Transgression, das Überschreiten von kulturellen Regeln und Grenzen, wird seit den Sechzigern vom westlichen Sozialliberalismus als Tugend angesehen. In bell hooks’ Teaching to Transgress lässt sich nachlesen, wie diese heute angewandt wird. Die Tugend der Grenzüberschreitung sei in der Kunstkritik derart überhöht worden, schreibt Kieran Cashell, dass Kunstkritiker_innen sich heute vor eine Herausforderung gestellt sehen: »Entweder unterstützt du Transgression bedingungslos oder du verurteilst diese Entwicklung und riskierst damit, als konservativ verdächtigt und zum alten Eisen gezählt zu werden« – wie es dem großen Kunstkritiker Robert Hughes oft passiert ist. Gleichzeitig schreibt Cashell über den Wert, welcher der Grenzüberschreitung in der zeitgenössischen Kunst zugeschrieben wird: »Im Streben nach dem Irrationalen ist die Kunst negativ, nihilistisch und gemein geworden.« Der Literaturkritiker Anthony Julius bemerkte ebenfalls, es herrsche heute eine »unreflektierte Unterstützung des Transgressiven« vor.
Wer behauptet, der neue Rechtsruck im Netz sei im Grunde dasselbe wie die altbekannte Rechte und damit der näheren Betrachtung oder Differenzierung unwürdig, liegt falsch. Auch wenn die neue Rechte sich in dieser wichtigen Frühphase ständig verändert, sagt ihre Fähigkeit, die grenzüberschreitende und nonkonformistische Ästhetik der Gegenkultur zu übernehmen, einiges über ihre Anziehungskraft und das liberale Establishment, von dem sie sich abgrenzt, aus. Sie hat mehr gemeinsam mit dem Achtundsechziger-Slogan ›Verbieten ist verboten!‹ als mit irgendetwas, was man gemeinhin mit der traditionalistischen Rechten verbinden würde. Anstatt sie als Teil anderer rechtsgerichteter Bewegungen – ob konservativ oder libertär – zu deuten, würde ich behaupten, dass das Auftreten der ›Pepe‹-Memes postenden Trolle und Netz-Transgressiven in einer Tradition steht, die sich von den Schriften des Marquis de Sade aus dem achtzehnten über die Pariser Avantgarde des neunzehnten Jahrhunderts und die rebellische Ablehnung feminisierter Konformität im Nachkriegsamerika bis zu Filmen der 1990er wie American Psycho und Fight Club, die Filmkritiker_innen male rampage films1 nennen, nachzeichnen lässt.
Milos Lieblingswort, um das vereinende ›trollige‹ Lebensgefühl der neuen Welle der Online-Rechten zu beschreiben, ist ›transgressiv‹. Als der wenig überzeugende Konservative, der er ist, sagt er oft Dinge wie »Der beste Sex ist gefährlich, transgressiv, schmutzig« oder bezeichnet den Konservatismus als den »neuen Punk«, weil er »grenzüberschreitend und subversiv« sei und »Spaß macht«. Er bemüht regelmäßig den Vergleich von Punk und Alt-Right, wobei er den Begriff ganz offensichtlich im weitestmöglichen Wortsinn benutzt. Die Leichtigkeit, mit der sich dieses breitere Alt-Right- und Alt-Light-Milieu heute eines solchen transgressiven Stils bedient, zeigt, wie oberflächlich und historisch zufällig es war, dass man diesen mit der sozialistischen Linken verbunden hat.
Der Gebrauch von Hakenkreuzen und andere Flirts mit Nazi-Ästhetik als Teil einer Performance haben gewiss Vorläufer_innen. Joy Division, deren Sänger Ian Curtis politisch rechts stand, benannten sich nach der ›Freudenabteilung‹, der Bezeichnung für deutsche Lagerbordelle im zweiten Weltkrieg. 1976 wurde Siouxsie Sioux in der Sex-Pistols-Entourage zusammengeschlagen, weil sie ihr Hakenkreuzarmband trug. Sie wollte zweifellos schockieren und anecken, doch kaum jemand würde darin ein ernsthaftes Bekenntnis zum Nationalsozialismus sehen. Man kann sich vorstellen, wie schwer im Großbritannien der Nachkriegszeit die Verehrung der im Kampf gegen die Nazis Gefallenen und das Leid der vielen britischen Bürger_innen wogen, die Bombardierungen und entbehrungsreiche Jahre hinter sich hatten. Das Armband lässt sich schlimmstenfalls als kindischer Ausdruck von Respektlosigkeit um ihrer selbst willen begreifen; bestenfalls kann man es als typisch avantgardistischen Tabubruch sowie als Mittelfinger an das Nachkriegsestablishment verstehen, welches die Heldenverehrung benutzte, um Widerspruch gegen das Land und die Queen zu ersticken.
In einem Interview mit dem Magazin Esquire erklärt weev/Auernheimer, der ein Hakenkreuztattoo auf der Brust trägt, dem Journalisten seine Motivation:
Ich sitze mit Auernheimer und seinem Freund Jaime Cochrane in einem Restaurant. Cochrane ist ein leise sprechender Transgender-Troll von der Gruppe Rustle League, so genannt, weil ›es beim Trollen nun mal darum geht, den Leuten auf die Eier zu gehen‹2. Sie erklären mir ihr Verständnis davon, was Trolle tun. ›Das ist kein Mobbing‹, sagt Cochrane. ›Das ist satirische Performance-Kunst.‹ Cybermobber_innen, die Jugendliche in den Selbstmord treiben, gingen zu weit. Trollen dagegen sei das noblere Geschäft dessen, was Cochrane ›aggressive Rhetorik‹ nennt, eine Tradition, die auf Sokrates, Jesus und den nordischen Schelmengott Loki zurückgehe. Auernheim vergleicht sich selbst mit Shakespeares Puck. Cochranes Vorbilder sind Lenny Bruce und Andy Kaufman. Sie sprechen von culture jamming, der Kunst, den Status quo zu stören, um die Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Sie sprechen von Abbie Hoffman3.
Bezeichnenderweise ist es die Figur Patrick Batemans aus der Filmadaption von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho, die nebst Fight Club und Matrix zu den häufigsten filmischen Anspielungen zählt, die sich auf 4chan und später in den Alt-Right-, Alt-Light- und antifeministischen Foren finden lassen. Der Film erzählt die Geschichte eines narzisstischen und soziopathischen Serienmörders, der zwanghaft Pornos konsumiert, Prostituierten gegenüber sexuell gewalttätig wird, genüsslich Obdachlose umbringt und (im Roman) Frauen derart extrem sexuell foltert, dass es de Sade in Sachen Überschreitung sittlicher Grenzen Konkurrenz macht. Der Literaturkritiker Daniel Fuchs ordnet den Roman einer literarischen Tradition zu, die auf Henry Miller und Norman Mailer zurückgehe, welche sich von der Grenzüberschreitung und sexuellen Souveränität bei de Sade inspirieren ließen und sie als eine Form von Rebellion und Befreiung durch sexuelle Aggression und Gewalt umsetzten. Man beachte, dass die schockierende sexuelle Gewalt von American Psycho in den auf seine Veröffentlichung folgenden Diskussionen damit gerechtfertigt wurde, dass der Verfasser am Ende des Romans unklar lässt, ob die Geschehnisse nicht bloß die irren Fantasien der Hauptfigur gewesen sind. Genau wie im Stil der rechtsgerichteten chan-Kultur wird hier durch den Einsatz von Finten, Ironie und vielschichtiger metatextueller Selbstbezüglichkeit einer klaren Deutung bzw. einem eindeutigen Urteil ausgewichen.
Der Kult des Sittenbrechers als Held wurzelt in der Romantik. Wie Simon Reynolds und Joy Press in Sex Revolts, ihrer Untersuchung rebellischer Nachkriegsmännlichkeit, ausführen, lebte dieser jedoch in den Gegenkulturen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder auf. Norman Mailer etwa beschrieb den Psychopathen in seinem Essay The White Negro als edle, transgressive Gestalt. Der hipster (was damals etwas anderes bezeichnete als den Bartöl verwendenden Herren von heute) bediene sich in seiner Missachtung gesellschaftlicher Konventionen bei der Tradition des edlen Psychopathen, den Mailer als Symbol der Befreiung von sexuellen, gesellschaftlichen und moralischen Hemmungen verstand. Wie der Künstler räumt der Psychopath dem Es und seinen Wünschen Vorrang vor dem Über-Ich und sittlichen Grenzen ein. Dostojewskis Anti-Held Raskolnikow macht in Verbrechen und Strafe im Mord an einer »wertlosen« alten Frau sein Recht geltend, die Moral des gemeinen Volkes zu überwinden. Im Auftreten grenzüberschreitender, antimoralischer Kulturen wie 4chan, die später mit der Alt-Right verschmolzen, lässt sich ein Echo von Maurice Blanchots Diktum vernehmen: »Der größte Schmerz der andern ist in jedem Fall weniger wichtig als mein Vergnügen.«
Press und Reynolds führen in ihrer Analyse aus, wie von Einer flog über das Kuckucksnest über Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft bis zu R.D. Laings Phänomenologie der Erfahrung in diesem transgressiven Stil ›Wahnsinn‹ durchgehend als Nonkonformismus verstanden wird. Für de Sade, die Surrealisten und später die antirepressive Kulturpolitik der Sechziger, die zumeist mit R.D. Laing assoziiert wird, stellte der Wahnsinn eine Quelle der Kreativität, eine Ablehnung etablierter Normen und eine rebellische politische Handlung dar. Das Surreale wurde zum vorrationalen schöpferischen Ausdruck. Das Abwerfen des Über-Ich, das diese grenzüberschreitende, gegenkulturelle Tradition kennzeichnet, lässt sich ebenfalls auf Seiten wie 4chan und deren Kultur des Trollings und des tabulosen, antimoralischen Humors beobachten, den schockierte Außenstehende oft als ›gestört‹ oder ›wahnsinnig‹ beschreiben.
Dieses Psychopathieverständnis und die Ablehnung auferlegter Moralvorstellungen ziehen sich wie rote Fäden durch Ethos und Ästhetik der rechten Troll-Kultur. In einer frühen Selbstbeschreibung schrieb ein 4chan/b/-Schwärmer:
/b/ ist der Typ, der zum Krüppel vor ihm in der Schlange sagt, dass er sich ein bisschen beeilen soll. /b/ rennt als Erster zum Fenster, um den Autounfall draußen zu sehen. /b/ ist der, der deine Nummer an die Klowand im Einkaufszentrum geschrieben hat./b/ist ein mieser Schüler, der sich an seine junge, attraktive Englischlehrerin ranmacht. /b/ ist der Typ, der auf der Park Avenue rumhängt und immer versucht, dir was anzudrehen. /b/ ist der, der seine vollgewichsten Klamotten in die Kleidersammlung gegeben hat. [… /b/ ist ein heißer Inzesttraum, den du tagelang zu vergessen versuchen wirst. /b/ ist der einzige in deiner Clique, der sich seiner Sexualität so sicher ist, dass er jeden Quatsch erzählen kann. /b/ ist der Typ ohne erektile Dysfunktion, der trotzdem gerne Viagra ausprobieren will. /b/ ist der beste Freund, der auf dein erstes Date mitkommt und den ganzen Abend deine Annäherungsversuche blockiert4. Das anständige Mädchen, das du rumkriegen willst, marschiert davon, /b/ lacht und bringt dich nach Hause, wenn du betrunken bist, und du wachst ein paar Stunden später neben mehreren Huren auf, die /b/ für dich engagiert hat. /b/ ist ein Freund, der dir ständig vorschlägt, gegenseitige Masturbation mit ihm auszuprobieren. /b/ ist der Typ, der die Selbstmord-Seelsorge anruft, um mit der Ratgeberin zu flirten. /b/ löscht die Festplatte restlos, wenn das nächste Mal jemand an die Tür klopft. /b/ ist der, der vor dem Eingang zum Schulhof ein benutztes Kondom liegengelassen hat. /b/ ist die Stimme in deinem Kopf, die sagt, dass es egal ist, wenn sie betrunken ist. /b/ ist der Freund, der die ganze Zeit nach den Titten deiner Mutter fragt. /b/ ist der einzige, der versteht, was zum Henker du erzählst. /b/ ist einer, der eine Hure bezahlen würde, damit sie sein Arschloch leckt, und nur dafür. /b/ ist der Onkel, der dich mehrmals angefasst hat. /b/ ist immer noch im Krankenhaus, nachdem er etwas ausprobiert hat, was er in einem Hentai gesehen hat. /b/ ist der Genuss, für den du dich schuldig fühlst, als du beim Masturbieren mit deinem Anus gespielt hast. /b/ ist wunderbar.
Ein Beispiel für den chan-Jargon ist der Ausdruck ›an hero‹. In ihrem Buch This Is Why We Can’t Have Nice Things erzählt Whitney Philips den Fall des Schülers Mitchell Henderson aus Minnesota nach. Nachdem Henderson sich erschossen hatte, hinterließ ein Klassenkamerad auf seiner MySpace-Gedenkseite eine Nachricht, in der stand, er sei »an hero«5 gewesen, »als er die Kugel wählte, als er uns alle zurückließ. Gott, wie sehr wir uns wünschen, wir könnten es zurücknehmen.« 4chan fand das wegen der Mischung aus aufrichtigem, verletzlichem Gefühl und falschem Artikel urkomisch. Auf der Gedenkseite fand sich auch ein Verweis auf Hendersons verlorenen iPod, was zu einem derart komplexen Witz ausartete, dass Hendersons MySpace-Seite gehackt wurde und jemand einen iPod auf Hendersons Grab legte, ein Foto machte und dieses auf 4chan postete. Sein Gesicht wurde in Aufnahmen sich drehender iPods und Hardcore-Porno-Szenen eingefügt und ein Video, in dem sein Tod nachgespielt wird – wobei ein iPod zu Bruch geht –, auf YouTube veröffentlicht. Mitchells Vater bekam Scherzanrufe, in denen Anrufer Sachen sagten wie »Hi, ich habe Mitchells iPod« und »Hi, ich bin Mitchells Geist, die Haustür ist abgeschlossen. Kannst du runterkommen und mich reinlassen?«.
Philips dokumentiert auch den Fall Chelsea King, einer US-amerikanischen Jugendlichen, die vergewaltigt und ermordet wurde. Nach Bekanntwerden ihres Todes füllten sich Facebook-Seiten, auf denen zuvor die Suche nach ihr organisiert worden war, mit Gedenk- und Trauerbotschaften. Zu diesem Zeitpunkt begann auch das Trollen, zum Teil auf 4chan orchestriert. Scherzseiten wie »Ich wette, diese Gurke kriegt mehr Fans als Chelsea King« wurden erstellt. So entspann sich aus der 4chan-Kultur ein meist als ›RIP-Trollen‹ bezeichnetes neues Genre.
Die Faszination dieser Foren für den Selbstmord (›to an hero‹ war ihr neuer Ausdruck für »Selbstmord begehen«) zeigt sich oft in Form herzzerreißender Posts, in denen anonyme Nutzer_innen ihren Wunsch ausdrücken, sich das Leben zu nehmen, während man sich zugleich über Selbstmordopfer und Trauernde lustig macht. Forennutzer_innen wählen den wohl mitleidlosesten Ort, den man sich vorstellen kann, um anderen anonym von ihren Selbstmordfantasien zu erzählen – wo man ihnen, wahrscheinlich nur halb im Scherz, raten wird, sie in die Tat umzusetzen. So wenden sie sich gegen die ihrer Meinung nach rührselige Berichterstattung über Selbstmord in den etablierten Medien und veranstalten stattdessen ihre eigenen, düsteren Spektakel, in denen statt Mitleid Grausamkeit den Ton angibt. Und doch – da sowohl der Selbstmord als auch die offen zur Schau gestellte Kaltschnäuzigkeit gegenüber Opfern als Formen der Grenzüberschreitung wahrgenommen werden –, fanden beide einen Platz in dieser in sich seltsam einheitlichen Online-Welt. Welcher anderen Ideen und Stile bedient sich aber diese neue, grenzüberschreitende Rechte?
Nietzsche, den die rechtslastige chan-Kultur – wissentlich oder nicht – heraufbeschwört wie kaum einen anderen Denker, steht für die Überwindung einer als betäubend erlebten moralischen Ordnung und ein Bejahen des als »Wille zur Macht« verstandenen Lebens. Daher faszinierten seine Ideen so ziemlich jeden, von den Nazis bis zu Feminist_innen wie Lily Braun. Heute übt sein Antimoralismus auf die Alt-Right einen starken Reiz aus, weil ihre Ziele die Zurückweisung ebenjener christlichen Normen nötig machen, die Nietzsche als Sklavenmoral verstand. Freud dagegen charakterisierte die Grenzüberschreitung als antizivilisatorischen Impuls, als Teil des Antagonismus zwischen der Freiheit des instinktiven Willens und der durch die Zivilisation nötig gewordenen Verdrängung. Georges Bataille, möglicherweise wichtigster Theoretiker der Transgression, hatte sein Konzept der Souveränität von de Sade geerbt, wobei er besonderes Gewicht auf den Vorrang von Selbstbestimmung vor Gehorsam legt. Auch wenn die heutige rechte chan-Kultur sicherlich nicht Batailles Vorstellungen entspricht, so klingen die politisch austauschbaren Ideen und Stile dieser ästhetischen Grenzüberschreiter_innen doch in den Porno- und Schocker-Inhalten des frühen /b/ und in den antiliberalen Überschreitungen des späteren /pol/ an. Bataille verehrt die Überschreitung an sich, und wie de Sade sieht er nicht der Fortpflanzung dienlichen Sex als Ausdruck von Souveränität gegenüber Zweckrationalität, was er »Verausgabung ohne Rückhalt« nennt. Für ihn stellte zweckfreies exzessives Verhalten – was die zeitgenössische Meme-Kultur, in der ohne offensichtlichen persönlichen Nutzen enorme menschliche Kräfte aufgewandt werden, recht gut beschreibt – in seiner Ära der protestantischen Zweckrationalität ein Paradebeispiel der Transgression dar.
Frühe Theoretiker_innen des Internets nutzten Marcel Mauss’ Begriff der ›Gabe‹ als zentrale Metapher für die nicht zweckgesteuerte Kultur des Teilens, die im und durch das Netz entstanden war. In Anlehnung daran könnte man jene Kultur, die sowohl ›Operation Birthday Boy‹ als auch ausgefeiltes ›RIP-Trollen‹ hervorgebracht hatte, als ›ungewollte Gabe‹ bezeichnen. In seinem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen feiert der situationistische Denker Raoul Vaneigem Mauss’ Prinzip der Gabe, das ursprünglich Systeme gegenseitigen Beschenkens in vormodernen Gesellschaften beschrieb, für die Einsicht, dass nur die Reinheit unmotivierter Zerstörung oder ruinöser Großzügigkeit die Zweckrationalität überwinden könne. Die von den Situationisten vorgebrachte Kritik an der »Armut des Alltagslebens«, wie auch Baudelaires »Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile«, drückte ein Gefühl aus, das den Romantikern und den heutigen Netzkulturen der Transgression gemein ist: dass Ennui, Langeweile und Trägheit eine extreme Grenzüberschreitung als Gegenkraft benötigen. Allerdings verließen diese Ideen oft die Sphäre der Abstraktion. Während die Situationisten eine bessere Welt im Herzen trugen, nahm die nihilistische Anwendung des transgressiven Stils bereits in der Gegenkultur der Sechziger Gestalt an. »Die Manson-Morde«, führen Reynolds und Press aus, »waren die logische Folge des Abwerfens von Gewissen und Bewusstsein, das makabre Aufblühen der Voodoo-Energien des Es.«
Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, Transgression zu denken: die Idee des Karnevalesken. In The Politics and Poetics of Transgression betrachten Peter Stallybrass und Allon White das Karnevaleske als eine Form radikaler Überschreitung von Hierarchie und Hegemonie: »Das Groteske operiert gern als Kritik einer vorherrschenden Ideologie, die bereits die Kriterien dafür festgelegt hat, was das Hohe und was das Niedere ist.« Genau so beschreibt sich 4chan seit Langem und so verstanden es seine frühen, ›progressiven‹ Fürsprecher_innen. Allerdings war die dominante Ideologie zu jener Zeit der kulturelle Liberalismus – das ›Niedere‹ bezeichnete also politisch inkorrekten schlechten Geschmack, Grobheit, Provokation, Beleidigung und Trollen. Ein früher Theoretiker des Karnevalesken war Michail Bachtin, dessen ideologisch flexible Definition so ähnlich klingt wie das, was manche Trolle heute über das Trollen sagen:
Das Karnevalslachen ist zum ersten das Lachen des ganzen Volks […]. Zum zweiten ist es universal, d.h. auf alles und alle (auch auf die Teilnehmer am Karneval selbst) gerichtet, die ganze Welt erscheint komisch, wird in ihren lächerlichen Aspekten wahrgenommen und begriffen, in all ihrer heiteren Relativität. Drittens schließlich ist dieses Lachen ambivalent: es ist heiter, jubelnd und zugleich spöttisch […].6
Der Stil der Transgression ist auch auf der etablierten konservativen Rechten nicht ohne Vorgänger. Die Federation of Conservative Students in Großbritannien schockierte bekanntlich mit einem ›Hang Nelson Mandela‹-Poster und kritisierte die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher für ihr sanftes Vorgehen – möglicherweise eine frühe Version der cuckservative-Sticheleien. Der Studentenbund hatte auch libertär bzw. autoritär eingestellte Flügel, stellte aber in jedem Fall einen Bruch mit der Etikette der Burkeaner7 dar, indem er den raueren Ton der Thatcher-Ära übernahm und sogar mit dem rechten Rand flirtete.
Der reformlinke Publizist Christopher Lasch gebrauchte den als zivilisationsfeindlich verstandenen Freudschen Transgressionsbegriff in seiner Kritik des geistlosen Nihilismus und Narzissmus der amerikanischen Post-Sechziger-Konsumgesellschaft. Seit den Sechzigern und bis heute gilt jedoch die Norm, dass Kritiker_innen der Transgression im Allgemeinen auf der Rechten beheimatet sind. Daniel Bell, Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft, lamentierte über das transgressive Ethos der Sechziger und warnte vor dessen »zwanghafter Beschäftigung mit Homosexualität, Transvestismus, Analverkehr, Sodomie und, am weitesten verbreitet, mit öffentlich gezeigtem Oralverkehr«. Der transgressive, respektlose Stil der Gegenkultur der Sechziger wies bereits all das auf, was die Rechte in späteren Kulturkämpfen hassen sollte. Konservative Antifeminist_innen wie Phyllis Schlafly und die Neokonservativen (neocons) des Magazins Commentary beklagten diese ›widerständige Kultur‹ (adversary culture8) und warnten vor den zerstörerischen Impulsen des transgressiven Selbstverständnisses.
Die Beziehung zwischen Feminismus und der Kulturpolitik der Transgression ist noch komplizierter. Als in den Sechzigern die zweite Welle des Feminismus hervorbrach – wie in Betty Friedans Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau dargestellt –, betrachtete die Rechte das als Teil der breiteren sexuellen Revolution und der Kultur der Grenzüberschreitung, welche die US-amerikanische Familie, sittliche Grenzen und die Tradition zerstören würden. In der Schlacht um den »Roe vs. Wade«-Prozess9 und in Phyllis Schlaflys Kampf gegen das Equal Rights Amendment10 positionierte der Feminismus sich klar gegen gängige Moralvorstellungen und kämpfte für die Befreiung des Es. Damit stand er ausdrücklich in der transgressiven Tradition de Sades. Manchen Feministinnen allerdings erschien das Es ihrer männlichen Mitstreiter ein wenig zu befreit. Als eine Art Kritik der Gegenkultur regte sich in feministischen Schriften Unmut über die mangelnde Balance der ›freien Liebe‹ sowie über die Heuchelei und Ungleichheit, die Frauen in den Anti-Kriegs- und anderen Bewegungen der Sechziger und Siebziger erlebten. Die von der sexuellen Revolution hervorgebrachte Porno-Kultur sah sich in den Achtzigern heftiger Kritik seitens Feminist_innen wie Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon ausgesetzt; bald agitierten manche Feminist_innen im Kampf gegen Pornos Seite an Seite mit Konservativen, die vormals den Feminismus als Kernstück der Verkommenheit der Sechziger gebrandmarkt hatten.
Im Zuge der jüngsten Online-Kulturkämpfe und ihres Überschwappens auf Campus- und Protestpolitik versuchen Feminist_innen, sich durch die Slutwalk-Bewegung sowie eine sex-positive, pro-trans, pro-Sexarbeiter_innen und pro-kink11 eingestellte Kultur, wie sie typisch für Tumblr ist, das transgressive Element zu eigen zu machen. Wie auch die Rechten sind sie dabei jedoch auf das tiefgreifende philosophische Problem des ideologisch flexiblen, politisch austauschbaren, moralisch neutralen Wesens des transgressiven Stils gestoßen, der genauso im Zeichen des Frauenhasses wie der sexuellen Befreiung stehen kann. Wie wir bei Lasch lesen können, hat antimoralische Grenzüberschreitung für progressive Politik immer schon einen Pakt mit dem Teufel dargestellt, denn das Plädoyer für Gleichheit ist fundamental eine moralische Aussage.
Die gleichermaßen verhasste wie verehrte Publizistin Camille Paglia führt aus, dass de Sades Darstellung des Bösen als etwas dem Menschen Angeborenes eine Satire der Rousseau’schen Tradition war, welcher auch der Feminismus entsprungen ist. In de Sades Werk finden sich bekanntlich sexuelle Gewalt und Verachtung für Familie und Fortpflanzung, denen er eine gewalttätige, transgressive Sexualität gegenüberstellt, die auf den Werten der Libertinage und der Souveränität des Einzelnen fußt. In Juliette lautet eine Regel der Sodalität der Freunde des Verbrechens: »Echte Libertinage verabscheut Fortpflanzung.« Paglia zufolge sind de Sades Entwertung des fruchtbaren weiblichen Körpers und seine Auseinandersetzung mit hetero- und homosexueller Sodomie, die er mit der chan-Kultur teilt, nicht lediglich das Produkt homosexueller Neigung, wie die Feministin Simone de Beauvoir behauptet, sondern ein »Protest gegen eine sich unerbittlich, überreichlich fortpflanzende Natur«. Die Autorin Susan Suleiman schreibt:
Hinter Sade’schen Fantasien steht der tiefe Wunsch nach einer aktiven Zurückweisung der Mutter. Der Antinaturalismus des Sade’schen Helden geht Hand in Hand mit seinem Hass auf Mütter, die für die ›natürliche‹ Quelle des Lebens stehen.
Dass die transgressiven Werte de Sades von einer frauenverachtenden Kultur aufgegriffen werden konnten und eine antifeministische, traditionellen Kirchgänger-Konservatismus ablehnende Netz-Bewegung prägten, sollte keine Überraschung darstellen. Das später von den Surrealisten übernommene Motto William Blakes »Morde eher ein Kind in der Wiege, als dass du unerfüllte Begierden hegst«, das Verständnis von Dominanz als sexueller ›Souveränität‹ sowie die ›Befreiung des Es von den Fesseln des Bewusstseins‹ gehen alle auf diese Tradition der Transgression zurück. Genau wie Nietzsche bei den Nazis Anklang fand, weil über ihn ein rechter Antimoralismus formuliert werden konnte, so wird genau dieses grenzüberschreitende Selbstverständnis momentan in der Online-Welt der Alt-Right benutzt, um die äußerste Entmenschlichung von Frauen und ethnischen Minderheiten zu entschuldigen und zu rationalisieren. Die von ihnen hervorgebrachte Kultur der Transgression bewahrt ihr Gewissen davor, die potentiellen menschlichen Kosten ernstzunehmen, die folgen könnten, bräche man das seit dem zweiten Weltkrieg bestehende Tabu gegen ›Rassen‹-Politik. Das Sade’sche transgressive Element der Sechziger, das Konservative seit Jahrzehnten als Kern alles Verkommenen, Nihilistischen und Zersetzenden unserer Zeit verteufeln, wird durch die Entstehung dieser neuen Netz-Rechten nicht in Frage gestellt. Vielmehr stellt letztere die völlige Verwirklichung des antimoralischen, transgressiven Stils dar – dessen endgültige Abkopplung von jeglicher egalitären Weltsicht auf der Linken und jeder christlichen Moral auf der Rechten.
1 | Etwa: »Filme über ausrastende Männer« (Anm. d. Übers.).
2 | Engl. rustling people’s jimmies, wörtlich »den Leuten die Schokostreusel durcheinanderpusten«; Neuschöpfung des 4chan-Milieus (Anm. d. Übers.).
3 | Bekannter linker US-amerikanischer Aktivist, der sich häufig kreativer, theatralischer und transgressiver Methoden bediente (1936-1989) (Anm. d. Übers.).
4 | Umschreibung des äußerst bildhaften englischen Slang-Ausdrucks to cock-block, wörtl. »schwanzblockieren« (Anm. d. Übers.).
5 | Eigentlich a hero, »ein Held« (Anm. d. Übers.).
6 | Deutsche Übersetzung entnommen aus Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt, übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 60 (Anm. d. Übers.).
7 | Auf Edmund Burke (1729-1797) zurückgehende klassische und lange Zeit dominante Strömung des britischen Konservatismus (Anm. d. Übers.).
8 | Siehe Kapitel 4. Ließe sich auf Deutsch auch als »feindselige Kultur« oder »Gegenkultur« wiedergeben, wobei letzteres bereits die gängige Übersetzung für counter-culture ist (so auch in dieser Übersetzung). Grob gesagt beziehen counter-culture und adversary culture sich auf dasselbe Phänomen, nehmen jedoch unterschiedliche Bewertungen vor (Anm. d. Übers.).
9 | 1973 gefällte Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der zufolge eine Frau bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Fötus lebensfähig ist, eine Schwangerschaft abbrechen darf (Anm. d. Übers.).
10 | Vorgeschlagener Verfassungszusatz, dem zufolge Frauen und Männer in den USA gleiche Rechte genießen sollten. Bis heute nicht von allen Bundesstaaten ratifiziert und daher wirkungslos (Anm. d. Übers.).
11 | Sich für außerhalb des Mainstreams verortete Formen von Sexualität einsetzend (Anm. d. Übers.).