»Spukhafte Fernwirkung«

Die Gedankenexperimente, die Einstein wie Handgranaten in den Tempel der Quantenmechanik schleuderte, hatten an dem Gebäude kaum Schäden angerichtet. Tatsächlich waren sie gute Tests und ermöglichten ein vertieftes Verständnis ihrer Implikationen. Aber Einstein blieb ein Widerständler, der immer wieder neue Strategien erfand, um zu zeigen, wie sich aus den Unbestimmtheiten , die den von Niels Bohr , Werner Heisenberg , Max Born und anderen formulierten Interpretationen innewohnten, ergab, dass in ihrer Erklärung von »Wirklichkeit« etwas fehlte.

Kurz bevor er 1933 Europa verließ, besuchte Einstein einen Vortrag von Leon Rosenfeld , einem belgischen Physiker mit philosophischen Neigungen. Als der Vortrag zu Ende war, stand Einstein im Publikum auf, um eine Frage zu stellen. »Nehmen wir an, zwei Teilchen werden mit dem gleichen, sehr großen Impuls aufeinander zubewegt, so dass sie an bekannten Orten sehr kurzzeitig miteinander wechselwirken«, schlug er vor. Wenn die Teilchen von sehr weit aufeinandergeprallt sind, misst ein Beobachter den Impuls eines der Teilchen. »Dann wird man aus den Bedingungen des Experiments offenkundig in der Lage sein, den Impuls des anderen Teilchens abzuleiten.« Und Einstein fuhr fort: »Wenn man sich jedoch entscheidet, den Ort des ersten Teilchens zu messen, kann man angeben, wo sich das andere Teilchen befindet.«

Da die Teilchen weit voneinander entfernt waren, war Einstein fähig, zu versichern – oder vermutete es zumindest –, dass »alle physikalischen Wechselwirkungen zwischen ihnen zum Stillstand gekommen sind«. Die Herausforderung, vor die Einstein die Kopenhagener Interpreten der Quantenmechanik , hier in Form seiner Frage an Rosenfeld , stellte, war einfach: »Wie lässt sich der Endzustand des zweiten Teilchens durch eine Messung an dem ersten beeinflussen?« 1

Im Laufe der Jahre hatte sich Einstein immer stärker zum Begriff des Realismus bekannt, der Überzeugung, dass es, wie er es formulierte, »einen realen Sachverhalt« gibt, der unabhängig von der Beobachtung ist. 2 Diese Auffassung war ein Grund für sein Unbehagen an Heisenbergs Unschärferelation und anderen Prinzipien der Quantenmechanik , nach denen Beobachtungen die Wirklichkeit bestimmen. Mit seiner Frage an Rosenfeld brachte Einstein einen weiteren Begriff ins Spiel: Lokalität . 3 Mit anderen Worten, wenn zwei Teilchen räumlich voneinander entfernt sind, ist alles, was dem einen zustößt, unabhängig von dem, was mit dem anderen passiert – kein Signal, keine Kraft und kein Einfluss kann sich zwischen ihnen schneller als das Licht bewegen.

Wenn man ein Teilchen beobachte oder auf es einwirke, könne das nicht, so behauptete Einstein, instantan ein anderes, weit entferntes Teilchen in Mitleidenschaft ziehen. Die Einwirkung auf ein System könne auf ein weiter entferntes System nur dann übergreifen, wenn eine Welle, ein Signal oder eine Information die Distanz zwischen ihnen überwinde – ein Prozess, der an die Lichtgeschwindigkeit gebunden sei. Das gelte sogar für die Gravitation . Wenn die Sonne plötzlich verschwinde, bliebe das acht Minuten lang ohne Auswirkung auf die Erdbahn, die Zeitspanne, die die Veränderung des Gravitationsfeldes brauche, um mit Lichtgeschwindigkeit bis zur Erde zu gelangen.

Einstein erklärte: »Aber an einer Annahme sollten wir nach meiner Ansicht unbedingt festhalten: Der reale Sachverhalt (Zustand) des Systems S2 ist unabhängig davon, was mit dem von ihm räumlich getrennten System S1 vorgenommen wird.« 4 Das leuchtete so unmittelbar ein, dass es offenkundig erschien. Jedoch, wie Einstein anmerkte, war es eine »Vermutung«. Sie war nie bewiesen worden.

Für Einstein waren Realismus und Lokalismus miteinander verwandte Grundpfeiler der Physik. In einem Brief an seinen Freund Max Born prägte er den denkwürdigen Satz, »daß die Physik eine Wirklichkeit in Zeit und Raum darstellen soll, ohne spukhafte Fernwirkungen«. 5

Sobald Einstein sich in Princeton eingewöhnt hatte, begann er, dieses Gedankenexperiment zu verfeinern. Sein Helfer Walther Mayer , Einstein gegenüber weniger loyal als Einstein ihm gegenüber, hatte sich aus der Frontlinie des Quanten-Kriegs zurückgezogen, deshalb holte sich Einstein Hilfe bei Nathan Rosen , einem 26-jährigen, frischgebackenen Stipendiaten des Instituts , und Boris Podolsky , einem 49-jährigen Physiker, den Einstein am Caltech kennengelernt hatte und der inzwischen ans Institut gewechselt war.

Das aus dieser Zusammenarbeit resultierende Papier erschien im Mai 1935, wird mit den Anfangsbuchstaben der Autoren als EPR -Arbeit bezeichnet und war die wichtigste Abhandlung, die Einstein nach seiner Ankunft in Amerika schrieb. »Can the Quantum-Mechanical Description of Physical Reality Be Regarded as Complete?« (Kann die quantenmechanische Beschreibung der Realität als vollständig gelten?), fragten die Autoren im Titel.

Rosen führte einen Großteil der Berechnungen aus, und Podolsky schrieb die veröffentlichte englische Fassung. Obwohl sie den Inhalt ausführlich erörtert hatten, missfiel Einstein, dass Podolsky den klaren begrifflichen Kern unter einem Berg von mathematischem Formalismus begraben hatte. »Es kam nicht so gut heraus, wie ich ursprünglich wollte«, beklagte sich Einstein bei Schrödinger kurz nach der Veröffentlichung. »Entscheidend war, dass es gewissermaßen vom Formalismus erstickt wurde.« 6

Außerdem war Einstein über Podolsky verärgert, weil dieser vor der Veröffentlichung Teile des Inhalts gegenüber der New York Times hatte durchsickern lassen. Die Schlagzeile lautete: »Einstein greift Quantentheorie an / Nach Meinung des Gelehrten und zweier Kollegen ist sie zwar ›richtig‹, aber nicht ›vollständig‹.« Natürlich war Einstein selbst gelegentlich der Versuchung erlegen, Interviews über noch nicht publizierte Artikel zu geben, aber dieses Mal erklärte er, er sei entsetzt über die Praxis. »Ich diskutiere wissenschaftliche Fragen grundsätzlich nur auf angemessenen Plattformen«, schrieb er in einer Stellungnahme an die Times , »und ich lehne Vorveröffentlichungen in der Publikumspresse ab.« 7

Einstein und seine beiden Koautoren begannen mit einer Definition ihrer realistischen Prämisse: »Wenn wir, ohne auf irgendeine Weise ein System zu stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (…) vorhersagen können, dann gibt es ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht.« 8 Mit anderen Worten, wenn wir durch irgendeinen Prozess mit absoluter Sicherheit den Ort eines Teilchens in Erfahrung bringen könnten und wenn wir das Teilchen durch die Beobachtung nicht gestört hätten, dann könnten wir sagen, der Ort des Teilchens ist real, das heißt, es existiert tatsächlich, vollkommen unabhängig von unseren Beobachtungen. Im Fortgang beschreiben die Autoren Einsteins Gedankenexperiment über zwei Teilchen, die zusammengestoßen sind (oder nach dem Zerfall eines Atoms in entgegengesetzte Richtung davongeflogen sind) und daher miteinander zusammenhängende Eigenschaften haben. Indem wir das erste Teilchen messen, können wir, so versichern uns die Autoren, Erkenntnisse über das zweite Teilchen gewinnen, »ohne das zweite System zu stören«. Wenn wir den Impuls des ersten Teilchens messen, können wir den Impuls des zweiten Teilchens genau bestimmen. Genauso können wir mit dem Ort der Teilchen verfahren. »Im Einklang mit unserem Realitätskriterium müssen wir im ersten Fall die Größe P als ein Element der Realität betrachten, im zweiten Fall ist die Größe Q als ein Element der Realität anzusehen.«

Einfacher gesagt: In jedem Augenblick hat das zweite Teilchen, das wir nicht beobachtet haben, einen Ort, der real ist, und einen Impuls , der real ist. Diese beiden Eigenschaften sind Merkmale der Realität, die die Quantenmechanik nicht erklärt. Deshalb muss die Antwort auf die Titelfrage Nein lauten, die quantenmechanische Beschreibung der Realität ist nicht vollständig. 9

Die einzige Alternative wäre, so brachten die Autoren vor, die Behauptung, dass der Messvorgang auf die Realität des Ortes und Impulses des zweiten Teilchens einwirke. »Von keiner vernünftigen Definition der Realität können wir erwarten, dass sie dies zuläßt«, schlossen sie.

Wolfgang Pauli schrieb Heisenberg einen langen und erzürnten Brief. »Einstein hat sich wieder einmal zur Quantenmechanik öffentlich geäußert, und zwar im Heft des Physical Review vom 15. Mai (gemeinsam mit Podolsky und Rosen  – keine gute Kompanie übrigens)«, schrieb er wutschäumend. »Bekanntlich ist das jedes Mal eine Katastrophe, wenn es geschieht.« 10 Als die EPR -Arbeit Niels Bohr in Kopenhagen erreichte, wurde diesem klar, dass er erneut in die Rolle gedrängt wurde, die er so gut während der Solvay-Konferenzen gespielt hatte, nämlich die des Verteidigers gegen einen weiteren Einstein-Angriff. »Diese Attacke traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, berichtete ein Kollege von Bohr . »Ihre Wirkung auf Bohr war bemerkenswert.« Häufig reagierte er auf solche Situationen, indem er umherwanderte und murmelte: »Einstein … Einstein … Einstein!« Dieses Mal fügte er ein bisschen Reimerei hinzu: »Podolsky , Opodolsky, Iopodolsky, Siopodolsky …« 11

»Wir ließen alles andere liegen«, berichtete ein Kollege von Bohr . »Wir mussten solche Missverständnisse sofort aufklären.« Trotz aller Intensität brauchte Bohr mehr als sechs Wochen voller Sorge, Schreiben, Überarbeiten, Diktieren, lautem Vorlesen, bevor er seine Antwort auf das EPR -Papier abschickte. Sie war länger als der ursprüngliche Artikel. Darin rückte Bohr in gewisser Weise von einer These ab, die bislang ein Aspekt der Unschärferelation gewesen war: dass die durch den Beobachtungsakt hervorgerufene mechanische Störung eine Ursache der Unschärfe oder Unbestimmtheit sei. Er räumte ein, dass in Einsteins Gedankenexperiment natürlich »nicht die Rede von einer mechanischen Störung des zu untersuchenden Systems« sei. 12

Das war ein wichtiges Zugeständnis. Bis dahin gehörte die durch Messung verursachte Störung zu Bohrs physikalischer Erklärung der Quantenunschärfe . Auf den Solvay-Konferenzen hatte er Einsteins ausgeklügelte Gedankenexperimente widerlegt, indem er zeigte, dass die gleichzeitige Kenntnis etwa von Ort und Impuls unter anderem deshalb unmöglich sei, weil die Bestimmung eines Attributs eine Störung verursache, die die exakte Messung des anderen Attributs ausschließe.

Doch bei der Verwendung dieses Komplementaritätsbegriffs fügte Bohr eine wichtige Einschränkung hinzu. Er wies darauf hin, dass die beiden Teilchen ein Gesamtphänomen bilden. Da sie wechselwirken, sind sie »verschränkt «. Sie sind Teile eines Gesamtphänomens oder eines Gesamtsystems, das eine Quantenfunktion besitzt.

Außerdem lieferte die EPR -Arbeit , wie Bohr deutlich machte, keine echte Widerlegung der Unschärferelation , nach der es nicht möglich ist, sowohl den genauen Ort als auch den Impuls im gleichen Augenblick zu erkennen. Einstein hat recht, wenn er sagt, dass wir, wenn wir den Ort des Teilchens A messen, tatsächlich den Ort seines fernen Zwillings B kennen. Entsprechend gilt, dass wir, wenn wir den Impuls von A messen, den Impuls von B erkennen können. Doch selbst wenn wir uns vorstellen können, den Ort und dann den Impuls von Teilchen A zu messen und auf diese Weise diesen Attributen bei Teilchen B eine »Realität« zuzuschreiben, sind wir nicht tatsächlich in der Lage, diese beiden Attribute von Teilchen A zu messen, und deshalb können wir sie auch nicht beide genau für Teilchen B bestimmen. Brian Greene hat diesen Gedanken bei der Erörterung von Bohrs Antwort einfach ausgedrückt: »Da Ihnen also nicht beide Eigenschaften des nach rechts fliegenden Teilchens verfügbar gewesen wären, hätten Sie sie auch nicht für das Teilchen ermitteln können, das nach links unterwegs war. Folglich gibt es keinen Konflikt mit der Unschärferelation 13

Einstein aber beharrte darauf, dass er ein wichtiges Beispiel für die Unvollständigkeit der Quantenmechanik entdeckt habe, indem er nachgewiesen habe, dass sie das Prinzip der Separabilität verletze, nach dem zwei Systeme, die räumlich getrennt sind, unabhängig voneinander existieren. Ebenso zeige es einen Verstoß gegen das Prinzip der Lokalität , nach dem eine Wirkung auf eines dieser Systeme nicht unmittelbar auch das andere in Mitleidenschaft ziehen kann. Als Anhänger der Feldtheorie , die Realität als Raumzeitkontinuum versteht, hielt Einstein die Separabilität für eine fundamentale Eigenschaft der Natur. Und als Verteidiger seiner eigenen Relativitätstheorie , die Newtons Kosmos von der spukhaften Fernwirkung befreite und stattdessen verkündete, dass auch solche Wirkungen dem Gebot der Lichtgeschwindigkeit unterliegen, glaubte er auch an die Lokalität . 14

Schrödingers Katze

Trotz seines Erfolgs als Quantenpionier gehörte Schrödinger zu den Physikern, die Einstein bei seinem Bemühen, den Kopenhagen -Konsens zu sprengen, die Daumen drückten. Ihre Allianz hatten sie bei den Solvay-Konferenzen geschlossen, als Einstein Gottes Advokat gespielt und Schrödinger ihm dabei mit einer Mischung aus Neugier und Sympathie zugesehen hatte. Es sei ein einsamer Kampf, beklagte Einstein sich 1928 in einem Brief an Schrödinger : »Die Heisenberg -Bohrsche Beruhigungsphilosophie – oder Religion ? – ist so fein ausgeheckt, daß sie dem Gläubigen einstweilen ein sanftes Ruhekissen liefert, von dem er sich nicht so leicht aufscheuchen läßt.« 15

Daher ist es nicht überraschend, dass Schrödinger einen Glückwunschbrief an Einstein schrieb, kaum dass er den EPR -Artikel gelesen hatte. »Sie haben die Quantenmechanik öffentlich an der Kehle gepackt«, schrieb er. Einige Wochen später fügte er frohlockend hinzu: »Wie ein Hecht im Karpfenteich hat der Artikel alle aufgeschreckt.« 16

Kurz zuvor war Schrödinger in Princeton zu Besuch gewesen, und Einstein hoffte noch immer – vergebens –, er könne Flexner dazu bewegen, Schrödinger im Institut aufzunehmen. In der Fülle von Briefen, die anschließend zwischen den beiden hin- und hergingen, begann Einstein mit Schrödinger Pläne auszuhecken, wie sie der Quantenmechanik beikommen könnten.

»Ich glaube es nicht«, erklärte Einstein nüchtern. Er machte sich über die »spiritistische« Vorstellung lustig, es könne eine »spukhafte Fernwirkung« geben, und wendete sich damit gegen den Gedanken, es existiere eine Wirklichkeit jenseits unserer Fähigkeit, die Dinge zu beobachten. »Diese erkenntnistheoretische Orgie wird sich austoben müssen«, sagte er. »Gewiss wirst Du über mich lächeln und denken, daß schon manche junge Hure eine alte Betschwester und mancher junger Revolutionär ein alter Reaktionär geworden ist.« 17 Schrödinger lächelte tatsächlich, wie er Einstein in seiner Antwort mitteilte, er hatte sich selbst in ähnlicher Weise vom Revolutionär zum alten Reaktionär gewandelt.

In einer Frage waren Einstein und Schrödinger allerdings unterschiedlicher Meinung. Schrödinger hielt den Begriff der Lokalität nicht für sakrosankt. Er prägte sogar den Ausdruck, den wir heute noch verwenden – Verschränkung  –, um die Entsprechungen zweier Teilchen zu beschreiben, die miteinander wechselgewirkt haben, aber nun voneinander entfernt sind. Die Quantenzustände zweier Teilchen, die wechselgewirkt haben, müssen anschließend zusammen beschrieben werden, wobei jede Veränderung eines Teilchens sich instantan in dem anderen widerspiegelt, gleich, wie weit sie auseinander sind. »Besteht eine ›Verschränkung der Voraussagen‹, so kann sie offenbar nur darauf zurückgehen, daß die zwei Körper früher einmal im eigentlichen Sinn ein System gebildet, das heißt in Wechselwirkung gestanden, und Spuren aneinander hinterlassen haben«, schrieb Schrödinger . »Dann kommt regelmäßig das zustande, was ich eben Verschränkung unseres Wissens um die beiden Körper nannte.« 18

Gemeinsam begannen Einstein und Schrödinger , nach einem anderen Weg zu suchen – einem, bei dem Lokalität oder Separation keine Rolle spielten –, um die Quantenmechanik zu hinterfragen. Sie überlegten, was wäre, wenn ein Ereignis in der Quantenwelt, an dem subatomare Teilchen beteiligt sind, mit Objekten in der Makrowelt wechselwirkt – also mit Dingen, wie wir sie normalerweise in unserem Alltag sehen.

In der Quantenwelt hat ein Teilchen wie ein Elektron zu einem beliebigen Zeitpunkt keinen bestimmten Ort. Stattdessen beschreibt eine mathematische Funktion, eine sogenannte Wellenfunktion , die Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen an einem bestimmten Ort anzutreffen ist. Diese Wellenfunktion beschreibt auch Quantenzustände, etwa die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atom, wenn es beobachtet wird, zerfallen ist oder nicht. 1925 hatte Schrödinger seine berühmte Gleichung entwickelt, die darlegte, wie sich diese Wellen im Raum ausbreiten und verschmieren. Seine Gleichung bestimmte die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Teilchen, wenn es beobachtet wird, an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Zustand anzutreffen ist. 19

Nach der von Niels Bohr und seinen Mitstreitern entwickelten Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik besteht bis zur Beobachtung die Realität des Ortes oder des Zustands eines Teilchens nur aus diesen Wahrscheinlichkeiten. Durch die Messung oder Beobachtung des Systems bringt der Beobachter die Wellenfunktion zum Kollaps, woraufhin sich ein bestimmter Ort oder Zustand herauskristallisiert.

In einem Brief an Schrödinger lieferte Einstein ein anschauliches Gedankenexperiment, in dem er zeigen wollte, dass all das Gerede über Wellenfunktionen , Wahrscheinlichkeiten und Teilchen, die keine bestimmten Orte haben können, bis sie beobachtet werden, den Test auf Vollständigkeit nicht bestehe. Er dachte sich zwei Schachteln, von denen eine, wie wir wissen, eine Kugel enthält. Wenn wir uns nun anschicken, in eine der Schachteln zu blicken, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel dort ist, 50 Prozent. Nachdem wir hineingeblickt haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in dieser Schachtel liegt, 100 Prozent oder 0 Prozent. Doch während der ganzen Zeit befand sich die Kugel in Wirklichkeit in einer der Schachteln. Einstein schrieb:

Nun beschreibe ich einen Zustand so: Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Kugel in der ersten Schachtel ist, ist ½. Ist dies eine vollständige Beschreibung? Nein: Eine vollständige Aussage ist: die Kugel ist in der ersten Schachtel (oder ist nicht). So muß also die Charakterisierung des Zustandes bei vollständiger Beschreibung aussehen. Ja: Bevor ich den Deckel aufklappe, ist die Kugel gar nicht in einer der beiden Schachteln. Dies Sein in einer bestimmten Schachtel kommt erst dadurch zustande, daß ich den Deckel aufklappe. 20

Natürlich bevorzugte Einstein die erste Erklärung, eine Bekräftigung seines Realismus. Er hatte den Eindruck, an der zweiten Antwort sei etwas unvollständig und das liege an der Art und Weise, wie die Quantenmechanik solche Vorgänge beschreibe.

Offenbar beruhte Einsteins Argument auf dem gesunden Menschenverstand. Doch manchmal erweist sich das, was einen vernünftigen Sinn zu ergeben scheint, nicht als eine geeignete Beschreibung der Natur. Einstein erkannte das, als er seine Relativitätstheorie entwickelte; er verwarf das, was als gesunder Menschenverstand der Zeit galt, und zwang uns, eine neue Vorstellung von der Natur zu entwickeln. Etwas Ähnliches bewirkt auch die Quantenmechanik . Sie behauptet, dass Teilchen keinen bestimmten Zustand hätten, wenn sie nicht beobachtet würden, und dass zwei Teilchen sich in einem verschränkten Zustand befinden könnten, sodass die Beobachtung des einen die Eigenschaft des anderen instantan bestimme. Sobald eine Beobachtung abgeschlossen ist, geht das System in einen festen Zustand über. 21

Einstein akzeptierte das nie als eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit, und deshalb schlug er einige Wochen später, Anfang August 1935, Schrödinger ein anderes Gedankenexperiment vor. Darin ging es um eine Situation, in der die Quantenmechanik nur Wahrscheinlichkeiten beschreibt, obwohl uns der gesunde Menschenverstand sagt, dass dabei offensichtlich eine zugrunde liegende Realität existiert. Man denke sich einen Haufen Schießpulver, der infolge der Instabilität eines Teilchens irgendwann explodieren werde, sagte Einstein. Die quantenmechanische Gleichung für diese Situation »beschreibt dann vielmehr eine Art Gemisch von noch nicht und von bereits explodiertem System«. Aber das sei kein »wirklicher Sachverhalt«, sagte Einstein, »in Wahrheit gibt es eben zwischen explodiert und nicht-explodiert kein Zwischending«. 22

Schrödinger ersann ein ähnliches Gedankenexperiment – mit Beteiligung einer später sehr berühmten fiktiven Katze anstelle eines Haufens Schießpulver –, um zu zeigen, wie seltsam es wird, wenn die Unbestimmtheit des Quantenreichs mit unserer normalen Welt der größeren Objekte wechselwirkt. »In einem längeren Essay habe ich selbst ein Beispiel konstruiert, das Deinem explodierenden Pulverfass sehr ähnlich ist«, schrieb er an Einstein. 23

In dem Artikel, den Schrödinger im November publizierte, räumte er großzügig ein, dass Einstein und das EPR -Papier ihm den Anstoß für seine Überlegungen gaben. Er stellte ein Schlüsselkonzept der Quantenmechanik infrage, nach dem der Zeitpunkt der Emission eines Teilchens aus einem zerfallenden Kern so lange unbestimmt ist, bis es tatsächlich beobachtet wird. In der Quantenwelt ist ein Kern in einer »Superposition «, das heißt, er existiert gleichzeitig als zerfallen und noch nicht zerfallen, bis er beobachtet wird, dann kollabiert die Wellenfunktion , und der Kern wird entweder das eine oder das andere.

Das mag für das mikroskopische Quantenreich vorstellbar sein, aber es ist äußerst verwirrend, wenn man sich die Schnittstelle zwischen dem Quantenreich und unserer beobachtbaren Alltagswelt vorstellt. Daher fragte Schrödinger in seinem Gedankenexperiment, wann das System aufhört, in einem beide Zustände verkörpernden Superpositions -Zustand zu sein, und sich unvermittelt eine der möglichen Realitäten durchsetzt.

Diese Frage führte uns zu dem prekären Schicksal eines imaginären Geschöpfes, dem es vorherbestimmt war, unsterblich zu werden, egal, ob tot oder lebendig, denn heute ist es berühmt als Schrödingers Katze :

Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze (s. v.v.) zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind. 24

Einstein war begeistert. »Deine Katze zeigt, dass wir in Hinblick auf den Charakter der gegenwärtigen Theorie vollkommen übereinstimmen«, antwortete er. »Eine Psi-Funktion , die sowohl die lebende wie die tote Katze enthält, kann einfach nicht als Beschreibung eines realen Sachverhalts dienen.« 25

Schrödingers Katze hat einen Strom von Antworten hervorgerufen, der, mit unterschiedlichen Graden der Verständlichkeit, weiterhin fließt. Es genügt die Feststellung, dass nach der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik ein System aufhört, sich in überlagerten Superpositions -Zuständen zu befinden, und zu einer einzigen Realität kollabiert, wenn es beobachtet wird, aber es gibt keine eindeutige Regel, die festlegt, was eine solche Beobachtung ausmacht. Kann die Katze ein Beobachter sein? Eine Fliege? Ein Computer? Ein mechanisches Aufzeichnungssystem? Es gibt keine eindeutige Antwort. Doch wir wissen, dass Quanteneffekte im Allgemeinen nicht in unserer alltäglichen sichtbaren Welt vorkommen, zu der Katzen und sogar Fliegen gehören. Daher würden die meisten Vertreter der Quantenmechanik nicht die Auffassung vertreten, dass Schrödingers Katze in dieser Kiste irgendwie tot und lebendig zugleich hockt, bis der Deckel geöffnet wird. 26

Einstein hat nie die Überzeugung aufgegeben, dass Schrödingers Katze und sein eigenes Gedankenexperiment mit Schießpulver aus dem Jahr 1935 den Beweis lieferten, dass die Quantenmechanik unvollständig sei. Auch erhielt er nicht die gebührende historische Anerkennung dafür, dass er half, die arme Katze zur Welt zu bringen. Tatsächlich schrieb er Schrödinger später irrtümlich die Urheberschaft an beiden Gedankenexperimenten zu, als er in einem Brief schrieb, Schrödingers Katze laufe Gefahr, in die Luft gejagt statt vergiftet zu werden. »Zeitgenössische Physiker glauben irgendwie, dass die Quantentheorie eine Beschreibung der Wirklichkeit, und sogar eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit liefert«, schrieb Einstein 1950 an Schrödinger . »Doch diese Interpretation wird höchst elegant widerlegt durch dein System von radioaktivem Atom + Verstärker + Schießpulverladung + Katze in einer Kiste, in dem die Psi-Funktion des Systems die Katze sowohl lebendig als auch in Stück gerissen enthält.« 27

Einsteins sogenannte Fehler, beispielsweise die kosmologische Konstante , die er seinen Feldgleichungen der Gravitation hinzufügte, waren häufig interessanter als die Erfolge anderer. Gleiches gilt für seine Attacken gegen Bohr und Heisenberg . Die EPR -Arbeit konnte zwar nicht zeigen, dass die Quantenmechanik falsch war, aber sie hat am Ende doch klargemacht, dass sie, wie Einstein vorbrachte, nicht mit unserem allgemeinen Verständnis von Lokalität  – unserer Abneigung gegen spukhafte Fernwirkung – zu vereinbaren war. Merkwürdigerweise hatte Einstein offenbar in viel weitergehender Hinsicht recht, als er hoffte.

In den Jahren nach Veröffentlichung des EPR -Gedankenexperiments ist die Idee der Verschränkungen und der spukhaften Fernwirkung – die Seltsamkeit der Quantenwelt, in der die Beobachtung eines Teilchens instantan auf ein weit entferntes anderes Teilchen einwirkt – ein beliebtes Forschungsfeld für Experimentalphysiker geworden. 1951 veränderte David Bohm , ein brillanter Assistenzprofessor in Princeton , das EPR -Gedankenexperiment so, dass die nach einer Wechselwirkung auseinanderfliegenden Teilchen gegensätzliche »Spins« hatten. 28 1964 schlug John Stewart Bell , der am Kernforschungszentrum CERN bei Genf arbeitete, in einem Artikel eine Methode vor, wie man Experimente auf der Grundlage dieses Ansatzes durchführen könnte. 29

Bell konnte sich mit einigen Aspekten der Quantenmechanik nicht so recht anfreunden. »Ich konnte mich nicht zu dem Gedanken durchringen, dass sie falsch war«, sagte er einmal, »aber ich wusste, dass da was nicht stimmte.« 30 Das, neben seiner Bewunderung für Einstein, ließ ihn die Hoffnung ausdrücken, Einstein und nicht Bohr habe recht. Doch als in den 1980er-Jahren der französische Physiker Alain Aspect und andere die entsprechenden Experimente durchführten, zeigten die Daten, dass Lokalität tatsächlich kein Merkmal der Quantenwelt war. Die »spukhafte Fernwirkung« oder, genauer gefasst, die potenzielle Verschränkung voneinander entfernter Teilchen war es. 31

Trotzdem würdigte Bell am Ende Einsteins Bemühungen. »Ich fand, dass Einsteins intellektuelle Überlegenheit gegenüber Bohr in diesem Fall enorm war, eine Riesenkluft zwischen dem, der deutlich sah, was erforderlich war, und dem Obskurantisten«, sagte er. »Ich für meinen Teil finde es bedauerlich, dass Einsteins Idee nicht funktioniert. Der vernünftige Weg führt nicht zum Erfolg.« 32

Die Quantenverschränkung  – eine Idee, die Einstein 1935 ins Gespräch brachte, um der Quantenmechanik am Zeug zu flicken – gehört heute zu den eher seltsamen Elementen der Physik, da sie so kontraintuitiv ist. Aber Jahr für Jahr wird sie durch neue Forschungsergebnisse bestätigt und gewinnt damit in den Augen der Öffentlichkeit zunehmend an Faszination. Beispielsweise veröffentlichte die New York Times 2005 einen Übersichtsartikel von Dennis Overbye mit dem Titel »Quantentrickserei: Einsteins seltsamste Theorie im Test«, in dem der Physiker David Mermin von der Cornell University mit den Worten »Näher sind wir der Zauberei nie gewesen« zitiert wird. 33 2006 erschien im New Scientist ein Beitrag mit der Überschrift »Einsteins ›spukhafte Wirkung‹ auf einem Chip beobachtet«. Sein Anfang lautete:

Mit einem einfachen Halbleiter-Chip wurden Paare verschränkter Photonen erzeugt, ein entscheidender Schritt, um Quantencomputer Wirklichkeit werden zu lassen. Bei der Verschränkung , die nach einem berühmten Ausspruch Einsteins »spukhafte Fernwirkung« ist, handelt es sich um das rätselhafte Phänomen, dass zwei Quantenteilchen, wie etwa Photonen , sich wie eines verhalten, gleich, wie weit sie voneinander entfernt sind. 34

Könnte es sein, dass diese spukhafte Fernwirkung – bei der etwas, das einem Teilchen an einem Ort zustößt, sich instantan in einem anderen, Milliarden Kilometer entfernten Teilchen widerspiegelt – gegen das Gebot der Lichtgeschwindigkeit verstößt? Nein, offenbar ist die Relativitätstheorie nicht in Gefahr. Obwohl voneinander entfernt, gehören die beiden Teilchen weiterhin derselben physikalischen Einheit an. Indem wir eines beobachten, können wir seine Eigenschaften verändern, doch das korreliert mit dem, was am zweiten Teilchen zu beobachten wäre. Allerdings wird dabei keine Information übertragen, es wird kein Signal gesendet, und es liegt keine traditionelle Kausalbeziehung vor. Man kann durch Gedankenexperimente beweisen, dass sich durch Quantenverschränkung keine Informationen instantan übertragen lassen. »Man könnte sagen«, schreibt der Physiker Brian Greene , »die spezielle Relativitätstheorie kommt mit knapper Not davon.« 35

Während der letzten Jahrzehnte haben zahlreiche Theoretiker, unter ihnen Murray Gell-Mann und James Hartle , eine Auffassung der Quantenmechanik entwickelt, die sich in einigen Punkten von der Kopenhagener Deutung unterscheidet und die Erklärung des EPR -Gedankenexperiments erleichtert. Ihre Interpretation stützt sich auf alternative Geschichten des Universums , die insofern grobkörnig sind, als dass nur bestimmte Variablen berücksichtigt und die übrigen ignoriert (bzw. herausgemittelt) werden. Diese »dekohärenten« Geschichten bilden eine baumartige Struktur, wobei sich jede der baumartigen Alternativen ihrerseits wieder zu Alternativen verzweigt und so fort.

Im Fall des EPR -Gedankenexperiments wird der Ort eines der beiden Teilchen auf einem Zweig der Geschichte gemessen. Aufgrund des gemeinsamen Ursprungs der Teilchen ist der Ort des anderen ebenfalls bestimmt. Auf einem anderen Zweig der Geschichte wird der Impuls eines der Teilchen gemessen, wodurch der Impuls des anderen auch bestimmt ist. Auf keinem Zweig geschieht etwas, das gegen die Gesetze der klassischen Physik verstößt. Die Information über ein Teilchen impliziert die entsprechende Information über das andere, aber nichts geschieht mit dem anderen Teilchen infolge der Messung des ersten. Daher sind die spezielle Relativitätstheorie und ihr Verbot der instantanen Informationsübertragung nicht gefährdet. Die Besonderheit der Quantenmechanik liegt darin, dass die gleichzeitige Bestimmung des Ortes und des Impulses nicht möglich ist. Wenn also diese beiden Attribute doch bestimmt werden, so muss es auf verschiedenen Zweigen der Geschichte geschehen. 36

»Physik und Realität«

In der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Einstein und der Bohr -Heisenberg -Gruppe ging es nicht nur um die Frage, ob Gott würfelt oder halb tote Katzen zulässt. Auch standen Aspekte wie Kausalität , Lokalität oder auch Vollständigkeit nicht wirklich im Mittelpunkt der Debatte. Es ging um Realität. 37 Gibt es sie? Genauer, ist es sinnvoll, über eine physikalische Realität zu sprechen, die unabhängig von allen uns möglichen Beobachtungen ist? »Der Kern des Problems«, sagte Einstein, »ist nicht so sehr die Frage der Kausalität , sondern die Frage des Realismus.« 38

Bohr und seine Anhänger spotteten über die Idee, man könne vernünftig darüber reden, was sich unter dem Schleier des Beobachtbaren verberge. Alles, was man wissen könne, sei das Ergebnis unserer Experimente und Beobachtungen, nicht irgendeine letztgültige Realität, die jenseits unserer Wahrnehmungen liege.

Einstein hatte 1905 selbst gewisse Aspekte dieser Einstellung vertreten, als er Hume und Mach las und nicht beobachtbare Begriffe wie die Absolutheit von Raum und Zeit verwarf. »Damals war meine Denkweise näher am Positivismus als später«, erinnerte er sich. »Zu meiner Abkehr vom Positivismus kam es erst, als ich die allgemeine Relativitätstheorie entwickelte.« 39

Von da an machte sich Einstein in wachsendem Maße die Überzeugung zu eigen, dass es eine objektive klassische Realität tatsächlich gibt. Obwohl zwischen seinen früheren und späteren Auffassungen gewisse Übereinstimmungen vorlagen, gab er offen zu, dass sein Realismus – zumindest seiner Meinung nach – eine gewisse Abkehr von seinem früheren Mach ’schen Empirismus bedeute. »Dies Credo«, schrieb er, »entspricht nicht der Einstellung, die ich in jüngeren Jahren hatte.« 40 Dazu bemerkt der Historiker Gerald Holton : »Selten ändert ein Wissenschaftler seine philosophischen Überzeugungen so grundlegend.« 41

Einsteins Realismusbegriff umfasste drei Hauptelemente:

  1. Sein Glaube, dass es eine Realität gibt, unabhängig davon, ob wir sie beobachten können. In seiner autobiografischen Skizze schrieb er: »Die Physik ist eine Bemühung, das Seiende als etwas Begriffliches zu erfassen, was unabhängig vom Wahrgenommen-Werden gedacht wird. In diesem Sinne spricht man vom ›Physikalisch-Realen‹.« 42

  2. Sein Glaube an Separabilität und Lokalität . Mit anderen Worten, Objekte sind an bestimmten Punkten in der Raumzeit lokalisiert, und diese Separabilität ist Teil dessen, was sie definiert. »Verzichtet man aber auf die Annahme, daß das in verschiedenen Raumteilen Vorhandene eine unabhängige reale Existenz hat, so sehe ich überhaupt nicht, was die Physik beschreiben soll«, schrieb er an Max Born . 43

  3. Sein Glaube an strenge Kausalität , die Bestimmtheit und klassischen Determinismus voraussetzt. Der Gedanke, dass Wahrscheinlichkeiten in der Realität eine Rolle spielten, war für ihn genauso beunruhigend wie die Idee, unsere Beobachtungen könnten zum Kollaps dieser Wahrscheinlichkeiten beitragen. »Manche, darunter auch der Vortragende, können nicht glauben«, sagte er, »dass das Geschehen in der Natur als nach dem Modell eines Würfelspiels aufgefasst werden müsse.« 44

Es ist möglich, sich einen Realismus vorzustellen, der nur zwei, oder sogar nur eine, dieser Eigenschaften besitzt. Gelegentlich spielte auch Einstein mit dem Gedanken. Forscher stritten über die Frage, welcher dieser drei Aspekte am wichtigsten für sein Denken sei. 45 Aber immer wieder kehrte Einstein zurück zu der Hoffnung und auch dem Glauben, dass alle drei Eigenschaften zusammengehören. Gegen Ende seines Lebens sagte er in einer Rede auf einem Ärztetag in Cleveland : »Alles sollte zu begrifflichen Gegenständen im Reich von Raum und Zeit und zu gesetzmäßigen Beziehungen zwischen diesen Gegenständen zurückführen.« 46

Im Kern war dieser Realismus eine fast religiöse oder vielleicht kindhafte Ehrfurcht vor der Tatsache, dass alle unsere Sinneswahrnehmungen – die zufälligen Bilder und Geräusche, die wir ununterbrochen registrieren – sich zu Mustern fügen, Regeln folgen und Bedeutungen annehmen. Wir halten es für selbstverständlich, dass sich diese Wahrnehmungen zu Wiedergaben von äußeren Objekten zusammenschließen, und es wundert uns nicht, wenn Gesetze das Verhalten dieser Objekte zu bestimmen scheinen.

Doch die Ehrfurcht, die das Kind beim ersten Anblick eines Kompasses erfüllte, empfand Einstein auch noch als Erwachsener, als er erkannte, dass unsere Wahrnehmungen von Regeln bestimmt werden und nicht einfach chaotisch sind. Die tiefe Achtung vor dieser erstaunlichen und unerwarteten Verständlichkeit des Universums war die Grundlage seines Realismus und der entscheidende Aspekt dessen, was er seinen religiösen Glauben nannte.

Das formulierte er 1936 in dem Essay »Physik und Realität« , den er im Zuge der Verteidigung seines Realismus in den Debatten über die Quantenmechanik schrieb. »Dass die Gesamtheit der Sinneserlebnisse so beschaffen ist, dass sie durch das Denken geordnet werden können, ist eine Tatsache, über die wir nur staunen«, schrieb er. »Man kann sagen: Das ewig Unbegreifliche an der Welt ist ihre Begreiflichkeit (…) dass sie [begreifbar] ist, ist ein Wunder.« 47

Seinem Freund Maurice Solovine , mit dem er in den Tagen der Akademie Olympia Hume und Mach gelesen hatte, teilte Einstein mit, ihm komme es »seltsam« vor, dass dieser die Begreiflichkeit der Welt für ein »Wunder oder ewiges Geheimnis« halte. Einstein erwiderte, logisch wäre es, vom Gegenteil auszugehen. »Nun, apriorisch sollte man doch eine chaotische Welt erwarten, die durch Denken in keiner Weise fassbar ist«, schrieb er. »Hier liegt der schwache Punkt für die Positivisten und die berufsmäßigen Atheisten.« 48 Einstein war keines von beidem.

Für Einstein war der Glaube an eine fundamentale Realität von einer religiösen Aura umgeben. Das konsternierte Solovine , der erklärte, er »verabscheue« diese Sprache. Einstein widersprach. »Ich habe keinen besseren Ausdruck als den Ausdruck ›religiös ‹ für dieses Vertrauen in die vernünftige und der menschlichen Vernunft wenigstens einigermassen zugängliche Beschaffenheit der Realität. Wo dieses Gefühl fehlt, da artet Wissenschaft in geistlose Empirie aus.« 49

Einstein wusste, dass die neue Generation ihn für einen abgehalfterten Konservativen hielt, der sich an die alten Gewissheiten der klassischen Physik klammerte, und das amüsierte ihn. »Der große anfängliche Erfolg der Quantentheorie kann mich doch nicht zum Glauben an das fundamentale Würfelspiel bringen«, teilte er seinem Freund Max Born mit, »wenn ich auch wohl weiß, dass die jüngeren Kollegen dies als Folge der Verkalkung auslegen.« 50

Born , der Einstein von Herzen zugetan war, war wie die jungen Wilden der Ansicht, dass Einstein genauso »konservativ« geworden sei wie die Physiker der Generation zuvor, die sich gegen seine Relativitätstheorie gesperrt hatten. »Er konnte gewisse neue Gedanken der Physik, die in Widerspruch zu seinen festen philosophischen Überzeugungen standen, nicht mehr aufnehmen.« 51

Doch Einstein hielt sich selbst nicht für einen Konservativen, sondern (wieder) für einen Rebellen, einen Nonkonformisten , der sich mit Neugier und Hartnäckigkeit gegen vorherrschende Modeerscheinungen stemmt. »Man erklärt den Anspruch auf Erfassung der Natur als objektive Realität als veraltetes Vorurteil, indem man aus der Not der Quanten-Theoretiker eine Tugend macht«, erklärte er Solovine 1938. »Eine Mode beherrscht jede Zeit, ohne dass die meisten den sie beherrschenden Tyrannen auch nur zu sehen bekommen.« 52

Diesen realistischen Ansatz vertrat Einstein 1938 mit Nachdruck in dem Lehrwerk Die Evolution der Physik , an dem er als Koautor mitwirkte. Der Glaube an eine »objektive Realität« habe, so heißt es dort, im Laufe der Zeit zu großen wissenschaftlichen Fortschritten geführt und so unter Beweis gestellt, dass es sich um einen nützlichen Begriff handle, auch wenn er nicht beweisbar sei. »Ohne den Glauben daran, daß es grundsätzlich möglich ist, die Wirklichkeit durch unsere theoretischen Konstruktionen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt könnte es keine Naturwissenschaft geben«, erklären die Autoren. »Dieser Glaube ist und bleibt das Grundmotiv jedes schöpferischen Gedankens in der Naturwissenschaft.« 53

Außerdem verteidigte Einstein in dieser Schrift – mitten in den Fortschritten der Quantenmechanik  – den Nutzen der Feldtheorien . Das lasse sich am besten bewerkstelligen, heißt es, indem man Teilchen nicht als unabhängige Objekte, sondern als Manifestationen des Felds selbst betrachte:

Es hat dann keinen Sinn mehr, Materie und Feld als zwei grundverschiedene Dinge zu betrachten. (…) Könnten wir den Materiebegriff nicht einfach fallen lassen und eine reine Feldphysik entwickeln? Wir könnten die Materie Körper auch als Regionen im Raum betrachten, in denen das Feld außerordentlich stark ist. (…) Ein durch die Luft geworfener Stein ist in diesem Sinne ein veränderliches Feld, bei dem die Stelle mit der größten Feldintensität sich mit der Fluggeschwindigkeit des Steines durch den Raum bewegen. 54

Es gab noch einen dritten, persönlichen, Grund, warum Einstein an der Abfassung dieses Fachbuchs mitwirkte. Er wollte Leopold Infeld helfen, einem Juden , der aus Polen geflohen war, in Cambridge kurzzeitig mit Max Born zusammengearbeitet hatte und dann nach Princeton gegangen war. 55 Infeld begann mit Banesh Hoffmann über die Relativitätstheorie zu forschen und schlug dann vor, Einstein ihre Mitarbeit anzubieten. »Gucken wir mal, ob er gerne mit uns arbeiten würde«, meinte Infeld .

Einstein war begeistert. »Wir machten die ganze Drecksarbeit wie das Berechnen der Gleichung und so weiter«, erinnerte sich Hoffmann . »Wir berichteten die Ergebnisse Einstein, und das war dann, als ob wir eine Vorstandssitzung hatten. Manchmal schien er mit seinen Ideen völlig falschzuliegen, manchmal schienen sie ziemlich außergewöhnlich zu sein.« 56 In der Zusammenarbeit mit Infeld und Hoffmann entwickelte Einstein 1937 elegante Verfahren, mit denen sich die Bewegungen von Planeten und anderen massereichen Objekten, die eigene Raumzeitkrümmungen hervorrufen, einfach erklären ließen.

Aber ihre Arbeit an einer einheitlichen Feldtheorie wollte nie so recht gelingen. Zuweilen erschien die Situation so hoffnungslos, dass Infeld und Hoffmann völlig verzagt waren. »Aber Einstein blieb unerschütterlich, und sein Einfallsreichtum ließ ihn nie im Stich«, berichtete Hoffmann . »Wenn selbst aufgeregte Diskussionen den toten Punkt nicht überwinden konnten, pflegte Einstein in seinem drolligen Englisch – er konnte das englische th nicht aussprechen – ruhig zu sagen: ›I will a little tink.‹« (Ich will ein wenig nachdenken.) Es wurde ruhig im Raum, und Einstein ging langsam auf und ab oder im Kreis umher und wickelte eine Haarlocke um seinen Zeigefinger. »Sein Gesichtsausdruck war träumerisch, weit entrückt und doch nach innen gerichtet – keinerlei Anzeichen von Anstrengung oder intensiver Konzentration.« Nach ein paar Minuten »wandte er sich plötzlich der Welt wieder zu und beantwortete die Schwierigkeiten lächelnd«. 57

Einstein war so angetan von Infelds Hilfe, dass er Flexner bat, ihm einen Posten am Institut zu geben. Aber Flexner , verärgert, weil das Institut bereits genötigt worden war, Walther Mayer einzustellen, lehnte ab. Einstein ging sogar persönlich zu einer Fakultätssitzung und bemühte sich dort um ein bescheidenes 600-Dollar-Stipendium für Infeld , aber ohne Erfolg. 58

Daher beschloss Infeld , zusammen mit Einstein eine Geschichte der Physik zu schreiben, ein Buch, das sich sicherlich gut verkaufen würde. Die Einkünfte wollte er mit Einstein teilen. Als er zu diesem ging, um ihm die Idee zu unterbreiten, war seine Zunge wie gelähmt, doch gelang es ihm schließlich, seinen Vorschlag stammelnd vorzubringen. »Das ist keine dumme Idee«, sagte Einstein. »Nicht im Mindesten dumm. Wir sollten das machen.« 59

Im April 1937 fuhren Richard Simon und Max Schuster , die Gründer des Verlags, in dem diese Biografie ursprünglich erschien, zu Einstein nach Princeton , um sich die Rechte für die geplante Physikgeschichte zu sichern. Der umgängliche Schuster versuchte, Einstein mit Witzen günstig zu stimmen. Er habe etwas entdeckt, das schneller als das Licht sei, sagte er: »Die Geschwindigkeit, mit der eine Frau, die gerade in Paris ankommt, einkaufen geht.« 60 Einstein war amüsiert, zumindest in der Erinnerung Schusters . Auf jeden Fall war der Besuch erfolgreich, und heute liegt die Evolution of Physics (dt.: Die Evolution der Physik ) in der 44. Auflage vor. Das Buch verkündete nicht nur die Bedeutung von Feldtheorien und den Glauben an eine objektive Realität, sondern verschaffte Infeld (und Einstein) auch größere finanzielle Sicherheit.

Niemand kann Infeld Undankbarkeit vorwerfen. Später sagte er von Einstein, er sei »vielleicht der größte Wissenschaftler und der freundlichste Mensch, der je lebte«. Außerdem schrieb er noch zu Lebzeiten Einsteins eine schmeichelhafte Biografie über ihn, in der er die Bereitschaft seines Mentors pries, bei seiner Suche nach einer einheitlichen Theorie herkömmliches Denken infrage zu stellen. »Die Hartnäckigkeit, mit der er jahrelang an einem Problem festhält und immer wieder zu ihm zurückkehrt, zeichnet Einsteins Genie aus«, heißt es dort. 61

Gegen den Strom

Hatte Infeld recht? Zeichnete sich Einsteins Genie durch Hartnäckigkeit aus? Bis zu einem gewissen Grad kam ihm diese besondere Eigenschaft immer zugute, besonders bei seiner einsamen Suche nach der allgemeinen Relativitätstheorie . Ein fester Bestandteil seines Charakters war auch seit seiner Schulzeit die Bereitschaft, den herrschenden Autoritäten zu trotzen. Beides zeigte sich in seiner Suche nach einer einheitlichen Theorie.

Doch obwohl er gern behauptete, die Analyse empirischer Daten habe nur eine minimale Rolle bei der Entwicklung seiner großen Theorien gespielt, konnte er sich im Allgemeinen auf ein zuverlässiges intuitives Gefühl für die Erkenntnisse und Einsichten verlassen, die sich der Natur mithilfe neuerer Experimente und Beobachtungen entringen ließen. Diese Eigenschaft zeigte sich jetzt immer seltener.

Ende der 1930er-Jahre ließ er kaum noch Interesse für neue experimentelle Entdeckungen erkennen. Statt der Vereinigung von Gravitation und Elektromagnetismus tat sich jetzt eine noch größere Uneinigkeit auf, als zwei neue Kräfte, die starke und die schwache Kernkraft , entdeckt wurden. »Einstein beschloss, diese neuen Kräfte zu ignorieren, obgleich sie nicht weniger grundlegend sind als die beiden, die wir schon länger kennen«, erinnerte sich sein Freund Abraham Pais . »Er setzte seine alte Suche nach einer Vereinigung von Gravitation und Elektromagnetismus fort.« 62

Außerdem wurde ab den 1930er-Jahren ein ganzer Zoo neuer Elementarteilchen entdeckt. Heutzutage gibt es Dutzende von ihnen, von Bosonen wie Photonen und Gluonen bis hin zu Fermionen wie Elektronen , Positronen , Up-Quarks und Down-Quarks . Das schien kein gutes Vorzeichen für Einsteins Suche nach einer alles umfassenden Vereinigung zu sein. Sein Freund Wolfgang Pauli , der 1940 ans Institut kam, scherzte über die Vergeblichkeit seiner Suche. »Was Gott geschieden hat«, sagte er, »soll der Mensch nicht zusammenfügen.« 63

Einstein fand die neuen Entdeckungen etwas irritierend, aber sie brachten ihn nicht aus der Ruhe, weil er ihnen nicht viel Bedeutung beimaß. »Ich kann nur wenig Freude aus den großen Entdeckungen ziehen, weil sie mir zur Zeit offenbar nicht das Verständnis der Grundlagen erleichtern«, schrieb er an Max von Laue . »Ich fühle wie ein Kind, das nicht mit dem Abc zurechtkommt, obwohl ich merkwürdigerweise die Hoffnung nicht aufgebe. Schließlich hat man es hier mit einer Sphinx zu tun und nicht mit einem willigen Straßenmädchen.« 64

Einstein schwamm also wieder gegen den Strom und wurde fortwährend in die Vergangenheit zurückgetragen. Ihm war klar, dass er den Luxus genoss, seinem eigenen Weg folgen zu können, was für einen jüngeren Physiker, der versuchte, sich einen Ruf zu schaffen, zu riskant gewesen wäre. 65 Aber wie sich zeigte, gab es immer mindestens zwei oder drei jüngere Physiker, die, von Einsteins Aura fasziniert, bereit waren, mit ihm zusammenzuarbeiten, auch wenn die Mehrheit der physikalischen Priesterschaft seine Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie für Donquichotterie hielt.

Einer dieser jungen Assistenten war Ernst Straus , der berichtete, er habe an einem Ansatz gearbeitet, den Einstein fast zwei Jahre lang verfolgt habe. Eines Abends fand Straus zu seinem Entsetzen heraus, dass ihre Gleichungen zu einigen Schlussfolgerungen führten, die unmöglich wahr sein konnten. Am nächsten Tag untersuchten Einstein und er das Problem von allen Seiten, konnten dem enttäuschenden Ergebnis aber nicht ausweichen. Daher gingen sie früh nach Hause. Straus war deprimiert und nahm an, Einstein sei es in noch höherem Maße. Doch zu seiner Überraschung erschien Einstein am nächsten Tag so tatendurstig wie immer und schlug einen weiteren Ansatz vor, dem sie folgen konnten. »Und das war der Anfang einer völlig neuen Theorie, die nach halbjähriger Arbeit ebenso wie ihre Vorgängerin zum alten Eisen geworfen und nicht länger betrauert wurde«, erinnerte sich Straus . 66

Der Antrieb für diese Suche war Einsteins intuitive Überzeugung, dass mathematische Einfachheit – eine Eigenschaft, die er nie ganz definieren konnte, von der er aber meinte, sie wahrnehmen zu können, wenn er sie sah – ein charakteristisches Merkmal für die Werke der Natur sei. 67 Hin und wieder, wenn ihnen eine besonders elegante Formulierung gelungen war, sagte er begeistert zu Straus : »Das ist so einfach, dass Gott es sich nicht entgehen lassen konnte.«

Immer wieder gingen von Princeton begeisterte Briefe in alle Welt hinaus, in denen er Freunden über die Fortschritte auf seinem Kreuzzug gegen die Quantentheoretiker berichtete, die offenbar einen festen Bund mit den Wahrscheinlichkeiten eingegangen waren und sich weigerten, an die zugrunde liegende Realität zu glauben. »Ich arbeite mit meinen jungen Leuten an einer überaus interessanten Theorie, mit der ich die gegenwärtige Wahrscheinlichkeits-Mystik und Abkehr vom Realitätsbegriff auf dem physikalischen Gebiete zu überwinden hoffe«, schrieb er Maurice Solovine 1938. 68

Entsprechend lieferte Princeton auch fortlaufend den Stoff für Schlagzeilen über neue vermeintliche Durchbrüche. »Im Schwebeflug über bislang nicht bestiegene Berggipfel berichtet Dr. Albert Einstein, der Bezwinger kosmischer Alpen, er habe neue Muster in der Struktur von Raum und Zeit gesichtet«, schrieb William Laurence , der angesehene Wissenschaftsjournalist der New York Times , 1935 auf der Titelseite. Derselbe Autor berichtete in derselben Zeitung an der gleichen Stelle 1939: »Wie Albert Einstein heute eröffnete, sei er bei seiner unermüdlichen Suche nach einem Gesetz, das die Mechanismen des Kosmos in seiner Gänze erkläre, von den Sternen und Galaxien in den unendlichen Weiten des Alls bis hinab in den Kern des unendlich kleinen Atoms, endlich in Sichtweite dessen gelangt, was, wie er hofft, das ›Gelobte Land der Erkenntnis‹ sei und möglicherweise den Generalschlüssel zum Rätsel des Universums enthalte.« 69

Die Triumphe, die er in seiner ungestümen Jugendzeit gefeiert hatte, verdankte er teilweise dem Instinkt, der ihn die zugrunde liegenden physikalischen Wirklichkeiten erahnen ließ. Intuitiv erfasste er die Implikationen der Relativität aller Bewegung, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und die Äquivalenz von schwerer und träger Masse. Daraus konnte er Theorien entwickeln, die sich auf ein Gefühl für die zugrunde liegende Physik stützten. Später verließ er sich stärker auf einen mathematischen Formalismus, weil dieser ihn geleitet hatte, als er in verzweifelter Eile letzte Hand an die Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie gelegt hatte.

Jetzt schien sich seine Suche nach einer einheitlichen Theorie stark an mathematischem Formalismus und kaum an grundlegenden physikalischen Einsichten zu orientieren. »Bei seinen früheren Forschungen, die ihn zur allgemeinen Relativitätstheorie geführt hatten, ließ sich Einstein von seinem Äquivalenzprinzip leiten, das Gravitation mit Beschleunigung in Verbindung brachte«, schrieb Banesh Hoffmann , mit dem er in Princeton zusammenarbeitete. »Wo waren hier vergleichbare Prinzipien, die den Weg zu einer einzigen Konstruktion einer einheitlichen Feldtheorie hätten weisen können? Das wusste niemand, auch Einstein nicht. Die Suche war demnach eher ein Sich-Vorantasten durch das Zwielicht eines mathematischen Dschungels, der von der physikalischen Intuition nur mangelhaft erhellt wurde.« Jeremy Bernstein sprach später von einem »fast zufälligen Mischen mathematischer Formeln, ohne die Physik im Blick zu haben«. 70

Nach einiger Zeit gab Princeton kaum noch Anlass zu optimistischen Schlagzeilen und Briefen, und Einstein gestand sogar öffentlich ein, dass er, zumindest vorläufig, feststecke. »Ich bin nicht sehr optimistisch«, teilte er der New York Times mit. Jahrelang hatte die Zeitung Einsteins vermeintliche Durchbrüche auf dem Weg zu einer einheitlichen Theorie mit Schlagzeilen begleitet, jetzt aber titelte sie: »Einstein hilflos vor Rätsel des Kosmos«.

Trotzdem beharrte Einstein auf seiner ursprünglichen Überzeugung. Noch immer könne er sich nicht, erklärte er, »zu der Ansicht durchringen, dass die Natur einem Glücksspiel gleicht«. Daher gelobte er, seine Suche fortzusetzen. Selbst wenn sie nicht gelinge, bleibe sie sinnvoll. »Jeder Mensch kann die Richtung seines Strebens wählen«, erklärte er, »und jeder Mensch kann Trost in der Weisheit finden, dass die Suche nach Wahrheit kostbarer ist als ihr Besitz.« 71

Etwa zur Zeit von Einsteins sechzigstem Geburtstag, Anfang April 1939, kam Niels Bohr zu einem zweimonatigen Besuch nach Princeton . Einstein verhielt sich etwas distanziert gegenüber seinem alten Freund und Sparringspartner. Sie begegneten sich auf einigen Empfängen, tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus, aber ließen sich nicht auf das alte Spiel ein, in dem sie sich gegenseitig Gedankenexperimente über die Quanten-Seltsamkeit zugespielt hatten.

Während dieser Zeit hielt Einstein nur einen einzigen Vortrag. Bohr besuchte ihn. Es ging um Einsteins jüngste Versuche, eine einheitliche Feldtheorie zu finden. Am Ende richtete Einstein seinen Blick auf Bohr und erklärte, er versuche seit Langem, die Quantenmechanik auf diese Weise zu erklären, stellte aber klar, dass er es vorziehe, nicht näher auf diese Frage einzugehen. »Bohr war darüber tief unglücklich«, erinnerte sich sein Assistent. 72

Bohr war mit einer neuen wissenschaftlichen Nachricht nach Princeton gekommen, die mit Einsteins alter Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Energie und Masse – E = mc 2  – zu tun hatte. In Berlin hatten Otto Hahn und Fritz Straßmann einige interessante Experimentaldaten erhalten, als sie schweres Uran mit Neutronen beschossen. Diese Ergebnisse hatten sie an ihre ehemalige Kollegin Lise Meitner geschickt, die nach Schweden hatte fliehen müssen, weil sie Halbjüdin war. Sie teilte die Resultate ihrerseits ihrem Neffen Otto Frisch mit, und beide gelangten sie zu dem Schluss, das Atom sei gespalten worden und habe zwei leichtere Kerne entstehen lassen, und eine kleine Menge an dabei verloren gegangener Masse habe sich in Energie verwandelt.

Nachdem sie die Ergebnisse überprüft hatten, tauften sie den Prozess Fission (Kernspaltung ). Frisch unterrichtete seinen Kollegen Bohr , der im Begriff war, nach Amerika zu reisen. Bei seiner Ankunft Ende Januar 1939 beschrieb Bohr die neue Entdeckung einigen Kollegen, woraufhin sie auf einer wöchentlichen Zusammenkunft der Physiker, dem sogenannten Monday Evening Club , diskutiert wurde. Binnen Tagen waren die Ergebnisse reproduziert, und die Forscher begannen eine Vielzahl von Artikeln zu veröffentlichen, unter anderem einen, den Bohr zusammen mit einem jungen außerordentlichen Professor namens John Archibald Wheeler geschrieben hatte.

Der Idee, man könne Atomenergie oder die Energie, die durch E = mc 2 freigesetzt werde, in irgendeiner Weise nutzen, hatte Einstein lange skeptisch gegenübergestanden. 1934 auf einem Besuch in Pittsburgh hatte man ihn danach gefragt und er hatte erwidert: »Das Atom durch Beschuss zu spalten, ähnelt dem Versuch, Vögel im Dunklen an einem Ort zu schießen, wo es nur wenige Vögel gibt.« Das gab eine fette Schlagzeile auf der Titelseite der Post-Gazette : »Hoffnung auf Atomenergie von Einstein zunichtegemacht / Bemühungen um Freisetzung gewaltiger Kräfte aussichtslos / Gespräch mit dem Gelehrten.« 73

1939, angesichts der Neuigkeit, dass es offenbar sehr wohl möglich sei, einen Atomkern zu beschießen und zu spalten, beschäftigte sich Einstein erneut mit der Frage. Im März dieses Jahres wurde er anlässlich seines sechzigsten Geburtstags gefragt, ob die Menschheit irgendeine Verwendung für den Prozess finden werde. »Die Ergebnisse, die wir bisher bei Spaltung des Atoms erzielt haben, geben keinen Anlasse zu der Vermutung, dass sich die freigesetzten Energien nutzen lassen«, antwortete er. »Aber es wird gewiss kein Physiker so kleinmütig sein, dass er nicht größtes Interesse an dieser eminent wichtigen Frage nähme.« 74

Im Laufe der nächsten vier Monate sollte sein Interesse tatsächlich rasch zunehmen.