Nahe Bristol, nicht weit vom Ort meiner Kindheit entfernt, befindet sich ein viktorianischer Landsitz, Tyntesfield. Durch sein Labyrinth aus Korridoren und Schlafzimmern streifte ich auf der Suche nach Spuren von Eiderdaunen. Nachdem ich sechs anderen Objekten gefolgt war, bedeutete die Eiderdaunensuche mehr für mich als nur ein Hobby; sie war zu einer Notwendigkeit geworden. Zibetkaffee, Muschelseide und dann auch noch Tagua hatten die mit ihnen verknüpften Verheißungen nicht erfüllt, ihre Geschichte hatte sich der Idealisierung, gewissen Schablonen widersetzt; darum beruhigte mich der Gedanke, dass wenigstens die Eiderdaune noch die Möglichkeit eines Ausgleichs bot, obwohl ja auch hier, wenn man an die Fuchsjagd dachte, blutrünstige Kompromisse nötig waren. Im Katalog des National Trust hatte ich gelesen, in Tyntesfield gebe es noch mit Eiderdaunen gefüllte seidene Bettüberzüge. Doch als ich die Schlafzimmer betrat, merkte ich, dass es sich vom Volumen und Gewicht her nicht um Eiderdaunenbetten handeln konnte: Man hatte die Bettüberzüge einfach nur mit Federn toter Enten und Gänse gefüllt.
Als ich mir die etymologische Entwicklung des Worts Eiderdaune ansah, staunte ich nicht schlecht: Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert war das Wort Eiderdaune von der Eiderente abgekoppelt worden; es bezog sich nun nicht mehr auf die Daunenfeder einer Eiderente, sondern stand sowohl für ein Federbett mit beliebiger Füllung als auch für einen dichten, schweren Stoff.1 In einer Debatte des britischen Parlaments in den 1970er-Jahren verspottete der Labour-Politiker Stan Orme die Abgeordneten im Unterhaus und erklärte, sie seien »der Eiderdaunen-Bande beigetreten«.2 Damit meinte er natürlich nicht, dass seine politischen Gegner es auf Entenfedern abgesehen hätten, sondern nur, dass sie, statt über Details der Gewerkschaftsgesetze zu diskutieren, faul im Bett gelegen hätten. Mich verwirrte die Ausweitung des Begriffs Eiderdaune im neunzehnten Jahrhundert — nicht zuletzt deshalb, weil es bedeutete, dass sämtliche Daunenplumeaus, von denen ich jemals in Reiseberichten gelesen hatte, womöglich gar nichts mit der Eiderente zu tun gehabt hatten; und dass folglich auch ich, wie all die Autoren, die über Muschelseide schrieben, womöglich zu Irrtümern, Mutmaßungen, Mythen und Unwahrheiten beigetragen hatte.
Vielleicht konnte man die Eiderdaunen, die ich entdeckt hatte, als Symbol für das Gebäude sehen, in dem ich mich befand.3 Tyntesfield zeugt von außergewöhnlichem Reichtum und gleichzeitig von dem Versuch, diesen Reichtum mit der anglo-katholischen Frömmigkeit seines Besitzers zu versöhnen. Dessen Sammlung von Objekten konnte mit den großen Sammlungen des siebzehnten Jahrhunderts konkurrieren: Bei meinem Streifzug durch die zahllosen Räume sah ich kostbares Porzellan, »Eiderdaunen«-Betten und einen großen Billardtisch mit Elfenbeinkugeln. Ein Mitglied der Familie, der das Haus einst gehört hatte, war begeisterter Elfenbeindrechsler gewesen und hatte Hunderte kleiner Ziergegenstände hergestellt, deren Schönheit, wie ich leider zugeben musste, sämtliche mir bekannten Taguaobjekte in den Schatten stellte. Doch die hölzernen Wandtäfelungen, die Seidenvorhänge und die himmlischen Symbole in der Hauskapelle vermittelten mir keine Vorstellung von dem ausgesprochen irdischen Material, das den Bau dieses Hauses ermöglicht hatte.
Im Gegensatz zu Ole Worms Museum ist Tyntesfield kein Ort der Neugier, kein Ort des Lernens, des Intellekts, sondern ein Monument des Kapitals. Sein Besitzer, William Gibbs, leitete eines der großen Handelshäuser der viktorianischen Ära, Antony Gibbs & Sons. Williams Vater Antony, der Firmengründer, hatte mit den verschiedensten Waren gehandelt, Gibbs junior jedoch spezialisierte sich schließlich auf einen einzigen Rohstoff, der ihm fantastischen Reichtum bescheren sollte. Bei meinem Streifzug durch das Haus fand ich kaum einen Hinweis auf diesen Rohstoff. Die einzige Spur, die zum Rätsel seiner Herkunft führte, war ein Glasfenstermotiv.4 Man sah dort Vögel in verschiedenen Posen, die sich aufrichteten oder sich putzten. Im Gegensatz zu den Salanganen hatten diese Vögel jedoch keine winzigen Klauen, sondern die plumpen Füße von Watvögeln oder Seevögeln. Ihre starken, kompakten Schnäbel ähnelten kleinen Dolchen, eher für den Fisch- als für den Insektenfang geeignet.
Die Position dieser Vögel, die von ihrem Glasfenster auf den Besucher herabblickten, als solle man ihnen Reverenz erweisen, sprach von einer gewissen Ehrfurcht und erinnerte an die religiösen Symbole in der Kapelle von Tyntesfield. Möglicherweise stellt das Glasfenster die peruanischen Seevögel dar, denen Gibbs seinen immensen Reichtum verdankte.5 Im neunzehnten Jahrhundert nisteten sie in riesigen Kolonien auf etwa achtzig Inseln vor der Küste Perus und ernährten sich vom Fisch, der in den planktonreichen Gewässern dort reichlich vorhanden war. Jahrhundertelang hatten sich die Vogelexkremente auf den Inseln abgelagert, eine reichhaltige Quelle für Stickstoff und Phosphat, die zentralen Bestandteile für das Pflanzenwachstum. Fast überall sonst auf der Welt ist Vogelkot Feuchtigkeit ausgesetzt, doch auf diesen Inseln vor der peruanischen Küste fällt kaum oder gar kein Regen. Von der heißen Sonne gedörrt, hatten sich im Lauf der Zeit gigantische Mengen dieser als Guano bekannten Exkremente angesammelt, eine schier unerschöpfliche Quelle organischen Düngers.
1842 schlossen Gibbs’ Repräsentanten in Lima mit der peruanischen Regierung einen Vertrag über die Ausfuhr von Guano gegen Zahlung hoher Summen. Gibbs hatte zwar gewisse Zweifel, ob sich diese Entscheidung als klug erweisen würde, doch das Wagnis zahlte sich aus.6 Überall auf der Welt, insbesondere in Europa und Nordamerika, klagten Landwirte und Plantagenbesitzer über ausgelaugte Böden aufgrund der gestiegenen Nachfrage durch die immer weiter wachsende Stadtbevölkerung.7 Guano, allen anderen Düngern durch sein ideales chemisches Gleichgewicht überlegen, bot die perfekte Lösung für dieses Problem. Bereits in den 1850er-Jahren war Guano zum weltweit wichtigsten Dünger geworden. Dem amerikanischen Historiker Gregory T. Cushman zufolge exportierte Peru über einen Zeitraum von vierzig Jahren ungefähr 12,7 Mio. Tonnen Guano in alle Welt.8 »Die sonnenlose Landschaft Großbritanniens, die Reisfelder Italiens, die Weinanbaugebiete Deutschlands, die ausgelaugten Kaffeeplantagen Brasiliens und die dürren Ebenen Perus, sie alle zeugen von den hervorragenden Eigenschaften dieses Düngers«, schwärmte 1855 die Zeitschrift The Farmer’s Magazine.9
Die Erfolgsgeschichte des peruanischen Guano führte weltweit zur hektischen Suche nach weiteren Guanolagerstätten. Abenteurer und Unternehmer erkundeten, um Guano zu finden, sämtliche Atolle und Koralleninseln, jedes Stückchen Land, von den Klippen Schottlands bis zu den Inseln vor der Küste Südwestafrikas. 1856 verabschiedete der US-Kongress auf Drängen amerikanischer Farmer den Guano Islands Act, der jeden amerikanischen Staatsbürger autorisierte, unbewohnte Inseln mit Guanovorkommen zu beschlagnahmen; so erhoben US-Bürger im Lauf der Zeit Anspruch auf sechsundsechzig Inseln in der Karibik, Ozeanien und im Pazifik.10 Doch keine dieser Fundstätten war mit den regenlosen Inseln Perus vergleichbar. »Ich halte nicht viel von den neuen Entdeckungen«, schrieb Henry Gibbs, Williams Neffe, im Jahr 1855. »Ich habe von keiner [neu entdeckten Insel] gehört, auf der es nicht regnen würde. Ihr Regen bringt uns Segen. Möge es also noch lange bei ihnen regnen!«11
Der Guanohandel bescherte sowohl den Gibbsens als auch dem peruanischen Staat kolossalen Reichtum. »Dieser Zweig nationalen Reichtums ist von so großem Wert, dass sich ohne Übertreibung behaupten lässt: Von seiner Einschätzung und klugen Handhabung hängt das Bestehen des Staates, die Wahrung seines Ansehens, die Zukunft seines Wachstums und die Wahrung der öffentlichen Ordnung ab«, schrieb 1858 Perus Finanzminister Manuel Ortiz de Zevallos.12 William Gibbs, an der Spitze des Guanohandels, wurde sagenhaft reich. Zwischen 1842 und 1875 verdiente die Firma Antony Gibbs & Sons bis zu 100.000 Pfund im Jahr. Davon erhielt William ab dem Jahr 1847 zwischen 50 Prozent und knapp 70 Prozent.13 In London kursierte angeblich folgender Reim: »The House of Gibbs that made their dibs / By selling turds of foreign birds«.14 (Die Firma Gibbs, die dadurch zu Geld kam, dass sie die Scheißhaufen ausländischer Vögel verkaufte.)
Dass man mit Vögeln ein Vermögen verdienen kann, sollte uns nicht überraschen. Wir brauchen nur an Boedis Haus in der bewachten Wohnanlage in Jakarta denken, bis unters Dach mit Schätzen vollgestopft; oder an den Börsenwert von Lebensmittelfirmen wie Tyson Foods oder Pilgrim’s, die allwöchentlich Millionen von Hühnern aus Massentierhaltung schlachten. Das Ungewöhnliche an Tyntesfield ist nicht seine Beziehung zu Kormoranen, Tölpeln oder Pelikanen, sondern der Umstand, dass dieser viktorianisch-gotische Gebäudekomplex nicht aus dem Fleisch, den Federn, den Nestern oder Eiern der Vögel erbaut wurde, sondern aus ihren Exkrementen. Während ich durch die langen Korridore schlenderte, dachte ich nach über diesen extremen Akt der Alchemie, diese Verwandlung von Vogelmist in Ecktürmchen, Buntglasfenster und eine Kapelle. Wie war diese alchemistische Verwandlung vonstattengegangen? Wer waren die Menschen, die sie vollzogen hatten, und welche Beziehung hatten sie zu den Vögeln gehabt, die die goldenen Eier legten?
Viele der hier versammelten Objekte haben in der Natur eine notwendige Funktion. Byssus dient einer Molluske als Anker im Meeresboden; die Fasern schützen das Vikunja vor der Sonne und vor der extremen Kälte der Puna; das Endosperm einer Palme versorgt den Samen mit wertvollen Nährstoffen. Exkremente hingegen sind ein Abfallprodukt, das vom Organismus ausgeschieden wurde. Man hätte dieses Abfallprodukt entfernen können, ohne einen Ausgleich zu schaffen, ohne dass man einen Ersatz anbieten oder die Ernte auf eine bestimmte Menge beschränken musste. Und so bot Guano die Möglichkeit einer andersartigen, von jeder Verpflichtung entbundenen Beziehung; man konnte beliebig viel Guano sammeln ohne das Risiko der Zerstörung.
So schön ich Tyntesfield auch fand, es warf kaum Licht auf die Methode der Guanoernte, ihr System von Rechten und Pflichten. Abgesehen von den Vögeln auf dem Glasfenster fand ich sonst keinerlei Hinweis auf den Guanohandel. Das Gebäude roch nicht nach Fisch oder Ammoniak, sondern nach Staub, Reinigungsmitteln und war erfüllt von den angenehmen und weniger angenehmen Düften Tausender von Menschen, die Tyntesfield alljährlich besuchen. Geprägt waren die Räume nicht etwa vom Lebensrhythmus der Guanotölpel, sondern vom häuslichen Leben der Familie Gibbs. Man erfuhr allerlei über ihren Geschmack, über Williams Sohn Antony und seine Vorliebe für die Elfenbeindrechslerei oder über die Gestaltung der Voliere im Park. Kaum etwas erfuhr man jedoch über die Guanogewinnung. Diese riesigen Mengen von Exkrementen, Tausende von Meilen entfernt im Pazifik, hatten scheinbar nichts mit dem viktorianischen Landsitz zu tun, als sei das Haus ganz spontan aus der englischen Landschaft heraus entstanden.
In einem Sommer reiste ich auf die Chincha-Inseln, etwa 20 Kilometer vor der Küste Perus. Um drei Uhr morgens kam ich in der peruanischen Hafenstadt Pisco an. Beladen mit frischem Obst und Wasser, bat ich einen Fischer, mich auf die Inseln zu bringen. Er war es nicht gewohnt, Passagiere mitzunehmen, und zeigte sich überrascht. »Dort gibt es doch nichts«, sagte er. Es war dunkel im Hafen, bis auf die Lampen der Fischerboote, aber ich konnte erkennen, dass er einen dicken grauen, mit Oktopus-Tinte befleckten Wollpullover trug. Nach einer dreistündigen Reise, auf der uns Seelöwen und Guanokormorane in wunderbaren Formationen begleiteten, erspähte ich drei kleine Inselflecken. Die hatten sich allerdings schon vorher durch Guanogestank angekündigt, den man vielleicht als Mischung aus dem stechenden Geruch von Reinigungsflüssigkeiten und dem Gestank eines Fischmarkts am Ende eines heißen Tages beschreiben könnte.
Als Seefahrer im neunzehnten Jahrhundert die Chincha-Inseln besuchten, fanden sie dort gewaltige Berge von Exkrementen vor, etwa elf Stockwerke hoch.15 Wie Sedimentgestein verdichtet sich Guano durch sein eigenes Gewicht zu dunklen, seifigen Schichten, die alles unter sich begraben16: Man hat in diesen Schichten Schmuckstücke, Artefakte und mindestens einen mumifizierten Pinguin gefunden. Als wir uns den Inseln näherten, sah ich, dass kaum noch etwas von diesen riesigen Guanohaufen übrig war, die nur durch Berichte von Landvermessern aus dem neunzehnten Jahrhundert oder seltene Schwarz-Weiß-Fotografien belegt sind. Stattdessen lag der dunkle Granit, aus dem die Inseln bestehen, flächendeckend unter einer dünnen weißen Guanoschicht; nur am Rand der Insel erkannte man seine Beschaffenheit — fleischroter Fels, sanft überspült vom guano-milchigen Wasser.
Seekrank und erschöpft kletterte ich, gehandicapt durch das mitgebrachte Frischobst, eine Strickleiter zum Bootssteg einer der Inseln hinauf. Ich wurde von einem untersetzten Mann begrüßt, der mehrere Goldzähne hatte. Flaviano war der Inselwächter und lebte hier in einer feuchten Holzhütte. Er murmelte etwas, nahm meinen Erlaubnisschein entgegen und lief zu seinem Büro, einem kleinen Raum mit Blick aufs Wasser. Während er einige Papiere ausfüllte, registrierte ich eine peruanische Flagge, eine Karte mit Vogelnistplätzen, den Kalender eines Zahnpastaherstellers und das Foto einer Frau, ausgeschnitten aus einem Pornomagazin und auf ein ramponiertes Klemmbrett geklebt, der erste von vielen solcher Ausschnitte, die ich auf der Insel noch zu Gesicht bekommen sollte. Flaviano bat mich, mich ins Gästebuch einzutragen, und ich schrieb meinen Namen in die erste Zeile. »Willkommen auf Chincha Norte«, sagte er, doch ich verstand ihn kaum, seine Stimme wurde vom Kreischen der Vögel übertönt.
Waren der Endpunkt des Guanohandels Landhäuser oder Vogelfleisch, als Delikatesse für die Stadtbewohner, dann waren die Chincha-Inseln die Quelle, der Ursprungsort. Einst gab es hier das größte Guanovorkommen der Welt, eine so gewaltige Menge an Vogelexkrementen, dass man glaubte, sie würde reichen, um Bauern weltweit tausend Jahre lang mit preiswertem Dünger zu versorgen.17 In den 1840er- und 1850er-Jahren steuerten Hunderte und Aberhunderte von Schiffen die Chinchas und andere peruanische Guanoinseln an, um deren Schätze abzutransportieren. Wie Lagerstätten von Kohle vermessen werden, der Rohstoff, mit dem Guano am häufigsten verglichen wurde, wurden auch die Guanolagerstätten vermessen und der Guano abgebaut und verkauft.18 Für die Guanogräber waren die Vögel einfach nur lästige Plagegeister, die sie verscheuchten oder aus Hunger auch aßen. Und so war die Vogelpopulation der Chincha-Inseln nach wenigen Jahrzehnten zusammengebrochen, eine unvergleichliche ökologische Katastrophe.
Ich dachte an die Plünderung der Niah-Höhlen, den Guanoabbau in der Großen Höhle, doch hier auf den Chinchas hatte eine noch viel grausamere Ausbeutung stattgefunden. Angesichts der gesundheitsschädlichen Bedingungen auf diesen Inseln waren nämlich nur wenige freie Männer bereit gewesen, hier zu arbeiten; und so begann der peruanische Geschäftsmann Domingo Elías ab 1849 »Kulis« aus China zu importieren, Vertragsarbeiter, die den Guano mühsam aufhacken und in Säcke schaufeln mussten. 1853 wurde berichtet, dass allein auf den Chincha-Inseln achthundert Chinesen sechs bis sieben Tage pro Woche in der sengenden Äquatorsonne schuften mussten, um ihre Schulden abzuarbeiten.19 Augenzeugenberichten zufolge waren Auspeitschungen an der Tagesordnung, und viele Arbeiter starben durch Überlastung oder Suizid; Besucher berichteten, die Inseln seien mit Leichen übersät. »Dass sie sich zu Tode schuften müssen«, schrieb etwa George Washington Peck, ein amerikanischer Reisender, »ist ebenso offensichtlich, wie dass man in unseren Städten ausgemergelte Klepper zugrunde richtet.«20
Im juristischen Sinne galten die Vertragsarbeiter nicht als Sklaven, doch auf den Guanoinseln gab es da keinen Unterschied. »Einmal auf den Inseln angelangt«, schrieb ein Augenzeuge, »verlässt kaum [ein Guanogräber] sie jemals wieder, sondern bleibt dort als Sklave bis zu seinem Tod.«21 Dem Historiker Watt Stewart zufolge ging die Entscheidung der Arbeiter, China zu verlassen, auf die politische Instabilität während des Taiping-Aufstands zurück.22 Die Männer, alles Analphabeten, unterschrieben die Verträge, ohne ihren Inhalt zu kennen. Mehr als 10.000 Meilen von Peru entfernt, hatten sie keine Vorstellung von dem, was sie erwartete; Nötigung, Täuschung, Entführung und gewaltsame Anwerbung waren gang und gäbe. Schätzungen zufolge wurden innerhalb von siebenundzwanzig Jahren etwa zweiundneunzigtausend chinesische Vertragsarbeiter nach Peru transportiert, um auf den Plantagen und Guanoinseln zu schuften, wobei zehn Prozent dieser Männer bereits auf der Reise dorthin ums Leben kamen.23
Die Händler in Lima oder Callao waren vom Schauplatz der Guanogewinnung weit entfernt; für sie spiegelte sich das dortige Geschehen nur in Exportbriefen und Zahlen wider.24 Kaum jemand verschwendete einen Gedanken an die gnadenlosen Arbeitsbedingungen. In Europa wurde der Guano als lebensspendende Substanz beworben. »Wenn jemals der Stein der Weisen, das Elixier des Lebens, das unfehlbare Katholikon, das universelle Lösungsmittel oder das Perpetuum mobile entdeckt wurden«, berichtet The Farmer’s Magazine 1854, »so ist es die Verwendung von Guano in der Landwirtschaft.«25 Doch je näher man den Inseln kam, dem Zentrum der Guanoproduktion, desto mehr zeigte sich, dass die wahre Bedeutung des Guano nicht Leben war, sondern Tod. »Die Inseln«, schrieb Peck, »kommen mir wie ein menschliches Schlachthaus vor, ja, ein Schlachthof für Menschen.«26
Als ich mit Flaviano über die Insel ging, fiel es mir schwer, diese Geschichte zu rekonstruieren, mir dieses Schlachthaus vorzustellen. Eidechsen huschten vor unseren Füßen davon, als glitten sie über den Guano. Wo sich einst die Bambushütten der Arbeiter drängten, sah ich jetzt nur noch die Nester der Kormorane und Guanotölpel. Statt eines Walds aus Hunderten von Schiffsmasten sah man in den Buchten jetzt nur noch ein paar kleine Fischerboote. Ich fragte Flaviano, ob es hier noch irgendwelche Spuren der Vergangenheit gebe, und er bot sich an, mir den Cementerio auf der anderen Seite der Insel zu zeigen. Jetzt, wo die Sonne höher am Himmel stand, wurden ihre Strahlen vom weißen Guano wie von Schnee reflektiert und verbrannten mir Kinn und Nase. Während der Guano unter meinen Lederstiefeln knirschte, fand ich es schwer, mich zu orientieren: Es gab keine Bäume, nur wenige Fixpunkte in diesem Meer aus Exkrementen. Guanoblind folgte ich Flaviano dicht auf den Fersen, abhängig von ihm wie vom Bergführer in einer Gletscherlandschaft. Nach ungefähr fünfzehn Minuten erreichten wir, was er mir zeigen wollte. Es war ein kleines Eisenkreuz, schief und verrostet, aus zwei Metallteilen zusammengefügt. »Hier ist er«, sagte er feierlich. »Das ist der chinesische Friedhof.«
Ich sah mich um, betrachtete diese scheinbar endlose Fläche aus Exkrementen. An einer Stelle wirkte der Guano etwas dunkler, wie von Feuer versengt. Doch vor uns waren keine Grabsteine, keine Markierungen außer diesem kleinen Kreuz, keinerlei menschliche Überreste. Der letzten Ruhestätte beraubt, waren die sterblichen Reste der Vertragsarbeiter verbrannt oder im Guano verscharrt worden, dann in Säcke verpackt und verschifft worden, Dünger für irgendein Feld in einem anderen Land. Auf dem Rückweg vom Cementerio beschloss ich schwimmen zu gehen, ging an Flavianos Hütte vorbei und an der Latrine, die oberhalb der Klippe hing, weiter hinab zum Strand. Als ich den Sandstrand entlanglief, bemerkte ich vor mir einen jungen Seelöwen, der keine Angst vor mir zu haben schien. Im Näherkommen sah ich, dass er zwar noch lebte, ihm aber der Schnabel eines Truthahngeiers den Leib aufgerissen hatte; das blutige Gedärm hob sich leuchtend rot von den Gelb- und Weißtönen des Guano und dem hellen Braun des Fells ab. Diese Farbexplosion erweckte die alte Geschichte der Insel zum Leben und kolorierte meine mitgebrachten Schwarz-Weiß-Fotografien. An jenem Tag bin ich dann nicht mehr schwimmen gegangen.
Wenn das erste Objekt in diesem Buch für eine utopische Vision stand, dann stand der Guano des neunzehnten Jahrhunderts für das exakte Gegenteil — der größtmögliche Kontrast zur Eiderdaune. Denke ich an die anderen Objekte zurück, könnte ich keine Stätte finden, nicht einmal die Niah-Höhlen oder die Käfige auf Bali, die dem Wahnsinn des Guanoabbaus auf den Chinchas vergleichbar wäre. Als Alexander Duffield, ein britischer Ingenieur, die Inseln in den 1870er-Jahren besuchte, berichtete er, dass »ebendiese Inseln wie Tiere wirkten, denen man den Kopf abgeschnitten hat, oder wie riesige Sarkophage — mit einem Wort wie etwas, das an Tod und Grab erinnert«.27 1870 waren die Guanovorkommen restlos erschöpft; Der geschäftstüchtige Gibbs zog einfach weiter und vermarktete stattdessen chilenisches Nitrat.28
Anfang der 1860er-Jahre besuchte der amerikanische Fotograf Henry Moulton die Chincha-Inseln.29 Kurz vor seiner Ankunft hatten die Spanier die Inseln besetzt und schickten einen Trupp Marinesoldaten, um die Guanovorkommen zu beschlagnahmen und den peruanischen Staat zu lähmen.30 Es war ein bedeutsamer historischer Moment, der letzte verzweifelte Versuch Spaniens, nach dem Verlust der Kolonien wieder an Einfluss in Südamerika zu gewinnen; und doch richtete sich Moultons Augenmerk vor allem auf die Guanohügel, deren verschiedene Formen, Schatten und Oberflächenstruktur.31 Betrachtet man Moultons Fotos, sieht man einen Angriff auf einen Berg. Als kleine Pünktchen stehen die Arbeiter am Fuß des Guanohügels und fallen mit ihren Spitzhacken über seine Flanke her wie Fliegen über einen Kadaver.
Während der Große Haufen zerstückelt wurde, machte sich William Gibbs an die umfangreiche Renovierung Tyntesfields, für die er die Dienste des bekannten neugotischen Architekten John Norton in Anspruch nahm.32 Er erweiterte das Haus auf die doppelte Größe, versah das Dach mit Türmen, Giebeln, Tourellen und Zinnen und vervielfachte die Zahl der Buntglasfenster. Nach einem Rom-Besuch beauftragte Gibbs den Bildhauer Lawrence Macdonald mit der Anfertigung einer weißen Marmorskulptur; sie sollte seine Tochter darstellen, wie sie gerade einen kleinen Vogel liebkost.33 1872 bat Gibbs dann den Architekten Arthur Blomfield, an der Nordseite des Hauses eine Kapelle zu bauen — nach dem Vorbild der Sainte-Chapelle in Paris —, in der er später zur Ruhe gebettet werden wollte.34 »Das schöne Haus«, bemerkte die Schriftstellerin Charlotte Mary Yonge im selben Jahr, »glich von der Stimmung her einer Kirche.«35
Selbst als die gesamten Guanovorkommen Perus erschöpft waren, wuchs Tyntesfield weiter oder gewann zumindest an Wert. Im Jahr 2002, über hundert Jahre nach dem Ende der Guano-Epoche, erwarb der National Trust das Anwesen samt Mobiliar für 24 Millionen Pfund.36 Ich dachte an meine eigene familiäre Verbindung zu den Gerbereien in Runcorn, mit denen es in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Ende gegangen war. Selbst heute noch, Jahrzehnte nach der Entlassung ihrer Arbeiter, war meine Geschichte mit diesen Fabriken verbunden — mit den Tierhäuten, mit der zum Gerben verwendeten Eichenrinde und mit den schwer arbeitenden Männern, die die Häute in Bottiche tauchten. Die Gewinne aus Runcorns Gerbereien flossen nicht nur in Gerberei-Stipendien und eine Kathedrale im indischen Medak, sondern leisteten auch einen Beitrag zu meiner Ausbildung in einem englischen Provinzinternat. Verband sich also mit Tyntesfield der Gestank der Chincha-Inseln, trifft es vielleicht teilweise zu, dass dieses Buch nach Tierhaut und Fleisch riecht.
Als ich jetzt über die Insel Chincha Norte lief, fiel es mir schwer, diesen Ort mit Tyntesfield zu verknüpfen. Im Gegensatz zum Landsitz erhalten die Inseln kaum Besuch, bis auf ein paar Biologen, die hier die Vogelwelt studieren. Da es nicht regnet, gibt es hier keine Vegetation, keine üppigen Gärten, wo man im Schatten sitzen kann; Flaviano besaß nur eine Pflanze, eine Maracuyá oder Passionsfrucht, um die er sich hingebungsvoll kümmerte. Statt der Farbenvielfalt der Bleiglasfenster gab es hier nur eine einzige Farbe, das Marmorweiß des Guano, statt der Kapelle von Tyntesfield ein verrostetes Kreuz. Die einzige Parallele, die ich fand, waren Vogelabbildungen in den Fenstern. Auf einigen Inseln hatten die Wächter auf geniale Weise einen transparenten Plastiksack in eine Fensterscheibe verwandelt. Auf der Vorderseite prangte das Bild eines Guanokormorans, des wichtigsten Guano produzierenden Vogel Perus. Anders als in den stilisierten Glasmalereien von Guanotölpeln in Tyntesfield, ist hier die Form des Vogels exakt wiedergegeben, sein langer Hals, der dunkle Körper und die weiße Brust, was darauf hinweist, dass der Maler mit dem Tier, das er abbildete, vertraut war. Wie ein Buntglasfenster ließ auch der Sack etwas Licht in die Hütte, tauchte das feuchte Holz in einen gelblichen Schimmer, und man sah auf der Plastikfolie die aufgemalte Vogelsilhouette.
Auf meiner Reise durch Peru, vom Anden-Hochland bis hinab in die Küstengebiete, sah ich oft solche Säcke, allerdings noch voll, die für nur 50 Soles, etwa 15 Dollar, zum Verkauf angeboten wurden. Meist stand daneben ein großes Schild mit der Abbildung eines Kormorans. Die Säcke enthielten billigen organischen Dünger von den Inseln, ein Kontrapunkt zum Kunstdünger, der jetzt den Markt beherrscht. Beim Anblick des abgebildeten Guanokormorans zuckte ich instinktiv zurück, weil ich die Säcke mit den Chincha-Inseln assoziierte, diesem Schlachthaus für Menschen. Doch gewisse Anzeichen deuteten auf einen Bruch mit der Vergangenheit hin. Ich steckte die Hand in einen der Säcke, nahm etwas von dem Pulver auf und wollte daran schnuppern, aber das war nicht nötig: Der Geruch strömte mir schon entgegen. Niesend und würgend verschloss ich den Sack, aber der Geist war längst aus der Flasche.
Während der Guano-Ära bestand der abgebaute und verkaufte Guano aus verwitterten Ablagerungen, deren Konsistenz einige Beobachter zu der Annahme veranlasste, es handle sich um fossilienhaltige Ablagerungen, die »Anhäufung von Tier- und Pflanzenleichen«.37 Doch eigentlich war keine Verwechslung möglich, dieses körnige Pulver ließ sich nicht mit einem Kohleflöz vergleichen. Es roch fischig-faulig und stammte eindeutig von Vögeln. Auf die Guanosäcke war in fetten roten Großbuchstaben ein Wort gestempelt — artesanal —, dessen Bedeutung irgendwie nicht zur Natur des Inhalts passte. Einem ganz ähnlichen Wort war ich auf Sardinien viele Male begegnet. Dort bezeichnete es hoch qualifizierte Weberinnen und Weber und ihre geduldige Arbeit, das Ernten der Fasern und ihre Verarbeitung zu komplexen Mustern. Wo lag die Kunst des Guano? Konnte jemand ein Maestro der Exkremente sein?
In Lima erklärte mir Carla Cepeda, eine peruanische Biologin, dann tatsächlich die Kunst der Guanogewinnung. Jedes Jahr küren sie und ihr Beamtenteam von Agro Rural, einem staatlichen Organ, eine der Guanoinseln zu dem Ort, an dem jeweils die Ernte stattfindet. »Wir wählen nur Inseln aus, auf denen mindestens fünf Jahre lang nicht geerntet wurde. Damit wir die Vögel nicht stören und sie in Ruhe ihre Nester bauen können; damit sich Guano ansammelt.« Ist die Wahl auf eine Insel gefallen, machen sich etwa vierhundert Männer an die Guanoernte und wohnen während dieser Zeit in Betonklötzen oder Zelten. Sie stehen in den frühen Morgenstunden auf, um die Zeit zu nutzen, bevor die Sonne vom Himmel brennt, stärken sich mit einem Haferflocken-Frühstück und beginnen dann die Exkrementschichten aufzuhacken und in Säcke zu schaufeln. »Für diesen Job muss man sehr tough sein«, sagte mir Carla. »Viele [dieser Männer] machen das seit Generationen. Ich habe Großväter, Väter und Söhne gesehen.«
Im neunzehnten Jahrhundert wurde auf die Inselvögel wenig Rücksicht genommen: Sie wurden gejagt, als Haustiere gehalten oder einfach von den Inseln vertrieben.38 Bei dieser Ernte jedoch wird dem Leben auf der Insel, ganz anders als in jenen dunklen Zeiten, sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. »Wenn die Vögel brüten, darf man die Inseln keinesfalls betreten. Falls wir brütende Weibchen oder Eier finden, brechen wir die Ernte sofort ab und müssen eine andere Möglichkeit finden.« Die Arbeit kann sehr anstrengend und frustrierend sein. In dem Jahr, in dem ich Peru besuchte, hatte Carla eine Insel, Macabí, als Ernteort gewählt, blies die Aktion dann aber rasch wieder ab. »Es gab ein Dilemma mit unseren Freunden, den Pinguinen; die fielen eines Tages quasi auf der Insel ein und begannen sich zu paaren.«
Im Jahr 1907 reiste ein junger Ornithologe namens Robert Coker auf die Guanoinseln.39 Kurz nach seiner Promotion an der Johns Hopkins University sollte er im Auftrag der peruanischen Regierung die dortigen Fischgründe erforschen. Im Lauf eines Jahres reiste er immer wieder auf die Inseln, per Dampfschiff oder Frachtschaluppe, beobachtete die Vögel und zeltete im Freien auf dem Guano.40 »Wenn man nicht unbedingt sein Wannenbad braucht und andere »Annehmlichkeiten der Zivilisation«, schrieb er, »wird man die Erfahrung, auf einer peruanischen Insel zu zelten, nie bereuen.«41 Wie ein Eiderentenbauer watete er mitten in die Kolonien hinein und verharrte dort, während die Vögel rings um ihn zurückwichen. »Wenn man reglos wartet und viel Geduld aufbringt, kehren die Vögel nach einer Weile in die Nester zurück, bis der Beobachter von ihnen umringt ist.«42
Zur Zeit von Cokers Besuch trugen die Inseln noch die Narben der Guano-Ära: Von den Ablagerungen des verwitterten Guano war quasi nichts mehr vorhanden, die Inseln waren mit den offenen Särgen chinesischer Arbeiter übersät, ihre Knochen lagen auf dem Guano verstreut. Doch Coker hielt sich nicht lange bei den Ungerechtigkeiten dieses Sklavenhandels, der Archäologie der Guanogewinnung oder des globalen Düngemittelmarktes auf. Er konzentrierte sich auf die Vögel, die auf den Inseln lebten: riesige Kolonien von Pelikanen und Guanokormoranen, eine kolossale lebende Fläche, die die ganzen Inseln bedeckt und ständig frischen Guano produziert. Auf der Insel Chincha Sud gab es seiner Schätzung nach 180.000 Guanokormoran-Paare, die jährlich 6400 Tonnen Exkremente erzeugten.43 »Allein schon die Vögel auf der Insel Chincha Sud …«, so lautete sein Kommentar, »könnten durchaus als ein Vermögenswert im Wert von mehreren Millionen Dollar gelten.«44
Wie Coker aufzeigte, war den Inka bewusst, dass lebendige Vögel große Mengen Guano produzieren. Laut Garcilaso de la Vega beschützten die Inka diese Guano erzeugenden Vögel; wer sie tötete, wurde streng bestraft.45 Doch während der Guano-Ära missachtete man den Nutzen lebendiger Vögel, die Coker als »arglose Akteure bei der Schaffung der Bergwerke des Reichtums« bezeichnete.46 Ein wütender und frustrierter Ton durchzieht seine Nacherzählung dieser Geschichte. Er verurteilte frühere Reisende wie Humboldt, die die Fähigkeit lebender Vögel, Guano zu produzieren, ignorierten oder unterschätzten. »Hätte Humboldt die richtige Information geliefert«, so klagte er, »hätte man vielleicht früher erkannt, dass es von kommerziellem Nutzen war, die Vögel so zu schützen, wie dies in der Zeit vor der Eroberung geschehen war.«47
Lassen Cokers Worte einerseits Ärger durchblicken, verraten sie andererseits doch auch großen Optimismus, vor allem im Hinblick darauf, dass sich frühere Fehler vermeiden ließen, wenn man sich klarmachte, welchen Wert die Exkremente der Vögel besaßen. Unter Hinweis auf den Wert der Vögel schlug Coker der peruanischen Regierung vor, die Guanoinseln zu verstaatlichen, eine turnusmäßige Ernte einzuführen und die Vögel zu schützen. »Die Vögel«, schrieb er, »dürfen nicht mehr wie wilde Tiere behandelt werden, deren Heimstätten die Menschen fast wie Raubtiere überfallen können, um das nützliche Produkt an sich zu reißen ohne Rücksicht auf die Vögel, die es erzeugen. Eine intelligentere Politik wird die Vögel wie Haustiere betrachten, die nützliche Arbeit verrichten und aus denen man umso größeren Nutzen zieht, je besser und klüger man für ihr Wohlergehen Sorge trägt.«48
Nachdem ich so viel über die Exzesse der Guano-Ära gelesen hatte, fühlte ich mich von Cokers Plänen, deren Kühnheit und Idealismus, sehr angezogen. Im Alter von nur dreißig Jahren hatte Coker den Auftrag erhalten, einen Bericht über die peruanischen Fischgründe zu verfassen, und herausgekommen war der Vorschlag für eine neue Industrie, die Naturschutz und Profit miteinander verband. Seine Vision, seine Hinweise auf den Naturschutz bei den Inka müssen damals lächerlich idealistisch, ja beinahe utopisch gewirkt haben. Man muss der peruanischen Regierung aber zugutehalten, dass sie seinen Rat befolgte und die meisten Guanoinseln verstaatlichte. Man gründete eine Aktiengesellschaft — die Compañía Administradora del Guano (CAG) —, die das ausschließliche Recht zur Ernte und zum Verkauf von Guano erhielt.49 Um die Guanoernte zu maximieren, mussten die Vögel aber auch geschützt werden. Man stationierte Inselwächter wie Flaviano, die das Wohlergehen der Vögel überwachen sollten, und organisierte die Ernte turnusmäßig, was den Vögeln Zeit ließ, sich von der Störung wieder zu erholen. Und tatsächlich kehrten die Vögel allmählich zurück.
Über hundert Jahre nach Cokers Besuch wird immer noch auf zweiundzwanzig Inseln und elf Landzungen frischer Guano geerntet. Im Jahr meines Peru-Besuchs hatte Agro Rural — die moderne Reinkarnation der CAG — Mazorca zum Ort der Guanoernte bestimmt. Die Insel Mazorca, die etwa 80 Meter schroff aus dem Meer aufragt, ist spektakulärer als die drei Chinchas und erinnert beinahe an den Granitgipfel eines Alpengebirges.50 Obwohl der Guano dort von denselben Vögeln produziert wird, riecht er anders, sieht anders aus und fühlt sich auch ganz anders an als auf den Chinchas. Vom Dunst des Meers und gelegentlichen Niederschlägen befeuchtet, ähnelt der Guano Mazorcas mehr der klebrigen, braunen Erde von Nuars Höhle als dem trockenen, ammoniakhaltigen Staub der drei viel weiter südlich gelegenen Chincha-Inseln.
Als ich in einem Motorboot auf Mazorca zufuhr, sah ich die Erzeuger des frischen Guano — Guanokormorane und Guanotölpel — wie große schwarz-weiße Kleckse auf den höher gelegenen Hängen der Insel. Die steilen Klippen und Hänge wimmelten nur so von ihnen, man sah überall nur noch Gefieder. Wir assoziieren derart große Ansammlungen von Vögeln oft mit Massentierhaltung, doch diese Seevögel hatten sich frei dafür entschieden, in einer riesigen, dicht gedrängten Gruppe zu nisten, und bildeten eine gigantische biologische Düngemittelfabrik. Täglich stürzten sie sich von der Klippe, um Fische zu verschlingen, kehrten zu ihren Nestern zurück und ließen ihre ammoniakreichen Exkremente fallen, die die konstante Äquatorhitze dörrte. Dies war ein nie endender Prozess, und hätte ein Monat sich in einen Augenblick verwandelt, wäre die Insel aufgegangen wie ein Brotlaib und hätte einen immer länger werdenden Schatten übers Wasser geworfen.
Abseits der Vögel entdeckte ich geisterhafte, mit gelbem Staub bedeckte Gestalten. Sie brachen mit Spaten eine Guanoschicht auf und schippten den Ertrag in Säcke, die sie zu ordentlichen Pyramiden aufschichteten. Auf ihrem Weg die Klippenwand hinauf wurde die braune verwitterte Guanoschicht allmählich vom strahlenden Weiß des mit frischem Guano bestäubten Granits abgelöst. Es wirkte, als würden sie die Insel säubern, diesen Felsbrocken hegen und pflegen, auf dem nie irgendetwas wachsen würde. Eine Bilderserie des namhaften brasilianischen Fotografen Sebãstiao Salgado zeigt die Serra-Pelada-Mine in Brasilien, 270 Meilen südlich der Amazonasmündung. 1979 fand dort ein einheimisches Mädchen in einem Fluß 6 Gramm Gold, was zu einem Goldrausch führte, wie es ihn in der Geschichte des Landes selten zuvor gegeben hatte. In der Hoffnung auf Reichtum stiegen Tausende in die Mine hinab und verwandelten sie in den reinsten Ameisenhaufen. »Niemand [von diesen Leuten] wird dort gewaltsam hingebracht«, erinnerte sich Salgado, »doch kaum sind sie angekommen, werden sie zu Sklaven ihres Traums vom Gold und des Überlebenskampfs. Wenn man einmal hineingeraten ist, schafft man es nicht mehr heraus.«51 Wie diese Minenarbeiter in Brasilien waren auch die Guanogräber staubig und dreckig und schleppten schwere Lasten, doch hier endet der Vergleich auch schon. Jeder Guanogräber erhielt seinen Lohn, unabhängig vom Wert des Guanos, den er gegraben hatte. Die Hoffnung jedoch, dass einer der Goldgräber einen fast 6,8 Kilogramm schweren Goldklumpen finden würde, wie es in Serra Pelada geschehen war, und plötzlich zu Reichtum gelangte, diese Hoffnung gab es nicht. Die Insel hingegen, die mehr einer Baustelle als einer Goldmine glich, bot statt der Chance auf einen Glückstreffer feste Löhne.
Es hatte vor ein paar Tagen geregnet, und der feuchte, klebrige Guano roch penetrant nach frischem Fisch. Aus Sorge, dass er einem unter den Füßen wegrutschen könnte, hatten die Leute von Agro Rural entlang der Pfade große Mengen von Federn ausgelegt — ein Abfallprodukt bei der Guanoernte —, die nun ein weiß bepudertes Gitter bildeten. Als ich mit den Männern den Pfad zum Gipfel der Insel hinaufstieg, klebte der Guano in großen Batzen an unseren Stiefeln, zäh und schwer wie Lehm. Mühsam kämpften wir uns über die steile Flanke der Insel hinauf, und unsere Stiefel versanken knöcheltief im frischen Guano, instabil wie Vulkansand, der leicht unter den Füßen weggleiten kann. Während wir weiter bergauf stiegen, stürzten sich von oben Guanokormorane ins Meer, um Fische zu fangen, und kugelten fast den Hang hinab. Einen der Männer traf die volle Ladung eines Kormorans. »Plata«, sagte er und meinte damit »Silber«, als Verweis auf den einstigen Wert von Guano. Wenn man in der Stadt von Vogelkacke getroffen wird, soll das Glück bringen, als kleiner Trost für die Unannehmlichkeit. Auf den Guanoinseln jedoch sprach niemand von Glück; bei einer so gigantischen Zahl von Vögeln waren Volltreffer schlicht unvermeidlich.
Hoch oben auf der Klippe stand ein kleines, von samtgrünen Algen überzogenes automatisiertes Leuchtfeuer. Irgendwie zog es mich unwiderstehlich an, ohne dass ich wusste warum. Ich strich mit der Hand darüber. Dann wurde mir klar, dass dies, inmitten brauner Erde, das einzige Grün auf der gesamten Insel war, eine Erinnerung ans Festland. Wir sogen die Luft ein in der Hoffnung, etwas von der Meeresbrise zu erhaschen, aber da war nur der Gestank nach Ammoniak und faulem Fisch, freigesetzt durch die Feuchtigkeit der letzten Tage. Ich dachte an meine Zeit in Nuars Höhle zurück, Nuar, der inmitten der Vögel lebte. Genau wie die Männer hier, ertrug auch er die Gesellschaft der Vögel und nahm den Dung und die Insekten hin. Trotzdem wirkte die Insel viel rauer als seine Höhle, denn diese Insellandschaft schien fast darauf angelegt, den menschlichen Körper zu entwürdigen. »Es gibt hier kein Moos, keine Flechten, kein Gras, keinen Zweig, kein Unkraut, auch im Umkreis von über 100 Meilen nicht«, erklärte Alexander Duffield im neunzehnten Jahrhundert. »Selbst das Meer schwemmt kein Blatt an.«52
Da es keine Gemüsebeete oder Nutztiere gibt, müssen die Angestellten von Agro Rural tonnenweise Lebensmittel vom Festland nach Mazorca transportieren, wo sie von der Inselköchin, Marleni Ordóňez, zubereitet werden, die oft während der gesamten Saison hier auf der Insel die einzige Frau ist. In einem ruhigen Augenblick stahl ich mich davon, um sie zu treffen, und stieg die Stufen zur Inselküche hinunter. Marleni war um die fünfzig und rührte gerade in einem riesigen Metallbottich voller Kartoffeln. Sie trug ein Plastikhaarnetz, eine großartige Vorsichtsmaßnahme auf dieser mit Exkrementen und Zecken übersäten Insel. Die Guanogräber »essen eine ganze Menge«, erzählte sie mir und gönnte sich eine kurze Pause vom Rühren. »Die sind wie Bauarbeiter.« Ich hatte mir vorgestellt, dass es für eine einzelne Frau doch beängstigend sein könnte, mit so vielen Männern allein auf der Insel zu leben, aber Marleni wirkte alles andere als verängstigt. »Ich bin es gewohnt«, sagte sie lachend. »Die laufen hier ja dauernd in Unterwäsche um. Ich bin wie eine Schwester oder eine Mutter für sie.«
Genau wie Coker es einst vorgeschlagen hatte, lagen die Unterkünfte der Männer weit von den nistenden Vögeln entfernt. An der Nordspitze der Insel zusammengedrängt, schliefen sie in behelfsmäßigen Verschlägen, die aus Gestellen und blauen Zeltplanen errichtet waren, vom Guano weiß und braun verfleckt. Während die Vögel frei über die Insel streifen konnten, war der Bewegungsspielraum der Arbeiter eingeschränkt; unter beengten Bedingungen verrichteten sie ihre Notdurft in kleinen, über der Klippe schwebenden Latrinen, und während der kostbare Dung der Vögel gesammelt wurde, plumpsten ihre Exkremente ins Meer. Obwohl ich mich nicht mit ihnen verständigen konnte, sah ich, welche Belastung es für sie bedeutete, dass ihre eigenen Rechte durch die Bedürfnisse der Vögel eingeschränkt wurden. »Eine sehr hohe Zahl von Arbeitern springt leider ab«, erklärte ein Vertreter von Agro Rural im Jahr 2016, »trotz der Tatsache, dass wir ihnen in den letzten drei Jahren erstklassige Arbeitsbedingungen geboten haben. Auf mehr als der Hälfte der Inseln gibt es Kabelfernsehen und Fotovoltaikbeleuchtung. Aber wir dürfen den Vögeln keine Antennen oder Generatoren zumuten. Maschinen auch nicht. Denn das Allerwichtigste [für die Vögel] ist der Schutz ihrer Umwelt. Keine Vögel, kein Guano.«53
Ich dachte an die Männer und Frauen in Island, die Eiderdaunen sammelten. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Robert Coker sich um eine neue Übereinkunft zwischen den Guanosammlern und den Vögeln bemüht, weil er die Logik von Tyntesfield durch die Logik der Eiderdaunen ersetzen wollte. Als ich hier durch den Guano watete, wurde mir klar, wie schwer es ist, diese Balance von Neuem herzustellen, die Übereinkunft mit diesen Vögeln, die die Präsenz des Menschen kaum tolerieren, ganz anders als die »Scheunentor«-Enten der Westfjorde. Auch die hüfttief im Dung stehenden Guanogräber schienen sich nicht groß um die Seevögel zu kümmern, den ungewohnten Anblick der Guanokormorane und Guanotölpel. Eher Lohnarbeiter als Bauern, bekamen sie 430 Dollar im Monat, ein Festgehalt statt des Gewinns aus dem Verkauf. In den Anfangsjahren trampelten die Guanogräber oft rücksichtslos über die Vögel hinweg und störten ihr Brutverhalten, ein Missstand, dem mittlerweile von Beobachtern von SERNANP, einer peruanischen Naturschutzorganisation, Einhalt geboten wurde.54 Das ganze System basiert mehr auf Kontrolle und Regulierung als auf einem natürlichen Gleichgewicht.
Wie fragil der Pakt zwischen diesen Vögeln und den Guanogräbern auch immer sein mag, es ist kaum denkbar, dass er in absehbarer Zukunft wieder durch eine derart rücksichtslose Ausbeutung wie im neunzehnten Jahrhundert gebrochen wird. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten die deutschen Wissenschaftler Fritz Haber und Carl Bosch ein technisches Verfahren für die Synthese von Ammoniak aus dem Stickstoff der Atmosphäre mithilfe von Elektrizität und einem Metallkatalysator.
Ähnlich wie Ölraffinerien gehören jetzt auch Düngemittelfabriken, die das Haber-Bosch-Verfahren nutzen, zu unserem Landschaftsbild. Wenn Sie mal in ein Gartencenter gehen und nach Düngemitteln suchen, werden Sie wahrscheinlich gar keinen Guano mehr finden; die allermeisten Früchte, Gemüse und Samen, die wir essen, wurden mit aus der Luft gezauberten Nitraten gedüngt, nicht mehr mit Vogelmist. Global gesehen spielt Guano als Dünger keine relevante Rolle mehr, er hat fast nur noch politische und symbolische Bedeutung.
Die bemerkenswerte Entdeckung der beiden Chemiker löste das drängende Problem, die rasch wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, entfesselte aber auch eine ganze Reihe ungewollter Konsequenzen, von der Sprengstoffentwicklung bis hin zur weitverbreiteten Eutrophierung von Gewässern, die zu Algenblüte führt. Auch erfordert die Kunstdüngerherstellung enorme Mengen an Energie, die größtenteils aus der Verbrennung fossiler Energieträger, insbesondere Erdgas, stammt; einer Schätzung zufolge war im Jahr 2004 die Düngemittelfabrikation für bis zu 1,2 Prozent der gesamten vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen verantwortlich.55
Es wurde angedeutet, Guano könne womöglich irgendwann eine Lösung für diese Probleme bieten. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert baute ein deutscher Zimmermann namens Adolf Winter in Walvis Bay vor Namibias Küste eine kleine Holzplattform, in der Hoffnung, damit Seevögel anzulocken und ihren Guano zu ernten.56 Er erweiterte die Plattform im Lauf der Jahre, sodass sie 1938 die Größe von drei Fußballfeldern einnahm und einen konstanten Vorrat an Guano lieferte. Obwohl Perus Küstengewässer viel tiefer sind als die von Walvis Bay, ließe sich der Guanoertrag durch den Bau schwimmender Vogelplattformen theoretisch erhöhen, aber ich glaube trotzdem nicht, dass dies dem steigenden Druck durch das stetige Bevölkerungswachstum abhelfen würde. Gregory T. Cushman verweist darauf, dass die gesamte im neunzehnten Jahrhundert in Peru durch Guano- und Nitratgewinnung abgebaute Stickstoffmenge im Jahr 2000 von Haber-Bosch-Fabriken in nur zehn Tagen synthetisch erzeugt werden konnte.57
Wie im Fall der Taguanuss konnte ich mir auch beim Guano nicht vorstellen, dass er die Uhr zurückdrehen und die synthetische Alternative ersetzen würde, die ihn in eine Nischenposition verbannt hat. Und doch verspürte ich im Fall des Guano keine so tiefe Enttäuschung wie damals, als mir klar wurde, dass der Traum, die von Kunststoffen verdrängte Taguanuss könnte eines Tages vielleicht ihrerseits wieder Kunststoffe ersetzen, vollkommen abwegig war. Was den Guano betraf, genügte es mir schon, dass auf Perus Guanoinseln eine Koexistenz von Vögeln und Menschen möglich war. Auch wenn die Guanogewinnung eine unschöne Angelegenheit ist und die Guanogräber ein schweres Leben haben, hat die peruanische Regierung doch immerhin einen Weg gefunden, dass Vögel, Männer und eine Frau auf so beengtem Raum zusammenleben können. Diese kleine Insel, eine Utopie — aus den Trümmern errichtet, die die Gewaltorgien der Guano-Ära hinterlassen hatten —, gab einem doch ein bisschen Hoffnung.
Als ich aufs Meer hinausblickte, zeugte die schiere Zahl der Vögel davon, dass diese Beziehung sich fortsetzen würde. Endlose Formationen fliegender Vögel — Kormorane, Pelikane und Tölpel — zerschnitten den strahlend blauen Himmel. In der Luft besaßen diese Seevögel eine Eleganz, die ihnen an Land völlig abging, als würde sie der Akt des Fliegens verwandeln. In langen Reihen flogen die Pelikane Patrouille, strichen mit ihren mächtigen Schwingen übers Wasser. Als ich sah, wie sie die Bewegung der Wellen unter sich genau verfolgten, begriff ich, warum das spanische Wort für »Pelikan«, alcatraz, vielleicht vom arabischen al-ġattās herstammt, das eine Seeadler-Art bezeichnet.58 So dicht über der Wasseroberfläche zu fliegen wirkte wie eine Demonstration der eigenen Geschicklichkeit, ein spektakuläres Kunststück im Rahmen einer Flugshow, aber die Pelikane profitieren ungemein davon, so übers Wasser zu streichen — sie sparen Energie, weil sich die Luftströmungsmuster in so geringer Höhe kaum verändern.59 Hoch über den Pelikanen zogen riesige Schwärme von Guanokormoranen über den Himmel, die sich zum Fischfang aufmachten. Verglichen mit den Pelikanen wirkten sie chaotisch, ständig lösten sich ihre Reihen auf und formierten sich neu; zuweilen schoss ein Guanotölpel, der sich für einen Kormoran halten mochte, wie eine Rakete dazwischen. Kormorane sind auf der ganzen Welt so stark verbreitet, dass man oft gar nicht mehr über sie staunt, doch als ich jetzt zu ihnen aufblickte, wie sie in langen Reihen über den Himmel zogen, bewunderte ich ihre weiße Brust, die eher an Vögel der Antarktis erinnert. Die Intensität dieser Farbe faszinierte den Ornithologen Robert Cushman Murphy, der in den 1920er-Jahren lange Zeit mit dem Studium peruanischer Seevögel verbrachte.60 Normalerweise, stellte er fest, hätten dieses weiße Brustgefieder Kormorane aus dem tiefen Süden; das Weiß der Guanokormorane, auf einem Breitengrad nahe dem Äquator, deute wohl auf die Auswirkungen des Humboldtstroms hin, dessen niedrige Temperaturen die gesamte Westküste Südamerikas abkühlen.
Seit Ornithologen und Reisende im sechzehnten Jahrhundert zum ersten Mal die Küste Perus besuchten, haben sie sich bemüht, anderen Menschen eine Vorstellung von der ungeheuren Anzahl von Vögeln zu vermitteln, die es dort gibt; dabei greifen sie oft zu bildhaften Formulierungen, sprechen zum Beispiel davon, dass die Vögel die Inseln wie ein riesiger schwarzer Ölteppich bedecken oder wie mächtige Wolken stundenlang das Sonnenlicht aussperren. So groß war die Zahl der Vögel auf diesen Inseln, dass selbst der leidenschaftlichste Ornithologe oder Besucher irgendwann ermüdete und Erschöpfung oder gar Abscheu empfand. »Ich habe sie millionenfach am Himmel gesehen, das reinste Gewimmel, wie Insekten auf einem Blatt oder Ungeziefer in einem spanischen Bett«, schrieb Duffield. »Jetzt mache ich mir nichts mehr aus Vögeln.«61 Nachdem ich sie mehrere Stunden lang beobachtet hatte, ermüdete auch ich, überwältigt von ihrer schieren Masse.
Es sollten mehrere Monate vergehen, bis weiß glitzernder, guanobedeckter Granit die braune Erde ersetzte. Mehrere Monate, bis der ganze Guano in Säcke gefüllt war, die an Kabeln zu den wartenden Lastkähnen hinuntersausten, deren Ziel Callao war. Nach getaner Arbeit würden die Guanogräber ins Hochland der Anden, die Vertreter von Agro Rural nach Lima zurückkehren, und allen würde immer noch der Guanogeruch anhaften. Nur die Inselwächter würden bleiben und die Vögel und ihre Exkremente hüten.
Der Vogelschutz, der die Guanoernte maximieren sollte, war auf diesen Inseln einmal sehr aktiv.62 Man setzte regelmäßig Eidechsen aus, die die Zecken fressen sollten, von denen man glaubte, sie bereiteten den Vögeln gesundheitliche Probleme; Raubvögel wurden in großer Zahl gejagt; die Inseln wurden sogar gesäubert, um mehr Niststätten zu ermöglichen. Heute jedoch besteht die Verantwortung der Wächter hauptsächlich darin, den Guano und die Vögel vor Dieben und Jägern zu schützen. Ein klösterlicheres Dasein kann man sich kaum vorstellen: Sie arbeiten zu zweit, stehen um sechs Uhr auf, ziehen mit einer weißen Karte über die Insel, tragen mit einem schwarzen Stift Markierungen ein, um die Nistplätze der Vögel zu bezeichnen, säubern ihre alten, durchnässten Hütten, messen die Wassertemperatur, fischen und bereiten Mahlzeiten zu. »Wir Inselwächter arbeiten immer schweigend«, erzählte mir Ricardo Moreno, der älteste Wächter.
Jetzt, wo ich dies schreibe, denke ich an Flaviano zurück, den Inselwächter auf Chincha Norte. Einige Jahre vor unserer Begegnung hatte er seinen Job als Guanogräber an den Nagel gehängt, war Wächter geworden und hatte sein ganzes Einkommen in Goldzähne investiert. Er war nur drei Tage vor mir geboren, wirkte aber wesentlich älter. Die sengende Sonne, vom Guano reflektiert, hatte seine Haut ledrig werden lassen. An Unterhaltungen nicht gewöhnt, sprach er leise, manchmal unhörbar, längere Gesprächspausen fand er nicht unangenehm. Wie ein Mönch hielt er sich an seinen immer gleichen Tagesablauf, ans Kochen und Saubermachen, fast bis zur Pedanterie. Dies lag nicht nur an seiner Tüchtigkeit und Professionalität, sondern es schien sich darin auch eine gewisse Besorgnis zu verraten, das Wissen, dass ein einziger verschobener Takt seinen Tagesrhythmus durcheinanderbringen konnte.
In Dino Buzzatis Roman Die Tatarenwüste wird ein junger Leutnant der Armee zu einem entlegenen Stützpunkt geschickt. Von hier aus überblickt man eine gewaltige Wüste, hinter der ein feindlicher Verband der Tataren liegen soll. Wie der Autor Tim Parks bemerkt, wirkt der Protagonist des Romans, Giovanni Drogo, anfangs, als er zu diesem weit entfernten Fort aufbricht, wie ein mittlelalterlicher Ritter.63 Doch als Drogo dort ankommt, stellt er fest, dass die Wachen die meiste Zeit in monotonen Aufgaben gefangen sind und die Wüste Tag und Nacht nach Anzeichen einer drohenden Invasion absuchen. Die Existenz des Feindes, der zwar laufend erwähnt wird, aber nie zu sehen ist, erschließt sich aus einer Reihe ominöser Zwischenfälle: Vor den Mauern des Forts taucht ein reiterloses Pferd auf, oder man erspäht weit hinten in der Wüste einen Fleck, vermeintlich eine Versorgungslinie per Eisenbahn.
Buzzati schrieb den Roman während seiner Nachschicht bei der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera und hatte das Gefühl, die Zeit gleite ihm durch die Finger. »Mir kam oft in den Sinn«, sagte er, »dass diese Routine nie enden und mein ganzes Leben sinnlos auffressen würde.«64 In seinem Roman wird Drogos Leben langsam von der monotonen Routine von Wachehalten und Kontrollgängen aufgezehrt. Obwohl er eigentlich nicht die Absicht hegt, lange in dem Fort zu bleiben, und sich verächtlich über den monotonen Tagesrhythmus äußert, gelingt es ihm nicht, sich dessen Bann zu entziehen. Quälend und unaufhaltsam vergeht die Zeit. Drogo kommt ins mittlere und dann ins hohe Alter und sinniert wehmütig über seine verlorenen Jahre. Als er auf Urlaub nach Hause kommt, stellt er fest, dass seine Freunde ihrer Wege gegangen sind und seine Abwesenheit kaum bemerkt haben.
Bei der Lektüre von Buzzatis Roman dachte ich oft an die Inselwächter. Das spanische Wort tiempo — abgeleitet vom Lateinischen tempus — bedeutet beides ›Wasser‹ und ›Zeit‹, eines das Maß des anderen. Wir messen die Zeit ja oft anhand des Jahreszeitenwechsels: Aprilschauer, das Fallen der Blätter. Doch hier auf den Guanoinseln herrschte das immer gleiche Wetter, unveränderlich: Die Vögel kamen und gingen, jeder Tag maß dieselbe Länge, und es regnete so gut wie nie. Das Gedächtnis braucht Orientierungspunkte, wenn es funktionieren soll, doch die Inseln boten eine monotone Landschaft ohne die geringste Abwechslung. Wie ein surrealer Kontrapunkt zu Tyntesfield, das ähnlich wie die Guanoinseln einer Zeitkapsel glich, konnten die Tage auf der Insel gewissermaßen ineinanderfließen; ein vier Tage und ein vier Monate zurückliegendes Ereignis schienen gleich weit entfernt.
Die einzige echte Abwechslung erlebten die Inselwächter etwa alle drei Wochen, wenn sie nach Hause fuhren, um ihre Familie zu besuchen. Dies war eine willkommene Zäsur im ewig gleichen Inselrhythmus, doch die Rückkehr aufs Festland konnte für die Wächter auch schwierig sein, eine schmerzliche Erinnerung an das parallele Leben ihrer Familie und Freunde. Während die Zeit auf den Inseln stillzustehen schien, zäh wie der Guano, floss sie auf dem Festland ungehindert dahin: Regierungen stürzten, Familienmitglieder fanden Jobs, heirateten und betrogen einander. Flaviano sagte, als er eines Tages von den Inseln zurückgekommen sei, habe er gemerkt, dass seine Frau etwas mit einem anderen angefangen hatte. Als verheirateter Mann war er zu den Inseln aufgebrochen und als lediger zurückgekehrt, verwandelt; jetzt gab es niemanden mehr, zu dem er zurückkehren konnte.
Wie in der Tatarenwüste schienen die Wächter auf den Guanoinseln ständig darauf zu warten, dass etwas passierte, irgendein so bedeutendes Ereignis wie 1864 die Besetzung der Chincha-Inseln durch die Spanier. Man konnte im Vogelgeschnatter leicht menschliche Stimmen hören, etwa die von Guanodieben oder von Geistern längst verstorbener chinesischer Guanogräber. Aber in der Realität bestand kaum die Gefahr eines Angriffs, Überfalls oder Guanodiebstahls. Es gab kein Ungeheuer, keinen Riesen, die man erschlagen musste; die größte Herausforderung bestand darin, im Land der Vögel geistig gesund zu bleiben, die Disziplin zu wahren und die Stille zu ertragen, die Abwesenheit menschlicher Stimmen.
Besteht für die Vögel irgendeine Bedrohung, können die Wächter wenig dagegen tun. Seit den 1950er-Jahren ist Perus Fischereiindustrie exponentiell gewachsen und zu einer der profitabelsten Industrien des Landes geworden. Zahllose Wadenfischerei-Trawler patrouillieren in den Gewässern rund um die Guanoinseln und ernten die Nahrung der Vögel, die anchoveta, die größtenteils zu Fischmehl verarbeitet werden, das als Viehfutter dient.65 Gegen die Ringwadenfischerei kommen die Vögel nicht an, ihre Schnäbel und Füße verfangen sich in diesen Netzen. Bei meinen Ausflügen auf die Inseln habe ich diesen Konflikt zwischen den Vögeln und den Trawlern immer wieder beobachtet. Manchmal klang es wie prasselnder Hagel, wenn Abertausende von Guanotölpeln gleichzeitig herabstürzen und ins Meer tauchten, um anchoveta zu fischen, und den Ozean brodelnd aufschäumen ließen. Doch ich wusste natürlich, dass ihr Fang nur einen Bruchteil des Fangs der Trawler ausmachte, die in der Ferne mit ihren Hunderte von Metern langen Ringnetzen stumm das Wasser durchkämmten. Ihre Aktivitäten sah man nur zum Teil, wie die Masse eines Eisbergs. »Die Natur erlaubt Tieren nicht, dass sie zu viele ihrer Beutetiere fressen, aber der Fang von Anchoveta zur Fischmehlproduktion ist nicht auf solche Weise reguliert«, schrieb Robert Cushman Murphy schon in den 1950er-Jahren.66
Doch Perus Seevögel müssen sich nicht nur mühsam gegen Wadenfischerei-Trawler behaupten, sondern haben auch noch mit der El Niño-Southern Oscillation (ENSO) zu kämpfen, einer zyklischen Störung, die den Humboldtstrom unterbricht, den Aufstieg kühlen Wassers aus den Tiefen des Ozeans, der hilfreich ist für die Meeresorganismen vor der Küste Südamerikas. Guanokormorane haben sich als besonders anfällig gegen Schwankungen in der Nahrungsversorgung gezeigt und verlassen während der El-Niño-Zyklen scharenweise ihre Nester. Selbst wenn die Nachfrage nach Fischmehl deutlich sinken würde und die Ringwadenfischerei dadurch zurückginge, stünden diese Vögel weiter unter großem Druck; es gibt Vorhersagen, dass El-Niño-Ereignisse67 im Verlauf der Erderwärmung immer häufiger auftreten werden.68
An dem Abend auf Chincha Norte kochte mir Flaviano, dankbar für meine Gesellschaft, ein Gericht aus Kartoffeln und Nudeln. Er redete wenig, kargte so sehr mit Worten, als handele es sich um die Süßwasservorräte der Insel. Danach, als die Sonne unterging, schlug er vor, gemeinsam in seinem Zimmer, das auf die Klippen ging, fernzusehen. Sein Lieblingsprogramm, sagte er, sei La voz Perú, die peruanische Entsprechung zu The Voice. Das Format der Show, bei der unglückliche Kandidaten um die Aufmerksamkeit von Juroren aus der Musikbranche buhlen, war bekannt, ja abgedroschen. Doch als wir auf seinem Bett saßen und auf den alten Fernseher starrten, herrschte eine ganz seltsame Atmosphäre: Die menschlichen Stimmen übertönte nicht menschlicher Radau: Vogelgeschnatter, Seelöwengebrüll und das Schnarren der Humboldt-Pinguine, laut wie Eselsgeschrei auf irgendeinem verrückten Bauernhof. Eingelullt vom Gesang der Kandidaten schlief Flaviano binnen Kurzem ein und schnarchte leise vor sich hin.
Als ich so neben ihm saß, sein Gesicht vom flimmernden Bildschirm beleuchtet, packte mich eine Ahnung von der schrecklichen Einsamkeit dieser Inselwächter. Robert Coker schrieb, es sei notwendig, die Guanovögel so zu behandeln, als wären sie domestiziert, doch in Wahrheit waren diese Männer verwildert, weil sie unter den Vögeln lebten. Der Guano ernährte zwar ihre Familien, beraubte gleichzeitig aber die Inselwächter selbst jeden Familienkontakts und verlangte eine andere Form der Hausgemeinschaft. Anstelle ihrer Frauen blieben all diesen Wächtern nur Tausende von Vögeln, tonnenweise Guano, Funkübertragungen menschlicher Stimmen und Hunderte von Pin-up-Girls, Symbole des Mangels. Um die Batterie der Solaranlage zu schonen, wollte ich den Fernseher abschalten, hielt aber im letzten Moment inne und ließ ihn weiterplärren, während ich in mein eigenes Zimmer ging.