Zeit lang zu ertragen, nicht aber für immer.

In der Zwischenzeit war Einstein in einen Fernkrieg mit Marić verstrickt, in dem es um Geld, Möbel und die Art und Weise ging, wie sie die Einstellung der Kinder ihm gegenüber »vergiftete«. 89 Und rund um sie her zog eine Kettenreaktion Europa unbegreiflicherweise in den blutigsten Krieg seiner Geschichte.

Wie nicht anders zu erwarten, reagierte Einstein auf das ganze Chaos, indem er sich ganz in seine wissenschaftliche Tätigkeit vertiefte.