Im Oktober 2016 wurde Chiara Vigo, um die italienische Presse zu zitieren, schließlich »sfrattata« (zwangsgeräumt); das Byssus-Museum wurde endgültig geschlossen und Chiaras Porträt entfernt.1 Offenbar war der Bann gebrochen. In den darauffolgenden Monaten erzählten sich die Frauen von Sant’Antioco, Nachfahrinnen der Schülerinnen Italo Dianas, ihre eigenen Geschichten. Am faszinierendsten war, dass eine von Chiaras früheren Schülerinnen, eine ausgebildete Weberin namens Arianna Pintus, den ketzerischen Schritt vollzog, in ihrem eigenen Atelier Byssus zu verarbeiten, gegen Chiara Vigos Dogmen zu verstoßen und einige schöne Wandteppiche zu weben. Da die Pinna nobilis unter Naturschutz stand, bezog sie ihre Byssusfasern, wie sie mir erzählte, von einer anderen Muschelart, Atrina pectinata, die im gesamten Pazifik gefischt und gezüchtet wird.2
Ich beobachtete diese Entwicklungen in der Byssus-Saga mit einer gewissen Distanz. Einerseits fand ich es wunderbar, dass sich nun verschiedene Stimmen erhoben, die das eintönige Lied von der Muschelseide in ein polyphones Werk verwandelten, andererseits war mir klar, dass Chiaras jahrzehntelang präsentiertes und immer weiter verfeinertes Narrativ einfach zu mächtig war, um durch eine auf historischen Fakten und Bruchstücken basierende Version ersetzt zu werden. Man konnte nur hoffen, Historiker in hundert Jahren würden beim Durchforsten alter Server den Namen Italo Dianas und seiner Webschule finden.
In Sant’Antioco war das Monopol des Geschichtenerzählens mit dem Monopol der Byssusernte verknüpft. Die stummen Weberinnen von Sant’Antioco, auf alte Byssusfasern aus Italo Dianas Atelier oder auf Bezugsquellen außerhalb des Mittelmeerraums angewiesen, waren niemals in der Lage, solche Kunstwerke zu schaffen wie Chiara oder sie so großzügig zu verschenken. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn die Byssusernte und der Byssushandel legalisiert würden. War das denkbar, eine legale, vernunftgemäße und gerechte Byssusernte, die nicht an eine einzige Blutlinie gebunden war? Ich dachte an die Versuche zurück, eine sinnvolle Byssusindustrie aufzubauen, an die Experimente des italienischen Biologen Attilio Cerruti, der in den 1930er-Jahren Steckmuscheln pflanzte, als wären es Setzlinge. Es entstanden dabei zwar exorbitante Kosten, aber immerhin hatte man entdeckt, dass sich die Pinna nobilis tatsächlich in einer Aquakultur züchten ließ.
Und doch machte es mir Sorgen, dass in einer Zeit, in der die Muscheln immer noch gefährdet waren, solche Aquakulturen entstehen könnten. Im Jahr 2017 gab es im spanischen Mittelmeer ein Massensterben der Pinna nobilis, das vermutlich auf einen Parasiten zurückging, und spanische Biologen schlugen Alarm.3 Heiligenlegenden erfüllen eine nützliche Funktion selbst dann, wenn sie auf Erfindung beruhen. Es gibt keine Beweise dafür, dass der heilige Cuthbert jemals Eiderenten gezähmt hätte, aber zweifellos hat die Legende zum Schutz der Enten geführt. Ich hatte den Verdacht, dass Chiaras Geschichten eine ganz ähnliche Funktion erfüllten. Denn im Gegensatz zu Miesmuscheln, Venusmuscheln oder Jakobsmuscheln hätte Muschelseide ganz gewiss einen Marktwert, der zu leichtsinniger Spekulation oder zu einem ähnlichen Ausmaß an Plünderung führen könnte wie bei den Vogelnestern in den Höhlen Borneos. Fasziniert von diesem Gedanken, machte ich mich auf die Suche nach einem kostbaren Objekt, an dem ich die Folgen der Legalisierung erforschen konnte. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, dass darüber nicht etwa Miesmuscheln, Jakobs- oder Venusmuscheln — mit denen ja schon seit Langem legal gehandelt wird — Aufschluss geben konnten, sondern die Faser eines Tiers, das etwa achthundert Millionen Jahre Evolution von den Mollusken trennen.
Im Jahr 1958 gab es in den Vereinigten Staaten einen politischen Skandal, in dessen Strudel auch Präsident Eisenhowers Stabschef Sherman Adams und ein aus Neuengland stammender Textilmagnat namens Bernard Goldfine gerieten.4 Einige Jahre zuvor hatte die Bundeshandelskommission, die Federal Trade Commission (FTC), Goldfines Unternehmen vorgeworfen, Produkte falsch zu kennzeichnen, worauf Goldfine Adams, einen alten Freund, um Unterstützung bat. Adams war dazu pflichtschuldigst bereit, was an sich vielleicht noch kein Problem gewesen wäre, hätte Goldfine nicht gern üppige Geschenke verteilt. Im Rahmen voll besetzter Sitzungen des House Special Subcommittee on legislative Oversight enthüllte Adams, dass Goldfine seine Hotelrechnungen bezahlt und ihm verschiedene Gegenstände geschenkt hatte: einen »Orientteppich« und einen Mantel aus Vikunjawolle.
Goldfine schien nicht zu begreifen, wie problematisch es war, einem Politiker oder Beamten einen Vikunjamantel zu schenken. Die Hearings ergaben, dass er den Gouverneuren von achtundvierzig Staaten Geschenke aus Vikunjawolle überreicht hatte.5 »Ich weiß keine andere Möglichkeit, meine Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen«, erklärte er später. »Ich werde bis ans Ende der Zeiten Geschenke überreichen.«6 Die Presse, die Republikaner und der Kongressausschuss sahen das anders. Adams trat schließlich wegen der »Vikunjamantel-Affäre« zurück und zog nach Lincoln, New Hampshire, wo er ein Ski-Resort leitete. »Wenn ich jetzt auf diese unselige Episode zurückblicke, liegen die Fehleinschätzungen klar zutage«, schrieb er in seinen 1961 erschienenen Memoiren.7 Goldfine seinerseits wurde als der »Vikunja-Mann« bekannt.8
Man könnte Adams einen solchen Fehltritt vielleicht verzeihen. Wenn man selbst einmal mit der Hand über einen Vikunjamantel streicht, fühlt sich hinterher alles andere rau an: Lammwolle wie ein Topfkratzer, Byssus wie Draht. Die Vikunjafaser, aus der das Fell des wild lebenden, zur Familie der Kamele gehörenden Vikunjas besteht, wird oft »Wolle« genannt, aber ihr Durchmesser von 12,5 Mikron (1 Mikron = ein tausendstel Millimeter) steht Seide näher als Schafwolle.9 In der Zeit des Goldfine-Skandals zählte die Vikunjafaser in Amerika zu den wertvollsten Materialien und war mit dem Glamour von Hollywood-Filmstars und -Musikern verknüpft — Marlene Dietrich, Groucho Marx, Nat King Cole und Greta Garbo trugen alle Mäntel aus Vikunjawolle.10 »Wenn ein Nerz einem anderen Nerz einen hübschen Mantel schenken möchte, schenkt er ihm einen aus Vikunja«, sagte ein Schneider im Jahr 1958 in der Tageszeitung The Philadelphia Inqiurer.11
Das Vikunja, mit seiner seltsamen Mähne, die ihm von Hals und Brust herabhängt, wirkt sehr elegant. Die Rehaugen des Tiers, seine Beweglichkeit und sein Herdenverhalten legen den Vergleich mit Antilopen und Rothirschen nahe. Betrachtet man die Tiere jedoch genauer, ihren langen Hals und die schwieligen Sohlen, erinnern sie beinahe an höckerlose Miniaturkamele. Und tatsächlich sind sie Verwandte des zweihöckrigen Kamels der Wüste Gobi und gehören zur Familie der Camelidae, die sich ursprünglich im Westen Nordamerikas entwickelten, bevor sie sich dann über Landbrücken nach Asien und Südamerika verbreiteten.12 Und doch kann diese Verbindung zum Kamel nur eine ganz entfernte Verwandtschaft sein: Die Vikunjas wirken zarter als die robusten Wüstenlasttiere, ihre Hälse sind zu lang, die grazilen Beine zu dünn. Ich stellte mir vor, sie würden nach der Fellschur unsichtbar mit der Steppe verschmelzen.
Dass die Vikunjafaser so unglaublich fein ist, hat nicht wie bei der Eiderdaune mit der Nähe zum Polarkreis zu tun, sondern mit der Höhe, in der die Vikunjas leben. Vikunjas streifen durch die Anden-Puna, wo die Luft so dünn ist, dass man das Gefühl hat, sie sauge einem die Wärme aus dem Körper, kühle einen aus bis ins Mark. Wenn nachts die Temperaturen fallen, lassen sich die Vikunjas auf den Bauch nieder, und ihr langer Faserlatz liegt wie ein eleganter Rock um ihren Oberkörper, als Decke und Windschutz zugleich. Morgens verwandeln sich die Fasern dann in einen Sonnenschirm und schützen die Tiere vor den sengenden Strahlen, die erbarmungslos auf die Puna niederbrennen; um den isolierenden Eigenschaften gegenzusteuern, transpirieren die Tiere über ihre unbehaarten Bäuche.
Die Inka verehrten die Vikunjas als heilige Tiere. Ganz besonders kostbar war ihre Wolle, denn die Fasern gehörten zu den feinsten der Welt; nur der Inka-König selbst — und gewisse Priester — durften Kleidung aus Vikunjafaser tragen.13 Bei den Inka gediehen die Vikunjas, doch als dann im sechzehnten Jahrhundert die Spanier kamen, erwiesen diese den Gesetzen und Traditionen der Inka wenig Respekt und schlachteten die Vikunjas wegen ihres Fleischs, ihres Fells und ihrer Wolle. Einem späteren Bericht zufolge wurden in Peru und Nordchile jährlich achtzigtausend Tiere getötet, ein Gemetzel, das an das Bison-Massaker im Nordamerika des neunzehnten Jahrhunderts erinnert.14 Garcilaso de la Vega, der uneheliche Sohn eines spanischen Aristokraten und einer Inka-Prinzessin, schrieb, dass »die Gewehre der Spanier solche Verwüstungen anrichteten, dass kaum noch … Vikunjas zu finden sind, doch die wenigen, die es noch gibt, sind vor Angst und Schrecken in die Berge geflohen, wo kein Pfad oder Weg hinführt«.15
In all den Kolumnen, Interviews, Sendungen und Artikeln zu Sherman Adams’ Niedergang erfahren wir kaum etwas über die Faser, aus der der Mantel gemacht ist. Im Unterschied zu dem Mann, der ihn trug, ist der Vikunjamantel nur eine Requisite, ein Symbol für verschwenderischen Luxus. Adams hätte auch dann seinen Job verloren, Washington verlassen und seine Tage in einem Ski-Resort in Hampshire verbracht, wenn es sich um einen Nerzmantel gehandelt hätte (im Jahr 1951 auch einmal Gegenstand eines politischen Skandals).16 Dennoch spielte Adams’ Vorliebe für Vikunjawolle durchaus eine Rolle. Als er Goldfines Geschenk annahm, geriet er, ohne sich dessen bewusst zu sein, in eine andere Geschichte, die mit Massentierhaltung, der FTC, parlamentarischen Unterausschüssen oder dem Weißen Haus nicht im Entferntesten zu tun hatte. In den 1950er-Jahren kamen Nerzmäntel von Nerzfarmen, wo die Tiere wie Hühner, Enten, Zibetkatzen oder Fleckenmusange in Batteriekäfigen gehalten wurden, doch Adams’ Mantel war aus dem Fell eines wilden Tiers gemacht, das vom Aussterben bedroht war.
Es ist ja oft so, dass Naturmaterialien, die ihren tierischen Besitzern einen evolutionären Vorteil verschaffen, von uns Menschen in totes Gewicht verwandelt werden, was die vermehrte Tötung der Tiere bewirkt, ja sogar ihre Auslöschung als Spezies beschleunigt. Dass der Stoßzahn des Elefanten wegen der Härte und Schönheit des Elfenbeins so geschätzt wird, hat Wilderer schon immer magnetisch angezogen; dass der borneanische Eisenholzbaum eine so große Höhe erreicht, führte zu seiner Verwendung als Nutzholz; dass die Pinna nobilis so groß und schön ist und über eine transparente Schale verfügt, hat sie als Lampenschirm beliebt gemacht. Doch nirgends kam dieses Prinzip deutlicher zum Vorschein, als im Fall des Vikunjas und seiner Wolle. Im Jahr 1967 gab es noch etwa zehntausend Exemplare, nur noch einen Bruchteil der zwei Millionen Tiere, die wohl zur Zeit der Inka existierten.17 »In den Vereinigten Staaten«, klagte der peruanische Umweltschützer Felipe Benavides in einem Interview mit der New York Times, »kennen viele Leute den Bison nur noch als Abbild auf dem Fünf-Cent-Stück. Ich frage mich, ob wir das Vikunja irgendwann auch nur noch von 1-Sol-Münzen kennen werden.«18
Als Benavides von den Vikunjas und anderen bedrohten Tierarten sprach, versagte ihm vor Ergriffenheit die Stimme. Anders als Politikjournalisten oder Ermittler des Repräsentantenhauses las er Adams’ Geschichte nicht als Parabel auf politische Korruption oder einen Verfall der Ethik in Washington, sondern als ein anderes, viel größeres moralisches Versagen: der Tatsache, dass die Nachfrage nach Vikunjawolle in den USA und Europa, insbesondere Großbritannien, zur Ausrottung des Tieres führte. Seit den 1930er-Jahren hatte er den Handel mit der Vikunjafaser recherchiert, hatte verfolgt, wie die Wolle ihren Weg in die Londoner Regent Street und zu den Herrenausstattern in der Savile Row, in Exportlisten und Presseartikel fand.19
Empört schrieb er an Zeitungen, prangerte öffentlich Vikunjaimporteure an, engagierte sich für Perus gefährdete Tierarten und versuchte auf diese Weise zu erreichen, dass Vikunjawolle ähnlich geächtet würde wie Kokain. »Die verfolgte Mehrheit [der Tiere]«, sagte er einmal einem Journalisten, »hat weder Stimme noch Wahlrecht, wird von keiner Interessengemeinschaft oder Gewerkschaft vertreten. Jemand muss für sie sprechen und sie vor den Menschen schützen!«20
In den 1970er-Jahren beschrieb The New Yorker Benavides als einen »großen eleganten Mann von achtundfünfzig Jahren, mit ergrauendem Haar, einem kleinen Schnurrbart und geschwungenen Brauen; die dunklen Augen und die scharf geschnittene Nase schienen aus einem Porträt im Prado zu stammen.«21 Benavides, Neffe eines ehemaligen peruanischen Präsidenten, verbrachte die ersten zwanzig Jahre seines Arbeitslebens in diplomatischen Zirkeln in Stockholm, New York und London. Er schien für einen hohen diplomatischen Posten prädestiniert, doch 1954 quittierte er plötzlich den Dienst und kehrte nach Lima zurück. Nach so vielen Jahren im Ausland war Benavides schockiert vom Ausmaß der Umweltzerstörung in seiner Heimat. Er erinnerte sich: »Ich fuhr durch mein Land und war schockiert. Da gab es Leute, die auf Kondore schossen und Meeresschildkröten töteten. Ich sah verletzte Seelöwen wie Babys weinen, Kondore im Sand verwesen. Grauenhaft! Grauenhaft! Vom Strand fuhr ich dann in die Anden. Ich fand kein einziges Vikunja mehr.«22
In den 1950er-Jahren existierte in Peru keine Umweltschutzbewegung. »Was ist hier los?«, fragte Benavides im Jahr 1954. »Es gab im ganzen Land keinen einzigen Umweltschützer. Nicht einen! Ich musste etwas unternehmen.«23 Im Jahr 1973 half er den Manú-Nationalpark aufzubauen, damals das größte Naturreservat Lateinamerikas, und das an der Küste gelegene Paracas-Nationalreservat. Er setzte sich auch für das Pampas-Galeras-Nationalreservat in den südlichen Anden ein, gegründet 1967 — eine sichere Heimat für die Vikunjas. Innerhalb dieses 5800 Hektar umfassenden Schutzgebiets konnten sich die Vikunjas in den frühen Jahren des Parks vermehren.24 1977 erklärte das Smithsonian, die Vikunjas seien vor dem Aussterben bewahrt worden.25
Auf einem Foto von Benavides in seinen späteren Jahren sieht man, wie er mit einem Vikunja schmust, als sei es sein Enkelkind, und wie sein großer drahtiger Schnurrbart das Tier an der Schnauze kitzelt.26 Doch Benavides sorgte nicht nur dafür, dass sich die Vikunjas im Nationalpark vermehrten, sondern bewirkte auch eine Bewusstseinsänderung, eine andere Haltung zu diesen Tieren und ihrer Wolle, diesem Material, in das sich einst, ohne jede Rücksicht auf seinen Ursprung, Scheichs, Filmstars und mindestens ein Präsidentenberater hüllten. Ganz ähnlich wie in Chiaras Vision der Muschelseide wurde nun auch die Vikunjawolle als heilige Faser wahrgenommen, die man nicht kaufen oder verkaufen durfte, es sei denn, man riskierte eine Haftstrafe zwischen drei und fünf Jahren.27 »Vikunjawolle«, erklärte Benavides damals, »sieht immer noch am besten an einem Vikunja aus.«28
Die märchenhafte Geschichte von Benavides und den Vikunjas verwandelte sich allerdings schon bald in einen Albtraum. Mitte der 1970er-Jahre herrschte in Pampas Galeras eine schlimme Dürre in Kombination mit Überweidung, was bei den Vikunjas zu erhöhter Sterblichkeit und reduzierten Schwangerschaftsraten führte.29 Weil er einen Zusammenbruch der Population befürchtete, schlug Antonio Brack Egg, der im peruanischen Agrarministerium arbeitete, vor, überzählige männliche Tiere abzuschießen. »Die preisgünstigste und effektivste Methode ist die, sie mit Büchsenpatronen Kaliber .222 Remington zu töten«, erklärte er 1979.30 Brack schlug pragmatisch vor, das Fleisch der überzähligen Tiere preiswert an die örtliche Bevölkerung zu verkaufen. War Benavides’ Verhältnis zu den Vikunjas gefühlsbetont, so sprach Brack wie ein Metzger. »Das Fleisch ist mager, proteinreich und bestens zum Verzehr geeignet, als Dörrfleisch und als Farce«, schrieb er.31
In den 1930er-Jahren begann Neuseeland seine außer Kontrolle geratene Rotwildpopulation zu dezimieren.32 Wegen ihres Fleischs und ihres Fells gejagt oder als Nutztier gehalten, wurden die Rothirsche zur Grundlage einer mächtigen Industrie, deren Wert sich im Jahr 2010 auf schätzungsweise 306 Millionen neuseeländische Dollar belief. Wie die Neuseeländer ihr Rotwild, wollte Brack die Vikunjas in eine hochwertige Wirtschaftsressource verwandeln. »Es wäre möglich«, argumentierte er 1987, »eine Population von drei Millionen Vikunjas zu erreichen, und ein vernünftiges Management würde alljährlich die Produktion von 225 Tonnen Fasern ermöglichen. Etwa sechshunderttausend Felle und circa 12.000 Tonnen Fleisch.«33
Obwohl sich Rothirsche und Vikunjas nicht nur physisch, sondern auch von den Sozialstrukturen her ähneln, könnte die Geschichte dieser Tiere unterschiedlicher nicht sein. Rothirsche aus britischen Rotwildparks wurden im neunzehnten Jahrhundert als invasive Spezies nach Neuseeland eingeführt, um das »Ödland« des Inselstaats in »ein Paradies für Rotwildjäger zu verwandeln«.34 Im Gegensatz dazu gehören die Vikunjas zu Südamerikas großen Vierfüßern, die noch vor dem Menschen auf diesem Kontinent existierten.35 Als Bracks Pläne für eine Vikunjaindustrie bekannt wurden, gab es einen öffentlichen Aufschrei, angeführt von Benavides und Perus Elitepresse. »Mit einem Wort: Vikunjakoteletts anzubieten war und ist so, als werbe man für Pandabraten«, argumentierte 1986 Perus angesehene Wochenzeitung Caretas.36
Im Lauf seiner Karriere hatte Benavides jeden verfolgt, der Perus Tierwelt bedrohte: Er attackierte Aristoteles Onassis, als dessen Walfangschiff in peruanische Hoheitsgewässer eindrang; er drohte Robbenjägern, sie ihrerseits mit Keulen niederzuknüppeln; er drohte Abdhul Reza Pahlavi, einem Halbbruder des persischen Schahs, ihn zu erschießen, falls er einen Brillenbären tötete; und er drohte, einen Poncho aus Vikunjafasern zu konfiszieren, den Fidel Castro als Geschenk erhalten hatte.37 Doch seine Attacken auf Brack stellten alles andere in den Schatten. Benavides warf ihm vor, die Populationszahlen zu fälschen, um die kommerziellen Ziele des Projekts zu rechtfertigen. »Nicht einmal Karnickel erreichen die von der Regierung genannte Reproduktionsrate, und Vikunjas schon gleich gar nicht«, sagte er.38 Er bat einen Biologen der Universität Cambridge, Dr. Keith Eltringham, eine Luftbildzählung durchzuführen, die ergab, dass die tatsächliche Anzahl der Vikunjas nur ein Drittel der Menge betrug, die Brack angegeben hatte.39 Doch letztlich waren es Benavides’ Kommentare über das Gemetzel, seine Beschwörung dantesker Bilder eines Blutbads, die schließlich den Umschwung in der öffentlichen Meinung herbeiführten. »Sie verwunden die Tiere durch die Lunge, da die Herzen zu teuren Preisen als lokale Delikatesse gehandelt werden«, sagte er. »Viele verwundete Vikunjas fliehen mit herausquellendem Gedärm und verenden unter Qualen.«40
»Die Vikunja-Saga«, wie man den Disput später nannte, zog sich durch die 1980er-Jahre und wurde immer persönlicher und verbitterter.41 Vordergründig ging es um das Recht, ein Tier zu töten, doch ging der Disput von Anfang an weit darüber hinaus und spiegelte die Spaltungen innerhalb der peruanischen Gesellschaft wider. Benavides, der wohlhabend und streitlustig war und über gute Beziehungen verfügte, wurde von vielen Peruanern als abgehobener Aristokrat betrachtet, ein Mann, dem die Vikunjas wichtiger waren als die bitterarmen Campesinos, die ihr Land mit den Kameliden teilten.42 Brack wiederum wurde in der Presse — ungerechterweise — als geldgieriger Schlächter dargestellt, der aus einem heiligen Tier Profit schlagen wollte. Letztlich trug Benavides den Sieg davon: In den 1980er-Jahren wurde der massenhafte Abschuss abrupt beendet und Bracks Organisation, das Projekt für die sinnvolle Nutzung des Vikunjas (Especial Utilización Racional de la Vicuña), aufgelöst.43 Doch die Auseinandersetzung zehrte an Benavides, entfremdete ihn von den Umweltschützern, und er fiel politisch in Ungnade.44 1991 entband ihn Präsident Alberto Fujimori von seinem Posten als Direktor des Zoos von Lima, des Parque de las Leyendas. Einen Monat später starb Benavides in London an Krebs. Sein Nachruf in der peruanischen Tageszeitung El Expreso trug die Überschrift »El día que las vicuñas lloraron« — »Der Tag, an dem die Vikunjas weinten«.45
Die Geschichte der Unterwerfung des Inkareichs durch weniger als zweihundert Spanier enthält ein Detail, das mich schon immer fasziniert hat. Einige Zeit vor der Hinrichtung des Inka-Herrschers Atahualpa fällt Pedro Pizarro dessen Kleidung auf, ein dunkelbrauner, seidenweicher Umhang. Fasziniert erkundigt sich Pizarro, damals noch in jugendlichem Alter, bei Atahualpa nach dem Material, aus dem dieser Umhang bestehe. Laut Pizarro soll Atahualpas Antwort gewesen sein, der Umhang sei aus der Haut von Vampirfledermäusen angefertigt worden, gefangen in Puerto Viejo und Tumbez, zwei nördlichen Provinzen seines Reichs. »Was haben diese Hunde in Tumbez und Puerto Viejo«, erwiderte Atahualpa angeblich, »schon anderes zu tun, als diese Tiere zu fangen, um daraus Kleidung für meinen Vater zu machen«?46
Als die Spanier auf das Territorium der Inka vordrangen, stießen sie auf riesige Lagerhäuser. Diese bargen kostbare und nützliche Dinge — Nahrung, Waffen, Schmuck und Werkzeuge —, doch am meisten verblüffte die Spanier, welch riesige Mengen an Wolle, Baumwolle, Stoffen und Kleidungsstücken dort lagerten. »Es gab so viele Stoffe aus Wolle und Baumwolle«, schrieb Francisco de Xerez angesichts eines Lagerhauses in der Cajamarca, »dass man wohl viele Schiffe hätte damit beladen können.«47 Dieser Überfluss an Stoffen, die aufbewahrt wurden wie Schätze, verschlug den Spaniern die Sprache. »Ich könnte nichts sagen über die Lagerhäuser, die ich sah, voll mit Stoffen und allerlei Kleidungsstücken, die in diesem Königreich hergestellt und benutzt wurden, denn mir fehlte die Zeit, sie anzuschauen, und mein Verstand reichte nicht aus, um all das zu begreifen«, schrieb Pedro Pizarro.48
Man kann verstehen, warum dieser Überfluss an Stoffen Pizarro dermaßen verblüffte. Die Spanier waren nach Südamerika gekommen, um Gold zu suchen, Tempel und Festungen zu plündern, und sahen sich nun in einem Reich, das von Fasern zusammengehalten wurde. »Der Gebrauch von Prestigeobjekten ist an sich nicht ungewöhnlich«, schreibt der Historiker John Murra, »neu ist nur die Entdeckung, dass es sich in der Andenregion bei dem Artefakt mit dem größten Prestige, also dem größten Nutzen innerhalb von Machtbeziehungen, um Stoff handelte.«49 Die Inka, talentierte Weber, nutzten Stoffe für vielerlei Gelegenheiten, vom Opferritual bis zum Begräbnis. Murra schreibt: »Bei keinem politischen, militärischen, gesellschaftlichen oder religiösen Ereignis durfte es fehlen, dass Textilien geschenkt oder gespendet, verbrannt, getauscht oder geopfert wurden.«50
Der Jesuit Bernabé Cobo berichtete, die Inka hätten zwei Arten von Stoff: awasqa, einen rauen, dicken Stoff für häusliche Zwecke, und kumpi, einen feineren Stoff, von dem es heißt, er sei seidenweich gewesen.51 Doch am begehrtesten waren natürliche Materialien, die oft den Eliten vorbehalten blieben. Garcilaso de la Vega zufolge ernteten die Inka Vikunjafasern in einem Chakku, eine Methode, bei der die Tiere lebend geschoren werden.52 Wie er schrieb, beteiligten sich bei den Inka zwanzig- bis dreißigtausend Menschen an der Jagd und bildeten einen riesigen Kreis um Tausende Wildtiere. Wenn sie sie umzingelt hatten, wurden die männlichen Vikunjas und Guanakos (der große Cousin des Vikunjas) getötet, die weiblichen Tiere jedoch geschoren und freigelassen. Diese Form der Jagd wurde nach einem Rotationsprinzip veranstaltet, sodass sich die Herden regenerieren und das Fell nachwachsen konnte. Als Benavides die Aufzeichnungen der Chronisten las, war er fasziniert. »Diese großen Umweltschützer, die Inka, gingen sehr klug vor, was die Nutzung wild lebender Tiere betrifft«, schrieb er.53
Inspiriert von diesen Schriften, plädierte er von nun an für die Lebendschur als eine Methode, bei der die Tiere weiterleben und sich vermehren konnten und dennoch gleichzeitig den lokalen Gemeinden ein Einkommen bescherten. Inmitten von über zweihundert Papageien, jungen Ozelots und einer Scharnierschildkröte pflegte er vor Journalisten über das Potenzial dieser Schurmethode zu referieren. »Die Bewohner der Anden können die Tiere scheren«, erklärte er 1975 in der Los Angeles Times. »Wir arbeiten an Möglichkeiten, die Vikunjas auf humane Weise, mit unsichtbaren Netzen, zu fangen, sie zu scheren und wieder freizulassen.«54 Er nahm sogar Besucher mit in den Zoo von Lima und schor auf einem Feld hinter seinem Büro zahme Vikunjas.55 »Ich gönne jedem seinen Vikunjamantel«, erklärte er 1978 gegenüber der Los Angeles Times. »Ich will nur nicht, dass die letzten Vikunjamännchen und -weibchen getötet werden.«56
In seinem Idealismus erinnerte Benavides’ Plan an Gavin Maxwells Versuch, eine isländische Tradition auf einem anderen Kontinent neu aufleben zu lassen, wobei im Fall des Peruaners zwischen der alten und der neu belebten Tradition kein Ozean, sondern fünf Jahrhunderte lagen. In den 1980er-Jahren kämpfte Benavides mit großem Engagement für freien Handel und beantragte 1987 erfolgreich, dass ausgewählte peruanische Vikunjapopulationen in Anhang II des Washingtoner Artenschutzabkommens aufgenommen wurden.57 1991, in Benavides’ Todesjahr, wurde eine der letzten Handelsbarrieren beseitigt, als Präsident Fujimori ein Dekret unterzeichnete, das den Campesino-Gemeinden des Landes das Nutzungsrecht an den Vikunjas zusprach.58
War Felipe Benavides der Idealist des Chakku, dann war Alfonso Martínez, ein in Lima ansässiger Anwalt, der Mann der praktischen Umsetzung. Als Sohn eines Viehhändlers hätte Martínez sich von dem peruanischen Aristokraten und Diplomatensohn, der von der Lebendschur träumte, kaum stärker unterscheiden können. In relativ ärmlichen Verhältnissen geboren, wuchs Martínez in Lucanas auf, damals ein kleines Dorf nahe Pampas Galeras, dessen Einwohner sich mühsam als Vieh- oder Schweinehirten durchschlugen. »Die meisten meiner Klassenkameraden [in der Elementarschule] waren fünf oder sechs Jahre älter als ich«, erinnerte er sich. »Ihre Eltern schickten sie erst zu einem späten Zeitpunkt in die Schule, weil sie auf dem Feld mithelfen mussten.« Da es in Lucanas keine weiterführende Schule gab, ging Martínez in Lima zur Schule und kehrte in den Ferien zurück, um seiner Familie zu helfen, bis er dann in der Hauptstadt sein Jurastudium begann.
Anders als bei Benavides entsprang Martínez’ Engagement für die Vikunjas nicht einem besonderen Interesse am Naturschutz, sondern der Verbundenheit mit seinem Heimatort. Mitte der 1980er-Jahre, kurz bevor er sein Studium abschloss, wurde er Berater in seiner Heimatgemeinde Lucanas. »Ich erklärte mich bereit, weil ich die Einstellung hatte, der Gemeinschaft zu helfen. Ich gebe zu, dass ich damals politisch links war, äußerst links.« In jenem Jahrzehnt warben Martínez und andere Leute in Lucanas dafür, dass der Gemeinde die Verantwortung für die Vikunjas übertragen würde. »Wir werden uns um sie kümmern, [sie] verteidigen und von ihnen profitieren«, erklärte Martínez den Behörden. »Der Staat war sehr am Schutz der Natur und der Vikunjas interessiert, doch mit dem Vordringen des Leuchtenden Pfads waren die Vikunjas den Wilderern, der Armee und den Rebellen schutzlos ausgeliefert.«
Der Leuchtende Pfad (Sendero Luminoso) war eine maoistische Guerillaorganisation, die in den 1980er-Jahren große Teile des ländlichen Peru unter ihre Kontrolle brachte, einschließlich des nationalen Vikunja-Reservats Pampas Galeras. Gegründet Ende der 1960er-Jahre von einem Philosophieprofessor, tötete die Gruppe unterschiedslos Campesinos, politische Gegner und Vikunjas und versuchte, wie es der Schriftsteller Mario Vargas Llosa formulierrte, »Perus Städte, insbesondere Lima, zu erdrosseln, indem keine Nahrung mehr dorthin gelangen konnte«.59 Nach so vielen Jahren des Blutvergießens wurde Fujimoris Akt, der den Dorfgemeinschaften das Recht zusprach, die Vikunjas zu scheren, von vielen Campesinos dankbar angenommen. Allerdings konnte sich niemand so recht vorstellen, wie man die scheuen Vikunjas, die eine Laufgeschwindigkeit von bis zu 50 Stundenkilometern erreichen, scheren sollte. »Sie hatten keine Ahnung, wie man ein Vikunja fängt«, erzählte mir Martínez. »Als die Leute aus den Bergdörfern nach Lucanas kamen, sagten sie: ›Ihr seid verrückt. Wie um alles in der Welt können wir ein Vikunja fangen, das hundertmal schneller rennt als wir?‹«
In Pampas Galeras gibt es alte Steinfallen, die in Prä-Inka-Kulturen dazu gedient haben könnten, die Vikunjas zusammenzutreiben, zu scheren und zu töten. Ansonsten jedoch gibt es zum Inka-Chakku keine archäologischen Funde und kaum schriftliche Zeugnisse.60 »Die einzigen Hinweise finden sich in den Chroniken«, räumte Martínez ein. »Aber auch die sind sehr allgemein gehalten. Sie gehen nicht ins Detail. Wir mussten uns einige Aspekte überlegen, die an andische Traditionen anknüpften.« Er schlug vor, an einem langen Seil Wimpel zu befestigen und die Vikunjas mithilfe Hunderter Freiwilliger zusammenzutreiben; dann würde die Schur erfolgen, genau wie bei den Inka, nur mit modernen Elektroscheren.
Der Historiker Eric Hobsbawm definiert eine erfundene Tradition als »ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden.61 Sie zielt darauf ab, bestimmte Verhaltenswerte und -weisen durch Wiederholung zu festigen, was von sich aus die Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet«.62 Martínez’ Chakku passte eindeutig zu dieser Definition, denn hier verschmolzen Inka-Tradition, andische Gebräuche, moderne Technologie und seine eigenen Ideen miteinander. Der Chakku erwies sich in Peru als äußerst erfolgreiches Modell; Hunderte von Campesino-Gemeinden organisierten sich in Kooperativen, um die Vikunjafasern zu gewinnen und an den internationalen Markt zu verkaufen.63 »Auf dem Rücken eines jeden Vikunjas wachsen 100 Dollar«, sagte Martínez. »Wenn Sie einen Helikopter sehen und der Präsident der Republik sitzt drin und wirft ein Bündel Geldnoten herunter, das vom Wind weggeweht wird, was tun Sie dann? Sie rennen hinterher.«
Der erste Chakku wurde 1993 abgehalten, mit großem Trara. Es war ein Riesenereignis für die Gemeinde, das Reservat wimmelte von Regierungsbeamten, Reportern und Politikern, einschließlich Fujimori. »Es gab viel Idealismus, denn wir wollten dieses ganze Projekt mit andischer Identität verknüpfen«, erinnerte sich Martínez. Allerdings wurde der Enthusiasmus gedämpft, weil es sich in der Praxis als zu schwierig erwies, diese behänden Tiere einzufangen. Im ersten Jahr erwischte man nur sieben; in späteren Jahren war der Chakku sogar noch erfolgloser. »Es gab ein Jahr, da haben wir kein einziges Tier gefangen. Und das lag daran, dass jemand, der eine Schlüsselposition besetzte, einschlief.« Ich erlebte diese Schwierigkeiten später selbst, als ich das Reservat besuchte und mich an eine Herde Vikunjas anschleichen wollte. Ich war noch 20 Meter weit entfernt, da spitzte das männliche Tier, das die Gruppe führte, schon die Ohren, hob den Kopf, stieß einen schrillen Schrei aus, und alle rannten davon.
Im Gebiet nördlich des Polarkreises hatten die Samen ähnliche Probleme, wenn sie versuchten, Rentierherden zusammenzutreiben.64 Das war eine solche Herausforderung, dass die Samen manchmal sogar ihr Nomadenleben aufgaben und über viele Meilen hinweg Zäune errichteten. Auf diese Weise konnten sie eine größere Zahl von Tieren zusammentreiben und töten und hatten Fleisch und Felle im Überfluss. Martínez erklärte mir, wie er den Chakku effizienter gestaltete, indem er ähnliche Methoden anwandte. 1996 ermutigten er und CONACS, das für die Kontrolle der Schur zuständige Organ,65 die lokalen Gemeinden, Holzzäune um ihr Land zu errichten, um die Tiere einzupferchen.66 Auf diese Weise ließen sich statt nur einiger weniger Tiere Hunderte von Vikunjas fangen. »Als ich anfing, bestand ein sehr hohes Risiko, nichts zu fangen«, erinnerte sich Martínez. »Heutzutage kann in Pampas Galeras sogar ein Blinder Vikunjas fangen.«
Hinter Chiara Vigos Museum in Sant’Antioco stand die Logik, dass ein Tier, das einen kostbaren Rohstoff liefert, höhere Überlebenschancen hat, wenn dieser Rohstoff als heilig gilt. Durch die Kommerzialisierung des Byssus würde man eine Büchse der Pandora öffnen: Non si vende, non si compra. Doch im Falle der Vikunjas schienen andere Regeln zu gelten: Je mehr Wolle geerntet wurde, desto mehr Vikunjas existierten, geschützt von den Gemeinden, die ein wirtschaftliches Interesse an ihrem Überleben hatten. Zwischen 1994 und 2012 stieg die Zahl der Vikunjas in Peru auf mehr als das Dreifache und betrug zum Zeitpunkt der letzten Erhebung im Jahr 2012 fast 210.000 Exemplare.67
Als die Zahl der Vikunjas in die Höhe schnellte, bemerkte ich, dass ihre Wolle eine fantastisch anmutende Qualität bekam und in marktfreundlichen Studien und Pressemitteilungen als Beweis für die Vorzüge der Kommerzialisierung bewertet wurde. Es müsste nur, so schien uns die Vikunjawolle zu versprechen, ein Markt für all die Rohstoffe gefunden werden, die von gefährdeten Arten stammen, dann würden die betreffenden Tiere überleben und den verarmten Gemeinden die dringend benötigten Einnahmen bescheren. Nirgends wird dies offensichtlicher als bei den Auseinandersetzungen über die Legalisierung des Handels mit Rhinozeroshorn, einem illegalen Rohstoff, der oft mit der Vikunjafaser verglichen wird. Wie die Vikunjafaser wächst auch das Nashorn nach und kann abgesägt werden, ohne dass man das Tier tötet; auch hat die starke Nachfrage, größtenteils aus China, zu einer enormen Zunahme der Wilderei geführt. Vor ein paar Jahren hat ein südafrikanischer Geschäftsmann namens John Hume, der eintausendfünfhundert Nashörner hält und einen Vorrat an Rhinozeroshorn besitzt, lautstark für die Legalisierung des von lebenden Tieren abgesägten Horns geworben und sich auf das Beispiel der Vikunjas berufen. »Ich kürze das [Rhinozeros-]Horn so, dass es wieder nachwachsen kann«, erklärte er in der südafrikanischen Zeitung The Mercury. »Auf diese Weise bewahrt man [die Tiere] vor dem Aussterben.«68
Im Lauf der letzten Jahrzehnte war das Vikunja nicht das einzige wilde Tier, das in Einklang mit dem Washingtoner Artenschutzabkommen auf den Markt gelangte. Von Borneo bis Australien werden jetzt Krokodile gehalten, deren Haut man für Taschen und Kleidung verwendet; man züchtet Schmetterlinge und verkauft sie an private Sammler oder Zoos. Doch das Vikunja unterschied sich von diesen Beispielen insofern, dass hier ein wild lebendes Tier Profit ermöglicht, ohne allzu sehr leiden oder gar sterben zu müssen. Einst ein Symbol der Dekadenz, wurde die Vikunjafaser jetzt zu einem Talisman, dem sein Mantra schon eingeschrieben war: Ein geschorenes Vikunja ist ein gerettetes Vikunja. Ganz ähnlich wie Chiara Vigos Museum wurde Pampas Galeras zu einer Art Heiligtum, einer Pilgerstätte für Journalisten, Umweltschützer und Touristen; sie wollten mit eigenen Augen sehen, wie die Logik des Chakku funktioniert, und verbreiteten die Botschaft weiter. Und einmal war dann auch ich dabei.
In den 1960er- und 1970er-Jahren spielte das Reservat Pampas Galeras eine zentrale Rolle bei den Bemühungen, die Vikunjas vor der Ausrottung zu schützen.69 Finanziell gefördert durch die deutsche Regierung, konnte das Reservat hochwertige Einrichtungen vorweisen, etwa eine Schule für die Kinder der Parkangestellten und ein Forschungszentrum, und verfügte über ungefähr sechzig Pferde und Fahrzeuge. »Wir hatten damals eine Menge Leute«, erinnerte sich Reino Joyo, ein pensionierter Parkwächter, der 1977 im Reservat zu arbeiten begann. »Jeden Tag gingen wir bewaffnet auf Patrouille.« Es sei ein erbitterter Kampf gegen die Wilderer gewesen, die mit Gewehren bewaffnet im Helikopter einflogen, die Vikunjas massakrierten und nach Bolivien, dem Tor zum illegalen Fellhandel, zurückflogen. Es kam des Öfteren vor, dass Parkwächter bei Feuergefechten verwundet oder getötet wurden; Reino versagte die Stimme, als er mir erzählte, dass in jenen Jahren zwölf Parkwächter bei der Verteidigung der Vikunjas ums Leben kamen.
Ich war erst kürzlich in Pampas Galeras eingetroffen, war von der Küstenstadt Nazca aus mit dem Combi oder Minibus gefahren. Auf der Hauptstraße zwischen Cuzco und Lima überwindet man in wenigen Stunden mehrere Tausend Höhenmeter, und die Umgebung verwandelt sich von einer Wüstenlandschaft zur Steppe. Da ich mich noch nicht akklimatisiert hatte, schlief ich fast die ganze Fahrt über und erwachte erst wieder, mit rasenden Kopfschmerzen, in 4000 Meter Höhe inmitten einer weiten, mit zimtbraunen Vikunjas übersäten Graslandfläche. Beim Gang durch die verfallenen Gebäude des Reservats vermochte ich mir nur mit Mühe vorzustellen, dass dies einst ein hochmodernes Naturschutzzentrum gewesen war. Nahe dem Eingang lag ein verrosteter, ausgebrannter Truck, dessen zersplitterte Fenster im Gras ein Mosaik aus Scherben bildeten.
Sie knirschten unter meinen Schuhen, als ich auf die Brücke des Reservats zuging, von der nur noch ein paar rudimentäre Holzplanken übrig waren. Die zerfallenen, zerschossenen Unterkünfte hatten keine Dächer mehr und dienten Viscachas (kaninchenartigen Nagetieren) und Vikunjas als Unterschlupf, wie man aus den säuberlich abgezirkelten Dunghaufen schließen konnte. Anders als in den 1970er-Jahren leben die Parkangestellten heutzutage in alten Schlafsälen mit knarrenden Holzböden, ohne Heizung und Strom; bis auf Langstreckenradler oder Truckfahrer sind Besucher eher selten. »Das Reservat war damals in hundertprozentig besserem Zustand«, sagte Reino. »Jetzt ist es tot. Absolut tot. Wenn jetzt die Deutschen kämen, was würden sie sagen?«
Man findet außer den Einschusslöchern auch noch andere Hinweise auf die gewalttätige Vergangenheit dieses Orts: Hammer und Sichel, in roter Farbe auf die Gebäude geschmiert, und in großen Lettern der Name GUZMÁN.70 Im Oktober 1989 tauchten plötzlich Rebellen des Leuchtenden Pfads im Reservat auf und suchten nach dessen Leiter, Héctor Galván. Es war bereits der zweite Angriff (beim ersten, im März 1983, hatten sie zwei Beamte der Forstpolizei getötet), doch dieses Mal wollten sie den Leiter enthaupten. »Meist töteten sie die Chefs«, sagte mir Hernán Sosaya, ein anderer Wächter. »Sie ermordeten den Bürgermeister, Gemeindevorsteher, Präsidenten, Gouverneur; und hier war es genauso.« Da sie Galván, der sich als Campesino ausgab, nicht identifizieren konnten, befahlen die Rebellen den Reservatsangestellten, sämtliche Gebäude mit marxistischen Symbolen zu bemalen. »Wir haben alle gemalt«, sagte Reino. »Wir hatten etwa vierzig Dosen rote Farbe im Lagerhaus.«
Ende der 1980er-Jahre konnte man sich kaum an einem schlimmeren Ort befinden als in Pampas Galeras. Während jenes blutigen Jahrzehnts befand sich das Reservat im Zentrum des Konflikts zwischen dem Leuchtenden Pfad und der peruanischen Regierung, jenem Konflikt, der fast siebzigtausend Menschen das Leben kosten sollte.71 Einst Schauplatz eines der erfolgreichsten Umweltschutzprojekte des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde die Puna nun zu einem Friedhof, übersät mit Leichen und Munition. »Wenn der Leuchtende Pfad hier gewesen war, fand man Schädel in den Wassergräben«, sagte Hernán. »Die spielten mit Köpfen Fußball.« Warum die Wachen denn nicht früher von hier weggegangen seien, fragte ich. »Wir nennen die Leute, die mit den Vikunjas arbeiten, Vicuñeros«, erklärte Hernán. »Wer diesen Job erst mal angefangen hat, hört zeitlebens nicht mehr damit auf. Wir sprechen vom Zauber der Vikunjas.« Im Spanischen kann eine einfache Endung — ero — wiedergeben, dass ein Mensch ein Tier beherrscht: ein cabrero hütet Ziegen, cabras; ein caballero reitet Pferde, caballos. Doch der vicuñero beherrschte die Vikunjas nicht, sondern beschützte sie, wurde von den Kugeln der Wilderer getroffen und blieb selbst dann noch standhaft, als die Puna mit Blut getränkt war. »Wir waren Liebende — amantes — der Vikunjas«, erklärte mir Reino.
Einmal las ich von einem andischen Mythos, in dem es heißt, ein Inka-Herrscher habe ein Dorfmädchen kennenlernen wollen, das von allen Männern begehrt wurde.72 Doch ihre Eltern wollten nicht, dass sie den Inka-Herrscher traf, und so verwandelten sie ihre Tochter in ein Vikunja. Bezaubert von dessen Schönheit, besuchte der Inka-Herrscher es nun jeden Tag, bis das Tier von seiner eifersüchtigen Gattin getötet wurde, die sich aus dem Fell ein Kleid nähen ließ. An diese Geschichte musste ich denken, als ich mit den Vicuñeros sprach, die die Vikunjas mit Worten beschrieben, die sonst eher Menschen vorbehalten sind. Vielleicht entsprang diese Liebe dem Wissen, dass Menschen ihr Leben geopfert hatten, um die Vikunjas zu schützen; oder sie hatte mit der unleugbaren Schönheit des Vikunjas zu tun — dessen Augen und dessen Anmut beim Menschen eine Reaktion auslösen wie sonst nur ein domestiziertes Tier —, dazu ausersehen, menschliches Begehren widerzuspiegeln.
Eine Woche nach der Attacke von 1989 gab es einen brutalen nächtlichen Angriff auf das Reservat; die Rebellen beschossen die Gebäude und brannten sie nieder. Jetzt harrte niemand mehr aus. Die Angestellten flohen in die Steppe, auch Galváns Ehefrau Marta, die damals mit dem dritten Kind im achten Monat schwanger war. »Ich floh mit meinen beiden kleinen Töchtern […] und einem anderen Mädchen auf die Berge zu«, erzählte sie mir. »Es war dunkel, und ich fiel immer wieder hin.« Am folgenden Tag kamen die Sinchi, die Todesschwadronen der Regierung, um die Guerrillas in die Flucht zu schlagen, und sie folterten oder töteten jeden, den sie verdächtigten, in Verbindung zum Leuchtenden Pfad zu stehen.73 »1987 brachten sie meine Mutter und meinen erst dreijährigen Bruder mit Dynamit um«, sagte Hernán. »Wir wissen nicht, wer es getan hat, aber vom Staat bekamen wir nur eine Entschädigung von zehntausend Sol [etwa 3000 Dollar], das war’s.« Nach der Ankunft der Sinchis übernahmen Regierungssoldaten das Reservat und schlachteten seine Einrichtungen aus. »Die Vikunjas gerieten ins Visier von Wilderern, weil niemand mehr da war«, sagte Hernán. »Die Puna leerte sich.«
Bei meinem Besuch in Lima oder als ich entsprechende Berichte las, hielt ich den Chakku für ein idealistisches Experiment, um unsere Beziehungen zu diesen wild lebenden Tieren auszuloten. Doch je mehr Zeit ich in Pampas Galeras verbrachte, desto klarer wurde mir, dass der Chakku mit einer Mullbinde vergleichbar war, unter der die Wunden jener blutigen Jahre heilen konnten, jener Zeit, in der sämtliche Umweltschutzbemühungen früherer Jahrzehnte zum Erliegen gekommen waren. Der Chakku war kein utopischer Traum, sondern ein letzter verzweifelter Versuch, diesen wilden Geschöpfen, in denen die Einheimischen nur eine Plage sahen, einen Wert zu verleihen.
»Wer hat den Wilderern damals geholfen?«, fragte Manuel Cabrera, ein pensionierter Vicuñero. »Die Comuneros! … Die Jäger haben einem zehn oder zwanzig Sol gegeben [3—6 Dollar dafür, dass man ihnen half]. Die haben damals alles mitgenommen, nur das Fleisch blieb da.«
Fast drei Jahrzehnte nach Guzmáns Gefangennahme ist der Chakku nun zum festen Bestandteil des Lebens in der Puna geworden. Als ich dorthin kam, war es vierundzwanzig Wochen her, dass den Campesino-Gemeinden die Verantwortung für die Tiere übertragen worden war, und in dem Reservat, in dem man sonst nur die Schreie der Vikunjas hörte, herrschte reges Treiben: Die Parkangestellten putzten Bäder und Toiletten, füllten Essensvorräte auf und öffneten den Gästen die Schlafsäle — Hunderten von Besuchern, zu denen Politiker, ein südkoreanisches Filmteam, Journalisten und Inka-Fans zählten sowie ein Engländer, der die ihm erwiesene Gastfreundschaft über Gebühr in Anspruch nahm.
Am Morgen des 24. Juni bildeten wir eine kilometerlange Reihe quer durch die Puna und spannten ein Seil mit bunten Plastikwimpeln aus, die in der sanften Brise leise raschelten. Der Tag war so sonnig, dass die Steppe, die ursprünglich so karg gewirkt hatte, plötzlich ihre vielfältigen Texturen offenbarte: die weißen bartartigen Büschel kleiner Kakteen, bekannt als viejos (alte Männer); die kreisrunden Kothaufen der Vikunjas. Auf das Kommando der Parkwächter hin setzten wir uns in Bewegung.
Als Junge habe ich in Schottland einmal eine der alljährlich stattfindenden Rotwildjagden miterlebt. Ich trug kratzige geborgte Tweedhosen und folgte zwei Wildhütern, die sich in den Highlands an eine große Herde Rotwild heranpirschten. Dies liegt jetzt über zwanzig Jahre zurück, und ich erinnere mich eigentlich nur noch an die Unannehmlichkeiten: dass man in dichtem Mückennebel durchs Heidekraut kroch und sich auf Kommando ganz still verhalten und mit der Landschaft verschmelzen musste. Hier jedoch streiften wir lärmend in knallbunten Goretex-Klamotten durch die Puna und glichen eher Festivalgästen als Jägern. Wie Betrunkene stolperten wir durch das Grasland und scheuchten seine Bewohner auf: Vikunjas, Viscachas, Füchse und flugunfähige junge Andengänse. Über uns stoben Scharen von Vögeln davon, als erstrecke sich vom Seil nach oben eine bis zu den Wolken reichende Sperre.
Das Vikunja ist für große Höhen wie geschaffen, sein Körper perfekt für den Transport der raren Sauerstoffmoleküle in 4000 Meter Höhe eingerichtet. Sein Herz, dessen Gewicht etwa 0,7 bis 0,9 Prozent des gesamten Körpergewichts ausmacht, ist ungefähr doppelt so groß wie das Herz von Säugetieren vergleichbarer Größe. Dieses kraftvolle Organ pumpt sauerstoffgesättige elliptische Blutzellen durch ein dichtes Netz aus Kapillaren in die Gliedmaßen. Über solche Vorteile verfügten wir Menschen leider nicht. Je höher wir kamen, desto reizbarer wurden wir, desto mehr brannte die kalte Luft im Hals. Wir krächzten, keuchten und fluchten. Wir stolperten über bärtige Kakteen, Abfälle, Schädel und Wirbel von Kameliden und bekamen von der Landschaft kaum etwas mit. Doch plötzlich tauchte in der Ferne ein muskatnussgroßer Fleck auf, etwa dreißig Vikunjas, die auf uns zustürmten, um eine Lücke in der Seil-Absperrung zu finden. »Schütteln, Schütteln!«, schrien die Parkwärter.
Bei der Annäherung an einzelne Vikunjas war ich mir stets ihrer Fragilität bewusst gewesen, der Zartheit ihrer Glieder und des schlanken Halses, doch jetzt, als die Herde auf uns zurannte, fühlte ich mich selbst fragil. Wir schüttelten das Seil, und die Plastikfähnchen flatterten wie bei einer Politdemo. Das Kollektivum, das Vikunjas bezeichnet, lautet tropilla, Kolonne, doch in Pampas Galeras sprachen viele Leute von olas — Wellen von Vikunjas. Als ich die Herde jetzt beobachtete, verstand ich, wie gut das Wort passte. Die Tiere brandeten an uns vorbei auf das Gehege zu, und ihre geschmeidigen Leiber schienen zu wogen — während ihr Kopf absolut reglos blieb, bewegte sich ihr Rücken wellenförmig, als werde ein Impuls durch sie hindurchgeleitet. Zu meiner Erleichterung drehten sie rechts von uns ab, folgten dem Seil und liefen wieder auf einen Zaun zu, der in der Ferne ins Gehege führte.
Direkt bei Sardinien und Sant’Antioco, auf der anderen Seite der Lagune, liegt eine weitere kleine Insel, San Pietro, einst berühmt für die dort alljährlich stattfindende Thunfischjagd — die Mattanza, das Abschlachten. Bis vor Kurzem fuhren die dortigen Fischer in Booten aufs Meer, um die in Schwärmen vorbeiziehenden Thunfische einzufangen. Die Tiere werden in ein System aus Netzen getrieben, die oft über einen Kilometer lang sind und verschiedene Kammern, camere, bilden, dann werden die vollen Netze auf die Boote gezogen. Dieses Bild fällt mir ein, wenn ich daran zurückdenke, wie die Vikunjas sich in dem Gehege hin und her warfen und mit ihren langen Hälsen gegen die Netze stemmten. So wie die Fischer in San Pietro hatten auch wir den Tieren nicht nachgestellt, sie nicht gejagt, sondern sie in die Enge getrieben. Auch hier gab es bedauerlichen »Beifang« — an den Rändern des Geheges sah ich einen Fuchs und zwei Andengänse, die den zierlichen Vikunjabeinen auszuweichen versuchten. Binnen Minuten wirbelte eine kleine Staubwolke auf und verhüllte die Bewegungen der Vikunjas, nur ihr an Holzrauch erinnernder Geruch hing noch in der Luft.
Der spanische Chronist Pedro Cieza de León hatte nicht Garcilaso de la Vegas romantische Bilder vom umweltfreundlichen Verhalten der Inka im Kopf, sondern schrieb: Wenn die wilden Guanakos zusammengetrieben wurden, »betraten manche Indios das Gehege mit Ayllos [Lassos], die verwendet werden, um die Beine zu fesseln, und andere, mit Stöcken und Knüppeln bewaffnet, packten die Tiere und töteten sie … sie [die Guanakos] versuchten zu entkommen, indem sie den Männern ins Gesicht spuckten und wild herumsprangen. Es heißt, es sei ein großartiges Spektakel gewesen — der Lärm, den die Indios beim Einfangen der Tiere machten, und der Anblick, wie die Tiere in alle Richtungen zu fliehen versuchten.«74 Anders als die Indios, die Pedro Cieza beschreibt, vergießen die Vikunjascherer von Pampas Galeras kein Blut; ihre Aufgabe ist viel anspruchsvoller und differenzierter als bloßes Abschlachten. Das Scheren ist eine uralte Technik, die mindestens bis zur Eisenzeit zurückreicht; allerdings geht es dabei meist um bereits domestizierte Tiere, nicht um Wildtiere, die den Menschen fürchten; ein Vikunja zu scheren, sein Faserkleid zu entfernen, schien ungefähr so sinnvoll, als würde man ein Zebra reiten oder eine Bisonherde hüten.75
Fasziniert von der Absurdität dieser Vorstellung, traf ich mich am folgenden Morgen in aller Frühe mit den Männern, die die Schur durchführen würden, und kletterte in einen japanischen Truck. Er war mit Seilen, Metallpflöcken, Elektroscheren und den zwanzig Männern beladen, die sich hinten auf der Ladefläche drängten. Ihr Boss, Canchito, ein wortkarger Mann, ehemals Viehhirte, der eine blaue Baseballkappe und eine große goldene Uhr trug, wandte sich mir zu. »Was für Tiere fangt ihr in eurem Land?«, fragte er. »Hierher kommen von überall Touristen. Die fangen daheim Elefanten, Zebras, andere Kamele. Was fangt ihr?« Aus Sorge, meine Antwort könnte ihn enttäuschen, zog ich es vor zu schweigen.
Wir bogen auf den Pfad, der durch die Puna führt, wurden auf den Holzplanken des Trucks heftig durchgerüttelt und bereuten die Unmengen Calentito (der für die Gegend typische Grog aus heißem Wasser, Zitronensaft, Rum und Rohrzucker), die wir am Abend zuvor getrunken hatten. Bei unserer Ankunft wirkten die Vikunjas ruhiger als am Vortag und kreisten gemächlich um den Felsen im Zentrum des Geheges wie eine flüssige zimtbraune Masse. Ich war erleichtert, dass vom Beifang des Vortags, dem Fuchs und den Gänsen, nichts mehr zu sehen war, bemerkte jedoch einen riesigen Anden-Kondor, der über uns kreiste, wohl in der Hoffnung auf Aas.
Einer nach dem anderen betraten die Männer das Gehege und packten die Vikunjas an Schwanz und Hals. Die Tiere bissen um sich, stießen Klagelaute aus, bockten und sträubten sich und schlugen wild mit ihren schlanken Beinen aus. Manche der Männer wurden an den Genitalien getroffen und wälzten sich stöhnend und fluchend im Staub. Wenn Canchito den Tieren die Hand auf den Rücken legte, um die Faserlänge zu messen, hob sich seine goldene Uhr leuchtend vom dunkleren, gedämpften Braun des Vikunjafells ab. War ein Vikunja erst kürzlich geschoren worden oder handelte es sich um ein junges Tier, wurde es sofort freigelassen. Andere wurden an den Rand des Geheges geführt und gegen Räude behandelt, eine von Milben verursachte Hautkrankheit (die es als Krätze auch bei Menschen gibt). Diese Tiere boten einen traurigen Anblick, ihre Bäuche und Lenden waren fast reptilienartig ausgetrocknet und verkrustet. Die Männer drehten sie auf den Rücken und hielten sie fest, während Norma Bujaico, der Tierarzt der Gemeinde, Bauch und Lenden der Tiere vorsichtig mit zähflüssigem schwarzem Motoröl bestrich, um die Parasiten abzutöten.
Canchitos Hand verschwand im Fell eines im Schwitzkasten fixierten Vikunjas. Reif für die Schur, wurde es von zwei Männern vorwärtsgezerrt und seine steif ausgestreckten Beine mit einem Seil an Metallpflöcke gefesselt. Nun lag das Tier, dessen Kopf durch die eigenen Beine fixiert wurde, wie ein Kadaver am Boden; die einzigen Lebenszeichen waren die blinzelnden Augen, die sich blähenden Nüstern und ein gelegentliches Ächzen. Auf ein Stichwort hin ertönte ein ratterndes Geräusch; der Vikunjascherer erschien und schwenkte ein elektrisches Schurgerät, um den letzten Akt zu vollführen.
Es wirkte eher, als stünde eine Opferung bevor, die rituelle Schlachtung eines wilden Tiers; es hätte mich nicht gewundert, wenn der Mann, der nun das Schurgerät ansetzte, dem Vikunja die Kehle aufgeschlitzt hätte, doch er fuhr nur zügig über den schlanken Körper des Tiers und schöpfte die hauchfeinen Fasern ab wie Schaum. Binnen zwanzig Sekunden war das Vikunja nackt, sein Fell lag in großen luftigen Knäueln aufgehäuft, und auf dem Körper des Tiers zeichneten sich die parallelen Schurlinien wie Trambahnspuren ab. Jetzt wurden die Fasern in eine Plastiktüte geschaufelt, die Seile gelöst, und schon sprang das verstörte Tier auf und lief davon.
Ich hob eine der Tüten auf, entnahm ihr ein Faserknäuel und genoss seinen süßen Duft. Es fühlte sich noch warm an, und ich hätte es am liebsten auseinandergezupft und mir um den Hals gelegt. Als ich die Wolle berührte, begriff ich, warum Europäer und Amerikaner so versessen auf die Vikunjafaser sind und sie mit fast magischen Worten beschreiben. »Sie ist dicht und buschig, extrem fein, seidenweich, wenn man sie berührt; und sie besitzt einen außergewöhnlichen Glanz«, schrieb der bolivianische Intellektuelle Vicente Pazos Kanki.76 Während die Wolle meine Hände wärmte, überkam mich das Verlangen, das Knäuel heimlich in meinen Rucksack zu stecken, obwohl ich andererseits ein gewisses Unbehagen empfand. Denn im Gegensatz zu Eiderenten oder Caniden mausern beziehungsweise haaren Vikunjas sich ja nicht, sondern behalten ihr Fell das ganze Jahr über als Kälteschutz; fror das Tier jetzt, dessen Fell gerade meine Hand wärmte?
Man hat wissenschaftlich erforscht, was Vikunjas empfinden, wenn man sie zusammentreibt und schert; man hat ihre rektale Temperatur gemessen, Herz- und Atemfrequenz, Kreatinkinasewert und Cortisolkonzentration im Blutserum.77 Laut Cristian Bonacic, einem chilenischen Ökologen, der in den 1990er-Jahren Richtlinien für die Lebendschur von Kameliden entwickelte, kann das Zusammentreiben und Scheren bei Vikunjas zwar akuten Stress auslösen, doch gibt es bislang kaum Beweise, dass der Chakku für eine deutlich höhere Mortalitätsrate verantwortlich wäre: Die Frage, ob der durch den Chakku verursachte Stress im akzeptablen Rahmen bleibt, ist eher eine Frage der persönlichen Ethik als eine Frage des Wildtiermanagements.
Ich sah die Vikunjas in der Ferne verschwinden, mit der Puna verschmelzen. Nach der Schur wirken sie hager, ihr angegrauter weißer Brustlatz hängt wie ein Bart herab. Eins der Tiere blieb plötzlich ruckartig stehen, weil es seine Familiengruppe nicht mehr fand. Es drehte sich auf den Hinterbeinen, sprang nach links und nach rechts und suchte den Horizont ab. Diesen stereotypen Bewegungsablauf vollführte es Dutzende Male, wie ein stotternder Sekundenzeiger, ein Aufzieh-Kamelid. Norma versicherte mir, dass die Tiere ihre Familiengruppen schließlich finden und zu ihnen zurückkehren, als sei nichts gewesen, ähnlich dem Verhalten der isländischen Eiderenten.
War der Chakku ein sinnvolles Modell? Konnte man Rhinozerossen die Hörner absägen und sie so vor der Ausrottung bewahren? Nach einigen Wochen in der Puna war ich mir da nicht mehr sicher. In einem Interview mit National Geographic führt Bonacic aus, dass sich — anders als bei den Rhinozerossen — die Vikunjapopulation in vielen Teilen Südamerikas größtenteils bereits erholt hatte, als der Handel mit ihren Fasern legalisiert wurde; dass der legale Handel mit der Vikunjafaser zu einer Zunahme der Wilderei geführt habe, nicht zu einem Rückgang, und dass es zwischen dem Chakku und dem Absägen der Hörner viele Unterschiede gebe, die Vergleiche erschwerten.78 Als eine für die Fortpflanzung der Rhinozerosse wichtige Waffe dient das Horn einem ganz anderen Zweck als die Faser. Während die Vikunjaschur ohne Betäubung stattfinden kann, müssen Rhinozerosse sediert werden, bevor man ihnen das Horn mit der Elektrosäge entfernt.
Jedenfalls bezweifeln einige Biologen, obwohl die Zahl der Vikunjas stark zugenommen hat, ob der Chakku für diese Tiere wirklich von Vorteil war. Jane Wheeler, eine amerikanische Archäo-Zoologin, die die Evolutionsgeschichte der Kameliden als Erste enträtselt hat, erzählte mir von ihrer Sorge bezüglich der gesundheitlichen und genetischen Folgen des Chakku. Jegliche Intervention, vom Zusammentreiben der Tiere bis hin zur obligatorischen Injektion von Antibiotika, gefährde die genetische Vielfalt der Vikunjas und mache sie anfälliger für Krankheiten und die Folgen des Klimawandels. Eine besondere Sorge sind die mittlerweile in Peru weitverbreiteten Zäune und ihre Auswirkungen auf die Sozialstrukturen der Tiere. »[Im Allgemeinen kommt in einer Vikunjagruppe] ein Männchen auf 5—7 Weibchen«, erklärte mir Jane. »Das Männchen vertreibt den Nachwuchs im Alter von 10—11 Monaten. Die männlichen Jungtiere schließen sich Junggesellengruppen an. Die Weibchen gesellen sich zu anderen Familiengruppen, die nicht genetisch verwandt sind. Idealerweise behindert diese Gesamtstruktur die Inzucht und stärkt die genetische Vielfalt, die wiederum die Überlebenschancen erhöht.«
In seinem Werk Das Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation spricht Charles Darwin von seiner Bewunderung für den Chakku der Inka und nennt ihn den »merkwürdigste[n] Fall von Zuchtwahl bei halbcivilisirten Völkern oder in der Tat bei allen Völkern, die ich aufgeführt gefunden habe«.79 Wie gute Wildhüter sonderten die Inka, wenn sie die Vikunjas zusammentrieben, die schwächsten Tiere aus und verschonten die stärksten, zum Nutzen der Spezies. Der moderne Chakku könnte unterschiedlicher nicht sein. Die Vikunjas wurden zusammengetrieben, in einem Gehege gefangen, wie Schafe geschoren, sie erhielten Injektionen, wurden geölt wie Maschinen, gehandelt wie Vieh — man ging mit ihnen wie mit Nutztieren oder Schutzgütern um. Im Lauf dieser Entwicklung veränderten sich die Tiere allmählich: Schwächere Tiere überlebten, Tiere aus verschiedenen Gruppen wurden gemischt und gekreuzt, und Zäune verfälschten ihr normales Brutverhalten. In manchen Gemeinden explodieren jetzt die Vikunjapopulationen, was die ohnehin durch Versteppung und Klimawandel beanspruchten Habitate noch mehr belastet. »Der reinste Albtraum«, meinte Jane kopfschüttelnd.
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bat Kaiserin Joséphine, die Gemahlin Napoleons, den spanischen König Karl IV., ihr für ihre Residenz in Malmaison eine Kamelidenherde aus Südamerika zu schicken. Ihren Instruktionen gemäß verließen auf einer Fregatte mit dem Ziel Spanien sechsunddreißig Tiere Buenos Aires. Die Reise gestaltete sich von Anfang an schwierig. Während der Überfahrt wurde die Fregatte vermutlich von den Briten attackiert, und ein Teil der Nahrungs- und Futtervorräte ging verloren. »[Die Tiere] wurden dann mit Kartoffeln, löffelweise auch Mais, Heu und Kleie gefüttert«, berichtete Don Francisco de Theran, ein Spanier, der sich später um die Vikunjas kümmerte.80 »Solange sie noch Kartoffeln hatten, ging es ihnen sehr gut; doch als dieses Futter zur Neige ging, wurden sie krank, und viele von ihnen starben.«
In den Jahrhunderten nach der Eroberung brachten die Spanier Schweine, Schafe und Pferde in die Neue Welt und verdrängten Herden von Kameliden, die sie für minderwertig hielten.81 Es entzückte mich, dass die Kaiserin dies umgekehrt und diese seltsamen Tiere nach Europa geholt hatte, die sie als ovejas peruanas oder »peruanische Schafe« bezeichneten.82 Als die Fregatte schließlich in Cádiz eintraf, hatten nur sieben der sechsunddreißig Kameliden überlebt, von denen mindestens zwei Vikunjas waren. Es kam noch schlimmer; nachdem die ausgehungerten Kameliden in Spanien angekommen waren, standen sie dort im Zentrum einer veritablen politischen Krise.
Wie der schottische Zoologe James Rennie berichtet, trafen sie genau zu Beginn der Erhebung des spanischen Volks ein, das sich gegen Manuel de Godoy wandte — den Mann, der die Ankunft der Kameliden ausgehandelt hatte. »Aus Hass gegen ihren früheren Minister«, schreibt Rennie, »stand die Bevölkerung kurz davor, die Lamas ins Meer zu werfen.«83 Doch anscheinend wurde keines der Kameliden in den Atlantik gestoßen; stattdessen wurden sie durch den Gouverneur von Cádiz gerettet und Don Francisco de Theran anvertraut, dem Leiter eines Akklimatisationsgartens in der Stadt Sanlúcar de Barrameda. Theran, der sich für exotische Arten begeisterte, schloss die Tiere ins Herz, dokumentierte ihre Gewohnheiten und ließ sich sogar einen Hut aus Kamelidenfasern machen.84 Von ihm versorgt, lebten die Tiere offenbar in dem Garten, bis sie später, während der französischen Besetzung Andalusiens, dem Schutz von Napoleons Generalmarschall Soult unterstellt wurden. Bedenkt man die raue Überfahrt, die politische Instabilität in Cádiz und die Unruhen der französischen Besatzung, nimmt es nicht wunder, dass Kaiserin Joséphines Experiment kein gutes Ende fand. Wie ein späterer Beobachter berichtet, verendeten die Kameliden binnen drei Jahren, ohne Nachwuchs zu hinterlassen.85 Doch Theran glaubte, dass die Episode einen wichtigen Präzedenzfall darstellte. »Nach dem Experiment …«, schrieb er, »bin ich überzeugt, dass die Aneignung des Vikunjas als Haustier zu den interessantesten Eroberungen zählen wird, die Fleiß und Geduld dem Tierreich abgerungen haben.«86 Während des nächsten Jahrhunderts sollte die »Aneignung des Vikunjas«, wie Theran es formulierte, bei gewissen Europäern zur Obsession werden. Entzückt von der seidig weichen Wolle der Tiere, schrieben sie über diese Aneignung wie über einen Preis, den es zu erringen, einen Gipfel, den es zu erobern, oder einen Pol, den es zu erreichen galt. Solange die Vikunjas kontrolliert und in Gefangenschaft gezüchtet werden konnten, war man sich ihrer kostbaren Wolle gewiss. Der ehrgeizigste Befürworter der Domestizierung, war ein britischer Journalist namens William Walton. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts schlug Walton folgenden Plan vor: Die »Indios« Südamerikas sollten die Vikunjas züchten und dafür von der mita, der spanischen Grundsteuer, verschont bleiben.87 Walton stellte sich vor, die Vikunjas könnten nach Europa gebracht werden und hier eine neue Industrie begründen. »Die Berge von Wales«, schrieb er, »und die von Cumberland, wo es reichlich Moos gibt, würden ein passendes Klima darstellen, so gut wie fast alles unbewaldete Hügelland an unseren nördlichen Meeresküsten.«88 Aus den Berichten von Männern wie Theran oder Walton spricht große Zuversicht, dass man die Vikunjas zähmen könnte. »Es ist eine Tatsache« schrieb Walton, »was durch uns selbst bewiesen wird, dass das Vikunja, wenn man es jung bekommt, gezähmt und domestiziert werden kann, dergestalt, dass es mit Menschen in einem Cottage lebt und den Kindern als Spielgefährte dienen kann.«89 Doch die von Walton imaginierten Szenen sollten nie Wirklichkeit werden; weder zähmten »Indios« in Peru das Vikunja; noch zogen Herden von Vikunjas durch die Alpen, Pyrenäen oder über englische Wiesen. Obwohl zumindest junge Vikunjas gezähmt werden können, ist es in den letzten Jahrhunderten niemandem gelungen, sie in Gefangenschaft zu züchten, es sei denn, sie wurden mit Alpakas gekreuzt.90 In den 1950er-Jahren waren dann viele Forscher zu dem Schluss gelangt, dass den Vikunjas, wie auch den Zebras, ein Zustand »fortwährender Wildheit« bestimmt ist.91
Als ich Canchito und seinen Männern beim Einfangen der Vikunjas zusah, konnte ich nachvollziehen, warum so viele Leute glaubten, dass den Vikunjas ein anderer Weg als uns bestimmt sei und unsere Bahnen sich niemals kreuzen würden. Und doch erwies sich der Glaube, man könne Vikunjas nicht domestizieren, später als höchst fragwürdig.92 In den 1980er-Jahren untersuchte Jane Wheeler etwa eine Tonne Knochen von Kameliden und Rothirschen aus der Telarmachay-Höhle in den Zentralanden, die achttausend Jahre lang von Menschen bewohnt worden war. Wheeler verglich diese Knochen mit heutigen Kameliden und schloss, dass die menschlichen Bewohner der Halbhöhle die Vikunjas vor sechs- bis siebentausend Jahren tatsächlich domestiziert hatten und dass dabei schließlich das heutige Alpaka entstand, eine der beiden domestizierten Kamelformen Südamerikas; Wheelers Befund wurde später durch eine DNA-Analyse bestätigt.93
Wheelers Forschung widerlegte die weitverbreitete Ansicht, präkolumbianische Völker seien zur Domestizierung der Vikunjas nicht imstande gewesen oder hätten kein Interesse daran gehabt: Wheeler bewies, dass die Männer und Frauen, die in der Telarmachay-Höhle gelebt hatten, bereits Tausende von Jahren vor der Ankunft der Spanier etwas erreicht hatten, was dem »modernen« Menschen versagt geblieben war. »Niemand wollte es glauben«, sagte Jane Wheeler. »Die Menschen neigen zu der Ansicht, Eingeborene, ›Indios‹, seien zur Domestizierung von Vikunjas oder Guanakos nicht fähig gewesen […] Die denken also, wenn wir — moderne Menschen, mit unserem Kenntnisstand, unserer Wissenschaft — die Vikunjas nicht domestizieren können, wie sollen es dann diese ›dummen unwissenden Indios‹ geschafft haben.«
Ich fand Wheelers Forschung sehr schlüssig, ihre ernsten Fragen zum Thema Fortschritt und Technologie und unserer Vertrautheit mit der Natur. Anders als die Menschen, die heutzutage Vikunjas einfangen, waren die Männer und Frauen von Telarmachay den Vikunjas gefolgt, als die Gletscher zurückwichen, sie hatten die Tiere gejagt und von ihrem Fleisch gelebt. »Um erfolgreich jagen zu können«, erklärte mir Wheeler, »muss man sich genau mit einem Tier befassen, muss wissen, wie es sich anpasst; man muss alles über dieses Tier wissen: wo man es findet, wie viele männliche und weibliche Tiere es gibt und so weiter — das setzt sehr fundierte Kenntnisse voraus.«
Ich rechnete all die Ansprüche zusammen, die sich auf den Leibern dieser Vikunjas türmten: Die comunidad und die Textilfirmen wollten ihre Fasern, einen Rohstoff, aus dem sich Profit schlagen ließ; die Politiker brauchten sie als nationalistisches Requisit, um abgelegene Kommunen an den Staat zu binden; die Touristen suchten die Begegnung mit einem Wildtier. Und auch ich wollte etwas von den Vikunjas, nämlich meine Geschichte, ein weiteres Objekt. Wir waren wie Gläubiger, die Schlange standen und auf ihr »Pfund Fleisch« von diesen wilden Geschöpfen warteten, ihre Schulden eintrieben, den Preis für ihre Wildheit. Es floss kein Blut, sie wurden nicht geschlachtet, nicht erlegt, und doch hatte ich das Gefühl, als sei in Pampas Galeras etwas geopfert worden. Meine Sorge war, dass die Vikunjas — die uns ein Naturschauspiel bieten, als ein Nationalsymbol und Wolllieferanten herhalten mussten — unter dem Gewicht unserer konkurrierenden Begehrlichkeiten zusammenbrechen könnten. Und doch zeigten all diese Ansprüche auch, dass es den Vikunjas gelungen war, sich zu behaupten, obwohl diese Welt von einer Spezies beherrscht wird, die die Natur allmählich zerstört. Sich selbst überlassen, hätten sie vielleicht das Schicksal der Guanakos, ihrer wild lebenden Verwandten, geteilt, deren Bestand in Peru heutzutage akut gefährdet ist.94
Derlei Fragen spielten keine große Rolle im Leben der Vikunjascherer, die ganz in der Gegenwart lebten und nur die Bedürfnisse ihrer Familien im Blick hatten. Ich hatte viel von der Armut in Ayacucho, Perus ärmster Provinz, gehört, doch erst als ich die Schuhe der Vikunjascherer sah, nahmen die abstrakten Einkommenszahlen konkret Gestalt an. Die Männer trugen meist alte Turnschuhe und Armeestiefel, zerschlissen und voller Löcher. Nach der Schur setzen sie sich neben das Gehege, erschöpft nach zwei Arbeitstagen in dieser Höhe, und tranken Bier. Das Bieraroma mischte sich mit dem rauchigen Geruch der Wolle. Feierlich ließen die Männer einen Plastikbecher herumgehen, wie bei einer Zeremonie, während der Leiter des Chakku, ein ehemaliger Unteroffizier der peruanischen Armee, sie mit ein paar abgedroschenen Scherzen unterhielt. »Acht Weibchen auf jedes Männchen!«, grölte er. »Verdammt, ein Vikunja müsste man sein!«
Zwischen dem Reservat und dem Bestimmungsort der Wolle, dem Unternehmen Loro Piana im norditalienischen Roccapietra, liegt eine Reise von mehreren Tausend Kilometern. Zuerst werden die Fasern nach Lucanas gebracht, einer kleinen Stadt weiter nördlich an der kurvenreichen Straße nach Cuzco. In Lucanas wird die Wolle gereinigt, das lange Deckhaar vom Wollhaar getrennt, ein Arbeitsgang, der von einheimischen Frauen durchgeführt wird; dann wird die Wolle gewogen, schließlich unter bewaffneter Begleitung nach Lima in ein Lagerhaus gebracht und dann dem Modeunternehmen Loro Piana übergeben, exklusiver Abnehmer aller von der Gemeinde produzierten Fasern. Es heißt ja oft, dass die Konsumenten kaum etwas über die Ursprünge der gekauften Produkte wissen, dies trifft umgekehrt aber genauso zu: Die Vikunjascherer hatten keine Vorstellung vom Endpreis der verarbeiteten Faser und kannten nur den Veräußerungswert der Rohwolle. Bei jedem Fertigungsschritt verliert die Faser an Gewicht und gewinnt an Wert, sodass Fasern im Wert von ursprünglich 200 Dollar am Ende der Reise in Läden in New York, London und Mailand dann 10.000 Dollar wert sind.95 Wenn die Faser in die Läden gelangt und Models statt Vikunjas schmückt, riecht sie nicht mehr nach Rauch und Tier und besteht nur noch aus dem feinen Unterhaar, ohne das Deckhaar; dessen grobe Beschaffenheit ist einer seidenweichen Textur gewichen, und das darf man angesichts des Preises auch erwarten: Loro Piana bietet einen Vikunjaparka für 26.495 Dollar an.96 Ich begleitete die Faser auf der ersten Etappe ihrer Reise, indem ich mit dem Combi nach Lucanas fuhr. Mir graut immer davor, in diesen Kleintransportern zu sitzen, neben einen Campesino, ein Huhn oder ein Kind gezwängt. Hier, in über 4000 Meter Höhe, kriechen die Combis ächzend die steilen, gewundenen Straßen hinauf, winzig klein im Vergleich zu den 10-Tonnen-Trucks aus Cuzco und Lima, deren Fahrer (wie ich aus eigener Anschauung wusste), nur von ein paar Stunden Schlaf, Kokablättern und der melancholischen Musik Ayacuchos leben. Kein Wunder, dass die Einheimischen sich während der Fahrt bekreuzigen, immer wieder zum obligatorischen Rosenkranz hinblicken (der am Rückspiegel hängt und je nach Steigung in eine andere Schieflage gerät), und dass überall am Straßenrand niedergelegte Blumen und Bildstöcke an verunglückte Menschen erinnern.
Ich ließ meinen Blick lieber in die Ferne schweifen, in der Hoffnung, ein Guanako zu entdecken. Man erspäht diese scheuen Tiere nur selten, trotz ihrer Größe, denn im Gegensatz zu den Vikunjas gibt es in ganz Peru nur wenige Tausend Guanakos. Auf der Fahrt nach Lucanas sah ich jedenfalls kein einziges, aber wenigstens lenkte mich das Ausschauhalten von meiner Angst ab. Als es dann Richtung Lucanas endlich wieder bergab ging, ließen meine Kopfschmerzen nach, das Zittern legte sich, ich sah wieder Eukalyptusbäume und Vieh. Mitten in Lucanas stieg ich aus dem Combi, passierte Comedores, Lehmziegelhäuser, eine Kirche mit einem Wellblechdach, ein Museum mit Artefakten aus der Prä-Inka-Zeit und eine Schule und blieb schließlich vor einem Betonmonument stehen, dessen Inschrift teilweise abgeblättert war. Sie lautete: »Willkommen in der Hauptstadt des Vikunjas«.
Die Einwohner von Lucanas identifizieren sich mit dem Volk der Lucanas oder Rucanas, deren zerfallene Behausungen den Berg übersäen, von dem man auf die Stadt blickt.97 Von den Einwohnern Lucanas’, das von den Inka vermutlich Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erobert wurde, heißt es in spanischen Chroniken, sie hätten dem Inka-Herrscher als Sänftenträger gedient und seien für ihre »gleichmäßige Gangart« und hellblaue Tracht bekannt gewesen. Als die Spanier kamen, wurden die Einwohner der Stadt wie alle Gruppen innerhalb des Inka-Reichs in Encomiendas aufgeteilt und gezwungen, Abgaben zu leisten. Es gilt dasselbe wie für den Chakku, dass nämlich die Geschichte dieses Orts kaum noch zu rekonstruieren ist, obwohl man in Pulapuco, den antiken Ruinen oberhalb der Stadt, die für die heutigen Bewohner große symbolische Bedeutung haben, etwas vom Leben der Lucanas erahnen kann.
Selbst die jüngere Geschichte des Orts Lucanas ist schwer zu rekonstruieren, wenn auch aus anderen Gründen. An Allerseelen 1987 fielen die Rebellen des Leuchtenden Pfads über Lucanas her, brannten Geschäfte nieder und ermordeten zahlreiche Einwohner. »Am Morgen sahen wir überall Leichen in Lucanas«, sagte José Héctor Quispe Mitma, der Bürgermeister der Stadt, der damals zwölf Jahre alt war. Kurz darauf, sagte er, habe die peruanische Regierung die Armee und die Todesschwadronen der Sinchis nach Lucanas gesandt, um Guzmáns Guerillatruppe zu vernichten. »Viele Menschen zogen nach Westen«, sagte Héctor. »Lucanas war praktisch ein Friedhof.« Es habe Jahre gedauert, sagte er, bis die ländlichen Gemeinden, die Rondas Campesinas, endlich die Rebellen vertrieben hatten.
Im Gegensatz zu Pampas Galeras sieht man in Lucanas weder Einschusslöcher noch die Umrisse marxistischer Symbole, aber die Wunden in diesem Ort wirken noch frisch, die Gräber wie eben erst ausgehoben. Bei meinem ersten Besuch saßen die Einwohner gebannt vor ihren alten Fernsehgeräten — auf den Bildschirmen flackerten Bilder, die die entsetzten Einwohner von Paris zeigten. Es war die Woche des Bataclan-Anschlags in Frankreich, und man sah Aufnahmen von der Schießerei in der Konzerthalle. In Lucanas wussten nur wenige Menschen, wo Frankreich liegt, und verstanden weder die Sprache der Opfer noch die Motive der Attentäter, aber sie begriffen die essenzielle Bedeutung von Terror. Trotz einer weitverbreiteten Untersuchung des peruanischen Konflikts 2003 warten in Lucanas bis heute viele Menschen auf staatliche Entschädigung und auf ein Standardschreiben, das die Ermordung oder Verstümmelung eines Familienmitglieds bestätigen würde.
Obwohl also die Zentralregierung noch nicht allen Ansprüchen gerecht geworden ist, bot sie der Gemeinde Lucanas etwas anderes an: das Nutzungsrecht an den Vikunjas. Vor 1991 hatte in Lucanas niemand die Vikunjas als natürliche Ressource betrachtet; die Kameliden waren höchstens lästig, weil sie mit dem Nutzvieh im Reservat konkurrierten. Doch jetzt, durch einen Federstrich Fujimoris, hatte sich unedles Metall in Gold verwandelt, und Pampas Galeras, Heimat einer riesigen Vikunjapopulation, barg die Verheißungen einer neu entdeckten Goldmine. In Goldrauschstädten findet man manchmal Hinweise auf den Reichtum, der aus der Erde geholt wurde: imposante Stadthäuser, gut besuchte Kneipen oder gut gekleidete Menschen. Doch als ich über Lucanas’ Hauptplatz ging, deutete nichts auf Reichtum hin, auf die Banknotenbündel, die Fujimori 1991 aus einem Hubschrauber geworfen hatte. Die Häuser aus Betonschalsteinen, der staubige ungepflasterte Platz, die kleinen Lokale, wo man Truckern Hühnerfußsuppe servierte, die kleinen Läden, die alle die gleiche Auswahl einheimischer Waren anboten, all dies sprach eher von Armut als vom Überfluss einer Boomtown. Viele Einwohner leben immer noch ohne Elektrizität und fließendes Wasser, schlafen unter groben Ponchos aus Schafwolle, nicht aus Vikunjafaser.
»15—20 Jahre Produktion«, sagte mir Martínez, als wir uns in seinem Haus trafen, einem eleganten lindgrünen Gebäude direkt an der Hauptstraße. »Was gibt es schon in Lucanas? Also ganz konkret? Sie haben ja schon das Büro gesehen, die Schulhalle, den Traktor und zwei schwere Maschinen … Das ist alles. Sonst gibt es hier nichts.« Seit dem Start des Chaccu 1990 ist Lucanas einer der größten Faserproduzenten Perus. Der Ertrag beläuft sich auf 200 bis 700 Kilo pro Jahr, mit Preisen zwischen 200 Dollar und 500 Dollar pro Kilo.98 »Das Geld wurde nie an die Comuneros verteilt. Nur einmal vielleicht, vor sechs oder sieben Jahren. Da bekam jeder Comunero 100 Dollar, das war’s. Geld erhielten die Gemeinden damals nur fürs Schlachten«, sagte Martínez mit Bezug auf Bracks Initiative in den 1980er-Jahren.
In meinem alten Job als Finanzermittler ging es darum herauszufinden, wohin bei großen Transaktionen Geld geflossen war. Ich habe E-Mails, Kontoauszüge und Befragungsniederschriften überprüft, auf der Suche nach einem erhellenden Hinweis, einer Kontonummer oder einem Namen auf einem Dokument. Hatte ich die Lösung gefunden, überlief mich jedes Mal ein euphorischer Schauer. Doch in Lucanas fand ich keine solche Lösung. Jeder in der Stadt hatte seine eigene Vermutung darüber, wohin das Geld geflossen sein könnte und warum die Vikunjas dem Ort nicht zu Wohlstand verholfen hatten, jeder machte andere Faktoren dafür verantwortlich: die internationalen Modefirmen, die für die Wolle keine fairen Preise zahlten; die Wilderer, die die Vikunjas töteten; die hohen Investitionskosten für die Zäune; die Zwischenhändler in der Lieferkette; Zinszahlungen auf Kredite, die die Gemeinde aufgenommen hatte; Korruption oder einfach Diebstahl. Niemand, so schien es, wusste irgendetwas Konkretes, und eigentlich stand nur eines fest — dass der durch die goldene Faser verheißene Wohlstand sich als »espejismo«, Fata Morgana, erwiesen hatte.99
Seit Beginn des Chakku wurde der Verkauf der Faser durch eine Vereinigung namens Sociedad Nacional de la Vicuña (SNV) gemanagt, die nationale Vikunja-Gesellschaft.100 Gegen eine Abgabe vonseiten der Faserproduzenten handelte die SNV den Verkauf der Faser an internationale Firmen wie Loro Piana aus. Theoretisch war diese Aufgabenverteilung für die Gemeinden sinnvoll, weil es ihre Verhandlungsposition auf dem internationalen Markt stärkte. Bei Handelswaren von Wolle bis Öl erfüllen Wirtschaftsverbände einen ganz ähnlichen Zweck.
Doch in der Praxis stand die SNV vor Problemen: Die Gemeinden beschwerten sich darüber, dass fällige Zahlungen ausblieben. Nachdem sich die SNV 2004 aufgelöst hatte, verhandelten die einzelnen Gemeinden jetzt direkt oder über Zwischenhändler mit internationalen Firmen.
Martínez gab den Gemeinden die Schuld. »Es existiert kein geeignetes Management«, sagte er. »Wenn Sie zu den Versammlungen in Lucanas gehen, werden Sie erleben, wie sich die Klingen kreuzen.« Auf seinen Vorschlag hin nahm ich ein paar Stunden an einem Meeting teil, bei dem die Comuneros über die Bedingungen eines Vertrags mit Loro Piana berieten. Anfangs herrschte noch eine recht freundliche Atmosphäre, doch binnen einer halben Stunde schrien sich alle an, es hagelte gegenseitige Vorwürfe, und das Vikunja wurde zum Blitzableiter für alle Missstände, Treulosigkeiten und Neidereien. »Früher habe ich mich als Kommunitarist gesehen«, erzählte mir Martínez. »Heute sage ich: ›Entweder ihr ändert euch, oder es wird euch irgendwann nicht mehr geben.‹ … So wie die Kommunen jetzt sind, wäre es wirklich nicht schade um sie.«
Da Altiplano und Puna außer den Erzbauminen wirtschaftlich wenig Interessantes zu bieten haben, bleibt das Gebiet weitgehend vom Zugang zu den Märkten ausgeschlossen.101 Martínez sah die Geschichte der Vikunjas als Teil dieser Geschichte der Isolation. Verwurzelt in der Vergangenheit, im Lebensrhythmus der rein auf Selbstversorgung ausgerichteten Subsistenzwirtschaft, hatten sich die Kommunen weder den mit dieser hochwertigen Ressource verknüpften Anforderungen noch dem Kapitalzufluss gewachsen gezeigt. Martínez, der auch im Meeting saß, klärte seine Nachbarn auf, welche Möglichkeiten internationalen Firmen zur Verfügung standen. »Die haben Steuerberater, die haben Rechtsanwälte!«, brüllte er sie wie Schüler an. Er drängte sie, die Strukturen der Comuneros aufzubrechen, private Firmen zu gründen und einheimische Produkte zu verkaufen, von Eukalyptus über Käse bis zur Vikunjafaser. »Ich sage ihnen [der Gemeinde], dass sie sich weiterentwickeln müssen oder untergehen werden.«
Martínez war der Ansicht, Geschichte verlaufe linear, sei eine Entwicklung vom Primitiven oder »Idiosynkratischen« hin zu den modernen Instrumenten des Kapitalismus. So wie man von Zäunen, Pferchen oder Elektroscheren spricht, sprach er vom Kapitalismus als einer Technologie, der einzigen Möglichkeit für Lucanas, sich zu entwickeln. »Ich muss zugeben, der Kapitalismus hat durchaus seine Instrumente — und genau die greifen hier … Meine romantische Ader sagt mir, dass auf den Kapitalismus der Sozialismus folgt, aber erst dann, wenn die Menschheit sich verändert.« Ich hörte aber auch andere Geschichten. Für manche Einwohner von Lucanas war Martínez kein Prophet, sondern einfach nur ein Ingenieur, der die Gegebenheiten seinen eigenen kommerziellen Interessen angepasst und den Wohlstand seit den 1990er-Jahren — als er seinen Job bei dem staatlichen Regulierungsorgan CONACS verlor — eher konzentriert als verteilt hatte.
»Als ich CONACS verließ, war das eine sehr schlimme Zeit für mich«, erinnerte er sich. »Ich hatte einen kleinen Betrieb mit Jakobsmuscheln … im Paracas National Reserve. Eines Tages starben mir alle Muscheln weg; das gesamte investierte Kapital war verloren, ein großes Problem.« Er machte eine Scheidung durch und musste Alimente für seinen Sohn bezahlen, der damals noch zur Schule ging. »Ich kam nach Lucanas und bot [der Gemeinde] meine Dienste an. Ich hätte nicht mal besonders viel verlangt.« Doch die Gemeinde lehnte ab, und so gründete er seine eigene Firma, Almar, die zum größten Zwischenhändler auf dem Fasermarkt wurde und das Monopol der SNV aushöhlte, bevor diese sich dann endgültig auflöste. »Als ich wieder ein bisschen Kapital beisammenhatte, begann ich Fasern zu kaufen.« Heute zählt Martínez zu den größten Playern auf dem Fasermarkt. Seit der Gründung seiner Firma hat er seine Aktivitäten gestreut, repräsentiert Loro Piana in Peru, handelt Fasern auf eigene Rechnung und trifft mit lokalen Kommunen Production Sharing Agreements. Vielseitig, rastlos und flexibel schien er mit allen und jedem zusammenzuarbeiten — nur nicht mit der Gemeinde, in der er aufgewachsen war. Als ich ihn zu Hause besuchte, wirkte er erschöpft, hatte Tränensäcke unter den Augen. Er verteilte gerade Bargeld an seine Scherer, junge Männer aus Lucanas, die von Ort zu Ort fahren, um Vikunjas zu scheren. Wenn Martínez durch Lucanas ging — Blazer, elegante Schuhe, frisch gebügeltes weißes Hemd —, wirkte er in seinem vom Marxismus geprägten Heimatort wie ein Fremder. So unterschiedlich die Menschen hier über die Marktwirtschaft dachten, so geteilt waren auch die Meinungen über Martínez und reichten von Bewunderung bis hin zu Misstrauen. »Entweder man hasst mich oder man liebt mich«, meinte Martínez demonstrativ gleichgültig. Da er die Auseinandersetzungen leid ist, meidet er jetzt den Chakku der Gemeinde, das Ereignis, das er selbst mit ins Leben gerufen hat.
Es war nicht leicht, Martínez’ Geschichte aufzudröseln, all die Behauptungen und Gegenbehauptungen, die endlosen Vorwürfe und Beleidigungen. Doch eines stand außer Frage: der freie Markt hatte im Vikunjahandel triumphiert und die alten genossenschaftlichen Strukturen, die das Leben in Lucanas einst geprägt hatten, infrage gestellt.102 Während staatliche oder halbstaatliche Organe wie SNV und CONACS sich aufgelöst hatten, entwickelte sich Martínez’ Firma so erfolgreich, dass sie inzwischen einen Großteil des Handels mit peruanischen Fasern kontrolliert. Im Jahr 2000 unterzeichnete die peruanische Regierung ein Gesetz, das Dekret 053, das es nun auch privaten Landbesitzern erlaubte, ihre Vikunjas zu scheren, so wie es die Campesino-Gemeinden taten. Die Schur ist längst keine Campesino-Tradition mehr, denn jetzt besitzt jeder das Schurrecht, der bereit ist, in Peru Land zu kaufen. Und tatsächlich erwarb die Firma Loro Piana im Jahr 2008 Grundbesitz und hat so das Recht, Vikunjas zu scheren, ganz ohne die Mithilfe der Gemeinden, auf die sie in der Vergangenheit einmal angewiesen war.
In seinem Essay über Inka-Kleidung erwähnt der Historiker John Murra, dass die Inka jedes Mal, wenn sie ein Volk bezwangen, die Besiegten mit Stoffen beschenkten. Die Chronisten sahen dies als Beweis für die Großzügigkeit der Inka, ihren »Feldzug der friedlichen Infiltration«, doch Murra beurteilte diese Geschenke anders: »Das obligatorische Verteilen begehrter Kulturgüter, in einer geldlosen Gesellschaft mit relativ kleinen Märkten, kann als erster Schritt zur Ankurbelung eines Abhängigkeitsverhältnisses gewertet werden, da die ›Großzügigkeit‹ des Eroberers zur Gegenleistung verpflichtete, also dazu, regelmäßig eigene handwerkliche Erzeugnisse an die Lagerhäuser in Cusco zu liefern.«103 Vielleicht hatte Fujimoris Vikunjageschenk etwas mit dem Geschenk der Inka gemeinsam. Mit dem Schurrecht, anfangs als Akt der Großmut betrachtet, hielt heimlich der Neoliberalismus Einzug und höhlte unbemerkt die kommunalen oder genossenschaftlichen Strukturen aus.104 »Ganz klar, das Vikunja wurde privatisiert«, sagte mir Martínez.
Eines Tages wird die Vikunjafaser womöglich jedem anderen Agrarrohstoff gleichen: Bereits jetzt produzieren private Großgrundbesitzer, die von Skaleneffekten profitieren, in Peru die meisten Fasern. Martínez prophezeit, der traditionelle Chakku werde vermutlich verschwinden und durch spezialisierte Scherer-Teams ersetzt werden, die eine viel größere Anzahl von Tieren bewältigen. Die einzige Barriere, die der Marktkonsolidierung noch im Wege steht, ist das Verbot des Handels mit Jungtieren, aber Martínez hofft, dass dieses Verbot aufgehoben wird, um die Produktionseffizienz zu steigern. Aber das kümmert in Lucanas ohnehin kaum noch jemanden. »Niemand lebt mehr für die Landwirtschaft; niemand lebt mehr für das Vikunja«, sagte mir der pensionierte Vicunero Manuel Cabrera. »Der Bergbau ist attraktiver. In fünfzehn Tagen kann man in der Mine so viel verdienen wie das, was die Gemeinde [durch den Chakku] verdient.«
Ich ging den Hügel hinauf, der über die Stadt blickt, und erreichte Pulapuco, die präkolumbianische Siedlung der Lucanas. Ich durchstreifte die Steinruinen, die Spuren dieser antiken Siedlung, die ins Inkareich integriert worden war. Es wurde Abend; die Sonne ging unter und tauchte die Wellblechdächer in glühendes Rot. Jetzt kamen die Vikunjas in den höheren Lagen von Pampas Galeras zur Ruhe. So wie sich die Stadt sichtlich verändert und ihre landwirtschaftlichen Strukturen nun von Marktstrukturen abgelöst werden, so verändern sich auch die Vikunjas, fast unbemerkt. Vielleicht werden ihre Fasern allmählich dicker, wie damals bei ihren domestizierten Verwandten in der Telarmachay-Höhle. Vielleicht werden auch wir eines Tages das Vikunja domestizieren und damit einen bereits vor Jahrtausenden vollzogenen Prozess wiederholen — nicht weil wir Wärme oder Nahrung brauchen, sondern wegen unserer seltsamen Beziehung zur Natur und den Stoffen, die sie uns schenkt.