Licht und Gravitation

Nachdem Einstein 1905 seine spezielle Relativitätstheorie formuliert hatte, wurde ihm klar, dass sie zumindest in zweierlei Hinsicht unvollständig war.

Erstens besagte sie, dass sich keine physikalische Wechselwirkung schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann, was Newtons Gravitationstheorie widersprach, nach der die Gravitation eine Kraft ist, die instantan wirkt. Zweitens galt in ihr das Relativitätsprinzip nur für Bewegungen mit konstanter Geschwindigkeit. Während der nächsten zehn Jahre arbeitete Einstein an zwei miteinander verflochtenen Projekten – einer neuen Feldtheorie der Gravitation und der Verallgemeinerung seiner Relativitätstheorie , damit die Relativität auch für beschleunigte Bewegungen galt. 1

Den ersten bedeutenden Fortschritt erzielte er Ende 1907, während er für ein wissenschaftliches Jahrbuch einen Beitrag über die Relativitätstheorie schrieb. Wie oben erwähnt, gelangte er durch ein Gedankenexperiment über einen Beobachter im freien Fall zu dem Prinzip, dass die lokalen Effekte der Beschleunigung , die ein Beobachter erfährt, von denen eines Gravitationsfeldes , in dem sich der Beobachter befindet, nicht zu unterscheiden sind. 2 Jemand in einer geschlossenen, fensterlosen Kammer, der spürt, wie seine Füße an den Boden gepresst werden, wird nicht sagen können, ob das geschieht, weil die Kammer im All nach oben beschleunigt wird oder weil sie sich in einem Gravitationsfeld in Ruhe befindet. Wenn er eine Münze aus der Tasche zieht und sie loslässt, wird sie mit zunehmender Geschwindigkeit zu Boden fallen. Entsprechend wird jemand, der spürt, dass er in der Kammer schwebt, nicht wissen, ob es daher kommt, dass die Kammer sich im freien Fall befindet, oder ob sie durch eine gravitationsfreie Region des Alls treibt. 3

Das veranlasste Einstein zur Formulierung eines »Äquivalenzprinzips «, an dem er seine Suche nach einer Gravitationstheorie und seinen Versuch zur Verallgemeinerung der Relativitätstheorie ausrichtete. »Wie ich erkannte, war ich in der Lage, das Relativitätsprinzip so zu erweitern oder zu verallgemeinern , dass es nicht nur auf Systeme anwendbar war, die sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegten, sondern auch auf beschleunigte Systeme«, erklärte er später. »Dabei erwartete ich, dass es mir gleichzeitig gelänge, das Gravitationsproblem zu lösen.«

Ähnlich wie die Äquivalenz zwischen der trägen und der schweren Masse gibt es auch eine Äquivalenz zwischen allen Trägheitseffekten , wie dem Beschleunigungswiderstand , und Gravitationseffekten , wie dem Gewicht. Einstein erkannte, dass sie beide Manifestationen derselben Struktur sind. 4

Wie Einstein erklärt hat, ergibt sich aus dieser Äquivalenz unter anderem, dass Gravitation einen Lichtstrahl ablenken müsste. Das lässt sich anhand des Gedankenexperiments mit dem Kasten leicht erklären. Stellen wir uns vor, dass der Kasten nach oben beschleunigt wird. Durch ein Nadelloch in einer Wand kommt ein Laserstrahl herein. Wenn er die gegenüberliegende Wand erreicht, ist er dem Boden ein wenig näher, weil der Kasten nach oben schießt. Wenn wir seine Bahn durch den Kasten abbilden könnten, würden wir sehen, dass er infolge der Aufwärts-Beschleunigung gekrümmt ist. Aus dem Äquivalenzprinzip folgt, dass dieser Effekt gleich sein muss, egal, ob der Kasten nach oben beschleunigt wird oder sich ruhend in einem Gravitationsfeld befindet. Beim Durchqueren eines Gravitationsfeldes sollte das Licht also abgelenkt erscheinen.

Nach Postulierung dieses Prinzips fing Einstein fast vier Jahre lang wenig damit an. Stattdessen konzentrierte er sich auf Lichtquanten . Doch 1911 gestand er Michele Besso , er habe keine Lust mehr, sich über Quanten den Kopf zu zerbrechen, und begann wieder nach einer Feldtheorie der Gravitation zu suchen, mit deren Hilfe er die Relativitätstheorie verallgemeinern konnte. Diese Aufgabe sollte ihn fast vier weitere Jahre in Anspruch nehmen, um dann mit einem kreativen Schub im November 1915 ihren Höhepunkt zu erreichen.

In der Arbeit »Über den Einfluß der Schwerkraft auf die Ausbreitung des Lichtes« , die er im Juni 1911 bei den Annalen der Physik einreichte, griff er seine Idee aus dem Jahr 1907 auf und legte sie in einer strengen Formulierung vor. »Die Frage, ob die Ausbreitung des Lichtes durch die Schwere beeinflußt wird, habe ich schon an einer vor 3 Jahren erschienenen Abhandlung zu beantworten gesucht«, begann er. »Ich komme auf dies Thema wieder zurück, (…) weil ich nun nachträglich einsehe, daß eine der wichtigsten Konsequenzen jener Betrachtung der experimentellen Prüfung zugänglich ist.« Nach einigen Berechnungen sah Einstein sich imstande vorherzusagen, was mit Licht geschehe, das ein Gravitationsfeld in der Nähe der Sonne durchquere: »Ein an der Sonne vorbeigehender Lichtstrahl erlitte demnach eine Ablenkung vom Betrage (…) 0,83 Bogensekunden.« 5

Abermals leitete er eine Theorie von großen Prinzipien und Postulaten ab, um dann zu einigen Vorhersagen zu kommen, die experimentell überprüft werden konnten. Wie zuvor beendete er seine Arbeit mit der Aufforderung, einen solchen Test vorzunehmen. »Da die Fixsterne der der Sonne zugewandten Himmelspartien bei totalen Sonnenfinsternissen sichtbar werden, ist diese Konsequenz der Theorie mit der Erfahrung vergleichbar. (…) Es wäre dringend zu wünschen, daß sich Astronomen der hier aufgerollten Frage annähmen.« 6

Erwin Freundlich , ein junger Astronom an der Sternwarte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin , las die Arbeit und wollte unbedingt den Test durchführen. Allerdings war das erst bei der nächsten Sonnenfinsternis möglich, wenn das Sternenlicht, das in der Nähe der Sonne vorbeistrich, sichtbar sein würde. Mit einer geeigneten Finsternis war erst in drei Jahren zu rechnen.

Daher schlug Freundlich vor, die Ablenkung zu messen, die das Sternenlicht unter dem Einfluss des Gravitationsfeldes von Jupiter erfahre. Leider erwies sich Jupiter nicht als groß genug für diese Aufgabe. »Wenn wir nur einen ordentlich grösseren Planeten als Jupiter hätten!«, meinte Einstein Ende dieses Sommers scherzend zu Freundlich . »Aber die Natur hat es sich nicht angelegen sein lassen, uns die Auffindung ihrer Gesetze bequem zu machen.« 7

Die Theorie, dass Lichtstrahlen abgelenkt werden könnten, warf einige interessante Fragen auf. Alle Erfahrung zeigt, dass Licht sich geradlinig ausbreitet. Handwerker verwenden heute Laser -Nivelliergeräte, um gerade Linien vorzugeben und ebene Häuser zu bauen. Wie lässt sich aber eine gerade Linie bestimmen, wenn ein Lichtstrahl sich krümmt, während er ein Gravitationsfeld durchquert?

Eine Lösung könnte darin bestehen, dass man den Weg eines solchen Lichtstrahls mit einer Linie vergleicht, die auf eine Kugelfläche oder eine anderweitig verformte Fläche gezeichnet wird. In solchen Fällen ist die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten gekrümmt, eine Geodäte wie ein Großkreis oder ein Ausschnitt eines solchen Großkreises auf unserem Globus. Vielleicht bedeutete die Ablenkung des Lichts, dass die Raumstruktur, die der Lichtstrahl durchquerte, von der Gravitation gekrümmt wurde. Der kürzeste Weg durch eine von der Gravitation gekrümmte Raumregion könnte etwas ganz anderes sein als die geraden Linien der euklidischen Geometrie .

Es gab noch einen anderen Hinweis, der darauf hindeutete, dass möglicherweise eine neue Art von Geometrie erforderlich war. Das erkannte Einstein, als er den Fall einer rotierenden Scheibe betrachtete. Bei Rotation zöge sich der Umfang einer Scheibe in Bewegungsrichtung zusammen, wenn sie aus dem Bezugsystem eines nicht mitrotierenden Beobachters betrachtet würde. Der Durchmesser des Kreises hingegen unterläge keiner Kontraktion. Daher wäre das Verhältnis von Scheibenumfang zum Durchmesser nicht mehr durch Pi gegeben. Die euklidische Geometrie hätte in diesem Fall keine Geltung.

Rotationsbewegung ist eine Form von beschleunigter Bewegung, weil ein Punkt auf dem Rand laufend seine Bewegungsrichtung ändert, was bedeutet, dass sich seine Geschwindigkeit (zu der ja nicht nur der Geschwindigkeitsbetrag, sondern auch die Bewegungsrichtung gehört) ändert. Nach dem Äquivalenzprinzip gilt: Ist zur Beschreibung dieser Form von Beschleunigung eine nichteuklidische Geometrie erforderlich, ist sie das auch für die Gravitation . 8

Die Mathematik

Als Einstein im Juli 1912 von Prag wieder nach Zürich zog, besuchte er als Erstes seinen Freund Marcel Grossmann , auf dessen Aufzeichnungen er zurückgegriffen hatte, wenn er wieder einmal die Mathematikvorlesungen am Polytechnikum geschwänzt hatte. Einstein war in seinen Geometriekursen am Polytechnikum nur auf 4,25 Punkte von 6 möglichen gekommen. Grossmann dagegen hatte in beiden Geometriekursen die volle Punktzahl von 6 Punkten erhalten, seine Dissertation über nichteuklidische Geometrie geschrieben, sieben Artikel zum Thema verfasst und jetzt den Vorsitz des Fachbereichs Mathematik inne. 9

»Grossmann , du musst mir helfen«, sagte Einstein, »sonst werd’ ich verrückt.« Er erklärte, er brauche ein mathematisches System, mit dem er die Gesetze des Gravitationsfelds ausdrücken und möglicherweise auch entdecken könne. »Er fing sofort Feuer«, so beschrieb Einstein später Grossmanns Reaktion. 10

Bis dahin verdankte Einstein den wissenschaftlichen Erfolg seiner besonderen Fähigkeit, die zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien instinktiv zu erfassen. Er hatte anderen die ihm weniger bedeutsam erscheinende Aufgabe überlassen, die besten mathematischen Ausdrücke für diese Prinzipien zu finden, wie es sein Züricher Kollege Minkowski für die spezielle Relativitätstheorie getan hatte.

Doch bis zum Jahr 1912 hatte Einstein einen neuen Respekt für die Mathematik als Werkzeug zur Entdeckung – und nicht nur Beschreibung – der Naturgesetze entwickelt. Mathematik sagt, welche Spielzüge die Natur im Repertoire hat. »Die zentrale Idee der allgemeinen Relativitätstheorie ist, dass Gravitation sich aus der Krümmung der Raumzeit ergibt«, so der Physiker James Hartle . »Gravitation ist Geometrie 11

»Ich beschäftige mich jetzt ausschliesslich mit dem Gravitationsproblem und glaube nun mit Hilfe eines hiesigen befreundeten Mathematikers aller Schwierigkeiten Herr zu werden«, schrieb Einstein dem Physiker Arnold Sommerfeld und bekannte, »dass ich grosse Hochachtung für die Mathematik eingeflösst bekommen habe, die ich bis jetzt in ihren subtileren Teilen in meiner Einfalt für puren Luxus ansah«. 12

Grossmann ging nach Hause und dachte über die Frage nach. Als er die Literatur zu Rate gezogen hatte, suchte er Einstein wieder auf und empfahl ihm die nichteuklidische Geometrie von Bernhard Riemann . 13

Riemann (1826 – 1866) war ein Wunderkind, das mit vierzehn Jahren den ewigen Kalender als Geschenk für seine Eltern erfunden hatte. Später hatte Riemann in Göttingen , dem bedeutenden Mathematikzentrum, bei Carl Friedrich Gauß studiert, der ein Wegbereiter auf dem Gebiet der Geometrie gekrümmter Flächen war. Das wies Gauß seinem Schüler Riemann als Thema für dessen Probevorlesung im Rahmen der Habilitation zu, und diese Arbeit sollte nicht nur die Geometrie , sondern auch die Physik verwandeln.

Die euklidische Geometrie beschreibt ebene Flächen, aber sie gilt nicht für gekrümmte Flächen. Beispielsweise beträgt die Summe der Winkel in einem Dreieck auf einer flachen Papierseite 180 Grad. Doch nehmen wir einen Globus und denken uns dort ein Dreieck: eine Grundseite verläuft entlang des Äquators, der Längengrad, der vom Äquator durch London zum Nordpol verläuft (Längengrad 0), bildet die zweite Seite, und der Längengrad, der vom Äquator durch New Orleans zum Nordpol führt (Längengrad 90), die dritte Seite. Betrachten wir dieses Dreieck auf einem Globus, sehen wir, dass alle drei Winkel rechte Winkel sind, was in der flachen Welt Euklids natürlich unmöglich ist.

Gauß und andere haben verschiedene Geometrietypen entwickelt, welche die Oberflächen von Kugeln und anderen gekrümmten Flächen beschreiben konnten. Riemann ging noch einen Schritt weiter: Er gab sich nicht damit zufrieden, nur die Krümmung von zweidimensionalen Flächen zu behandeln, sondern untersuchte auch, welche Möglichkeiten es gab, die Krümmung des drei- und sogar vierdimensionalen Raums zu beschreiben.

Das ist ein herausforderndes Unterfangen. Wir können uns eine gekrümmte Linie oder Fläche denken, aber das Aussehen eines gekrümmten dreidimensionalen Raums lässt sich nur schwer vorstellen, ganz zu schweigen von einem vierdimensionalen gekrümmten Gebilde. Doch für Mathematiker ist es leicht – oder zumindest machbar –, das Krümmungskonzept auf verschiedene Dimensionen zu erweitern. Dazu braucht man das Konzept der Metrik , das angibt, wie man die Entfernung zweier Punkte im Raum berechnet.

Auf einer ebenen Fläche, die nur die beiden normalen x- und y-Koordinaten aufweist, kann jeder Gymnasiast die Entfernung zweier Punkte mithilfe des Satzes des Pythagoras berechnen. Doch stellen wir uns eine flache Karte (etwa der Welt) vor, die Orte darstellt, die sich in Wirklichkeit auf einem Globus befinden. Die Verhältnisse in der Nähe der Pole werden gestreckt, und die Messungen werden insgesamt komplizierter. Auf solch einer Karte die tatsächliche Entfernung zweier Punkte Grönlands zu berechnen, ist etwas anderes als dieselbe Rechnung für zwei Punkte in der Nähe des Äquators. Riemann entwickelte mathematische Methoden zur Bestimmung der Entfernung zwischen Punkten im Raum, die auch in beliebig gekrümmten oder verzerrten Räumen funktionieren. 14

Dazu verwendete er sogenannte Tensoren . In der euklidischen Geometrie ist ein Vektor eine Größe (wie Geschwindigkeit oder Kraft), die sowohl einen Betrag wie eine Richtung hat, daher braucht man mehr als nur eine einzige einfache Zahl, um ihn zu beschreiben. In der nichteuklidischen Geometrie , wo der Raum gekrümmt ist, benötigt man für bestimmte Arten der Beschreibung allgemeinere Objekte, sozusagen »Turbo-Vektoren«, mit noch mehr Komponenten als bei normalen Vektoren. Das sind sogenannte Tensoren .

Ein metrischer Tensor ist ein mathematisches Werkzeug, mit dem sich die Entfernung zwischen Punkten in einem gegebenen Raum berechnen lässt. Bei zweidimensionalen Karten besitzt ein metrischer Tensor drei unabhängige Komponenten. Für den dreidimensionalen Raum hat er sechs unabhängige Komponenten. Wenn es dann um den viel beschworenen vierdimensionalen Raum geht, hat der metrische Tensor zehn unabhängige Komponenten. 15

Riemann half bei der Entwicklung des metrischen Tensors , der mit g µv bezeichnet wird (ausgesprochen Ge-mü-nü ). Im Falle einer vierdimensionalen Raumzeit besitzt er sechzehn Komponenten, zehn davon unabhängig voneinander, mit denen sich Entfernungen in jener vierdimensionalen Raumzeit definieren und bestimmen lassen. 16

Der Vorzug des Riemann -Tensors und anderer Tensoren , die Einstein und Grossmann von den italienischen Mathematikern Gregorio Ricci-Curbastro und Tullio Levi-Civita übernahmen, liegt darin, dass sie allgemein kovariant sind. Das war ein wichtiges Konzept für Einstein, da er ja versuchte, eine Relativitätstheorie zu verallgemeinern. Damit bleiben die Beziehungen zwischen den Komponenten solcher Tensoren gleich, selbst wenn willkürliche Veränderungen oder Rotationen im Raum-Zeit-Koordinatensystem stattfinden. Mit anderen Worten, man kann die Informationen, die in diesen Tensoren codiert sind, einer Vielfalt von Transformationen bzw. Bezugsystemwechseln unterziehen, aber die grundlegenden Gesetze, welche die Beziehungen der Komponenten der verschiedenen Tensoren miteinander bestimmen, bleiben dieselben. 17

Bei dem Bemühen um eine allgemeine Relativitätstheorie war Einsteins Ziel, mathematische Gleichungen zu finden, die zwei komplementäre Prozesse beschrieben:

  1. Wie ein Gravitationsfeld auf Materie einwirkt und sie veranlasst, sich in bestimmter Weise zu bewegen.

  2. Und umgekehrt, wie Materie Gravitationsfelder in der Raumzeit erzeugt und sie veranlasst, sich in bestimmter Weise zu krümmen .

Seine völlig überraschende Erkenntnis war, dass Gravitation sich als Krümmung der Raumzeit definieren und daher als metrischer Tensor darstellen lässt. Mehr als drei aufreibende Jahre brauchte er für die Suche nach den Gleichungen, die ihn ans Ziel führten. 18

Jahre später, als sein jüngerer Sohn Eduard ihn fragte, warum er so berühmt sei, fand Einstein ein einfaches Bild für die Beschreibung seiner entscheidenden Erkenntnis, dass Gravitation die Krümmung der Raumzeit sei. »Wenn ein blinder Käfer auf einer Kugeloberfläche krabbelt, merkt er nicht, daß der Weg, den er zurücklegt, gekrümmt ist«, sagte er. »Ich hingegen hatte das Glück, es zu merken.« 19

Das Züricher Notizbuch, 1912

Ab Sommer 1912 mühte sich Einstein, die Feldgleichungen der Gravitation zu entwickeln, wobei er Tensoren verwendete, wie sie von Riemann , Ricci und anderen entwickelt worden waren. Seine ersten tastenden Versuche hielt er in einem Notizbuch fest, das erhalten geblieben ist. Im Laufe der Jahre ist dieses aufschlussreiche »Züricher Notizbuch « von einem Forscherteam, zu dem unter anderem Jürgen Renn , John D. Norton , Tilman Sauer , Michel Janssen und John Stachel gehörten, in allen Einzelheiten analysiert worden. 20

Darin verfolgte Einstein eine zweigleisige Strategie. Einerseits hielt er sich an eine sogenannte »physikalische Strategie«, die ihm helfen sollte, aus Bedingungen, die ihm sein physikalischer Instinkt diktierte, die richtigen Gleichungen zu finden. Andererseits richtete er sich nach einer »mathematischen Strategie«, mit deren Hilfe er versuchte, die richtigen Gleichungen aus formaleren mathematischen Voraussetzungen abzuleiten, indem er die Tensoranalyse verwendete, die ihm Grossmann und andere empfahlen.

Einsteins »physikalische Strategie« begann mit dem Vorsatz, das Relativitätsprinzip so zu verallgemeinern, dass es für Beobachter galt, die beliebig beschleunigt oder bewegt waren. Eine jegliche Feldgleichung der Gravitation , die er entwickelte, sollte die folgenden physikalischen Bedingungen erfüllen:

Andererseits beruhte Einsteins »mathematische Strategie« auf der Verwendung allgemeiner mathematischer Kenntnisse des metrischen Tensors , um eine Feldgleichung der Gravitation zu finden, die allgemein (oder zumindest weitgehend) kovariant war.

Das Verfahren ließ sich in beide Richtungen anwenden: Einstein überprüfte, ob Gleichungen, die er anhand seiner physikalischen Bedingungen gewonnen hatte, die nötigen kovarianten Eigenschaften besaßen, und er untersuchte, ob Gleichungen, die sich aus eleganten mathematischen Formulierungen ergaben, seinen physikalischen Voraussetzungen genügten. »In seinem Notizbuch geht er das Problem von allen Seiten an: Hier notiert er Ausdrücke, die erkennen lassen, dass sie auf der Voraussetzung der Newton ’schen Grenze und der Erhaltung von Energie und Impuls beruhen, dort finden wir Ausdrücke, die offensichtlich von den allgemein kovarianten Größen der Mathematik von Ricci und Levi-Civita nahegelegt sind«, bemerkt John Norton . 21

Doch dann gab es eine große Enttäuschung. Die beiden Gruppen von Voraussetzungen ließen sich nicht miteinander vereinbaren. Oder zumindest glaubte Einstein das. Er konnte die Ergebnisse, die durch die eine Strategie erzielt wurden, nicht mit den Anforderungen der anderen Strategie in Einklang bringen.

Mithilfe der mathematischen Strategie konnte er einige sehr elegante Gleichungen ableiten. Auf Grossmanns Vorschlag hin hatte er begonnen, einen von Riemann stammenden Tensor zu verwenden, entschied sich dann aber für einen Tensor , den Ricci entworfen hatte. Ende 1912 hatte er eine Feldgleichung aufgestellt, deren Tensor , wie sich herausstellte, große Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, den er Ende November 1915 in seiner epochalen Formulierung verwenden sollte. Mit anderen Worten, in seinem Züricher Notizbuch war er zu einem Ergebnis gekommen, das der richtigen Lösung sehr ähnelte. 22

Doch dann verwarf er die Entdeckung. Zwei Jahre lang blieb sie in der Ablage. Warum? Unter anderem nahm er (fälschlicherweise) an, diese Lösung würde sich im Grenzfall schwacher und statischer Felder nicht der Beschreibung von Newtons Gesetzen annähern. Als er es auf einem anderen Weg versuchte, war die Voraussetzung der Erhaltung von Energie und Impuls nicht erfüllt. Und als er eine Koordinatenbedingung einführte, mittels derer die Gleichungen eine dieser Voraussetzungen erfüllen konnten, erwies sie sich als nicht vereinbar mit den Bedingungen, die erforderlich waren, um die anderen Voraussetzungen zu erfüllen. 23

Infolgedessen vernachlässigte Einstein die mathematische Strategie ein wenig – eine Entscheidung, die er später bereute. Als er nämlich endlich zur mathematischen Strategie zurückkehrte und sie sich als ungeheuer erfolgreich erwies, pries er fortan die – wissenschaftlichen wie philosophischen – Vorzüge des mathematischen Formalismus. 24

Der Entwurf und Newtons Eimer, 1913

Im Mai 1913, nachdem Einstein und Grossmann die Gleichungen verworfen hatten, die sich im Rahmen der mathematischen Strategie ergeben hatten, entwickelten sie in großen Zügen eine alternative, stärker auf die physikalische Strategie gegründete Theorie. Deren Gleichungen waren so formuliert, dass sie den physikalischen Voraussetzungen genügten – Erhaltung von Energie und Impuls und Annäherung an Newtons Gesetze in einem schwachen, statischen Feld.

Obwohl es nicht so aussah, als könnten diese Gleichungen, wie erhofft, hinreichend kovariant werden, glaubten Einstein und Grossmann , sie seien das Beste, was im Moment erreichbar sei. Der Titel zeigt, dass sie das Resultat für vorläufig hielten: »Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation « . Diese Version wurde in der Folge kurz als »Entwurf-Theorie « bezeichnet. 25

Einige Monate nach Beendigung des Entwurfs war Einstein erfreut und erschöpft zugleich. »[Ich habe] nun vor einigen Wochen endlich das Problem gelöst«, schrieb er Elsa . »Es ist eine kühne Fortsetzung der Relativitätstheorie nebst einer Theorie der Gravitation . Nun muss ich mir aber etwas Ruhe gönnen, sonst geh ich baldigst kaput.« 26

Doch schon bald stellte er infrage, was er mit so viel Mühe zustande gebracht hatte. Je mehr er über den Entwurf nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass die Gleichungen nicht erreichten, was er sich von ihnen erhoffte – sie waren nicht allgemein, ja noch nicht einmal auch nur weitgehend kovariant. Mit anderen Worten, sie galten für Beobachter in beliebig komplizierter beschleunigter Bewegung nicht immer in gleicher Weise.

Sein Vertrauen in die Theorie wurde nicht gerade bestärkt, als er sich mit seinem alten Freund Michele Besso zusammensetzte, der im Juni 1913 gekommen war, um mit ihm zu diskutieren, welche Folgerungen sich aus der Entwurf-Theorie ergaben. Ihre Überlegungen hielten sie auf mehr als fünfzig Seiten fest, von denen jeder etwa die Hälfte geschrieben hatte. Es ging um die Frage, wie sich der Entwurf mit einigen merkwürdigen Fakten vereinbaren ließ, die über die Umlaufbahn des Merkur bekannt waren. 27

Seit den 1840er-Jahren zerbrachen sich die Forscher den Kopf über eine kleine, aber ungeklärte Verschiebung in der Umlaufbahn des Merkur . Das Perihel ist derjenige Punkt auf der elliptischen Umlaufbahn eines Planeten, an dem er der Sonne am nächsten kommt. Im Laufe der Jahre hat sich dieser Punk stärker verschoben – um rund 43 Bogensekunden pro Jahrhundert –, als nach Newtons Gesetzen zu erwarten gewesen wäre. Zunächst nahm man an, die Anziehungskraft eines unentdeckten Planeten sei verantwortlich, eine Überlegung, wie sie einige Zeit vorher zur Entdeckung des Neptun geführt hatte. Die Franzosen, die Merkurs Anomalie entdeckten, errechneten sogar, wo sich dieser Planet befinden müsste, und nannten ihn Vulkan. Aber er war nicht da.

Einstein hoffte, dass seine neue Relativitätstheorie – sobald die Gleichungen des Gravitationsfeldes auf die Sonne angewandt würden – Merkurs Umlaufbahn erklären könnte. Leider kamen Besso und er nach vielen Berechnungen und korrigierten Fehlern für die Abweichung des Merkur auf einen Wert von 18 Bogensekunden pro Jahrhundert, was noch nicht einmal die Hälfte des tatsächlichen Wertes war. Das unzulängliche Ergebnis konnte Einstein zwar davon abhalten, die Merkur -Berechnungen zu veröffentlichen, aber nicht – oder zumindest noch nicht – dazu bewegen, die Entwurf-Theorie aufzugeben.

Einstein und Besso prüften auch, ob Rotation in den Gleichungen der Entwurf-Theorie als eine Form von Relativbewegung betrachtet werden kann. Stellen Sie sich dazu einen Beobachter vor, der rotiert und dabei dem Einfluss der Trägheit unterliegt. Ist das nur ein weiterer Fall von Relativbewegung und ununterscheidbar von dem Fall des ruhenden Beobachters, um den der Rest des Universums rotiert?

Das berühmteste Gedankenexperiment zu diesem Problem hat Newton im dritten Buch seiner Principia geliefert. Denken Sie sich einen Eimer, der an einem Seil hängt und zu rotieren beginnt. Zunächst bleibt das Wasser im Eimer ziemlich ruhig und eben. Doch schon bald veranlasst die Reibung des Eimers das Wasser, sich mit ihm zu drehen und eine konkave Form anzunehmen. Warum? Weil die Trägheit das rotierende Wasser zwingt, nach außen zu wandern, und deshalb steigt es an der Eimerseite empor.

Ja, aber wenn wir annehmen, dass alle Bewegung relativ ist, fragen wir: Relativ zu was dreht sich das Wasser? Nicht relativ zum Eimer, weil es zwar einerseits dann konkav ist, wenn es sich gemeinsam mit dem Eimer dreht, aber auch wenn der Eimer zum Stillstand kommt und das Wasser darin sich noch eine Weile dreht. Vielleicht dreht sich das Wasser relativ zu den in der Nähe befindlichen Körpern wie der Erde, die Gravitationskraft ausübt.

Doch stellen wir uns vor, der Körper rotiere in einer gravitationsfreien Region des Alls ohne Bezugspunkt. Unterläge er dort noch der Trägheit ? Newton nahm das an, weil sich der Eimer, wie er schrieb, relativ zum absoluten Raum drehe.

Mitte des 19. Jahrhunderts kam Ernst Mach , einer der frühen Helden Einsteins, und verwarf den Begriff des absoluten Raums . Stattdessen vertrat er die Ansicht, die Trägheit wirke, weil das Wasser relativ zur restlichen Materie des Universums rotiere. Denselben Effekt würde man beobachten, wenn der Eimer in Ruhe sei und der Rest des Universums um ihn rotiere. 28

Einstein hoffte, das »Mach’sche Prinzip« werde ein Grundpfeiler der allgemeinen Relativitätstheorie werden. Glücklicherweise kam Einstein, als er die Gleichungen seiner Entwurf-Theorie untersuchte, zu dem Schluss, dass sie offenbar wirklich vorhersagten, die Effekte würden gleich sein, egal, ob ein Eimer rotierte oder ob er bewegungslos war und sich der Rest des Universums um ihn drehte.

Zumindest dachte Einstein das. Besso und er führten einige intelligente Rechnungen durch, die zeigen sollten, ob es sich wirklich so verhielt. In ihr Notizbuch schrieb er einen fröhlichen kleinen Ausrufesatz, der dem scheinbar erfolgreichen Abschluss ihrer Berechnungen galt: »Ist richtig«.

Unglücklicherweise hatten Besso und er in dieser Arbeit einige Fehler gemacht. Einstein sollte sie zwei Jahre später entdecken und zu seinem Leidwesen erkennen, dass der Entwurf die Bedingungen des Mach’schen Prinzips doch nicht erfüllte. Wahrscheinlich hatte Besso ihn bereits auf diese Möglichkeit hingewiesen. In einer Notiz, die vermutlich aus dem August 1913 stammt, meinte Besso , dass eine »Rotationsmetrik « nach den Feldgleichungen des Entwurfs nicht zulässig sei. Doch Einstein setzte sich in Briefen an Besso , an Mach und andere über diese Zweifel hinweg, jedenfalls zu dieser Zeit. 29 Wenn Experimente die Theorie bestätigen, »so erfahren Ihre genialen Untersuchungen über die Grundlagen der Mechanik (…) eine glänzende Bestätigung«, schrieb Einstein Tage nach der Veröffentlichung des Entwurfs an Mach . »Denn es ergibt sich mit Notwendigkeit, dass die Trägheit in einer Art Wechselwirkung der Körper ihren Ursprung hat, ganz im Sinne Ihrer Überlegungen zum Newton ’schen Eimer-Versuch.« 30

Vor allem – und völlig zu Recht – störte Einstein an seinem Entwurf, dass sich dessen mathematische Gleichungen nicht als allgemein kovariant erwiesen. Das beeinträchtigte seinen Versuch, nachzuweisen, dass immer die gleichen Naturgesetze gelten, ob für Beobachter in beschleunigter beziehungsweise beliebiger Bewegung oder für Beobachter, die sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. »Aber leider hat diese Sache doch noch so grosse Haken, dass mein Vertrauen in die Zulässigkeit der Theorie noch ein schwankendes ist«, schrieb er in Antwort auf einen herzlichen Gratulationsbrief von Lorentz . »Aber die Gravitationsgleichungen selbst haben die Eigenschaft der allgemeinen Kovarianz leider nicht.« 31

Bald darauf redete er sich, jedenfalls eine Zeit lang, ein, dass das unvermeidbar sei. Teilweise bediente er sich dazu eines Gedankenexperiments, der sogenannten »Loch-Betrachtung «, 32 woraus hervorzugehen schien, dass der heilige Gral – allgemein kovariante Feldgleichungen der Gravitation  – nicht zu erreichen oder zumindest physikalisch uninteressant sei. »Die Thatsache, dass die Gravitationsgleichungen nicht allgemein kovariant sind, welche mich vor einiger Zeit noch so ungemein störte«, schrieb er einem Freund, »hat sich als unumgänglich herausgestellt: Es lässt sich einfach beweisen, dass eine Theorie mit allgemein kovarianten Gleichungen nicht existieren kann, falls verlangt wird, dass das Feld durch die Materie mathematisch vollständig bestimmt wird.« 33

Vorerst sprachen sich nur wenige Wissenschaftler für Einsteins neue Theorie aus, viele lehnten sie entschieden ab. 34 Einstein äußerte sich erfreut darüber, dass das Problem der Relativität »wenigstens mit der erforderlichen Lebhaftigkeit aufgegriffen wird«, erklärte er seinem Freund Zangger . »Die Kontroversen machen mir Vergnügen. Figaro-Stimmung: Will der Herr Graf ein Tänzlein wagen? Er solls mir sagen! Ich spiel ihm auf.« 35

Trotz allem versuchte Einstein nach wie vor, den Ansatz des Entwurfs zu retten. Es gab für ihn noch Wege – zumindest dachte er das –, um so viel Kovarianz zu erhalten, dass sie den meisten Aspekten seines Äquivalenzprinzips für Gravitation und Beschleunigung Rechnung trug. »Es ist nämlich der Beweis gelungen, dass die Gravit. Gleichungen für beliebig bewegte Bezugsysteme gelten, dass also die Hypothese von der Aequivalenz der Beschleunigung und des Gravitationsfeldes durchaus richtig ist«, teilte er Zangger Anfang 1914 mit. »Die Natur zeigt uns von dem Löwen zwar nur den Schwanz. Aber es ist mir unzweifelhaft, dass der Löwe dazu gehört, wenn er sich (…) dem Blicke nicht unmittelbar offenbaren kann. Wir sehen ihn nur wie eine Laus, die auf ihm sitzt.« 36

Freundlich und die Sonnenfinsternis von 1914

Eine Möglichkeit gab es, die Zweifel zu beseitigen, das wusste Einstein. Oft beendete er seine Arbeiten mit Vorschlägen für künftige Experimente, die bestätigen konnten, was er gerade vorgebracht hatte. Im Fall der allgemeinen Relativitätstheorie hatte dieser Prozess 1911 begonnen, als er ziemlich genau angegeben hatte, um welchen Betrag das Licht durch die Gravitation der Sonne verschoben würde.

Dieses Phänomen lasse sich messen, so hoffte er, indem man Sterne fotografierte, während ihr Licht nahe an der Sonne vorbeistrich. Dann könne man überprüfen, ob sich ihre Position gegenüber derjenigen, die sie einnahmen, wenn ihr Licht die Sonne nicht in unmittelbarer Nähe passierte, etwas verschoben hatte. Doch dieses Experiment ließ sich nur während einer Sonnenfinsternis durchführen, weil das Sternenlicht dann sichtbar wurde.

Daher war es nur folgerichtig, dass Einstein, als er seine Theorie lautstarken Angriffen von Kollegen und leisen Selbstzweifeln ausgesetzt sah, mit großem Interesse der Frage nachging, was während der nächsten totalen Sonnenfinsternis , die am 21. August 1914 stattfinden sollte, entdeckt werden könnte. Das würde eine Expedition auf die russische Krim erfordern, wo sie am besten zu beobachten wäre.

Sein Wunsch, die Theorie während der Sonnenfinsternis überprüfen zu lassen, war so groß, dass Einstein sich bereit erklärte, einen Teil der Kosten selbst zu übernehmen, als es so aussah, als würden keine Geldmittel zur Verfügung gestellt. Erwin Freundlich , der junge Berliner Astronom, hatte 1911 die Arbeit gelesen, in der Einstein die Lichtbeugung vorhersagte, und ergriff, begierig, die Vorhersage zu bestätigen, die Initiative. »Ich freue mich ausserordentlich darüber, dass Sie sich der Frage der Lichtkrümmung mit so grossem Eifer annehmen«, teilte ihm Einstein Anfang 1912 mit. Er wurde nicht müde, den jungen Astronomen zu ermuntern. »Auf theoretischem Wege lässt sich da nichts machen«, schrieb er im August 1913. »In dieser Sache könnt Ihr Astronomen nächstes Jahr der theor. Physik einen geradezu unschätzbaren Dienst leisten.« 37

Freundlich heiratete im August 1913 und beschloss, seine Flitterwochen im Gebirge unweit Zürichs zu verbringen, wohl hoffend, dass er Einstein treffen könnte. Es klappte. Als Freundlich sein Flitterwochen-Programm in einem Brief beschrieb, lud Einstein ihn zu einem Besuch ein. »Das ist wundervoll, weil es in unsere Pläne passt«, schrieb Freundlich an seine Verlobte, von der wir allerdings nicht wissen, wie sie auf die Aussicht reagierte, einen Teil ihrer Flitterwochen mit einem theoretischen Physiker zu verbringen.

Als die Neuvermählten in den Züricher Bahnhof fuhren, erwartete sie dort – so die Erinnerung von Freundlichs Frau – ein zerzauster Einstein mit einem großen Strohhut auf dem Kopf und dem korpulenten Chemiker Fritz Haber an seiner Seite. Einstein brachte die Gruppe in eine nahe gelegene Ortschaft, wo er einen Vortrag hielt, anschließend lud er sie zum Mittagessen ein. Bezeichnenderweise hatte er vergessen, Geld mitzunehmen, sodass ihm sein Assistent einen 100-Franken-Schein unter dem Tisch reichen musste. Den größten Teil des Tages diskutierte Freundlich mit Einstein über Gravitation und Lichtablenkung, auch dann noch, als die Gruppe eine kleine Wanderung unternahm, sodass sich Freundlichs frischvermählte Frau mit Naturbetrachtung zufriedengeben musste. 38

Während seines Vortrags an diesem Tag, in dem er über die allgemeine Relativitätstheorie sprach, deutete Einstein auf Freundlich und nannte ihn »den Mann, der die Theorie im nächsten Jahr testen wird«. Doch das Problem bestand darin, das Geld aufzubringen. Damals versuchten Planck und andere, ihn von Zürich nach Berlin zu locken und in die Preußischen Akademie aufzunehmen. Einstein nutzte diese Situation, indem er Planck in einem Brief drängte, Freundlich das Geld zu besorgen, das dieser brauche, um sein Vorhaben durchzuführen.

Tatsächlich schrieb er an dem Tag, als er den Posten in Berlin und den Sitz in der Akademie offiziell annahm – am 7. Dezember 1913 –, einen Brief an Freundlich , in dem er diesem mitteilte, er werde notfalls in die eigene Tasche greifen. »Wenn die Akademie nicht gerne dran will, dann kriegen wir das bischen Mammon von privater Seite«, erklärte Einstein. »Sollte alles versagen, so zahle ich die Sache selber aus meinem bisschen Erspartem, wenigstens die ersten 2000 M«. Entscheidend sei, so betonte Einstein, dass Freundlich mit seinen Vorbereitungen fortfahre. »Bestellen Sie also nach reiflicher Überlegung nur ruhig die Platten und lassen Sie die Zeit nicht wegen der Geldfrage weglaufen.« 39

Wie sich herausstellte, gab es genügend private Spenden, vor allem von der Krupp-Stiftung , um die Expedition zu ermöglichen. »Sie können sich denken, wie sehr ich mich darüber freue, dass die äusseren Schwierigkeiten Ihrer Unternehmung nun sozusagen überwunden sind«, schrieb Einstein. Er fügte noch an, dass er auf Freundlichs Ergebnisse vertraue: »Die Theorie habe ich noch nach allen Kanten überlegt und kann nicht anders sagen, als dass ich alles Vertrauen in die Sache habe.« 40

Mit zwei Kollegen verließ Freundlich am 19. Juli Berlin in Richtung Krim, wo er sich einer Gruppe vom Cordoba-Observatorium in Argentinien anschloss. Wenn alles gut ging, hätten sie zwei Minuten Zeit für Fotografien, auf denen sich feststellen ließe, ob Sternenlicht von der Gravitation der Sonne abgelenkt wird.

Doch das Unternehmen verlief nicht nach Plan. Zwanzig Tage vor der Sonnenfinsternis taumelte Europa in sein Unglück, und Deutschland erklärte Russland den Krieg. Die russische Armee nahm Freundlich und seine deutschen Kollegen gefangen und konfiszierte ihre Ausrüstung. Wie zu erwarten, waren sie nicht in der Lage, die russischen Soldaten davon zu überzeugen, dass sie Astronomen waren und dass all diese leistungsfähigen Kameras und Ortungsgeräte nur dazu dienten, die Sterne zu beobachten, um die Geheimnisse des Universums besser zu verstehen.

Selbst wenn man ihnen sicheres Geleit gewährt hätte, wäre die Beobachtung wahrscheinlich gescheitert. Minuten vor der Sonnenfinsternis war der Himmel wolkenverhangen. Eine amerikanische Expedition, die sich ebenfalls in der Region aufhielt, war nicht in der Lage, irgendwelche brauchbaren Fotografien zu machen. 41

Doch das abrupte Ende der Finsternis -Mission hatte auch sein Gutes. Einsteins Gleichungen in seinem Entwurf waren nicht richtig. Der Grad, um den die Gravitation das Licht nach der damaligen Version von Einsteins Theorie ablenkte, war genauso groß wie von Newtons Emissionstheorie vorhergesagt. Erst ein Jahr später kam Einstein auf die richtige Vorhersage, mit doppelt so großer Ablenkung. Hätte Freundlich 1914 Erfolg gehabt, hätten seine Ergebnisse Einstein öffentlich widerlegt.

»Mein guter Astronom Freundlich wird in Russland statt der Sonnenfinsternis die Kriegsgefangenschaft erleben«, schrieb Einstein an seinen Freund Ehrenfest . »Mir ist bange um ihn.« 42

Doch es bestand kein Anlass zur Sorge. Der junge Astronom kam nach wenigen Wochen durch einen Gefangenenaustausch frei.

Aber Einstein hatte im August 1914 noch weitere Gründe zur Sorge. Seine Ehe war ihm gerade um die Ohren geflogen. Die Krönung seiner Theorien musste noch überarbeitet werden. Und jetzt hatten Nationalismus und Militarismus  – Eigenschaften, die ihm verhasst waren – sein Geburtsland in einen Krieg gezogen, der ihn zu einem Fremden in einem fremden Land machen sollte. Wie sich herausstellte, war das eine gefährliche Lage.

Erster Weltkrieg

Die Kettenreaktion, die Europa im August 1914 in einen Krieg verwickelte, entfachte den patriotischen Stolz der Preußen zur lodernden Flamme und löste bei Einstein und seinem tief verwurzelten Pazifismus eine ebenso heftige Gegenreaktion aus, einem Mann, der noch nicht einmal Schach spielen mochte, weil es seiner freundlichen und allen Konflikten abholden Natur widerstrebte. »Unglaubliches hat nun Europa in seinem Wahn begonnen«, schrieb er im selben Monat an Ehrenfest . »In solcher Zeit sieht man, welcher traurigen Viehgattung man angehört.« 43

Seit Einstein als Schüler aus Deutschland geflohen war und in Aarau den moderaten Internationalismus Jost Wintelers kennengelernt hatte, hatte er in seinen Auffassungen und Einstellungen eine gewisse Neigung zu Pazifismus , Weltföderalismus und Sozialismus bewiesen, aber alle öffentlichen politischen Bekenntnisse gemieden.

Das veränderte der Erste Weltkrieg von Grund auf. Zwar gab Einstein die Physik nie auf, aber er vertrat von nun an während des größten Teils seines Lebens in der Öffentlichkeit mit großem Nachdruck seine politischen und gesellschaftlichen Ideale.

Die Unvernunft des Krieges festigte in ihm die Überzeugung, dass Wissenschaftler eine besondere Pflicht hätten, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu Wort zu melden. »Umso mehr müssen (…) wir Wissenschaftler die internationalen Beziehungen pflegen«, schrieb er. »Leider haben wir sogar bei den Naturwissenschaftlern in dieser Beziehung schwere Enttäuschungen erleben müssen.« 44 Besonders entsetzt war er über die glühende Kriegsbegeisterung der drei ihm besonders nahestehenden Kollegen, die ihn nach Berlin geholt hatten: Fritz Haber , Walther Nernst und Max Planck . 45

Haber war ein klein gewachsener, kahlköpfiger Chemiker von sehr gepflegter Erscheinung, geborener Jude , aber nach Kräften um Assimilation bemüht, indem er konvertierte, sich taufen ließ und sich in Kleidung und Auftreten bis hin zum obligaten Kneifer als typischer Preuße gebärdete. Als Direktor des chemischen Instituts, in dem Einsteins Büro lag, hatte er in dem Krieg zwischen Einstein und Marić vermittelt, als der große Krieg in Europa ausbrach. Zwar hatte er auf ein Offizierspatent im Heer gehofft, musste sich aber als Akademiker jüdischer Herkunft mit dem Rang eines Unteroffiziers zufriedengeben. 46

Haber reorganisierte sein Institut, um chemische Waffen für Deutschland entwickeln zu können. Er hatte bereits eine Methode erfunden, Ammoniak aus Stickstoff zu gewinnen, was Deutschland die Massenherstellung von Sprengstoff ermöglichte. Nun wandte er seine Aufmerksamkeit der Herstellung des tödlichen Chlorgases zu, das, schwerer als Luft, in die Schützengräben floss und den Soldaten einen qualvollen Erstickungstod bescherte, indem es ihnen Luftröhren und Lungen verbrannte. Im April 1915 wurde die moderne chemische Kriegführung eröffnet, als rund fünftausend Franzosen und Belgier dieses tödliche Schicksal erlitten, wobei Haber den Angriff persönlich überwachte. (Dem Umstand, dass Haber 1918 den Nobelpreis für Chemie erhielt, weil er das Verfahren zur Synthese von Ammoniak entwickelt hatte, wohnte eine Ironie inne, die dem Erfinder des Dynamits, der den Preis gestiftet hatte, vielleicht verborgen geblieben wäre.)

Sein Kollege und gelegentlicher akademischer Konkurrent Nernst , bebrillt und fünfzig Jahre alt, bat seine Frau, seine Haltung zu beurteilen, während er vor ihrem Haus Marschieren und Salutieren einübte. Dann meldete er sich mit seinem Privatauto an der Westfront, um als freiwilliger Fahrer zu dienen. Als er nach Berlin zurückgekehrt war, experimentierte er mit Tränengas und anderen Reizstoffen, die eine humanere Möglichkeit boten, den Feind aus den Schützengräben zu verjagen, aber die Generäle zogen Habers tödliche Methode vor, und so beteiligte sich Nernst an dessen Projekt.

Sogar der von Einstein so verehrte Planck unterstützte Deutschlands »gerechten Krieg«, wie er ihn nannte, und erklärte seinen Studenten, die in die Schlacht zogen: »Nach Erschöpfung beispielloser Langmut hat Deutschland das Schwert gezogen gegen die Brutstätten schleichender Hinterhältigkeit.« 47 Einstein konnte verhindern, dass es zwischen ihm und seinen drei Kollegen zum persönlichen Bruch kam. Noch im Frühjahr 1915 gab er Habers Sohn Nachhilfe in Mathematik. 48 Doch als sie einen Aufruf unterzeichneten, der Deutschlands Militarismus unterstützte, sah er sich genötigt, sich politisch von ihnen zu distanzieren.

Der Aufruf wurde im Oktober 1914 veröffentlicht und trug den Titel »An die Kulturwelt«, häufig auch – nach der Zahl der Intellektuellen, die unterschrieben hatten – »Manifest der 93 « genannt. Die Wahrheit missachtend, bestritten sie, dass Deutschland belgische Zivilisten angegriffen habe, und erklärten, der Krieg sei notwendig gewesen. »Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt«, erklärten sie, um am Schluss zu versichern, »daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe , eines Beethoven , eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.« 49

Es konnte nicht überraschen, dass zu den Unterzeichnern auch der konservative Philipp Lenard gehörte, der seinen Ruf der Abhandlung über den photoelektrischen Effekt verdankte und später ein erbitterter Antisemit und Einstein-Hasser wurde. Betrüblich war, dass auch Haber , Nernst und Planck unterschrieben. Als Staatsbürger und Wissenschaftler hatten sie eine natürliche Neigung, sich den Meinungen und Gefühlen anderer anzuschließen. Einstein dagegen ließ oft eine natürliche Abneigung erkennen, mit dem Strom zu schwimmen, was sich für ihn als Wissenschaftler wie als Bürger manchmal als Vorteil erwies.

Ein charismatischer Abenteurer und Gelegenheitsarzt namens Georg Friedrich Nicolai , der jüdischer Herkunft (ursprünglich hieß er Lewinstein) und ein Freund von Elsa und deren Tochter Ilse war, arbeitete mit Einstein zusammen eine pazifistische Antwort aus. Ihr »Aufruf an die Europäer« plädierte für eine Kultur, die den Nationalismus überwand, und griff die Autoren des ursprünglichen Aufrufs an. »Sie haben aus einer (…) Kampfesstimmung heraus gesprochen«, schrieben Einstein und Nicolai . »Solche Stimmung ist durch keine nationale Leidenschaft zu entschuldigen, sie ist unwürdig dessen, was bisher alle Welt unter dem Namen der Kultur verstanden.«

Einstein äußerte Nicolai gegenüber die Vermutung, dass Max Planck , obwohl er einer der Unterzeichner des ursprünglichen Manifests sei, wegen seiner »weitherzigen und wohlwollenden Art« auch den Gegenaufruf unterstützen werde. Auch Zangger nannte er als möglichen Unterzeichner. Doch offenbar wollte sich keiner von beiden daran beteiligen. Ein Anhaltspunkt für den Zeitgeist war der Umstand, dass Einstein und Nicolai nur zwei Unterstützer für ihr Projekt gewinnen konnten. Daher stellten sie ihre Bemühungen ein, und so blieb der Aufruf damals unveröffentlicht. 50

Schon früh wurde Einstein Mitglied der liberalen und gemäßigt pazifistischen Organisation Bund Neues Vaterland , einer Vereinigung, die auf einen frühen Frieden und die Gründung einer föderalen Gliederung Europas drang, um künftige Konflikte zu vermeiden. Der Bund veröffentlichte eine Flugschrift mit dem Titel »Die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa« und half dabei, pazifistische Literatur in Gefängnisse und andere Einrichtungen zu schmuggeln. Zu einigen Montagabendtreffen wurde Einstein von Elsa begleitet, bis die Gruppe Anfang 1916 verboten wurde. 51

Während des Krieges war einer der bekanntesten Pazifisten der französische Schriftsteller Romain Rolland , der sich für die Freundschaft zwischen seinem Land und Deutschland eingesetzt hatte. Im September 1915 besuchte Einstein ihn in der Nähe des Genfer Sees. Rolland notierte in seinem Tagebuch, Einstein gebe durch sein stockendes Französisch »auch den ernstesten Gedanken eine witzige Wendung«.

Als sie auf einer Hotelterrasse inmitten von Bienenschwärmen saßen, die die blühenden Weinstöcke plünderten, scherzte Einstein über die Senatssitzungen der Berliner Universität, auf denen sich alle Professoren verzweifelt fragten: »Warum haßt uns die Welt so sehr?«, um dann »um die Wahrheit höchst sorgfältig einen großen Bogen« zu machen. Mutig, wenn nicht gar tollkühn erklärte Einstein öffentlich, er glaube nicht, dass Deutschland reformiert werden könne, und hoffe daher auf einen Sieg der Alliierten: »Ein entscheidender Sieg Deutschlands wäre für ganz Europa, insbesondere aber für dies Land selbst ein Unglück.« 52

Im folgenden Monat kam es zu einem erbitterten Streit zwischen Einstein und Paul Hertz , einem bekannten Mathematiker in Göttingen , der mit ihm befreundet war oder gewesen war. Hertz war ein außerordentliches Mitglied im Bund Neues Vaterland , vermied aber die vollgültige Mitgliedschaft, als der Bund umstritten wurde. »Ich muss allerdings sagen«, schrieb Einstein, »dass diese Art Behutsamkeit, bzw. nicht Bestehens auf seinem Rechte, an der ganzen pol. Misere schuld ist. Sie haben jene Art tapfere Gesinnung, die die Machthaber an dem Deutschen so lieben.«

»Wenn Sie dem Verständnis der Menschen dieselbe Sorgfalt zugewandt hätten, wie dem der Natur, würden Sie mir nicht einen beleidigenden Brief geschrieben haben«, erwiderte Hertz . Der Vorwurf war aufschlussreich und wahr. Einstein verstand sich besser darauf, physikalische Gleichungen zu ergründen als die menschliche Seele, und das gab er in seiner Entschuldigung auch zu. »Sie müssen mir verzeihen«, antwortete er, »gerade mit Rücksicht darauf, dass ich – wie Sie selbst mit Recht sagen – dem Verständnis der Menschen nicht dieselbe Sorgfalt habe angedeihen lassen als dem der Natur.« 53

Im November veröffentlichte Einstein einen dreiseitigen Aufsatz mit dem Titel »Meine Meinung über den Krieg « , in dem er mit seinen Äußerungen an die Grenze dessen ging, was in Deutschland erlaubt war, selbst für einen bedeutenden Wissenschaftler. Er ging von der Annahme aus, dass eine der Ursachen von Kriegen »in einer biologisch begründeten aggressiven Eigenart des männlichen Geschöpfes« liege. Als der Artikel noch im selben Monat vom Goethe-Bund veröffentlicht wurde, strich man aus Sicherheitsgründen einige Passagen, unter anderem die Behauptung, der Patriotismus liefere »die moralischen Requisiten des tierischen Hasses und Massenmordes«. 54

Der Gedanke, der Krieg habe eine biologische Grundlage in der männlichen Aggression, war ein Thema, das er auch in einem Brief an Heinrich Zangger , seinen Züricher Freund, ausführte: »Was treibt nur die Menschen dazu, einander so wütend zu töten und zu verstümmeln?«, reflektierte Einstein. »Ich glaube, dass es letzten Endes die sexuelle Eigenart des Männchens ist, die von Zeit zu Zeit zu solchen wilden Explosionen führt.«

Er meinte, die einzige Möglichkeit, diese Aggression einzudämmen, sei eine Weltorganisation, die gegenüber den Mitgliedstaaten mit Polizeigewalt ausgestattet sei. 55 Achtzehn Jahre später, kurz bevor er seinen radikalen Pazifismus aufgab, nahm er das Thema wieder auf, als er mit Sigmund Freud einen öffentlichen Briefwechsel über die männliche Psyche und die Notwendigkeit einer Weltregierung führte.

Die Heimatfront, 1915

Die Anfangsmonate des Krieges im Jahr 1915 vertieften Einsteins Trennung von Hans Albert und Eduard sowohl emotional als auch logistisch. Sie wünschten sich, dass er sie in diesem Jahr zu Ostern besuchte, und Hans Albert , der gerade elf Jahre alt wurde, schrieb ihm zwei Briefe, mit denen er an das Herz des Vaters appellierte: »Ich denke einfach: ›Zu Ostern bist du da und wir haben so wieder einen Papa.‹«

In seiner nächsten Postkarte berichtete er, sein kleiner Bruder habe geträumt, »daß der Papa da ist!«. Außerdem erzählte er, dass er in Mathematik sehr gut sei. »Die Mama gibt mir Aufgaben; wir haben ein kleines Bücherl; dann könnte ich das auch mit dir betreiben.« 56

Der Krieg hinderte Einstein an dem Osterbesuch, aber er antwortete auf die Postkarte mit dem Versprechen an Hans Albert , er werde im Juli mit ihm einen Wanderurlaub in den Schweizer Alpen machen. »Aber im Sommer mache ich eine Reise von 14 Tagen oder drei Wochen ganz allein mit Dir«, schrieb er. »Dies wird jedes Jahr geschehen, und Tete [Eduard ] darf auch mit, wenn er dazu gross genug sein wird.«

Begeistert zeigte Einstein sich auch darüber, dass sein Sohn Gefallen an der Geometrie gefunden hatte. Es sei seine »Lieblingsbeschäftigung« gewesen, als er im gleichen Alter gewesen sei, sagte er. »Aber ich hatte niemand, der mir etwas zeigte, ich musste es in Büchern lernen.« Gerne wäre er bei seinem Sohn, schrieb er, dann könnte er ihm in Mathematik helfen und »viel Schönes und Interessantes erzählen von Wissenschaft und vielem andern«. Aber das werde nicht immer möglich sein. Vielleicht lasse sich das ja brieflich machen? »Wenn Du mir aber jeweilen schreibst, was Du schon kannst, dann gebe ich Dir eine hübsche Aufgabe zu lösen.« Für jeden Sohn schickte er ein Spielzeug mit und ermahnte sie, sich die Zähne sorgfältig zu putzen. »Ich thue es auch so, und bin sehr froh, nun noch genug gesunde Zähne behalten zu haben.« 57

Doch die Spannungen in der Familie nahmen zu. Einstein und Marić tauschten Briefe aus, in denen sie über Geld und Urlaubszeiten stritten, bis Ende Juni eine schroffe Postkarte von Hans Albert kam. »Aber wenn du mit ihr so unfreundlich bist«, schrieb er mit Bezug auf seine Mutter , »mag ich auch nicht mit dir gehen.« Also sagte Einstein seine geplante Reise nach Zürich ab und fuhr stattdessen mit Elsa und ihren beiden Töchtern in das Ostseebad Sellin auf Rügen.

Einstein war überzeugt davon, dass Marić die Kinder gegen ihn aufhetzte. Wohl zu Recht nahm er an, dass sie hinter den Postkarten steckte, die Hans Albert ihm schrieb, sowohl den klagenden, in denen ihm vorgehalten wurde, dass er nicht in Zürich war, als auch den unversöhnlichen, in denen die Urlaubswanderungen abgesagt wurden. »Schon seit einigen Jahren wurde mir mein prächtiger Bub entfremdet von meiner Frau , die von rachsüchtiger, gewöhnlicher Gemütsart (…) ist«, beklagte er sich bei Zangger . »Die Karte, welche ich von Albertchen erhielt, war von ihr inspiriert, wenn nicht gar diktiert.«

Er bat Zangger , der Medizinprofessor war, den kleinen Eduard zu untersuchen, der an Ohrenentzündungen und anderen Erkrankungen litt. »Schreiben Sie mir in Ihrer Antwort auch bitte, was meinem Kleinen gefehlt hat. An ihm hänge ich besonders zärtlich, er war noch lieb zu mir und unverdorben.« 58

Erst Anfang September konnte er es endlich einrichten, in die Schweiz zu reisen. Marić dachte, es werde ihm guttun, trotz der Spannungen bei ihr und den Jungen zu wohnen. Schließlich waren sie noch immer verheiratet. Insgeheim hoffte sie wohl auf Versöhnung. Aber Einstein hatte keine Lust, bei ihr zu wohnen, sondern stieg in einem Hotel ab und verbrachte viel Zeit mit seinen Freunden Michele Besso und Heinrich Zangger .

Wie sich herausstellte, bekam er während der drei Wochen, die er sich in der Schweiz aufhielt, nur zweimal Gelegenheit, seine Kinder zu sehen. In einem Brief an Elsa beklagte er sich über seine Noch-Ehefrau : »Ursache: Angst der Mutter vor zu grosser Anlehnung der kleinen an mich.« Hans Albert ließ den Vater wissen, dass ihm dessen ganzer Besuch unangenehm gewesen sei. 59

Als Einstein nach Berlin zurückgekehrt war, stattete sein älterer Sohn Zangger einen Besuch ab. Der freundliche Medizinprofessor, der in dem Streit mit allen Seiten befreundet war, versuchte eine Einigung zu erzielen, die Einstein ermöglichte, seine Söhne zu besuchen. Auch Besso versuchte sich als Schlichter. Einstein durfte seine Söhne sehen – wie Besso in einem offiziellen Schreiben mitteilte, das er in Absprache mit Marić aufgesetzt hatte –, aber weder in Berlin noch in Gegenwart von Elsas Familie. Es wäre das Beste, wenn ihr Zusammensein »mit dir an einem guten Gasthause oder Pension der Schweiz« stattfände, zunächst nur mit Hans Albert , wo Vater und Sohn ohne alle Ablenkung Zeit füreinander hätten. Über Weihnachten plante Hans Albert einen Besuch bei Besso und seiner Familie, und dieser schlug vor, dass Einstein dorthin kommen könnte. 60

Das Wettrennen zur allgemeinen Relativitätstheorie, 1915

Sehr deutlich unterstrichen diese politischen und persönlichen Turbulenzen im Herbst 1915 Einsteins bemerkenswerte Fähigkeit, sich gegen alle Ablenkungen abzuschotten und auf seine wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren. In dieser Zeit widmete er sich mit großer Anstrengung und Besorgnis einem Thema, das er später als die größte Leistung seines Lebens bezeichnen sollte. 61

Als Einstein im Frühjahr 1914 nach Berlin kam, hatten seine Kollegen angenommen, er werde ein Institut gründen, Gefolgsleute um sich versammeln und an dem dringendsten Problem in der Physik arbeiten: den Konsequenzen der Quantentheorie . Aber Einstein war eher ein einsamer Wolf. Anders als Planck brauchte er nicht den Zirkel der Mitarbeiter oder Protegés, außerdem konzentrierte er sich lieber auf das Thema, das zu seiner persönlichen Leidenschaft geworden war: die Verallgemeinerung seiner Relativitätstheorie . 62

Nachdem ihn Frau und Söhne verlassen hatten, um nach Zürich zurückzukehren, zog Einstein aus seiner alten Wohnung aus und mietete eine, die näher bei Elsa und dem Berliner Stadtzentrum lag. Es handelte sich um eine karg möblierte, aber ziemlich geräumige Junggesellenbleibe: sieben Zimmer im dritten Stock eines fünfstöckigen Mehrfamilienhauses. 63

In Einsteins Arbeitszimmer stand ein großer Schreibtisch, auf dem sich Papierstapel und Zeitungen türmten. In dieser Einsiedelei herumwandernd, aß und arbeitete er, wann es ihm passte, schlief, wenn er musste, und führte seinen einsamen Kampf.

Im Frühjahr und Sommer 1915 rang Einstein mit seiner Entwurf-Theorie , nahm Verbesserungen vor und verteidigte sie gegen diverse Kritiker. Öfter nannte er sie jetzt »die allgemeine Relativitätstheorie « statt lediglich »eine verallgemeinerte Relativitätstheorie «, aber das konnte seine Probleme nicht aus der Welt schaffen, obwohl er sie immer wieder zu vertuschen suchte.

Er behauptete, seine Gleichungen hätten das höchste Maß an Kovarianz, das angesichts seiner Loch-Betrachtung und anderer physikalischer Einschränkungen zulässig sei, begann aber zu argwöhnen, dass dies nicht stimmte. Außerdem sah er sich in eine ermüdende Debatte mit dem italienischen Mathematiker Tullio Levi-Civita verstrickt, der darauf hinwies, dass Einsteins Verwendung des Tensorkalküls , den Levi-Civita zusammen mit seinem Lehrer Ricci-Curbastro entwickelt hatte, problematisch sei. Und schließlich war da noch das Rätsel, dass die Theorie einen falschen Wert für die Bahnverschiebung des Merkur lieferte.

Zumindest erklärte seine Theorie im Sommer 1915 noch immer – jedenfalls dachte Einstein das – die Rotation als eine Form relativer Bewegung, das heißt als eine Bewegung, die nur relativ zu den Positionen und Bewegungen anderer Objekte definiert werden konnte. Nach seiner Meinung waren die Feldgleichungen unter der Transformation in rotierende Koordinaten invariant . 64

Einstein hatte genügend Vertrauen in seine Theorie, um sie Ende Juni 1915 eine Woche lang in zweistündigen Vorlesungen öffentlich vorzustellen. Dazu wählte er die Universität Göttingen aus, die sich zum bedeutendsten Zentrum der mathematiknahen Bereiche der theoretischen Physik entwickelt hatte. Der wichtigste Vertreter der erlesenen Schar von brillanten Mathematikern dort war David Hilbert . Deshalb war Einstein mit großem Eifer – zu großem Eifer, wie sich herausstellen sollte – darauf bedacht, Hilbert mit allen Feinheiten der Relativitätstheorie vertraut zu machen.

Der Besuch in Göttingen war ein Triumph. Begeistert berichtete Einstein seinem Freund Zangger : »[Ich] erlebte die Freude, die dortigen Mathematiker vollständig zu überzeugen.« In Bezug auf Hilbert , der ebenfalls Pazifist war, schrieb er: »[Ich] war eine Woche in Göttingen , wo ich ihn kennen und lieben lernte.« Einige Wochen später erwähnte er erneut, er habe »Hilbert von der allgemeinen Relativität überzeugen« können, und nannte ihn einen »Mann von wunderbarer Kraft und Selbständigkeit in allen Dingen«. Noch überschwänglicher äußerte sich Einstein in einem Brief an einen anderen Physiker: »In Göttingen hatte ich die grosse Freude, alles bis ins Einzelne verstanden zu sehen. Von Hilbert bin ich ganz begeistert. Ein bedeutender Mann!« 65

Ähnlich begeistert war Hilbert von Einstein und seiner Theorie . So begeistert, dass er schon bald alle Anstrengungen unternahm, um Einstein bei dem Versuch, die richtigen Feldgleichungen zu finden, zuvorzukommen. In den drei Monaten nach seinen Göttinger Vorlesungen sah sich Einstein zwei niederschmetternden Entdeckungen gegenüber: Erstens, seine Entwurf-Theorie wies in der Tat Fehler auf, und zweitens, Hilbert war fieberhaft bemüht, selbst die richtigen Formulierungen zu finden. Dass seine Entwurf-Theorie näherer Prüfung nicht standhielt, war eine Erkenntnis, zu der Einstein durch eine Häufung von Problemen gelangte, deren Höhepunkte zwei Rückschläge im Oktober 1915 bildeten.

Der erste stellte sich ein, als Einstein bei einer neuerlichen Überprüfung feststellte, dass die Entwurf-Gleichungen – anders als er angenommen hatte – die Rotation nicht so beschrieben, wie er gedacht hatte. 66 Er hatte gehofft, die Rotation könne einfach als eine andere Form relativer Bewegung aufgefasst werden, aber wie sich herausstellte, war das im Rahmen der Entwurf-Theorie nicht der Fall. Die Entwurf-Gleichungen waren im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Annahme nicht kovariant unter einer Transformation, die die Koordinatenachsen gleichförmig rotieren ließ.

1913 hatte Besso ihn in einer Notiz vor diesem Problem gewarnt. Aber Einstein hatte sich darüber hinweggesetzt. Als er seine Berechnungen jetzt wiederholte, sah er den Grundpfeiler mit Entsetzen einbrechen. »Dies ist ein flagranter Widerspruch«, klagte er dem Astronomen Freundlich .

Er nahm an, derselbe Fehler erkläre auch, dass die Theorie die Perihelbewegung des Merkur nicht ganz erklären könne. In seiner Verzweiflung glaubte er nicht daran, herausfinden zu können, worin das Problem konkret bestand. »Ich glaube nicht, dass ich selbst imstande bin, den Fehler zu finden, da mein Geist in dieser Sache zu ausgefahrene Geleise hat.« 67

Außerdem hatte er in seinem sogenannten »Eindeutigkeitsargument« – nach dem die Bedingungen, die von der Energie-Impuls -Erhaltung und anderen physikalischen Einschränkungen verlangt wurden, eindeutig zu den Feldgleichungen der Entwurf-Theorie führten – einen Fehler erkannt. In einem ausführlichen Brief erklärte er Lorentz seinen früheren »Irrweg«. 68

Zu diesen Problemen kamen diejenigen hinzu, die wir bereits kennen: Die Entwurf-Gleichungen waren nicht allgemein kovariant, soll heißen, sie sorgten nicht dafür, dass alle Formen beschleunigter und nicht gleichförmiger Bewegung relativ waren, und sie konnten die Anomalie in der Umlaufbahn des Merkur nicht vollständig erklären. Und nun, da dieses Theoriegebäude einstürzte, hörte er gewissermaßen, wie Hilberts Schritte in Göttingen ihm immer näher kamen.

Ein Teil der genialen Gabe Einsteins war seine Hartnäckigkeit. Er konnte an einem Ideenkonstrukt selbst dann noch festhalten, wenn es einen »scheinbaren Widerspruch« aufwies (wie er in seiner Relativitäts-Arbeit aus dem Jahr 1905 formuliert hatte). Außerdem hatte er einen tiefen, intuitiven Zugang zur physikalischen Welt. Da er in seiner Arbeitsweise stärker auf sich allein gestellt blieb als die meisten anderen Forscher, vertraute er, trotz der Bedenken anderer, auf seine eigenen Instinkte.

Mochte er auch hartnäckig sein, stur war er nicht. Als er schließlich zu dem Schluss gekommen war, dass er an dem Entwurf nicht festhalten konnte, war er sofort bereit, ihn aufzugeben. Genau das tat er im Oktober 1915.

Um seine gescheiterte Entwurf-Theorie zu ersetzen, verlagerte Einstein seinen Blickpunkt von der physikalischen Strategie, in der er sich auf seinen Instinkt für die physikalischen Grundprinzipien verließ, auf eine mathematische Strategie, welche die Tensoren von Riemann und Ricci nutzte. Das war ein Ansatz, den er in dem Züricher Notizbuch gewählt und dann verworfen hatte. Als er nun zu ihm zurückkehrte, stellte er fest, dass er unter Umständen eine Möglichkeit bot, allgemeine kovariante Feldgleichungen zu entwickeln. »Einsteins Umkehr«, schreibt John Norton , »teilte das Wasser und führte ihn aus der Knechtschaft in das gelobte Land der allgemeinen Relativitätstheorie 69

Natürlich blieb auch dieser Ansatz, wie immer bei ihm, eine Mischung aus beiden Strategien. Um seine wiederbelebte mathematische Strategie anwenden zu können, musste er die physikalischen Postulate revidieren, die die Grundlage seiner Entwurf-Theorie bildeten. »Das war genau die Konvergenz von physikalischen und mathematischen Gedanken, denen Einstein in dem Züricher Notizbuch und in seiner Arbeit über die Entwurf-Theorie ausgewichen war«, schreiben Michel Janssen und Jürgen Renn . 70 Nun kehrte er also zur Tensorrechnung zurück, die er in Zürich verwendet hatte und mit deren Verwendung dann automatisch das mathematische Ziel, allgemein kovariante Gleichungen zu finden, in den Vordergrund rückte. »Nachdem so jedes Vertrauen in Resultate und Methode der früheren Theorie gewichen war«, schrieb er an einen Freund, »sah ich klar, dass nur durch einen Anschluss an die allgemeine Kovariantentheorie, d. h. an Riemanns Kovariante, eine befriedigende Lösung gefunden werden konn[t]e.« 71

Das Ergebnis war ein erschöpfender, vierwöchiger Schaffensrausch, in dessen Verlauf Einstein mit einer Folge von Tensoren , Gleichungen, Korrekturen und Aktualisierungen rang. Er ist in vier Fachartikeln dokumentiert, die Einstein einen nach dem anderen bei der Preußischen Akademie zur Veröffentlichung einreichte. Der Höhepunkt kam Ende November 1915 mit einer triumphalen Revision des Newton ’schen Universums .

Jede Woche versammelten sich die etwa fünfzig Mitglieder der Preußischen Akademie im großen Saal der Preußischen Staatsbibliothek mitten in Berlin , um einander mit »Exzellenz« anzureden und den weisen Ausführungen der anderen Mitglieder zu lauschen. Auch ohne einen Vortrag zu halten, gab es dabei jeweils die Gelegenheit, Manuskripte zur Veröffentlichung in den »Sitzungsberichten« einzureichen. Die vier Beiträge Einsteins stammen aus den Wochen, in denen er wie besessen an seiner revidierten Theorie arbeitete.

Den ersten Beitrag reichte Einstein am 4. November ein. »In den letzten Jahren war ich bemüht«, schrieb er, »auf die Voraussetzung der Relativität auch nicht gleichförmiger Bewegungen eine allgemeine Relativitätstheorie zu gründen.« Bezüglich seiner verworfenen Entwurf-Theorie sagte er: »Ich glaubte in der Tat, das einzige Gravitationsgesetz gefunden zu haben«, das der physikalischen Wirklichkeit entsprach.

Doch dann beschrieb er mit großer Offenheit und in allen Einzelheiten, auf welche Probleme er mit seiner Theorie gestoßen war. »Aus diesen Gründen verlor ich das Vertrauen zu den von mir aufgestellten Feldgleichungen vollständig« – jenen Gleichungen, die er seit mehr als zwei Jahren verteidigte. Stattdessen, so fuhr er fort, sei er zu dem Ansatz zurückgekehrt, den er und Marcel Grossmann , sein mathematischer Helfer, 1912 verwendet hätten. »So gelangte ich zu der Forderung einer allgemeineren Kovarianz der Feldgleichungen zurück, von der ich vor drei Jahren, als ich zusammen mit meinem Freunde Grossmann arbeitete, nur mit schwerem Herzen abgegangen war. In der Tat waren wir damals der im nachfolgenden gegebenen Lösung des Problems bereits ganz nahe gekommen.«

Einstein griff auf die Tensoren von Riemann und Ricci zurück, mit denen Grossmann ihn 1912 vertraut gemacht hatte. »Dem Zauber dieser Theorie wird sich kaum jemand entziehen können«, führte er aus. »Sie bedeutet einen wahren Triumph der durch Gauss , Riemann , Christoffel , Ricci und Levi-Civita begründeten Methode des allgemeinen Differentialkalküls.« 72

Diese Methode brachte ihn der richtigen Lösung viel näher, aber die Gleichungen, die er am 4. November vorstellte, waren noch nicht allgemein kovariant. Dazu brauchte er weitere drei Wochen.

Einstein befand sich mitten in einem so heftigen Schöpfungsrausch, wie es ihn in der Geschichte der Naturwissenschaft nur selten gegeben hatte. Er arbeite, schrieb er, »schauderhaft angestrengt«. 73 Obwohl das schon all seine Kraft in Anspruch nahm, musste er sich mit der persönlichen Krise in seiner Familie auseinandersetzen. Von seiner Frau wie von Michele Besso , der von ihr beauftragt war, bekam er Briefe, in denen es um seine finanziellen Verpflichtungen und die Regeln für den Kontakt mit seinen Kindern ging.

An genau dem Tag, als er seine erste Arbeit einreichte, dem 4. November, schrieb er einen qualvoll-schmerzlichen Brief an Hans Albert , der sich in der Schweiz aufhielt:

Ich werde jedenfalls darauf dringen, dass wir jedes Jahr einen Monat zusammen sind, damit Du siehst, dass Du einen Vater hast, der an Dir hängt, und Dich lieb hat. Du kannst auch viel Schönes und Gutes von mir lernen, was Dir nicht so leicht ein anderer bieten kann. Was ich mir durch so viel anstrengende Arbeit erworben habe, soll nicht nur für fremde Menschen da sein, sondern ganz besonders für meine eigenen Buben. Dieser Tage habe ich eine der schönsten Arbeiten meines Lebens fertig gemacht; wenn Du einmal grösser bist, erzähle ich Dir davon.

Am Ende folgte eine kurze Entschuldigung dafür, dass er so abgelenkt erschien: »Ich bin oft so in meiner Arbeit, dass ich das Mittagessen vergesse.« 74

Einstein ließ auch die fieberhafte Überarbeitung seiner Gleichungen eine Zeit lang liegen, um sich auf einen etwas heiklen Dialog mit seinem Ex-Freund und Konkurrenten Hilbert einzulassen, der ihm bei der Suche nach den Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie zuvorzukommen versuchte. Man hatte Einstein berichtet, der Göttinger Mathematiker habe die Fehler in den Entwurf-Gleichungen gefunden. In der Sorge, Hilbert könnte eher ans Ziel gelangen, schrieb er diesem, er habe die Fehler schon vier Wochen zuvor entdeckt, und schickte ihm eine Kopie des Vortrags vom 4. November. »Ich bin neugierig, ob Sie sich mit dieser neuen Lösung befreunden werden«, fragte Einstein mit leicht defensivem Gestus. 75

Hilbert war Einstein nicht nur in der reinen Mathematik überlegen, sondern hatte auch den Vorteil, kein so guter Physiker zu sein. Er wurde nicht wie Einstein dadurch aufgehalten, dass er bei jeder neuen Theorie überprüfte, ob sie sich mit Newtons alter Theorie in einem schwachen statischen Feld vertrug oder ob sie den Gesetzen der Kausalität gehorchte. Statt einer dualen mathematisch-physikalischen Strategie folgte Hilbert in erster Linie einer mathematischen Strategie, indem er nach Gleichungen suchte, die kovariant waren. »Hilbert sagte gern im Scherz, die Physik sei zu kompliziert, um sie den Physikern zu überlassen«, berichtet Dennis Overbye . 76

Seine zweite Abhandlung legte Einstein am folgenden Donnerstag, dem 11. November, vor. Darin verwendete er den Ricci -Tensor und führte neue Koordinatenbedingungen ein, mittels derer die Gleichungen allgemein kovariant werden konnten. Wie sich herausstellte, wurde die Sache dadurch nicht viel besser. Noch immer war Einstein ganz nahe an der endgültigen Lösung, kam aber kaum voran. 77

Abermals schickte er Hilbert die Arbeit zu. »Wenn meine jetzige Modifikation (die die Gleichungen nicht ändert) berechtigt ist, dann muss die Gravitation im Aufbau der Materie eine fundamentale Rolle spielen«, teilte Einstein mit. »Die Neugier erschwert mir die Arbeit!« 78

Hilberts Antwort vom folgenden Tag dürfte Einstein verunsichert haben. Er sagte, er würde Einstein gern »meine axiomatische Lösung Ihres grossen Problems« zur Verfügung stellen. Eigentlich habe er sie erst nach einer näheren Untersuchung der physikalischen Implikationen zur Diskussion stellen wollen. »Da Sie aber so interessirt sind, so möchte ich am kommenden Dienstag also über-übermorgen (d. 16 d. M.) meine Theorie ganz ausführlich entwickeln.«

Er lud Einstein nach Göttingen ein, um ihm das zweifelhafte Vergnügen zu bereiten, sich die Darlegung der Antwort persönlich anzuhören. Das Treffen sollte um 18 Uhr beginnen, und Hilbert nannte Einstein hilfsbereit die Ankunftszeiten zweier Nachmittagszüge aus Berlin . »Meine Frau u. ich würden sich sehr freuen, wenn Sie bei uns logirten.«

Dann, nachdem er schon unterschrieben hatte, fühlte Hilbert sich bemüßigt, noch ein Postskript hinzuzufügen, das sicherlich nicht zu Einsteins Beruhigung beitrug. »Soweit ich Ihre neue Abh. verstehe, ist die von Ihnen gegebene Lösung von der meinen völlig verschieden.«

Am 15. November, einem Montag, schrieb Einstein vier Briefe, die ahnen lassen, warum er unter Magenschmerzen litt. Seinem Sohn Hans Albert schlug er ein Treffen über Weihnachten und Neujahr in der Schweiz vor. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir irgendwo allein wären«, etwa in einem abgeschiedenen Gasthof – »Was meinst Du?«, fragte er seinen Sohn .

Seiner Noch-Ehefrau schickte er ein versöhnliches Schreiben, in dem er ihr für die Bereitschaft dankte, die »Beziehungen zu den Buben nicht [zu] hintertreiben«. Und ihrem gemeinsamen Freund Zangger berichtete er: »Die Gravitationstheorie habe ich abgeändert, indem ich erkannte, dass meine früheren Beweise eine Lücke hatten. (…) Ich will gerne um die Jahreswende in die Schweiz kommen, um meinen lieben Jungen zu sehen.« 79

Schließlich antwortete er Hilbert und lehnte dessen Angebot ab, ihn am folgenden Tag in Göttingen zu besuchen. Der Brief ließ seine Besorgnis erkennen: »Ihre Untersuchung interessiert mich gewaltig. (…) Die Andeutungen, welche Sie auf Ihren Karten geben, lassen das Grösste erwarten. Trotzdem muss ich mir es für den Augenblick versagen, nach Göttingen zu fahren. (…) Ich bin sehr übermüdet und obendrein mit Magenschmerzen geplagt. Schicken Sie mir bitte, wenn möglich, ein Korrekturexemplar Ihrer Untersuchung, um meiner Ungeduld entgegenzukommen.« 80

Glücklicherweise wurde Einsteins Angst in dieser Woche durch eine freudige Entdeckung gelindert. Obwohl er wusste, dass seine Gleichungen noch nicht in ihrer endgültigen Form vorlagen, beschloss er, zu überprüfen, ob der neue Ansatz, den er gewählt hatte, den bereits bekannten Wert für die Perihelverschiebung des Merkur liefern würde. Da Besso und er die Berechnungen schon einmal vorgenommen (und ein enttäuschendes Ergebnis erhalten) hatten, brauchte er nicht lange, um die Rechnung im Rahmen seiner revidierten Theorie zu wiederholen.

Das Ergebnis, das er triumphierend in dem dritten seiner vier Artikel bekannt gab, erbrachte den richtigen Wert: 43 Bogensekunden pro Jahrhundert. 81 »Diese Entdeckung war, wie ich glaube, die intensivste emotionelle Erfahrung in Einsteins wissenschaftlichem Leben, vielleicht überhaupt in seinem Leben«, meinte Abraham Pais später. Er war so erregt, dass er Herzklopfen bekam und das Gefühl hatte, »in ihm wäre etwas zersprungen«. »Ich war (…) fassungslos vor freudiger Erregung«, schrieb er Ehrenfest . Auch einem anderen Physiker teilt er seine Freude mit: »Das Resultat von der Perihelbewegung des Merkur erfüllt mich mit grosser Befriedigung. Wie kommt uns da die pedantische Genauigkeit der Astronomie zu Hilfe, über die ich mich im Stillen früher oft lustig machte!« 82

In demselben Artikel berichtete er noch von einer anderen Berechnung, die er angestellt hatte. Acht Jahre zuvor, bei seinen ersten Versuchen, die Relativitätstheorie zu formulieren, hatte er gesagt, eine Konsequenz sei, dass das Licht von der Gravitation abgelenkt werde. Zunächst hatte er gemeint, die Ablenkung des Lichts durch das Gravitationsfeld in der Nähe der Sonne werde ungefähr 0,83 Bogensekunden betragen, derselbe Wert, der durch Newtons Theorie vorhergesagt wird, wenn man Licht als Teilchen behandelt. Doch nun errechnete Einstein anhand seiner revidierten Theorie, dass die Ablenkung des Lichts durch Gravitation infolge des Effekts der Raumzeitkrümmung doppelt so groß sein würde. Daher lautete seine Vorhersage jetzt: Die Gravitation der Sonne müsste einen Sonnenstrahl um rund 1,7 Bogensekunden ablenken. Dies war eine Vorhersage, die noch drei Jahre warten musste, bis sie bei einer geeigneten Sonnenfinsternis überprüft werden konnte.

An diesem Morgen des 18. November erhielt Einstein Hilberts neue Arbeit, zu deren Präsentation Hilbert ihn nach Göttingen eingeladen hatte. Einstein war überrascht und etwas entsetzt, als er sah, wie sehr sie seiner eigenen Arbeit glich. Seine Antwort an Hilbert war knapp, etwas kühl und offenbar dazu bestimmt, die Priorität seiner eigenen Arbeit zu unterstreichen:

Das von Ihnen gegebene System stimmt – soweit ich sehe – genau mit dem überein, was ich in den [le]tzten Wochen gefunden und der Akademie überreicht habe. Die Schwierigkeit bestand nicht darin allgemein kovariante Gleichungen (…) zu finden; denn dies gelingt leicht mit Hilfe des Riemann’schen Tensors . (…) Die einzig möglichen allgemein kovarianten Gleichungen, [die] sich jetzt als die richtigen erweisen, [hatte ich] schon vor 3 Jahren mit meinem Freunde Grossmann in Erwägung gezogen. Nur schweren Herzens trennten wir uns davon, weil mir die physikalische Diskussion scheinbar ihre Unvereinbarkeit mit Newtons Gesetz ergeben hatte. (…) Ich überreiche heute der Akademie eine Arbeit, in der ich aus der allgemeinen Relativität ohne Hilfshypothese die von Leverrier e[nt]deckte Perihelbewegung des Merkur quantitativ ableite. Dies gelang bis jetzt keiner Gravitationstheorie . 83

Am folgenden Tag antwortete Hilbert freundlich und recht großzügig, ohne irgendeinen Prioritätsanspruch für sich selbst geltend zu machen. »Herzlichste Gratulation zu der Überwältigung der Perihelbewegung «, schrieb er. »Wenn ich so rasch rechnen könnte, wie Sie, müsste bei meinen Gleichungen entsprechend das Elektron kapituliren und zugleich das Wasserstoffatom seinen Entschuldigungszettel aufzeigen, warum es nicht strahlt.« 84

Doch am Tag darauf, am 20. November, schickte Hilbert bei einer Göttinger Wissenschaftszeitschrift seine Version der Gleichungen für die allgemeine Relativitätstheorie ein. Dabei suchte er sich für diese Abhandlung nicht gerade einen bescheidenen Titel aus: »Die Grundlagen der Physik«.

Wir wissen nicht, wie sorgfältig Einstein die Abhandlung las, die Hilbert ihm geschickt hatte, oder ob ihn dort etwas so betroffen machte, dass er solche Eile an den Tag legte, als er seinen abschließenden vierten Bericht für die Preußische Akademie vorbereitete. Wie dem auch sei – die Berechnungen, die er eine Woche zuvor zur Perihelbewegung des Merkur und zur Lichtablenkung vorgenommen hatte, verhalfen ihm zu der Erkenntnis, dass er die Einschränkungen und Koordinatenbedingungen, die er seinen Feldgleichungen der Gravitation aufgezwungen hatte, vermeiden konnte. Und so entwickelte er rechtzeitig für seinen letzten Beitrag – »Die Feldgleichungen der Gravitation « , eingereicht am 25. November 1915 – eine Reihe von kovarianten Gleichungen, die seine allgemeine Relativitätstheorie krönten.

Das Ergebnis ist für den Laien nicht annähernd so eingängig wie etwa E = mc 2 . Doch wenn man die kompakte Schreibweise verwendet, wie sie die Tensorrechnung bietet, wird die ausufernde Komplexität der Theorie in kleine, hoch- oder tiefgestellte Indizes verpackt, die die Kernpunkte der endgültigen Einstein’schen Feldgleichungen so platzsparend zum Ausdruck bringen, dass sie auf die T-Shirts von stolzen Physikstudenten passen. In einer der vielen Variationen 85 nimmt es die folgende Form an:

R µv - ½g µv R = 8πT µv

Die linke Seite der Gleichung beginnt mit dem Term R µν , dem Ricci -Tensor , den er schon früher verwendet hatte. Der Term g µν ist der für den Formalismus so zentrale metrische Tensor , und der Term R ist die Spur des Ricci -Tensors , der sogenannte Ricci -Skalar . Insgesamt enthält diese linke Seite der Gleichung, die später insgesamt Einsteintensor G µν genannt wurde, alle Informationen darüber, wie die Geometrie der Raumzeit von Objekten verzerrt und gekrümmt wird.

Die rechte Seite enthält Informationen zur Bewegung der Materie im Gravitationsfeld . Der Wechselbeziehung beider Seiten ist zu entnehmen, wie Objekte die Raumzeit krümmen und wie sich diese Krümmung ihrerseits auf die Bewegung der Objekte auswirkt. Der Physiker John Wheeler drückt es so aus: »Die Materie sagt der Raumzeit , wie sie sich zu krümmen hat, und die gekrümmte Raumzeit sagt der Materie, wie sie sich zu bewegen hat.« 86

Das ist Bühne für einen kosmischen Tango, den Brian Greene , ein anderer Physiker, wie folgt beschreibt:

Die Materie hier veranlasst den Raum dort, sich zu krümmen und sich ein Stück weiter noch stärker zu krümmen und so fort. Die allgemeine Relativitätstheorie liefert die Choreografie für einen komplexen Tanz von Raum, Zeit, Materie und Energie. 87

Damit verfügte Einstein endlich über Gleichungen, die wirklich kovariant waren, und damit über eine Theorie, die, wenigstens zu seiner Zufriedenheit, alle Bewegungsformen beschrieb – inertiale oder beschleunigte Bewegung, Drehbewegungen und komplett allgemeine Arten von Bewegung. So hatte er das auch bei der offiziellen Präsentation seiner Theorie formuliert, die im folgenden März in den Annalen der Physik erschien: »Die allgemeinen Naturgesetze sind durch Gleichungen auszudrücken, die für alle Koordinatensysteme gelten, d. h. die beliebige Substitutionen gegenüber kovariant (allgemein kovariant) sind.« 88

Einstein war begeistert über seinen Erfolg, aber gleichzeitig auch besorgt, man könne Hilbert , der seine eigene Version fünf Tage früher in Göttingen vorgelegt hatte, einen Teil des Verdienstes an der Theorie zuschreiben. »Aber nur ein Kollege hat sie wirklich verstanden«, schrieb er seinem Freund Heinrich Zangger , »und der eine sucht sie auf geschickte Weise zu ›nostrifizieren‹ (Abraham’scher Ausdruck).« Das Wort »nostrifizieren«, das der mathematisch bewanderte Physiker Max Abraham verwendete, ist der Praxis deutscher Universitäten entlehnt, Studienabschlüsse anderer Universitäten genauso anzuerkennen wie eigene. »Ich habe in meinen persönlichen Erfahrungen kaum je die Jämmerlichkeit der Menschen besser kennengelernt wie gelegentlich dieser Theorie und was damit zusammenhängt.« Einige Tage darauf fügte er in einem Brief an Besso hinzu: »Die Kollegen verhalten sich scheusslich bei dieser Angelegenheit. Du wirst Deinen Spass haben, wenn ich Dirs erzähle.« 89

Wem also gebührt am Ende das Verdienst, die endgültigen mathematischen Gleichungen gefunden zu haben? Die Frage der Einstein-Hilbert -Priorität hat eine begrenzte, aber intensive historische Debatte entfacht und offenbar teilweise Emotionen geweckt, die über die bloße wissenschaftliche Neugier hinausgingen. Hilbert präsentierte eine Version seiner Gleichung in einem Vortrag, den er am 16. November hielt, und in einer Abhandlung, die er am 20. November einreichte, während Einstein seine endgültigen Gleichungen am 25. November vorlegte. Doch 1997 entdeckte eine Gruppe von Einstein-Forschern Korrekturseiten von Hilberts Artikel, auf denen dieser Verbesserungen vornahm, die er dem Verlag am 16. Dezember zurücksandte. In der Originalversion unterschieden sich Hilberts Gleichungen in zwei kleinen, aber wichtigen Punkte von Einsteins endgültiger Fassung in dem Vortrag vom 25. November. Sie waren nicht wirklich allgemein kovariant und enthielten noch nicht den zusätzlichen Term, den man durch Kontraktion bzw. Spurbildung des Ricci -Tensors erhält, nämlich den Ricci -Skalar . Beides lieferte Einsteins Vortrag vom 25. November. Offensichtlich nahm Hilbert eine Korrektur in der revidierten Fassung seines Artikels vor, um sie Einsteins Version anzugleichen. Seinen Revisionen fügte er großzügig den Vermerk »zuerst von Einstein eingeführt« an, als er sich auf die Gravitationspotentiale bezog.

Hilberts Fürsprecher (und Einsteins Kritiker) reagierten mit einer Vielzahl von Argumenten, unter anderem, dass in den Korrekturfahnen ein Teil fehle und dass der fragliche Spurterm entweder überflüssig oder selbstverständlich sei.

Der Fairness halber sei gesagt, dass beide Männer – teilweise unabhängig voneinander, aber wohl wissend, was der andere tat – im November 1915 mathematische Gleichungen aufstellten, die der allgemeinen Relativitätstheorie einen formalen Ausdruck verliehen. Geht man von Hilberts Revisionen an seinen eigenen Korrekturfahnen aus, so scheint Einstein die endgültige Version dieser Gleichungen als Erster veröffentlicht zu haben. Am Ende erkannte selbst Hilbert Einsteins Verdienst und Priorität an.

Jedenfalls steht außer Frage, dass Einsteins Theorie durch diese Gleichungen, die er Hilbert bei ihrem Treffen in diesem Sommer erklärt hatte, formalisiert war. Selbst der Physiker Kip Thorne , einer der Forscher, die Hilbert das Verdienst zuerkennen, die richtigen Feldgleichungen entwickelt zu haben, sagt trotzdem, Einstein sei die den Gleichungen zugrunde liegende Theorie zu verdanken. »Hilbert hatte zwar die letzten mathematischen Schritte auf dem Weg zu ihrer Entdeckung unabhängig von Einstein und fast gleichzeitig mit ihm durchgeführt. Doch Einstein hatte die gesamte Vorarbeit im Wesentlichen allein geleistet«, schrieb Thorne . »Ohne Einstein wären die Gravitationsgesetze der allgemeinen Relativitätstheorie vielleicht erst Jahrzehnte später entdeckt worden.« 90

Großzügig beurteilte Hilbert das genauso. Das brachte er deutlich in der endgültigen Veröffentlichung seiner Abhandlung zum Ausdruck: »Die sich ergebenden Differentialgleichungen befinden sich, wie mir scheint, in Übereinstimmung mit der großartigen allgemeinen Relativitätstheorie , die Einstein bewiesen hat.« Fortan erkannte er immer an (und nahm damit denen, die Einstein am Zeug flicken wollten, den Wind aus den Segeln), dass Einstein der einzige Urheber der Relativitätstheorie war. 91 »Jeder Knabe auf den Straßen von Göttingen versteht mehr von vierdimensionaler Geometrie als Einstein«, soll er wiederholt gesagt haben. »Trotzdem hat Einstein die Leistung vollbracht und nicht die Mathematiker.« 92

Tatsächlich waren Einstein und Hilbert bald wieder befreundet. Im Dezember, nur wenige Wochen nachdem die Feldgleichungen fertig waren, teilte Hilbert Einstein mit, er sei auf seine Initiative hin in die Göttinger Akademie gewählt worden. Nachdem Einstein seinen Dank zum Ausdruck gebracht hatte, fügte er hinzu: »Bei dieser Gelegenheit drängt es mich dazu, Ihnen noch etwas zu sagen.« Und er führte aus:

Es ist zwischen uns eine gewisse Verstimmung gewesen, deren Ursache ich nicht analysieren will. Gegen das damit verbundene Gefühl der Bitterkeit habe ich gekämpft, und zwar mit vollständigem Erfolge. Ich gedenke Ihrer wieder in ungetrübter Freundlichkeit, und bitte Sie, dasselbe bei mir zu versuchen. Es ist objektiv schade, wenn sich zwei wirkliche Kerle, die sich aus dieser schäbigen Welt etwas herausgearbeitet haben, nicht gegenseitig zur Freude gereichen. 93

Sie nahmen ihre regelmäßige Korrespondenz wieder auf, tauschten ihre Ideen aus und schmiedeten einen Plan, um dem Astronomen Freundlich eine Stellung zu verschaffen. Im Februar besuchte Einstein sogar Göttingen noch einmal und war bei den Hilberts zu Gast.

Einsteins Stolz auf seine Urheberschaft war nur zu verständlich. Sobald seine vier Vorlesungen gedruckt waren, schickte er sie per Post an Freunde. »Sehen Sie sich dieselben ja sicher an«, legte er dem einen ans Herz. »Es ist der wertvollste Fund, den ich in meinem Leben gemacht habe.« Einem anderen schrieb er: »Die Theorie ist von unvergleichlicher Schönheit.« 94

Mit 36 Jahren hatte Einstein unsere Vorstellung vom Universum so gründlich und spektakulär umgeschrieben wie kaum ein anderer in der Geschichte der Wissenschaft. Die allgemeine Relativitätstheorie war nicht nur die Ausdeutung einiger Experimentaldaten oder Entdeckung einer Reihe genauerer Gesetze. Sie war eine völlig neue Sichtweise der Wirklichkeit.

Newton hatte Einstein ein Universum hinterlassen, in dem die Zeit absolut war, unabhängig von Objekten und Beobachtern gleichmäßig heruntertickte und in dem der Raum genauso absolut war. Gravitation galt als eine Kraft, die Massen in ziemlich rätselhafter Weise durch den leeren Raum aufeinander ausübten. Innerhalb dieses Rahmens gehorchten Objekte mechanischen Gesetzen, die alles bemerkenswert genau, fast perfekt, erklären konnten – von den Umlaufbahnen der Planeten über die Diffusion von Gasen und die Schwingungen von Molekülen bis hin zur Ausbreitung der Schallwellen (wenn auch nicht der Lichtwellen ).

Mit seiner speziellen Relativitätstheorie hatte Einstein gezeigt, dass Raum und Zeit nicht unabhängig voneinander existieren, sondern ein Raumzeit -Geflecht bilden. Mit seiner allgemeinen Version der Relativitätstheorie war dieses Raumzeit -Geflecht nicht mehr nur ein bloßer Behälter für Objekte und Ereignisse. Stattdessen bekam es eine eigene Dynamik, die durch die Bewegungen von Objekten in seinem Inneren bestimmt wurde und gleichzeitig jene Bewegungen beeinflusste. Man denke an das Sprungtuch eines Trampolins, das sich verzerrt, wenn eine Bowlingkugel und einige Billardkugeln darüberrollen, und dessen sich ändernde Verzerrungen ihrerseits die Bahnen der rollenden Kugeln bestimmen und beispielsweise die Billardkugeln zu der Bowlingkugel hinführen.

Das verzerrte Raumzeit -Geflecht erklärt die Gravitation , ihre Äquivalenz bei Beschleunigung und, wie Einstein versichert, die allgemeine Relativität aller Bewegungsformen. 95 Nach Auffassung von Paul Dirac , der für seine bahnbrechenden Arbeiten in der Quantenmechanik den Nobelpreis erhielt, war dies »wahrscheinlich die größte wissenschaftliche Entdeckung, die je gemacht wurde«. Max Born , ein weiteres physikalisches Schwergewicht des 20. Jahrhunderts, nannte es »die größte Leistung menschlichen Denkens über die Natur, die erstaunlichste Vereinigung von philosophischer Tiefe, physikalischer Intuition und mathematischer Kunst«. 96

Der ganze Prozess hatte Einstein erschöpft, aber in einen gehobenen Zustand versetzt. Seine Ehe war in die Brüche gegangen, der Krieg verwüstete Europa, aber Einstein erlebte die glücklichste Zeit seines Lebens. Gegenüber Besso frohlockte er: »Die kühnsten Träume sind nun in Erfüllung gegangen. Allgemeine Kovarianz. Perihelbewegung des Merkur wunderbar genau.« Und verabschiedete sich mit Grüßen »von Deinem zufriedenen aber ziemlich kaputen Albert«. 97