Kapitel 1 – Die führerlose digitale Gegenrevolution


Es lohnt sich durchaus, an die frühen 2010er Jahre zurückzudenken, als der Cyber-Utopismus seine größte Verbreitung seit den Neunzigern – vor dem Platzen der Dot-Com-Blase – erlebte. Diesmal erschien er als Reaktion auf politische Ereignisse rund um den Globus, vom Arabischen Frühling über die Occupy-Bewegung bis hin zu neuen, politisierten Hackerbewegungen. Anonymous, WikiLeaks und Massenproteste im öffentlichen Raum in Spanien und dem Nahen Osten genossen breite Berichterstattung und zogen eine Flut von Kommentaren und Analysen zu ihrer politischen Bedeutung nach sich. All diese Phänomene wurden dem Aufstieg der sozialen Medien zugeschrieben und als Beispiele für eine neue, führerlose digitale Revolution bezeichnet. Die Selbstüberschätzung und der überspitzte Ton hätten skeptisch stimmen müssen, doch die meisten Linken ließen sich von der allgemeinen Erregung erfassen, als in den sozialen und sodann in den etablierten Medien Bilder gewaltiger Menschenmengen auftauchten.

Bücher, soziale Medien und zahllose schwärmerische Kolumnen und Blogs bejubelten die Ankunft der von Cyber-Utopist_innen des frühen Internets schon lang prophezeiten Umwälzung. Um ein typisches Beispiel für den seinerzeit vorherrschenden Ton herauszugreifen: Heather Brooke behauptet in ihrer Lobeshymne The Revolution Will be Digitized: Dispatches from the Information War, Technologie reiße »traditionelle gesellschaftliche Barrieren wie gesellschaftlichen Stand, Klasse, Macht, Wohlstand und Geografie« ein und ersetze sie durch »ein Ethos der Zusammenarbeit und Transparenz«. Das kanadische antikonsumistische Magazin Adbusters veröffentlichte einen viel geteilten Artikel von Manuel Castells mit dem Titel The Disgust Becomes a Network (»Die Empörung vernetzt sich«), als in Spanien und dem Rest der Welt per Internet organisierte, führerlose Protestcamps auftauchten. Er schrieb, die vernetzte Gesellschaft, ein Hauptthema seiner publizistischen Laufbahn, habe eine radikal neue Form angenommen. Der BBC-Journalist Paul Mason verfasste Why It’s Kicking Off Everywhere, worin er die Umstürzler vom Tahrir-Platz, die iranische ›Twitter-Revolution‹ sowie die sich mithilfe zahlreicher Hashtags um die Welt verbreitenden ›Occupy Wall Street‹-Proteste dokumentierte.

Dieser Eifer erstarb jedoch innerhalb weniger Jahre. Die ägyptische Revolution führte zur Herrschaft der Muslimbruderschaft, wodurch die Dinge letztlich schlimmer wurden. Islamisten wüteten auf den Straßen und Berichte von Vergewaltigungen auf jenem Platz, der kurz davor Schauplatz von soviel Hoffnung gewesen war, kamen ans Licht. Bald war die Militärdiktatur wiederhergestellt. Die Demonstrant_innen von Occupy Wall Street verblieben buchstäblich ziellos und wurden schließlich Camp für Camp von der Polizei aus dem öffentlichen Raum entfernt. Ende 2013 fand in der Ukraine eine Protestbewegung statt, die mit den gleichen Szenen einer romantisierten Macht des Volkes auf öffentlichen Plätzen begann. Diesmal jedoch wurde das Narrativ vom führerlosen Netzwerk, das nun schon ein bisschen weniger überzeugend wirkte, nicht mehr bemüht, nachdem die Proteste schnell von faschistischen Mobs übernommen worden waren.

Viele Ereignisse, die als Teil der führerlosen digitalen Revolution betrachtet wurden, wie Occupy Wall Street und die öffentlichen Proteste in Spanien, wo Tausende die Puerta del Sol besetzten, machten sich die Guy-Fawkes-Maske als zentrales Symbol zu eigen. Die Tatsache, dass die Maske im Internet populär geworden war, sowie ihre politisch ambivalente Geschichte1 hätten Hinweise darauf sein müssen, dass sich bereits eine ganz andere Spielart führerloser Online-Bewegung am Horizont zusammenbraute.

Nach der Wahl Trumps war alle Welt brennend an der neuen rechten Online-Bewegung interessiert, deren ›memetische‹ Ästhetik Webseiten vom populären Subreddit The Donald bis zur Mainstream-Netzkultur infiltriert zu haben schien. Im Vorfeld der Wahl war ›Pepe der Frosch‹ das berühmteste gemeinsame visuelle Symbol. Der Name, den die Presse diesem Sammelsurium verschiedener rechtslastiger Netz-Phänomene von Milo über 4chan bis zu Neo-Nazi-Seiten gab, war ›Alt-Right‹. Wie Horden von Internet-Pedanten unverzüglich klarstellten, wurde diese Bezeichnung jedoch in den Kreisen, die sie bezeichnen sollte, lediglich für eine neue Welle offen die ›Rassentrennung‹ fordernder und rassenideologisch-nationalistischer Bewegungen und Subkulturen gebraucht. Für diese waren Sprecher wie Richard Spencer kennzeichnend, der einen weißen US-amerikanischen Ethno-Staat sowie ein an das römische Reich erinnerndes, pan-nationales weißes Imperium fordert. Zu den Medien der Bewegung zählen auch der Videoblog Red Ice des Schotten Millennial Woes, Seiten wie Radix und der Verlag Counter Currents.

Im weiteren Dunstkreis der Alt-Right, die aus sich häufig gegenseitig bekämpfenden, sektiererischen Fraktionen besteht, gibt es eine ältere Generation von white supremacists2, welche schon vor der Alt-Right aktiv war und aus deren Schriften die Bewegung ihre Inspiration bezieht. Hierzu gehören etwa Jared Taylor von der Webseite American Renaissance, der sich selbst als ›Rassen-Realist‹ bezeichnet, und Gestalten wie Kevin B. MacDonald, Redakteur des Occidental Observer, den die Anti-Defamation League zu den wichtigsten Stimmen des Antisemitismus unter rechten Intellektuellen zählt. Die Alt-Right befasst sich zumeist mit Themen wie dem Intelligenzquotienten, europäischer Demografie, dem Verfall der Kultur, ›Kultur-Marxismus‹, Anti-Egalitarismus und Islamisierung. Am wichtigsten ist ihr jedoch, wie der Name schon sagt, eine Alternative zum konservativen rechten Establishment zu schaffen. Dessen angeblich typisch christlichen, sanftmütig-passiven Anhängern wirft sie vor, sich selbst ›Hörner aufzusetzen‹, indem sie dem fremden, nicht-weißen Eindringling Zutritt zu Weib/Heimat/Rasse gewährten, und tut sie daher als cuckservatives3 ab.

Dann ist da noch eine Reihe obskurerer rechtsgerichteter, antiegalitärer Strömungen wie das frühe Neoreaction Movement, kurz NRx, zu dem Denker und Blogger wie Mencius Moldbug und Nick Land gehören, Urheber der einflussreichen Begriffe »die Kathedrale« (›the Cathedral‹) und »dunkle Aufklärung« (›Dark Enlightenment‹). Der Begriff der Kathedrale bezeichnet ein allumfassendes System bzw. ein ›geistiges Gefängnis‹ und ähnelt damit stark dem Ideologieverständnis marxistischer Kritischer Theorie. Die ›dunkle Aufklärung‹ spielt, ausgehend von Fortschrittsmisstrauen und einer Ablehnung des liberalen Paradigmas, ironisch mit dem Gedankengut der Aufklärung. Von all diesen Denker_innen ist Land der größte Sonderling. Vormals stand er der linksgerichteten Schule der Akzelerationisten näher; als nach wie vor hochgradig eigenwilliger Denker lässt er sich kaum in eine Schublade stecken. Innerhalb der technologiefreundlichen Strömung der radikalen libertären Rechten waren Themen wie Bitcoin, die Besiedelung des Meeres (seasteading) – Peter Thiels Idee sah vor, einen separaten Staat vor der Küste der USA zu schaffen – sowie rechtslastige, elitäre Anwendungen des Transhumanismus beliebt.

Allerdings hätte das, was wir heute die Alt-Right nennen, sicherlich keine Verbindung zum Mainstream und zur jungen Generation herstellen können, wenn es ausschließlich in Form langatmiger Traktate auf obskuren Blogs in Erscheinung getreten wäre. Erst die auf Satire-Bildern beruhende Kultur der respektlosen Meme-Fabriken 4chan und später 8chan mit ihrer Grenzüberschreitung und ihren Hacker-Taktiken verliehen der Alt-Right ihre jugendliche Energie. Die in den Protesten von 2011 verwendete Guy-Fawkes-Maske spielte auf Anonymous an, welches seinen Namen, seine führerlose Anti-Prominenz-Ethik sowie seine Vernetzung dem chaotischen, anonymen Stil von 4chan entliehen hatte. Die Comic-Verfilmung V for Vendetta, aus der die Guy-Fawkes-Maske stammt, sowie das ›dunkle Zeitalter der Comics‹4 haben die ästhetischen Vorstellungen dieser Netz-Kultur geprägt.

Während Beobachter_innen die Proteste der frühen 2010er Jahre für ihre Ablehnung der Rechts-Links-Spaltung priesen, erscheinen unkritische Lobeshymnen auf die politische Entwurzelung dieser vernetzten, führerlosen, Internet-zentrierten Politikvariante heute etwas weniger angebracht. Die Aktivitäten von Anonymous haben sich über die Jahre hinweg ohne erkennbares Muster im gesamten Spektrum zwischen links- und rechtslibertär bewegt, wobei von Justin-Bieber-Fans zu Feminist_innen, Faschist_innen und Cybersicherheits-Expert_innen jeder sein Fett weg bekam und ebenjene Art von voyeuristischer Selbstjustiz geübt wurde, für die typischerweise Leser_innen von Boulevardblättern verspottet werden.

Um die scheinbar widersprüchliche Politik von 4chan und Anonymous sowie ihr Verhältnis zur Alt-Right zu verstehen, muss man sich mit der schrittweisen Rechtswende der chan-Kultur im Dunstkreis des Politik-Boards /pol/ befassen, im Gegensatz zum weniger offen politischen, aber allzeit extremen Board für Diverses namens /b/. Über AnonOps IRCs5 kommunizierende linke ›Moralschwuchteln‹ (moral fags) waren während der Hochphase von Anonymous’ öffentlicher Präsenz zwischen 2010 und 2012 einem hohen Maß an staatlicher Überwachung und Repression ausgesetzt. Die resultierende Abwesenheit des libertären, linksgerichteten Elements in der chan-Kultur schuf einen luftleeren Raum auf den Bilder-Boards, den die nach rechts gewandte Seite der Kultur mit ihren gekonnt gemachten, gegen political correctness agitierenden Schockerhumor-Memes füllen konnte.

4chan begann nach seiner Gründung durch den jugendlichen Chris Poole (auch bekannt als moot) mit Nutzer_innen, die japanische Anime teilten, wie schon auf dem Vorbild 2chan. Pooles wichtigste Inspiration für den Stil der Seite war ein Unterforum der nerdigen Unterhaltungsseite Something Awful namens Anime Death Tentacle Rape Whorehouse. Seit seiner Gründung 2003 wuchs 4chan bis 2011 auf etwa 750 Millionen Seitenaufrufe pro Monat an. Neue Nutzer wurden »Neuschwuchteln« (newfags) genannt, ältere »Altschwuchteln« (oldfags). Es wurde zu einem äußerst einflussreichen und kreativen Forum mit einer Reputation für Streiche, Memes und schockierende Bilder, die sich, ob man will oder nicht, ins Gedächtnis einbrennen. Die Kultur der Seite war nicht nur hochgradig und schockierend frauenfeindlich, sondern stand nerdiger ›Beta-Männlichkeit‹6 auch selbstironisch bis selbstzerfleischend gegenüber. Zu ihren popkulturellen Grundlagen zählten zum Beispiel Kriegsspiele und Filme wie Fight Club und Matrix. Man musste sich nicht registrieren oder einloggen, sodass Posts gemeinhin alle den Benutzernamen ›Anonymous‹ trugen.

Diese Kultur der Anonymität förderte die Entstehung einer Umgebung, in der die Nutzer ihren finstersten Gedanken freien Lauf lassen konnten. Zwar waren bizarre Pornografie, Insider-Witze, nerdiger Jargon, blutrünstige Bilder, (selbst-)mörderische oder inzestuöse Gedanken, Rassismus und Frauenfeindlichkeit kennzeichnend für die Umgebung, welche dieses bizarre virtuelle Experiment hervorgebracht hatte; zumeist wurden hier jedoch einfach lustige Memes gepostet. Poole nannte 4chan eine ›Meme-Fabrik‹ und es hat fraglos zahllose Memes kreiert, die es in die etablierte Netzkultur geschafft haben. Die berühmtesten frühen Beispiel hierfür sind wohl LOLcats, ein auf Katzenbildern beruhendes image macro7, und rickrolling, scheinbar zu ernsthaften Inhalten führende Links, die den Nutzer zu einem Video von Rick Astleys Never Gonna Give You Up weiterleiten.

Die Nutzer von 4chan/b/ agierten gemeinsam in Projekten wie der Wahl Chris Pooles zur Person des Jahres 2008 in der Online-Umfrage des Magazins Time und im kollektiven Cyber-Mobbing einer willkürlich ausgewählten Elfjährigen im Jahr 2010. Sie machten ihren Namen und ihre Adresse ausfindig, schikanierten sie und forderten sie zum Selbstmord auf, nachdem sie ein albernes Video gepostet hatte, in dem sie im Stil einer Gangsta-Rapperin sprach. Es überrascht kaum, dass es ihre Lage nicht verbesserte, als ihr Vater zur Verteidigung seiner Tochter ein Video postete, in dem er damit drohte, die »Cyber-Polizei« zu rufen – angesichts der allgemeinen emotionalen Unterentwicklung auf 4chan ist mangelhaftes Internetwissen dort immer legitimer Grund für jede Art von Grausamkeit. Auch im Rahmen weniger düsterer Streiche wie etwa ›Operation Birthday Boy‹ handelten sie kollektiv, als ein älterer Herr eine Online-Anzeige schaltete, wo es hieß: »Leute für Geburtstagsparty gesucht«. Gerührt vom Aufruf des einsamen Herrn fanden sie seinen Namen, seine Adresse sowie seine Telefonnummer heraus, schickten ihm hunderte Geburtstagskarten und bestellten Kuchen sowie Stripperinnen zu ihm.

In der New York Times beschreibt Mattathias Schwartz 4chan/b/ folgendermaßen:

Die anonymen Bewohner der anderen Boards auf 4chan – Reisen, Fitness und verschiedenen Porno-Genres gewidmet – bezeichnen die /b/-Bewohner als »/b/-tards8«. Legt man Verdorbenheit, Engstirnigkeit und traffic-gesteuerte Fluktuation als Maßstab an, ist die /b/-Kultur beispiellos. /b/ liest sich wie das Innere einer Schultoilette oder eine Art obszöne Telefonkonferenz oder ein Blog, auf dem es keine Posts und dafür nur Kommentare gibt, voller Jargon, den zu verstehen man zu alt ist.

Die Alt-Right-Vokabel ›kek‹ begann auf 4chan-Kommentarboards zum Mehrspieler-Videospiel World of Warcraft als Variante von ›lol‹, während der aus Matt Furies Netz-Comic Boy’s Club stammende Pepe the Frog den Inbegriff von Meme-basiertem Insiderwitz-Humor darstellt. Kek ist außerdem eine altägyptische Gottheit, die als froschköpfiger Mann dargestellt wird; ›the church of Kek‹ und ›praise Kek‹ verweisen auf die auf 4chan ironisch zitierte Kek-Religion.

Einer der Faktoren, welche die häufig nihilistische und ironische chan-Kultur mit der breiteren Kultur des Alt-Right-Dunstkreises verknüpften, war ihr Widerstand gegen politische Korrektheit, Feminismus, Multikulturalismus usw., insbesondere gegen die Tatsache, dass diese in ihre unbekümmerte, anonyme, technologiefixierte Welt Einzug hielten. In den USA zielte ein früher Fall konzertierter Attacken gegen sich solcherart einmischende Frauen auf Kathy Sierra ab, Tech-Bloggerin und Journalistin. Sierra war Hauptreferentin bei South by Southwest Interactive9 gewesen, ihre Bücher waren Bestseller. Gegenwind kam auf, als sie einen Aufruf zur Moderation von Leserkommentaren unterstützte, was zu jener Zeit als Untergrabung der libertären Hacker-Ethik absoluter Freiheit im Netz betrachtet wurde, auch wenn es heutzutage Standard ist. Auf ihrem Blog erschienen Kommentare, in denen sie beleidigt und ihr massenhaft mit Vergewaltigung und Mord gedroht wurde – was Frauen wie Sierra mittlerweile routinemäßig erleben müssen. Persönliche Details über ihre Familie und Wohnadresse wurden im Netz gepostet und hasserfüllte Reaktionen, wie Photoshop-Bilder, die ihren Kopf in einer Schlinge steckend zeigen, eine Zielscheibe, deren Mitte ihr Kopf ist sowie ein gruseliges Bild, auf dem sie mit Damenunterwäsche geknebelt ist, machten die Runde. Diese personalisierte Gegenreaktion war so heftig, dass Sierra das Gefühl hatte, ihren Blog schließen und von Referenten-Engagements zurücktreten zu müssen. Als sie auf ihrem Blog erklärte, dass sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehe, weil sie schreckliche Angst habe, dass ihre Stalker ihre Drohungen wahr machen könnten, hatte das eine weitere Flut von Geek-Hass gegen sie zur Folge.

Andrew Auernheimer (aka weev), ein mittlerweile weithin bekannter Hacker und Troll, scheint tief in die Angriffe auf Sierra verstrickt gewesen zu sein. Offenbar hat er im Netz Falschinformationen verbreitet, denen zufolge sie unter häuslicher Gewalt leide sowie sich früher prostituiert habe. 2009 behauptete weev, er habe das System von Amazon gehackt und Bücher über Homosexualität unter »Pornografie« eingeordnet.10 Obwohl er früher zur Occupy-Bewegung gehört hat, postet er nun regelmäßig juden- und schwulenfeindliche Tiraden auf YouTube, trägt ein Hakenkreuz-Tattoo auf der Brust und war auch selbsternannter Präsident einer Troll-Initiative namens Gay Nigger Association of America. Diese zielte darauf ab, populäres Bloggen und andere Mainstream-Aktivitäten zu bekämpfen, die angeblich authentische Netzkultur zerstören. Sierra hat den Fortgang der Dinge so kommentiert: »Was mir passiert ist, verblasst im Vergleich dazu, was heute im Netz mit Frauen geschieht […]. Ich dachte, die Dinge würden besser werden. Hauptsächlich ist es einfach schlimmer geworden.«

Online-Räume und Kommentarbereiche hatten bereits Jahre früher ein schockierendes Niveau an Frauenhass entwickelt. Eine frühe Diskussion über frauenfeindlichen Extremismus im Netz wurde entfacht, als Helen Lewis im New Statesman feministische Publizist_innen interviewte, die enthüllten, was ihnen widerfahren war. Die feministische Bloggerin und Aktivistin Cath Elliot schrieb:

Hätte ich versucht, darüber Buch zu führen, wie viele beleidigende Kommentare ich bekommen habe, seit ich 2007 begann, im Netz zu publizieren – ich hätte mittlerweile garantiert den Überblick verloren. Und mit ›beleidigend‹ meine ich keine Kommentare, die dem widersprechen, was ich schreibe – vergessen Sie nicht, dass ich aus der Gewerkschaftsszene komme und in einem Männergefängnis gearbeitet habe, ich bin also kein zartes Blümlein, das ein bisschen Geplänkel oder hitzige Debatten nicht aushält – nein, ich spreche von persönlicher, meist sexualisierter Beleidigung, die Sorte, die mich mittlerweile mehr als einmal dazu gebracht hat, mich zu fragen, ob sich meine Arbeit eigentlich lohnt. […] Ich las, dass ich offenbar zu hässlich sei, als dass mich irgendein Mann vergewaltigen wollte; oder ich konnte detaillierte Beschreibungen davon lesen, wie bestimmte Werkzeuge in eine oder mehrere meiner Körperöffnungen geschoben werden sollten.

Die feministische Bloggerin Dawn Foster schrieb:

Den bisher schlimmsten Fall von Beleidigung im Netz musste ich erleben, als ich über die Auslieferung von Julian Assange bloggte. […] Anfangs war es schockierend: Innerhalb einer Woche bekam ich eine widerwärtige E-Mail, in der, als eine Art Warnung, meine Wohnadresse, Telefonnummer und Büroanschrift standen. Nachdem ich kurz darauf getweetet hatte, dass ich seit Stunden auf einen Nachtbus warte, antwortete jemand, er hoffe, ich würde an der Bushaltestelle vergewaltigt.

Die Publizistin Petra Davis, die zu Sex-Themen schreibt, berichtete später:

Als man anfing, mir Briefe nach Hause zu schicken, meldete ich das der Polizei, doch diese riet mir lediglich aufzuhören, provokante Texte zu schreiben. Schließlich bekam ich eine E-Mail, die mich auf eine Webseite weiterleitete, wo meine Dienste als Sex-Arbeiterin beworben wurden, mit meiner Anschrift auf der Titelseite, über der stand: ›fickt sie bis sie schreit, Dreckshure, vergewaltigt mich die ganze Nacht lang schneidet mich auf‹, sowie Bilder von sexuell verstümmelten Frauen. Es war sehr seltsam, still vor meinem Bildschirm zu sitzen, im Wissen, dass die diesen Frauen angetane Gewalt als Lektion für mich gemeint war […]. Natürlich dauerte es nicht lang, die Seite vom Netz zu nehmen, aber zum dem Zeitpunkt hatte ich das Ganze gründlich satt und ließ es mehr oder weniger ganz bleiben, aus irgendeiner Perspektive über Sex zu schreiben.

Von Bedeutung ist hier auch ein weiterer Bereich des breiteren Alt-Right-Milieus, der durchaus Strahlkraft besitzt – maskulinistische und neomaskulinistische, antifeministische Online-Subkulturen. Diese befassen sich typischerweise mit dem Niedergang westlicher Männlichkeit; einige verfechten Ideen wie etwa den Männer-Separatismus von Men Going Their Own Way (MGTOW), während andere eine aggressivere Spielart sozialdarwinistisch inspirierter ›Aufreißkunst‹ (pick-up artistry) vertreten, um das menschliche System ›auszutricksen‹. Allerdings hat erst der äußerste Rand des Alt-Right-Dunstkreises, der als Alt-Light bekannt wurde, diese neue diffuse und chaotische Ansammlung sich gegenseitig befruchtender Subkulturen wirklich bekannt gemacht und ihnen in den Mainstream verholfen. Die Alt-Light umfasst social-media-Promis wie Milo, Twitter- und Blog-Stars wie Mike Cernovich, Autor des Männer-Leitfadens Gorilla Mindset, den früheren Vice-Redakteur Gavin McInnes und Heerscharen ›Pepe‹-Meme-produzierender Videospieler und Nonsens postender 4chan-Nutzer, die konservativem Gedankengut oder Politik zwar selten tief verbunden waren, jedoch deren ästhetische Vorstellungen teilten und von der gleichen Abneigung gegen politische Korrektheit angetrieben waren. Was wir heute die Alt-Right nennen, ist in Wirklichkeit diese Ansammlung vieler verschiedener Strömungen, die teilweise voneinander unabhängig entstanden sind, sich aber während der Kulturkämpfe der vergangenen Jahre unter der Flagge einer Reaktion gegen politische Korrektheit versammelt haben. Der mit 4chan assoziierte respektlose Troll-Stil erfreute sich als Reaktion auf die sich ausbreitende Identitätspolitik femininerer Netz-Orte wie Tumblr wachsender Beliebtheit. Dies schlug sich schließlich im ›echten Leben‹ nieder, als Campus-Politik immer stärker um diskriminierungsfreie ›Schutzräume‹ (safe spaces), Trigger-Warnungen, Gamergate und viele andere Auseinandersetzungen kreiste.

Beim Vorhaben, die Geschichte der Gamergate-Kontroverse zu rekapitulieren – mitsamt Hasskampagnen, internen Meinungsverschiedenheiten und Brüchen, tendenziöser Berichterstattung sowie einem dauerhaft hohen Emotionsniveau, das eher an Reaktionen auf einen Völkermord als an Zank über Videospiele denken lässt –, kann einem wahrhaft übel werden. Zur Einführung folgt hier ein kurzer Abriss, der zweifellos keine der beteiligten Parteien glücklich stimmen wird. Im Vorfeld von Gamergate wurde die feministische Spiele-Kritikerin Anita Sarkeesian Opfer einer jahrelangen Hasskampagne ähnlich dem Fall Sierra, wobei sich diesmal jedoch Hunderttausende beteiligten und ein Ton vorherrschte, dessen Giftigkeit auf Außenstehende zutiefst unverständlich wirken musste. Ihr Vergehen bestand darin, in einer Reihe von YouTube-Videos in zugänglichem und ziemlich gesittetem Ton in die Grundkonzepte feministischer Medienkritik einzuführen. Der Grad von Sarkeesians Kritik, die sich, selbst Spielefan, für eine Reform und nicht etwa die Zensur von Videospielen aussprach, würde in der Literatur- oder Filmwissenschaft als ganz normal angesehen; ein solches Publikum ist das Debattieren sowie eine einigermaßen zivilisierte, erwachsene Art von Diskurs gewohnt, in der man einen alten Hollywood-Film als sexistisch bezeichnen kann, ohne seinen ästhetischen Wert in Zweifel zu ziehen, und wo man verschiedener Meinung sein kann, ohne gleich Vergewaltigungs- und Morddrohungen zu bemühen. In ihren Videos findet sich kein Aufruf, Videospiele zu zensieren oder zu verbieten. Ihre Kritik an der eindeutig rückschrittlichen Darstellung von Frauen in manchen Spielen ist nicht heftiger als das, was man bei Popkultur-Kritiker_innen wie Charlie Brooker oder Mark Kermode lesen kann.

Für dieses unverzeihliche Verbrechen hat Sarkeesian Jahre persönlicher Beleidigungen ertragen müssen, die derart düster und verstörend sind, dass es einem die Sprache verschlägt. Zu typischen Online-Kommentaren zählten: »Ich vergewaltige dich und steck’ deinen Kopf auf einen Stock«, »Es wär’ witzig, wenn fünf Typen sie jetzt gerade vergewaltigen würden«, »Ich masturbiere wild zu deinem Gesicht« sowie der alte 4chan-Standard-Spruch »Titten oder verpiss’ dich« (›Tits or get the fuck out‹). Ihre Wikipedia-Seite wurde mit pornografischen Bildern sowie Hasssprüchen verunstaltet. Es gab auch eine Kampagne, in der all ihre social-media-Konten als Spam, betrügerisch oder gar terroristisch gemeldet wurden.

Man versuchte, ihre Webseite mithilfe eines ›distributed denial of service‹-Angriffs (DDOS)11 lahmzulegen sowie ihre E-Mails zu hacken. Pornografische Bilder, auf denen sie von Figuren aus Videospielen vergewaltigt wird, wurden erstellt; ein beleidigter männlicher Zocker kreierte sogar ein Spiel, in dem man auf Anitas Gesicht einprügeln kann, bis es blutig und lädiert ist und ihre Augen dunkel und angeschwollen sind. Sucht man Anita heute auf YouTube, findet man zahllose Hassvideos gegen sie, die wie besessen versuchen, ihre Karriere und ihren Ruf zu ruinieren. Dies gründete hauptsächlich darauf, dass sie eine Kickstarter-Kampagne führte, die gerade wegen der heftigen Schikane gegen ihre Person mehr Geld einbrachte als anfangs geplant. All dies geschah, man erinnere sich, um zu beweisen, dass Sexismus in der ›Videospielgemeinde‹ in keiner Weise ein Thema sei, wie sie unerhörterweise behauptet hatte.

In der Usenet-Kultur beheimatete Taktiken wie DDoS und doxxing (die Veröffentlichung persönlicher Daten der Person, um Massenschikane möglich zu machen), deren 4chan sich bediente, standen im Mittelpunkt der Angriffe antifeministischer Zocker. Spiele, die auf das Gamergate-Publikum abzielten, ästhetisierten häufiger Krieg, Gewalt und Technologie, während in den Jahren, die Gamergate vorausgingen, der Markt für an Frauen gerichtete Spiele gewachsen war. Dies traf speziell auf Spiele wie Candy Crush zu, welche sich an Mädchen richteten, die noch nie von World of Warcraft gehört hatten – offenbar eine Beleidigung für jene, die sich für echte Spieler_innen hielten. Gamergate selbst kam ins Rollen, als Zoe Quinn ein Videospiel namens Depression Quest kreierte, das selbst einer Nicht-Spielerin wie mir als grottenschlechtes Spiel aufstößt, inklusive all der Zerbrechlichkeit und Fetischisierung psychischer Erkrankung, welche den Netz-Feminismus der vergangenen Jahre auszeichnen. Es war ein Spiel – über Depression! –, das die perfekte Parodie all dessen gewesen wäre, was Gamergater an ›SJWs‹ (›Social Justice Warriors‹12) hassten.

Nichtsdestoweniger bekam ihr grausiges Spiel positive Kritiken von politisch mit ihr sympathisierenden Journalist_innen aus der Indie-Game-Szene, was gewissermaßen die ganze Gamergate-Saga auslöste. Je nachdem, wen man fragt, war das entweder eine Auseinandersetzung über Ethik im Spielejournalismus oder eine Ausrede, um in die Zockerwelt eindringende Feminist_innen und Frauen anzugreifen. Lassen Sie mich zunächst klarstellen, wie ich zu Videospielen stehe. Erwachsene sollten meiner Meinung nach ihre seelischen Kräfte besser in anderer Weise nutzen, als sie in solche Spiele zu investieren. Und das gilt auch für feministisches Zocken, was mir ungefähr so attraktiv vorkommt wie feministische Pornos; mit anderen Worten, überhaupt nicht. Allerdings wird jeder mit einem Grundverständnis menschlichen Verhaltens nachvollziehen können, warum Quinns schlechtes Spiel, weitere Fälle angeblich tendenziöser Kritiken und das zweifellos ideologische Projekt, Teile der Spielewelt feminismusfreundlicher zu machen, die völlige Katastrophe nach sich zogen. Es folgte der möglicherweise größte flame war13 in der bisherigen Geschichte des Internets, eine Überreaktion im großen Stil, in deren Verlauf jeder jedem vorwarf, zu lügen und bösartige Absichten zu verfolgen.

Quinns Ex-Freund Eron Gjoni postete in Foren, dass sie ihn betrogen habe, was eine Welle von Angriffen auf sie auslöste, in denen ihren Angaben zufolge neben Versuchen, ihre Accounts zu hacken, ihrer Familie und ihren Arbeitgeber_innen Rache-Pornos zugeschickt wurden. Unnötig zu erwähnen, dass Quinn Vergewaltigungs- und Todesdrohungen erhielt sowie gedoxxt wurde. Eine Reihe feministischer Spieler_innen und Spielekritiker_innen wie Brianna Wu, Felicia Day und Jennifer Allaway, die sich ins Gemenge gemischt hatten, wurden ebenfalls angegriffen. In all diesen Fällen existieren zahllose konfligierende Schilderungen über das Ausmaß der Drohungen und Angriffe, doch selbst wenn man nur die unstrittigen berücksichtigt, kann man ohne Übertreibung von einem Niveau an Anfeindung sprechen, das in der Zeit vor dem Internet lediglich Kindermördern und dergleichen vorbehalten war. Dies uferte so aus, dass moot, Gründer von 4chan und Vorkämpfer des anonymen Internets, das Thema Gamergate von 4chan verbannte und die Seite letztlich sogar selbst verließ, worauf die Gamergater auf das gesetzlosere 8chan weiterzogen.

Quinn stieß in einem 4chan-IRC namens burgersandfries auf Gespräche, in denen Nutzer, frauenfeindlich motiviert und in zutiefst frauenverachtender Sprache, einen Plan ausheckten, um Quinns Karriere zu ruinieren. Es gelang ihr, diese Gespräche aufzuzeichnen. Die Nutzer brachten darin ihren Hass und ihre Abscheu zum Ausdruck und frohlockten beim Gedanken daran, ihre Laufbahn zunichte zu machen. Auch fantasierten sie darüber, wie sie vergewaltigt und umgebracht würde. Sie hofften, geballte Belästigung würde sie in den Selbstmord treiben, und lediglich die Vorstellung, 4chan könnte daraufhin schlechte Presse bekommen, überzeugte einige unter ihnen, dass dies vielleicht doch nichts Wünschenswertes wäre. Sie brachten gefälschte Nacktbilder von ihr in Umlauf und schickten Links zu diesen an Quinns Unterstützer_innen. Sie versuchten, Informationen über ihre Familie und Verwandtschaft auszugraben und jeden aufzuspüren, der mit ihr in Verbindung stand. Ein Nutzer fand ein Bild von Quinn als Dreizehnjährige und postete einen Link dazu. Ethik im Spielejournalismus lag ihnen offensichtlich dermaßen am Herzen, dass sie Quinn eine »eiternde Vagina voller Käse« zuschrieben, die groß genug sei, dass »12 Schwänze auf einmal hineinpassen« würden, und eine »Spur Fotzenschleim« hinterlasse, wohin auch immer Quinn gehe (dann wurde über ihren Geruch spekuliert).

Jenn Frank, preisgekrönte freie Spielejournalistin, schrieb für den Londoner Guardian einen Artikel mit dem Titel How to attack a woman who works in video gaming, worin sie einen Blick auf die zu jener Zeit stattfindende Belästigung warf. Der Artikel skizziert Arten und Weisen, wie Trolle Frauen schädigen, die in dieser Männerdomäne arbeiten:

Vor Kurzem hat jemand versucht, meine E-Mail- und Telefonkontakte zu hacken. Das hat mir den Atem verschlagen. Es ist beängstigend, all dies zu schreiben, und ich muss einräumen, dass ich insofern tatsächlich voreingenommen bin, als ich furchtbare Angst habe. Ich habe den größten Teil der vergangenen neun – nicht immer perfekten – Jahre in dieser Branche zugebracht und nie von mir behauptet, vollkommen zu sein. Meine Werte und meine Überzeugung, dass Beleidigung nicht ›normal‹, ›akzeptabel‹ oder ›erwartbar‹ sein darf, stehen im Widerspruch zu oh Gott, bitte, warum machen die das, was soll das, lass’ es nicht mich sein, lass’ es nicht mich sein. Meine unveränderte Liebe zu Videospielen, meine Kolleg_innen und meine Arbeit stehen in einem Interessenskonflikt zu meiner schrecklichen Angst.

Die Spielepublizistin Jennifer Hepler wurde ebenfalls Opfer von Angriffen, im Zuge deren ihr, wie sie sagt, hunderte Schmähnachrichten auf Twitter geschickt wurden. Darin wurde sie unter anderem als »übergewichtige Fotze« bezeichnet und bedroht. Feministische Zocker_innen beklagten sich, als die Publizistin Felicia Day von einem männlichen Spielejournalisten öffentlich als »Messe-Hostess« (booth babe14) abgekanzelt wurde. Die Spieleentwicklerin Patricia Hernandez machte auf 4chan aufmerksam, indem sie es als »Kathedrale der Frauenverachtung« bezeichnete. Die Webseite Encyclopedia Dramatica15 hat einen Dauereintrag über die Memes, die 4chan, angeregt von ihrem Kommentar, erstellt hat, worin sie folgendermaßen beschrieben wird:

Eine fette, illegal aus Mexiko rübergeschwommene16 ›Spielejournalistin‹ mit Wurstfingern und einem Kinn wie Jay Leno, die für Kotaku arbeitet, einer Seite für Spiele-Tratsch, die dafür berüchtigt ist, Spieldesigner_innen zu erlauben, zwecks guter Kritiken und Medienpräsenz mit ihren Kolumnist_innen zu schlafen. Patricia ist als Lesbe und Feminazi bekannt und steht in Kotakus stolzer Tradition, indem sie zahllose Artikel darüber schreibt, wie verschiedene Spiele entweder Vergewaltigung verherrlichen oder ihre Spielerinnen buchstäblich vergewaltigen. Noch ein Hauptgeschäft von Kotaku, an dem sie sich beteiligt, ist Vetternwirtschaft, was auch erklärt, warum jeder zweite Artikel, den ihre Knubbelfinger produzieren, von ihrer Freundin handelt, bei der sie umsonst wohnt.

Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren – und an diesem Punkt wäre es unmöglich, den verschiedenen Vorwürfen, wer alles wann gelogen hat, sowie den Kontroversen über den genauen Verlauf dieses Massenereignisses endgültig auf den Grund zu gehen – ist das Wichtige an diesem Aufruhr die Rolle, die er darin spielte, verschiedene Gruppen im Netz zu vereinen und die Taktiken der chan-Kultur auf die breitere Online-Rechte zu übertragen. Gamergate hat Spieler, rechtslastige chan-Kultur, Antifeminismus und die extreme Online-Rechte der etablierten Debatte viel näher zusammengebracht und weite Kreise junger Leute, zumeist männlich, politisiert. Alle möglichen Parteien waren involviert, von Kritikern politischer Korrektheit zu jenen, denen feministische Kultur-Kreuzzüge zu weit gingen. Letztere führten dazu, dass Leute wie Christina Hoff Sommers mit ins Boot geholt wurden, eine klassische Liberale, deren Video-Reihe The Factual Feminist darauf abzielte, fehlerhafte Statistiken innerhalb des Feminismus aufzudecken. Neben der höflichen, aufgeräumten Sommers standen unpolitische Zocker_innen, South-Park-Konservative, 4chaner_innen, antifeministische Hardliner_innen und Jugendliche, die sich ohne den moralischen Ballast des Konservatismus auf den rechten politischen Rand zubewegten. So machte auch Milo Karriere, als er mithilfe von Gamergate über Nacht berühmt wurde – was am Ende desaströs enden sollte. Letztlich hatten die Gamergater_innen Recht mit der Beobachtung, dass eine wiederbelebte feministische Bewegung versuchte, die Kultur zu verändern; und dies – ihre geliebten Spiele – war die Front, die sie sich für den Gegenangriff aussuchten. Die Schlacht hat sich mittlerweile zwar zu anderen Themen hinbewegt, wobei zunehmend mehr auf dem Spiel steht; den Anstoß aber hat Gamergate gegeben. Hier wurden die Frontlinien für den Kulturkrieg einer jungen Netz-Generation gezogen.

Die Kultur von 4chan, Anonymous usw. aus der Ära vor Gamergate, der Zeit von Occupy, hätte sich auch anders entwickeln können. Lange vor der Schlacht ›Geeks gegen Feminist_innen‹ hatte die libertäre Linke ihre eigene Hacker- und Computerfreak-freundliche, internetfixierte politische Tradition, die manche im frühen Anonymous-Milieu sichtlich inspirierte. Hakim Beys Idee einer zeitweiligen selbstverwalteten Zone gründete auf dem, was er »Piraten-Utopien« nannte. Ihm zufolge rutscht jeder Versuch, eine dauerhafte Kultur oder Politik zu schaffen, zwangsläufig in ein strukturiertes System ab, das die Kreativität der Einzelnen erstickt. Seine Sprache und Vorstellungen beeinflussten den Anarchismus und später auch Netz-Kulturen, denen es um illegales Herunterladen, Anonymität, Hacking und Experimente wie etwa Bitcoin ging. In dieser frühen Periode der Anonymous-Kultur sowie in Analysen etwa von Gabriella Coleman, die über radikalere horizontalistische Politik nachdenkt, lässt sich ein Widerhall von John Perry Barlows Manifest A Declaration of the Independence of Cyberspace vernehmen. Barlow war einer der Gründer der Electronic Frontier Foundation, einer Gruppe anarchistischer Hacker_innen und Verteidiger_innen eines Internets ohne staatliche Eingriffe, kapitalistische Kontrolle und Monopolisierung der Netzwelt. In einem der Rhetorik von 4chan und Anonymous (»Wir sind Unendlich Viele«) ähnlichen Ton warnten sie:

Regierungen der industrialisierten Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich euch Gestrige, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid unter uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, habt ihr keine Hoheitsgewalt.

Es kam aber anders. Die führerlose, anonyme Netzkultur ist nun typischerweise in außerordentlich düsterer Weise auf ›sabotierte‹ oder gescheiterte westliche Männlichkeit als alles erklärende Metapher fixiert, was sich auch im ›echten Leben‹ niedergeschlagen hat. Ein Post auf 4chan vom ersten Oktober 2015 lautete:

Der erste unserer Art hat die Herzen Amerikas mit Furcht erfüllt. […] Dies ist erst der Anfang. Der Beta-Aufstand hat begonnen. Bald schon werden mehr von unseren Brüdern zu den Waffen greifen, um Märtyrer dieser Revolution zu werden.

Der dramatische und bewusst cineastische Ton kennzeichnet ein Auftreten, das postmodern-distanziert daherkommt und sich so vor bestimmten Deutungen schützt – sodass ein ›Normalo‹, der ihn wörtlich nähme, ausgelacht würde. In diesem Fall aber verwies es auf die reale Nachricht, dass im Umqua Community College in Roseburg, Oregon ein junger Mann namens Chris Harper-Mercer neun Kommilition_innen getötet sowie neun weitere verwundet und sich dann das Leben genommen hatte. In der Nacht vor dem Massaker erschien auf dem 4chan-Board /r9k/ ein Eintrag, der andere Nutzer_innen aus dem Nordwesten der USA warnte, sie sollten am Folgetag einen Bogen um die Schule machen. Der erste Kommentar lautete: »Geht der Beta-Aufstand also endlich los?«, während andere Nutzer_innen den anonymen Autor ermutigten und ihm Tipps zur Durchführung eines Massenmordes gaben.

Im Jahr 2014 veröffentlichte ein anonymer 4chan-Nutzer nebst mehreren Fotos, die offensichtlich den nackten Leichnam einer erdrosselten Frau zeigten, ein Geständnis:

So, es ist in Wirklichkeit also viel schwieriger, jemanden zu erwürgen, als es in den Filmen aussieht […]. Ihr Sohn wird gleich von der Schule heimkommen. Er wird sie finden und die Bullen rufen. Ich wollte die Bilder nur teilen, bevor sie mich finden. Ich habe mir ein Luftgewehr besorgt, das ziemlich realistisch aussieht. Wenn sie kommen, werde ich es ziehen und Selbstmord durch Polizei begehen. Ich versteh’s, wenn ihr das nicht glaubt. Guckt einfach die verdammten Nachrichten. Ich muss jetzt mein Handy loswerden.

Die Polizei gab später bekannt, dass die Frau auf dem Bild, Amber Lynn Coplin, tatsächlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Ihr Freund David Michael Kalac wurde nach kurzer Verfolgungsjagd festgenommen und des Mordes angeklagt.

Sollte Bedarf nach weiteren Belegen dafür bestehen, dass die political-correctness-feindliche Tabubruch-Kultur von 4chan nicht nur ›for the lulz‹ ist, so sei an den Mord an fünf Black-Lives-Matter-Demonstrant_innen in Minneapolis im November 2015 erinnert. Im Anschluss tauchte ein Video von zwei der Schützen auf, in dem sie in Sturmmaske zu einem Black-Lives-Matter-Protest fahren und in dem es hieß: »Wir wollten euch allen auf /pol/ bloß ’ne Vorwarnung geben […]. Bleibt weiß.«

Es ist erst ein paar Jahre her, dass die linken Cyber-Utopisten behaupteten, »die Empörung« habe sich vernetzt, die etablierten alten Medien könnten die Politik nicht weiter kontrollieren und der neue öffentliche Raum würde zukünftig auf führerlosen, nutzergenerierten sozialen Medien beruhen. Dieses Netzwerk ist tatsächlich gekommen, doch es hat nicht der Linken, sondern der Rechten zur Macht verholfen. Jene Linken, die das spontane, Internet-basierte Netzwerk ohne Anführer_innen verherrlichten und alle anderen Formen der Politikgestaltung zu Schnee von gestern erklärten, bemerkten nicht, dass die führerlose Form uns in Wirklichkeit wenig über den philosophischen, moralischen oder begrifflichen Inhalt der jeweiligen Bewegung verrät. Im luftleeren Raum der ›Führungslosigkeit‹ konnte beinah alles gedeihen. Egal wie vernetzt, transgressiv, social-media-affin oder hierarchiefrei eine Bewegung auch ist – letztlich zählt, wie zu jedem anderen geschichtlichen Zeitpunkt auch, der Inhalt der Ideen, wie Evgeny Morozov bereits zu jener Zeit mahnte. Die Netz-Umgebung hat es Ideen und Bewegungen vom gesellschaftlichen Rand zweifelsohne ermöglicht, rasant an Einfluss zu gewinnen. Während diese nach links tendierten, war es für politische Sympathisant_innen verlockend, darin eine verführerische Abkürzung hin zur Überwindung unseres ›Endes der Geschichte‹ zu sehen. Stattdessen müssen wir seither beobachten, dass dieses führerlose Gebilde so ziemlich jede Weltanschauung annehmen kann, sogar – so seltsam das auch scheint – die der äußersten Rechten.


1 | Die Maske bildet das Gesicht von Guy Fawkes nach, einem katholischen englischen Offizier, der am 5. November 1605 ein Sprengstoff-Attentat auf König Jakob I. und das englische Parlament versuchte. Sie wurde von Anonymous benutzt und berühmt gemacht (Anm. d. Übers.).

2 | Etwa: »Verfechter_innen weißer Vorherrschaft«; Sammelbegriff für verschiedene offen rassistische Gruppierungen in den USA (Anm. d. Übers.).

3 | In Anspielung auf Engl. to cuckold sb., »jdm. Hörner aufsetzen«, abgeleitet von cuckoo, »Kuckuck«, und conservative (Anm. d. Übers.).

4 | Stilistische Veränderung in der Comic-Landschaft ab Mitte der 1980er Jahre, im Zuge derer Comics düsterer, brutaler und sexueller wurden (Anm. d. Übers.).

5 | Anonyme Chatforen (Anm. d. Übers.).

6 | Siehe Kapitel 6 (Anm. d. Übers.).

7 | Typisches Format eines Meme-Bildes, wobei Text, meist weiß mit schwarzem Rand, in Großbuchstaben und in der Schriftart Impact, nah am oberen und unteren Rand über ein Bild (meist ein Foto) gelegt wird (Anm. d. Übers.).

8 | Wortspiel auf Grundlage von Engl. retard (»Vollidiot«) (Anm. d. Übers.).

9 | Jährlich stattfindende Netzkonferenz in Austin, Texas (Anm. d. Übers.).

11 | Dt. »verbreitete Dienstverweigerung«; bei einem solchen Angriff werden binnen kurzer Zeit Unmengen von Anfragen versandt, die den jeweiligen Dienst zum Absturz bringen (Anm. d. Übers.).

12 | Kampfbegriff, der Menschen bezeichnet, die angeblich fanatisch soziale Gerechtigkeit predigen (Anm. d. Übers.).

13 | In der Internetsprache eine aus dem Ruder gelaufene Diskussion, deren Teilnehmer_innen sich heftig persönlich beleidigen (Anm. d. Übers.).

14 | Mehr oder weniger knapp bekleidete, möglichst attraktive Hostess, die bei Messen die Aufmerksamkeit auf einen Stand lenken soll (Anm. d. Übers.).

15 | Satirische ›Enzyklopädie‹ im Wiki-Stil zu Troll-Humor und nerdiger Internetkultur (Anm. d. Übers.).

16 | Engl. wetback, wörtl. »Nassrücken«; in den USA ein gängiges Schimpfwort für illegal eingewanderte Mexikaner (da manche dabei den Rio Grande durchqueren) (Anm. d. Übers.).