Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008 und nach Barack Obamas Wahlerfolg war die Netz-Öffentlichkeit voll von dessen Botschaft der ›Hoffnung‹ und Liebeserklärungen an den ersten schwarzen Präsidenten, massenhaft gepostet von den Liberalen der Nation. Der Ton war leidenschaftlich und aufrichtig, das ekstatische Gefühl, Teil einer positiven Massenbewegung zu sein, überall. Sein Vorgänger, der Südstaatler George W. Bush, war insbesondere den Gebildeteren peinlich gewesen; er hatte im Irak und in Afghanistan Kriege angezettelt, war regelmäßig in Fettnäpfchen getreten und hatte sich Grammatikfehler (sogenannte ›Bushismen‹) geleistet. Dieses Schamgefühl hatte sich beispielsweise in Büchern wie Michael Moores Stupid White Men niedergeschlagen.
In krassem Gegensatz dazu war Obama wortgewandt, kultiviert, gebildet und weltoffen. Im Laufe des Medienspektakels seiner Wahl brach Oprah Winfrey in Tränen aus, Beyoncé sang und Massen junger Anhänger jubelten frenetisch. Hier und da tauten in dieser riesigen Welle der Hoffnung und positiven Stimmung sogar einige frostige Herzen auf, die eigentlich für Standpunkte deutlich links der Demokratischen Partei schlugen. Ein Traum schien wahr geworden.
Im Wahlkampf von 2016 versuchte Hillary Clinton, sich derselben Erfolgsformel zu bedienen, indem sie in Ellen DeGeneres’ Talkshow tanzte, wiederum Beyoncé ins Boot holte, öffentlich ihre Schwäche für Chilisoße eingestand und mithilfe des Slogans I’m With Her feministische Prominente wie Lena Dunham anzog. Stattdessen jedoch wurde sie zur Zielscheibe für Gelächter und Gespött seitens breiter Gruppen der Netz-Öffentlichkeit jeglicher politischen Couleur. Als sie die neue rechte1 Bewegung der Internet-Ära in feierlichem Ton zu »Bedauernswerten«2 erklärte, brachen jene Online-Massen höhnisch in Feierstimmung aus, was sich in einer Flut von Memes3 niederschlug.
Wie sind wir von jener Zeit der aufrichtigen, live in den etablierten Medien ausgestrahlten Hoffnung in die heutige Lage geraten? Dieses Buch behandelt diesen Zeitraum aus dem Blickwinkel der Internetkultur bzw. -subkulturen und verfolgt so die Online-Kulturkämpfe, die unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und des Radars der etablierten Medien um Themen wie Feminismus, Sexualität, Gender-Identität, Rassismus, Redefreiheit und politische Korrektheit wüten, zu ihren Anfängen zurück. Sie unterscheiden sich von den Kulturkämpfen der Sechziger und Neunziger, in denen typischerweise ältere Moral- und Kulturkonservative gegen eine die junge Generation erfassende Welle kultureller Säkularisierung und Liberalisierung kämpften. Der Online-Gegenbewegung, um die es hier geht, ist es gelungen, eine seltsame Avantgarde aus jugendlichen Videospieler_innen, unter Pseudonymen Hakenkreuze postenden Anime-Liebhaber_innen, ironischen South-Park-Konservativen4, antifeministischen Witzbolden, nerdigen Belästiger_innen und Meme-fabrizierenden Trollen5 zu mobilisieren, deren düsterer Humor und Liebe zur Transgression lediglich um ihrer selbst willen es schwierig machen einzuschätzen, welche politischen Ansichten sie ernsthaft vertreten und welche sie ›nur so aus Scheiß‹6 teilen. Wie obskur diese Gruppen auch sein mögen – was sie alle zusammenhält, ist die Liebe zum Spott. Dieser zielte auf die Ernsthaftigkeit und moralische Überheblichkeit eines liberalen intellektuellen Konformismus ab, der ihnen ausgelaugt schien und zu dem sie das liberale Establishment genauso zählten wie mehr oder weniger militante, in den schrulligsten Ecken von Tumblr und der Campus-Politik7 beheimatete Aktivist_innen.
In diesen Zeitraum fällt auch das endgültige Verschwinden des massenkulturellen Konsenses, der auf einer gesamtgesellschaftlichen Medienarena und einem allgemeingültigen Verständnis von Kultur und Öffentlichkeit beruhte. Der Triumph der Trump-Fans war auch ein Sieg über die etablierten Medien. Für diese hatten viele Durchschnittswähler_innen, genau wie die seltsamen, ironiegetränkten Internet-Subkulturen links wie rechts, die sich von ebenjenem verhassten Mainstream abzuheben versuchten, zu diesem Zeitpunkt bloß noch Verachtung übrig. Heute kann es der Karriere schaden, sich als gestriger Normalo8 ohne Ahnung von Netzkultur oder als Mitglied des korrupten Medien-Establishments zu erkennen zu geben. Stattdessen erleben wir im Internet die Entstehung eines neuen, gegen die etablierten Medien gerichteten Selbstverständnisses, das sich in der Do-It-Yourself-Kultur von Memes und nutzergenerierten Inhalten ausdrückt und das die cyberutopischen Eifer_innen seit Jahren predigen – wobei sich diese sicher nicht hätten träumen lassen, dass dieses Selbstverständnis einmal die heutige Form annehmen würde.
In Obamas erstem Wahlkampf hatten seine Anhänger in den sozialen Medien das so ikonenhafte wie amtlich wirkende, blau-rote Schablonenporträt des neuen Präsidenten mit dem Wort HOPE im unteren Bildteil, gemalt vom Künstler Shepard Fairey und abgesegnet von Obamas Wahlkampfteam, verbreitet. Im Trump-Wahlkampf dagegen ergoss eine respektlose Meme-Kultur ihre Werke über den verblüfften Mainstream, die Facebook-Gruppe Bernie’s Dank Meme Stash sowie das Reddit-Forum The Donald gaben für eine junge und frisch politisierte Generation den Ton des Wahlkampfes an. Die etablierten Medien versuchten verzweifelt, mit dem subkulturellen Insiderwitz-Stil Schritt zu halten, um beide im Entstehen begriffenen, von links bzw. rechts gegen das Establishment gerichteten Trends zu bedienen. Journalist_innen wie Manuel Castells und Beobachter_innen im Umfeld des Magazins Wired sprachen vom Kommen einer vernetzten Gesellschaft, in der alte hierarchische Modelle unserer Wirtschaft und Kultur von der Weisheit der Massen ersetzt würden, von Schwarmdenken, Graswurzel-Journalismus und nutzergenerierten Inhalten. Ihr Wunsch ging in Erfüllung, jedoch nicht ganz in Form ihrer utopischen Vision.
Während die alten Medien im Sterben liegen, werden die Wächter_innen kultureller Wertvorstellungen und Etikette gestürzt. Dem früher von einer kleinen kreativen Klasse verwalteten Massengeschmack sind nun virale Online-Inhalte aus obskuren Quellen immer schon voraus, und die ehemals passiven Konsument_innen der Kulturindustrie werden zu konstant eingeloggten Internetnutzer_innen, die in Sekundenschnelle eigene Inhalte erzeugen können. 2016 könnte sich als das Jahr erweisen, in dem die Kontrolle der etablierten Medien über die große Politik sich in Luft auflöste. Tausende Memes über Trump und ›Pepe den Frosch‹ eroberten das Netz und ein ›starker Mann‹ mit der Attitüde eines Twitter-Trolls, der aus seiner Feindschaft zu den klassischen Medien wie auch den beiden großen US-Parteien keinen Hehl machte, zog ohne diese ins Weiße Haus ein.
Ein frühes Signal dieses Bruchs in der Mainstream-Netzkultur war das virale Video Kony 2012. Die Entwicklung des vorherrschenden Duktus von Tugendhaftigkeit hin zu zynischer, schwer zu entschlüsselnder Ironie lässt sich recht gut nachzeichnen, wenn man Kony 2012 mit der Welle von ›Harambe‹-Memes im Jahr 2016 vergleicht. Das Video sollte die Kampagne Stop Kony bewerben, welche auf die Verhaftung des ugandischen Milizenführers Joseph Kony bis Ende 2012 abzielte. Der Film wurde über einhundert Millionen Mal angesehen und verbreitete sich so rasant, dass laut einer Umfrage in den Tagen nach der Veröffentlichung des Videos jeder zweite junge Erwachsene in den USA davon gehört hatte – wodurch die Webseite zusammenbrach. Time bezeichnete es das viralste Video aller Zeiten. Auf Facebook und Twitter teilte ein riesiges Publikum junger Westler_innen, die dem Treiben eines ugandischen Kriegsverbrechers zuvor ziemlich gleichgültig gegenübergestanden hatten, das Video, nebst eindringlichen, leidenschaftlichen Ausrufen, die wir heute zynisch als ›zur Schau gestellte Tugend‹ einordnen könnten.
Dann aber hagelte es Kritik an Video und Kampagne. Ugander_innen, Beobachter_innen der Region und sogar das ugandische Staatsoberhaupt warfen dem Video krasse Vereinfachung, Ungenauigkeit im Umgang mit Fakten, emotionale Manipulation sowie slacktivism9 vor. Eine Filmvorführung in Uganda wurde von wütenden Menschenmengen ausgebuht, die fanden, der Film konzentriere sich übermäßig auf den US-amerikanischen Filmemacher und vernachlässige Konys Opfer. In demonstrativer Rechtschaffenheit stimmten westliche Kritiker_innen ein und stellten die moralische Unzulänglichkeit von Kony 2012 und dessen Mainstream-Unterstützer_innen heraus.
Auf dem Höhepunkt der Verbreitung des Videos wurde schließlich der Macher des Films, Jason Russell, festgenommen und in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem sein öffentlicher Zusammenbruch gefilmt und im Internet veröffentlicht worden war. Im Video, das sich wiederum wie ein Lauffeuer verbreitete, war zu sehen, wie er nackt am Straßenrand herumschrie, auf den Boden einschlug, masturbierte und Autos demolierte.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit hatte die ›Kony‹-Geschichte die mittlerweile wohlbekannte Entwicklung von Mainstream-Tugend über konkurrierendes ›Gutsein‹ hin zu Demütigung und Häme durchlaufen, welche zur üblichen Handlung der düsteren Netz-Schauspiele der folgenden Jahre werden sollte. Viele, die das Video im Geiste eines weltumspannenden guten Willens geteilt hatten, nahmen es beschämt wieder von ihrer Pinnwand. Gut gemeinte, leichthin geteilte Anteilnahme mit Feel-Good-Faktor hatte sich innerhalb weniger Tage zur finstersten Facette einer ursprünglicheren, vor-kommerzialisierten, anonymeren Netzkultur gewandelt – Schadenfreude, tiefer Zynismus und die mittlerweile unaufhaltsame Kraft zu Unterhaltungszwecken geteilter öffentlicher Demütigung.
Nach zahllosen Wiederholungen des Kony-2012-Zyklus von Edelmut zu Blamage war 2016 der Geist eines tief nihilistischen Zynismus, der im Nachhinein alles ironisiert, an die Oberfläche der etablierten Internetkultur aufgestiegen und ein absurder Insiderwitz-Humor vorherrschend geworden. Als in jenem Jahr im Zoo von Cincinatti ein Gorilla namens Harambe erschossen wurde, nachdem ein Kind in sein Gehege gefallen war, begannen im Netz die üblichen Zyklen öffentlicher Zurschaustellung von demonstrativ rechtschaffener Entrüstung. Zunächst beschuldigten entsetzte Nutzer_innen die Eltern des Kindes in emotionalem Ton, für den Tod des Gorillas verantwortlich zu sein, wobei einige sogar Petitionen starteten, um die Eltern wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht zu verklagen. Dann aber nahm eine Art frivoler, ironiegetränkter Verspottung des social-media-Schauspiels selbst Überhand. Das ›Harambe‹-Meme war rasch zur perfekten Parodie der Rührseligkeit und der bizarren Prioritäten liberaler performativer Politik in der westlichen Welt sowie der oft damit einhergehenden Online-Massenhysterie geworden.
Am selben Tag, als ein Post über den Vorfall die Titelseite der Reddit-Nachrichten erreichte, wurde auf Change.org eine Unterschriftenaktion gestartet, welche die Behörden aufrief, die Eltern des Kindes für den Tod Harambes verantwortlich zu machen. Hunderttausende unterzeichneten die Petition. Bald machten die meist ironisch verwendeten Hashtags #JusticeForHarambe und #RIPHarambe die Runde. Parodien von Popsongs mit Harambe im Text wurden aufgenommen und der Schlachtruf Dicks Out For Harambe (»Schwänze raus für Harambe«) war durch den Comedian Brandon Wardell schnell zu einem populären Ausdruck geworden.
Harambe tauchte nun, in einer Reihe mit David Bowie und Prince, in ironisch-rührseligen Porträts von 2016 verstorbenen Prominenten auf. Ein amerikanischer Schüler im Gorillakostüm wurde gefilmt, wie er während des ersten American-Football-Matches seiner High School an der Seitenlinie entlang lief, wobei er einen Mitschüler so hinter sich her zog wie Harambe den kleinen Jungen, bevor er erschossen wurde. Der Zoo bat die Macher der Memes, keine ›Harambe‹-Hashtags mehr zu verwenden und sie nicht mehr mit Tweets und Nachrichten zu bombardieren. Die Memes waren spätestens in dem Moment in den etablierten Medien angekommen, als live im Fernsehen ein junger Mann zu sehen war, der vor dem Bundesparteitag der Demokraten stand und – in Anspielung auf 9/11-Verschwörungstheorien – ein Schild mit der Aufschrift Bush did Harambe hochhielt.
Matt Christman vom Podcast Chapo Trap House, selbst Produkt ironiegetränkter Netzkultur, fasste es so nüchtern wie treffend zusammen, als er sagte: »Harambes Beliebtheit beweist, dass die Leute über Mord lachen wollen, dabei aber Gewissensbisse haben.« Christman hielt außerdem fest, dass die Harambe-Manie erst nach dem Massaker in einem Orlandoer Schwulenclub, dessen Täter sich zum Islamischen Staat bekannt hatte, richtig an Fahrt gewann.
Auf hochgradig mediatisierte Tragödien mit pietätlosem Schabernack und Ironie zu reagieren, war seit Jahren die Hauptbeschäftigung von Online-Troll-Kulturen gewesen, doch vor ›Harambe‹ hatte kein Fall derartige Mengen von Menschen angezogen, die am Insiderwitz teilhaben wollten. ›Harambe‹ verbreitete sich rasant, weil es zu einer Zeit kam, als in den sozialen Medien eine gewisse Art humorloser, selbstgerechter Rührseligkeit bereits so aberwitzig präsent war, dass der einst anrüchige Stil ironisch-zynischer Spöttelei als Gegenkraft in etabliertere Netzkulturen Einzug hielt.
So effektiv diese herrlich skurrile Parodie auch war und so freudig sie von Ironiker_innen links wie rechts aufgegriffen wurde, so wurde der entrückte Humor doch dadurch verkompliziert, dass er – wie in so vielen anderen ähnlichen Fällen – wirklich unheimlichen Machenschaften erlaubte, sich im Labyrinth der Ironie zu verbergen. Beispielsweise wurde Ghostbusters-Star Leslie Jones in den größtenteils anonymen Drohungen und Posts einer Hasskampange mit dem Gorilla verglichen. Das Trommelfeuer der Beleidigungen erfasste sie, nachdem Milo Yiannopoulos, der schwule englische Konservative und heutige Star der Alt-Light, eine Reihe von Beschimpfungen in ihre Richtung getweetet hatte, in denen es unter anderem hieß, sie sähe aus wie »ein schwarzer Kerl«. Im Zuge des Belästigungsfeldzugs, der über sie hereinbrach, nachdem sie in Milos Schusslinie geraten war, wurden unter anderem ihre Webseite gehackt und Nacktfotos von ihr online in Umlauf gebracht.
In Anbetracht der Tatsache, dass das ›Harambe‹-Meme zum Liebling der Alt-Right10-Belästiger_innen wurde, also bei jenen den größten Anklang fand, denen es um das Verhöhnen liberaler Werte ging, drängt sich die Frage auf, ob der Fall ›Harambe‹ nicht doch bloß klassischer Rassismus im Gewand hipper Internet-Satire war. Oder war er eine clevere Parodie der dümmlichen Hysterie und Pseudo-Politik liberaler Internetkultur? Wissen die an solchen Memes Beteiligten überhaupt noch, was sie antreibt und ob sie es selbst ernst meinen oder nicht? Könnte es sein, dass sie in ein und demselben Medienphänomen gleichzeitig ironische Parodist_innen und ernsthafte Akteur_innen darstellen?
Ein Hacker, der unter seinem Twitter-Pseudonym @prom bekannt ist, verschaffte sich Zugriff auf den Account des Direktors des Cincinattier Zoos, Thane Maynard, und tweetete von dort aus #DicksOutForHarambe. Auf die Frage nach seinen Beweggründen sagte er der New York Daily News jedoch, er sei sich »nicht sicher«, warum er Maynards Konto gehackt hatte, und fügte hinzu: »Als die eigentliche Sache passiert ist, war ich schon irgendwie wütend auf den Typen, der ihn erschossen hat.«
Dieses Labyrinth aus Ironie und Insiderwitzen, in dem die wirkliche Meinung der Akteur_innen kaum auszumachen ist, wurde zum Schauplatz der Online-Kulturkämpfe. Hier wurde Trump gewählt und hier erlangte das, was wir heute die Alt-Right nennen, Berühmtheit. Jedes skurrile Ereignis, jede neue Identität und jede bizarre subkulturelle Verhaltensweise, die das breitere Publikum vor Rätsel stellen, wenn sie es schließlich in die etablierten Medien schaffen, von otherkin11 zu ›Pepe‹-Memes, können als Antwort auf eine Antwort auf eine Antwort begriffen werden, jede ein wütendes Echo auf die Existenz der anderen. Trump’sche Meme-Macher intensivierten ihren Tabus und politische Korrektheit verletzenden Stil als Antwort auf gender-bending12 Tumblr-Nutzer_innen, die dann wiederum selbst sensibler wurden und vom Rassismus, vom Frauenhass und von der heteronormativen Unterdrückung der Welt außerhalb ihrer Online-Subkulturen noch überzeugter waren als zuvor. Zugleich sahen die ›Bedauernswerten‹, von den Trump-Trollen zur Alt-Right, in den Hillary-Getreuen – der militanten Identitätspolitik auf Tumblr und der intersektionalen, gegen Redefreiheit agitierenden Campus-Linken – den Beleg für ihre ebenso düstere Weltsicht einer rasant verfallenden abendländischen Zivilisation, wobei beide Seiten sich zusehends von jeglichem kulturellem Mainstream losmachten, mit dem ihre trostlosen Visionen mittlerweile kaum noch etwas zu tun haben.
Die einst unbedeutende Aufschrei-Kultur der Linken, die der im universitären Milieu verwurzelten Tumblr-Identitätspolitik entsprungen war, erreichte zu dieser Zeit ihren Höhepunkt: Alles, von asiatischen Nudeln zu Shakespeare, war ›problematisch‹ und sogar die alltäglichsten Handlungen waren ›frauenfeindlich‹ und ›rassistisch‹. Während gesellschaftlich Verpöntes und antimoralische Ideologien in den düsteren Winkeln des anonymen Internets schwärten, wurden die de-anonymisierten sozialen Medien, wo junge Leute heute zumeist politisch sozialisiert werden, zu einem Panoptikum, in dem die Massen das Adlerauge einer ständig beleidigten Kultur öffentlichen Anprangerns fürchteten. Auf der Höhe seiner Macht konnte der gefürchtete Aufschrei, egal wie geringfügig das Vergehen oder wie positiv die ursprüngliche Absicht dahinter, einen Ruf, eine Karriere, sogar ein ganzes Leben ruinieren. Die heutigen Ausformungen der Online-Linken und -Rechten sind zweifellos in dieser seltsamen, ultra-puritanischen Zeit entstanden. Jene undurchsichtigen Anfänge der Internet-Politik haben eine ganze Generation geprägt und die Wahrnehmung und selbst die Sprache breiterer Gesellschaftsschichten entscheidend beeinflusst.
Der hysterische liberale Aufschrei bereitete den Nährboden für eine respektlos spöttelnde und political correctness verhöhnende Gegenbewegung, verkörpert durch charismatische Gestalten wie Milo. Nachdem man jahrelang den Teufel an die Wand gemalt hatte, indem man von zuckrigen Popstars zu Justin Trudeau jeden zum Rassisten und alle, die nicht zu Hillary standen, zu Sexist_innen erklärt hatte, erschien er tatsächlich – in Form der offen rassistisch-nationalistischen Alt-Right, die sich inmitten einer Online-Armee aus ironischen, in Insider-Witzen sprechenden Trollen verbarg. Als es soweit war, wusste einschließlich vieler Vertreter_innen ebendieser neuen extremen Netz-Rechten niemand mehr, wen man noch beim Wort nehmen konnte. Die Alt-Light13-Gestalten, die in dieser Zeit berühmt wurden, gründeten ihre Karrieren darauf, die Absurdität der Online-Identitätspolitik bzw. der Kultur leichtfertig geäußerter Frauenfeindlichkeits-, Rassimus-, Ableismus-, fatphobia- und Transphobie-Vorwürfe zu benennen. Offline konnte jedoch nur eine Seite den Einzug ihres Kandidaten ins Weiße Haus feiern – und nur eine Seite hat in ihrer Mitte Befürworter_innen der ›Rassentrennung‹, die pseudo-ironisch den Hitlergruß bemühen, und genuin hasserfüllte, mitunter mordende Frauenfeinde und Rassisten.
Bevor die offen rassistische Alt-Right weithin bekannt wurde, hatte die gesellschaftlich etabliertere Alt-Light ihr zumeist geschmeichelt, indem sie glühende Kommentare auf Breitbart und anderswo veröffentlichte, Alt-Right-Sprecher_innen in ihre YouTube-Shows einlud und der Bewegung auf ihren social-media-Kanälen Raum gab. Nichtsdestotrotz revanchierte die Alt-Right sich nicht, als Milos Karriere plötzlich in sich zusammenstürzte, was meiner Ansicht nach einen Präzedenzfall für eine Zukunft darstellen könnte, in der die eher spielerisch Tabus brechende Alt-Light sich vor den Karren derer spannen lässt, die viel ernstere politische Ziele verfolgen. Sollte diese finstere, antisemitische, für ›Rassentrennung‹ eintretende Ideologie in den kommenden Jahren wachsen – und damit ihre Vision von der Zukunft, die notwendigerweise Gewalt beinhaltet –, so werden sich jene, die der Rechten zu Attraktivität verholfen haben, für ihr Handeln verantworten müssen.
Dieses Buch will die Kulturkämpfe im Netz abbilden, die das Politikverständnis einer Generation geformt haben, um jene Online-Schlachten zu verstehen und festzuhalten, die andernfalls in Vergessenheit geraten könnten, wiewohl sie unsere Kultur und Ideen tief geprägt haben – von ihren undurchsichtigen Anfängen in winzigen Subkulturen bis hin zu ihrer späteren Präsenz in der breiten Öffentlichkeit und dem politischen Leben. Zeitgenössische Kulturkämpfe sollen hier in ihren historischen Kontext eingebettet und Wirkliches und Performance, Materielles und Abstraktes sowie Ironisches und Pseudo-Ironisches entwirrt werden – sofern das überhaupt noch möglich sein sollte.
1 | Die Begriffe »rechts« und »Rechte« (Engl. right) in dieser Übersetzung sind im angloamerikanischen Kontext zu verstehen und ließen sich in der deutschsprachigen politischen Landschaft am besten als »konservativ« einordnen. Engl. far right wird hier mit »rechtsaußen«, »äußere Rechte« oder »rechter Rand« übersetzt, white supremacist hingegen als »rechtsextrem«. Ebenso wird Engl. liberal mit Deutsch »liberal« übersetzt, auch wenn der Begriff im angloamerikanischen Sprachgebrauch eine deutlich ›linkere‹ Färbung hat als im deutschsprachigen Kontext und grob mit der politischen Zuordnung left übereinstimmt (Anm. d. Übers.).
2 | In einer Wahlkampfrede am 9. September 2016 sagte Clinton: »Grob verallgemeinernd könnte man die Hälfte von Trumps Anhänger_innen in den – so nenne ich es – ›Korb der Bedauernswerten‹ stecken. Oder? Sie sind rassistisch, sexistisch, homophob, ausländerfeindlich, islamophob – und so weiter und so fort!« (Anm. d. Übers.)
3 | Ein »Meme« ist ein lustiges, absurdes und/oder politisches Internetphänomen, etwa ein Bild mit Text, eine Animation, ein Video, ein Hashtag o.Ä., das darauf ausgelegt ist, massenhaft in sozialen Netzwerken geteilt zu werden (Anm. d. Übers.).
4 | Auch South Park Republican; von der US-Zeichentrickserie South Park beeinflusste politische Einstellung, die zu Wirtschaftsfragen klassische konservative Ansichten vertritt, kulturellen Themen wie LGBT+-Rechten jedoch tendenziell eher offen gegenübersteht (Anm. d. Übers.).
5 | Internetnutzer_innen, die absichtlich provozieren, Streit säen und Chaos anrichten (Anm. d. Übers.).
6 | Engl. for the lulz, leitet sich vom klassischen Internet-Ausdruck lol (kurz für laughing out loud, »in lautes Lachen ausbrechen«) ab. Die Übersetzung »nur so aus Scheiß« spiegelt allerdings den im Original enthaltenen Aspekt der Schadenfreude nicht wider (Anm. d. Übers.).
7 | An US-Universitäten beheimateter linker politischer Aktivismus, der hauptsächlich um Identitätsthemen wie Gender, Rassismus, Minderheitenschutz, vor Diskriminierung abgeschirmte Räume (safe spaces), Trigger-
Warnungen u.Ä. kreist (Anm. d. Übers.).
8 | Engl. ›basic bitch‹ bzw. ›normie‹ sind Internet-Slang aus dem 4chan-Milieu und bezeichnen vermeintlich langweilige und konformistische Durchschnittsmenschen, die in nerdiger Internetkultur nicht firm sind, oft im Zusammenhang mit einer unkritischen Nutzung des Internets bzw. der sozialen Medien. Im Weiteren schlicht als »Normalo« übersetzt (Anm. d. Übers.).
9 | Auch clicktivism; abwertende Bezeichnung für eine Form von Aktivismus, die sich auf das Teilen von Online-Petitionen oder das Beitreten zu einer Facebook-Gruppe beschränkt (Anm. d. Übers.)
10 | Kurz für Alternative Right; Sammelbegriff für diverse, untereinander lose vernetzte rechte bis rechtsextreme Gruppen und Ideologien in den USA. Den gemeinsamen Nenner bildet die Annahme, ›die Identität‹ der weißen US-amerikanischen Bevölkerung sei, wahlweise durch Einwanderung, Multikulturalismus, Islam, Juden, Feminismus, Minderheiten und soziale Gerechtigkeit fördernde Gesetzgebung sowie politische Korrektheit gefährdet und müsse verteidigt werden. Der Begriff datiert von 2008 und wird spätestens seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 allgemein verwendet (Anm. d. Übers.).
11 | Online-Subkultur, die um Fabelwesen u.Ä. kreist; siehe auch Kapitel 5 (Anm. d. Übers.).
12 | Geschlechtergrenzen überschreitend bzw. verwischend (Anm. d. Übers.).
13 | Im kulturellen und medialen Mainstream verankerte Alt-Right-Sympathisant_innen (Anm. d. Übers.).