Kapitel 4 – Konservative Kulturkämpfe von Buchanan bis Yiannopoulos


Wo lässt sich der mainstreamtauglichste Flügel der Alt-Right – die Alt-Light – mit Blick auf ihre politischen Ideen und ihre Herangehensweisen geschichtlich einordnen? Während des US-Wahlkampfes von 2016 wiederholte Milo Yiannopoulos regelmäßig, er liebe »Daddy« (Donald Trump), weil dieser »der erste wirklich in der Kultur verankerte Kandidat seit Pat Buchanan« sei. Er gab in einem Bloomberg-Porträt zu, er schere sich eigentlich nicht um Politik – was er seither zu verschiedenen Gelegenheiten wiederholt hat –, vielmehr interessierten ihn die kulturellen Auseinandersetzungen, die sie formten.

Mir hingegen scheint Politik im vergangenen halben Jahrhundert so sehr ausgehöhlt worden zu sein, dass sie heute auf wenig mehr denn Kultur basiert. Daraus folgt als logische Konsequenz das hässliche Schauspiel des Trump-Hillary-Wahlkampfes: Politik als Kulturkampf. Bloß hatten die Liberalen bis zu Trump und der Entstehung der neuen Netz-Rechten durchschlagende Siege eingefahren. In diesem Politikstil scheint es ganz und gar nebensächlich zu sein, was Politiker_innen tatsächlich tun; vielmehr zählt, welchem kulturellen Lager sie sich zurechnen. In der modernen Politik verzeiht man Liberalen, dass sie für Drohnenangriffe stimmen, solange sie für die Homo-Ehe sind, während die Rechte (etwa in den Reagan- und Thatcher-Jahren) für eine Politik Beifall erntete, die Familien und stabile Gemeinschaften ruinierte, solange man damit den Gewerkschaften eins auswischen konnte. Sowohl auf Yiannopoulos als auch auf seine liberalen Widersacher_innen im Netz, im Grunde zwei rivalisierende Flügel der heutigen Identitätspolitik, würde der Vorwurf, rein kulturelle Politik zu betreiben, nicht besonders abwertend wirken.

Nichtsdestotrotz ist Yiannopoulos’ Vergleich interessant. Buchanan ist wohl am bekanntesten für seine Rede vor dem Bundesparteitag der Republikaner 1992, in der er einen »Krieg um die amerikanische Seele« verkündete. Mit seiner Beschwörung Buchanans zog Yiannopoulos Parallelen zwischen seinem eigenen Trump-inspirierten Online-Kulturkampf gegen politische Korrektheit und jenem der Neunziger. Buchanans Rede war selbst eine verspätete Reaktion auf den vorigen Kulturkampf der Sechziger und die verheerenden kulturellen Verluste, die Konservative in der Folge zu verzeichnen hatten.

Indem er seinen eigenen, hochgradig mediatisierten Krieg gegen die neue Welle der Identitätspolitik, welche die angelsächsische Welt in den letzten Jahren überschwemmt hat, als die heutige Entsprechung zu Buchanans Kampf darstellte, wob Yiannopoulos sich selbst in eine größere historische Erzählung ein. In diesem Narrativ führen er und die neue Trump’sche Troll-Rechte einen weiteren großen Vorstoß an, der den Kulturkämpfen der Sechziger und Neunziger in nichts nachsteht, bloß dass man heute eine jugendlich-coole Netz-Subkultur auf seiner Seite hat. Ob seine Karriere das belastende Interview, in dem er Päderastie verteidigt, überlebt, wird sich zeigen; jedoch ist klar, dass er in den Kulturkämpfen, die jene Jahre vor der Trump-Wahl prägten, eine enorm wichtige Rolle gespielt hat. Wenn wir nun also seine Aussagen und die Reden, die er auf der Dangerous Faggot Tour gehalten hat, mit denen Buchanans vergleichen – wie viel haben diese zwei Kulturkämpfe wirklich gemeinsam?

Buchanans Buch The Death of the West hat einen riesigen Einfluss auf die paläokonservativen Ideen ausgeübt, die jenen der markt- und modernisierungsfreundlichen neocons Konkurrenz machen. Er nennt den Neokonservatismus eine »globalistische, interventionistische Ideologie der offenen Grenzen«. In der Zeitschrift American Conservative nahmen er und Gleichgesinnte gegen den Irak-Krieg Stellung und brachten ihre Ablehnung von Internationalismus, freien Märkten und militärischen Interventionen zum Ausdruck. Lange vor Trumps Wahlsieg sprach Buchanan davon, dass die weiße Arbeiterklasse von Natur aus konservativ sei, sprach sich gegen die Globalisierung und neoliberale Handelsabkommen aus und propagierte einen weitreichenden Einwanderungsstopp. Während die Ursprünge der neocons im Materialismus der antisowjetischen Linken liegen, betonte Buchanan auch die nicht-materiellen Themen Patriotismus, Nation, Familie, Gemeinschaft und kulturelles Erbe.

Mit Vorbehalten unterstützt er Trump: »Die Idee des wirtschaftlichen Nationalismus, das Ende des Globalismus, Amerika im Welthandel zur Priorität machen, die Grenze sichern, eine Nation, ein Volk – ich bin immer noch konservativer Republikaner, aber das ist die neue, größer gedachte Agenda.« Als er gefragt wurde, ob er sich der Alt-Right verbunden fühle, sagte er: »Die sind viel jünger, das sind im Grunde Typen in ihren Zwanzigern, Dreißigern. Ich kenne ein paar Leute, denen das zu viel wurde – die nicht auf Sieg Heil und diesen Kram stehen […]. Die Medien lieben dieses Zeug, sie bekommen nicht genug davon.«

Der konservative Kulturkampf der Neunziger hatte versucht, die enormen Landgewinne der kulturellen Linken in puncto Abtreibung, Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen (affirmative action), Kunst, Zensur, Evolution, familiäre Werte, Feminismus, Pornografie und westlicher Kanon zurückzudrängen. Buchanans Stil war angriffslustiger als das, was die meisten Republikaner sich zu sagen trauten, und seine brillant verfasste und vorgetragene Kulturkampf-Rede reihte sich in die Riege der wichtigsten Reden der US-Geschichte ein. Sie war eine Verteidigung sowohl Ronald Reagans als auch, da Buchanan selbst die Vorwahlen verloren hatte, George H.W. Bushs. In erster Linie handelte es sich jedoch um einen Aufruf zu einem breiteren Kulturkampf: »In diesem Land spielt sich ein Religionskrieg ab. Es ist ein kultureller Krieg, so entscheidend für die Nation, die wir sein wollen, wie es der Kalte Krieg war, denn in diesem Krieg geht es um die Seele Amerikas.«

Der von Yiannopoulos verkörperte rechte Stil steht für die Verknüpfung der ironischen, respektlosen, Tabus zertrümmernden Kultur von 4chan mit der Politik der Rechten; auch wenn von seinen Ansichten, wie seine Gegner_innen aus dem harten Kern der Alt-Right ihm häufig vorwarfen, ohne das Trollen wenig mehr übrig bleibt als klassischer Liberalismus. Obwohl er sich selbst als Konservativen bezeichnet, stellen er, Trump, die rechtslastige chan-Kultur und die Alt-Right allesamt einen ziemlich dramatischen Abfall von jenem kirchentreuen, aufrechten, bodenständigen, die Familie hochhaltenden Konservatismus dar, den man im angloamerikanischen Raum für gewöhnlich mit diesem Wort verbindet.

Als ein Hervorbrechen des Es, das die Fesseln politisch korrekter Sprache abgeworfen hat, steht die Online-Mentalität unflätigen Kommentarspalten-Trolls näher als Bibelstunden, sie ist mehr Fight Club als Familie, dem Marquis de Sade verwandter als Edmund Burke. Es ist behauptet worden, die Rechte habe den Kampf um die Wirtschaft, die Linke dagegen jenen um die Kultur gewonnen. Und wie der politische Philosoph Walter Benn Michaels ausführt, hat in der Frage nach dem ordnenden Prinzip der angloamerikanischen liberalen Linken, und ganz allgemein des gesellschaftlichen Diskurses, die Anerkennung von Identität über wirtschaftliche Gleichheit triumphiert.

Darin stimme ich ihm voll und ganz zu, wobei ich hinzufügen würde, dass der jüngste Aufstieg der Online-Rechten ein Indiz für den Triumph der Identitätspolitik der Rechten sowie für die Zweckentfremdung (aber trotzdem den Triumph) des linken Achtundsechziger-Stils von Transgression und Gegenkultur darstellt. Liederlichkeit, Individualismus, bürgerliches Dandytum, Postmoderne, Ironie und letztendlich Nihilismus – all dies, was die Rechte einst der Linken vorgeworfen hatte, kennzeichnet nun die Bewegung, zu der Milo gehörte. Der Aufstieg von Milos 4chan-Rechten deutet genauso wenig ein Wiederaufleben des Konservatismus an, wie der Aufstieg von Tumblr-Identitätspolitik ein Indiz für das Wiederaufleben der sozialistischen oder materialistischen Linken ist.

Wie Andrew Hartman in A War for the Soul of America schreibt, deutet die Beschwörung des untergehenden Sowjet-Kommunismus in Buchanans Rede an, dass nach dem Ende des kalten Kriegs der sowjetische äußere Feind zum bohemienhaften, transgressiven, toleranten inneren Feind geworden ist. Unter Reagans Ägide war der Sieg über die Sowjetunion gelungen, aber wichtiger war nun, so der Duktus der Rede, ein Sieg über die Folgen der Sechziger – das eingeschlossen, was Lionel Trilling die ›widerständige Kultur‹ innerhalb der westlichen Kultur nennt.

Die Sechziger waren Konservativen wie Buchanan schmerzhaft als die Zeit in Erinnerung geblieben, da die Gegenkultur den Bohème-Stil der Beat Generation in den Mainstream trug und von Paris bis Kalifornien Studentenaufstände ausbrachen. Trillings Idee der ›widerständigen Kultur‹, welche die Rechte zu jener Zeit beschäftigte, bezeichnet eine politische oder intellektuelle Kultur, die auf die Gegnerschaft zur und Unterwanderung der existierenden Ordnung sowie auf die Zerschlagung des Alten aus ist, oft durch Respektlosigkeit und Grenzüberschreitung um ihrer selbst willen, später dann auch in der respektableren Welt der Universitäten. Auch wenn der Begriff heute die universitäre Übernahme im Nachgang der Sechziger bezeichnet, so hat er doch auffällige Ähnlichkeiten zu Beschreibungen von Yiannopoulos (er sei transgressiv und subversiv, sage es, ›wie es ist‹, decke Lügen auf usw.) – und das, obwohl er selbst die Universitäten als das Kernproblem des gegenwärtigen kulturellen Liberalismus identifiziert hat.

Viele intellektuelle Schlüsselfiguren der Sechziger interessierten sich für eine Geisteshaltung, die später die respektlose, politisch inkorrekte Online-Rechte auszeichnen sollte: Nonkonformismus. In seinem Buch White Collar: The American Middle Classes stellte C. Wright Mills die Nachkriegs-USA als dystopischen eisernen Käfig des Konformismus dar. Seine Leser_innen erdachten in der Folge eine Alternative bzw. ein Gegenmittel – eine Gegenkultur aus Nonkonformismus, Individualismus und Rebellion. Ein weiterer enorm einflussreicher antikonformistischer Denker jener Zeit, Paul Goodman, vertrat Antiautoritarismus, experimentelle Psychologie und die Ablehnung gesellschaftlicher Einschränkungen und Tabus in Aufwachsen im Widerspruch: Über die Entfremdung der Jugend in der verwalteten Welt. Mit den ›Beats‹ war eine Antipathie gegen Pflicht, Arbeitsethik, die bürokratische Zwangsjacke, den ›mit der Firma verheirateten‹ Anzugträger, das Spießige aufgekommen, die mit der Anti-Kriegs- und Studentenbewegung zur Neuen Linken verschmolz.

Auch ist bezeichnend, dass die US-Regierung sich im Rahmen des Kulturkampfes gegen den Kommunismus später selbst bei der gegenkulturellen Ästhetik des Anti-Konformismus bediente – was die ständigen ›Kulturmarxismus‹-Vorwürfe seitens der Trump’schen Netz-Rechten in Perspektive rücken sollte. Durch den Kongress für kulturelle Freiheit (CCF), eine insgeheim vom CIA finanzierte Kulturinitiative, nutzten die antikommunistischen Liberalen des Kalten Kriegs Nonkonformismus, künstlerischen Ausdruck und Individualismus, um der kollektivistischen, konformistischen, produktionsorientierten und restriktiven Sowjetunion etwas entgegenzusetzen, die nach wie vor den gleichförmigen, antiindividualistischen Prä-Sechziger-Kulturformen wie Armeechören, Marschkapellen, Orchestern und Ballett huldigte. Als Buchanan 1992 seine Rede hielt, war der Kalte Krieg vorbei; das wirtschaftliche Programm der westlichen demokratischen Linken hatte während der Reagan- und Thatcher-Jahre eine katastrophale Niederlage erlitten. In der US-amerikanischen Neuen Linken hatte sich mittlerweile das kulturelle Projekt der gesellschaftlichen und moralischen Freizügigkeit, der Transgression und des Nonkonformismus durchgesetzt. Wie sich herausstellte, koexistierte dieses recht behaglich mit dem rücksichtslosen marktwirtschaftlichen Programm der Rechten – eine Verschmelzung, die am vollständigsten in der Blair/Clinton-Ära zum Ausdruck kam, als eine nonkonformistische kulturelle Geste noch eine Vielzahl ökonomischer Sünden überdecken konnte.

Die Online-Kulturkämpfe der letzten Zeit haben auf der Linken wie auf der Rechten viele Gräben wieder aufgerissen. Die Alt-Right erachtet heutige Anti-Trump-Konservative als cuckservatives. Die altmodische christliche Rechte wie auch die neocons sind der Alt-Right insofern verhasst, als sie es angeblich nicht schaffen, die Nation aggressiv genug zu beschützen – sie seien zu höflich, um Feminismus, Islamisierung, Masseneinwanderung und so weiter zu besiegen. Es besteht ein krasser Kontrast zwischen Milo verehrenden, vulgären ›Pepe‹-Verbreitern und Leuten wie dem konservativen britischen Kolumnisten Peter Hitchens, der über Trump Folgendes schrieb: »Dieser Hallodri, dieser Rüpel, dieser Grapscher, ein Mann, der seiner Gegenspielerin mit Gefängnis gedroht hat – der kann doch wohl kaum bald im Weißen Haus wohnen? […] Ich verabscheue Trump für seine Derbheit, seine Ungehobeltheit und seine Verachtung für Sitten, Tradition und Gesetz.« In dieser Hinsicht steht Trump den Werten Yiannopoulos’ und der rechten Online-Trolle näher als dem Konservatismus oder etwa dem Magazin National Review, gegründet von William F. Buckley, das sich gegen ihn ausgesprochen hat. Im Laufe des Wahlkampfes gaben sich Konservative aus verschiedensten Lagern unter dem Motto Never Trump als Trump-Gegner_innen zu erkennen.

Um diese Grabenkämpfe zu verstehen, sollte man sich vergegenwärtigen, dass sich nach der US-Kulturrevolution der Sechziger nicht etwa die altmodischen Konservativen (deren gesamte Lebenseinstellung als hoffnungslos spießig und unmodern galt) der kulturellen Linken erfolgreich entgegenstellten, sondern die intellektuell und rhetorisch weit beschlageneren Neokonservativen. Im Magazin Partisan Review, ebenfalls ein Projekt des antikommunistischen CCF, findet sich ein Essay von Norman Podhoretz über »die ahnungslosen Bohemiens«. Darin beschreibt er »die Verehrung von Primitivismus und Spontaneität in der Beat-Generation«, in welcher sich eine Lust ausdrücke, »diese unbegreiflichen Leute auszurotten, die fähig sind, sich ernsthaft einer Frau, einer Arbeit, einer Sache hinzugeben«.

Wie Hartman in seinem Buch beleuchtet, waren viele der frühen neocons jüdische Intellektuelle aus New York, die in den Dreißigern über das City College of New York (CCNY) in die Politik gekommen waren. Dies waren aufgeweckte, oft aus der Arbeiterklasse stammende jüdische Studierende, die als Trotzkisten begonnen und ihren Debattierstil im Alkoven Nummer 1 der CCNY-Cafeteria gelernt hatten, wo sie mit den Moskau-treuen kommunistischen Studierenden aus Alkoven Nummer 2 stritten. Im Zuge ihres späteren Rechtsrucks arbeiteten sie für die Magazine Commentary und Encounter, wobei letzteres der literarische Arm des CCF wurde. Dieser Zeitraum brachte Publizist_innen und Polemiker_innen wie Gertrude Himmelfarb und Irving Kristol hervor.

Hartman schreibt ebenfalls, dass sie »geistige Gewohnheiten entwickelten, die nie verkümmerten«, selbst als sich nach rechts orientierten, wie etwa »schlagfertigen Geist, dramatische Deklarationen und Misstrauen gegenüber linker Dogmatik. Sie behielten ihren marxistischen Stil bei, Probleme in Bezug auf zugrunde liegende Ursachen, Eigenlogik und strukturellen Überbau zu diagnostizieren.« Ihre trotzkistische Vergangenheit gab ihnen die intuitive Fähigkeit, die Dogmatik der Linken auf eine Art zu kritisieren, die den etablierten Kirchgänger-Konservativen verschlossen blieb. In ähnlicher Weise ist Milos ›trollige‹ Rechte heute fähig, die neue Online-Identitätspolitik auf eine Art zu bekämpfen, die tatsächlichen Konservativen verschlossen bleibt. Sie begreifen den Wert von Transgression, Ausgefallenheit, Hipness und Gegenkultur oft besser als ihre linken Gegenspieler.

Ob eine politische Bewegung als links oder rechts eingestuft wird, hängt im angelsächsischen Kulturkampf-Diskurs von einem politischen Kompass ab, der schon seit Längerem im Begriff ist, sich neu auszurichten, neu zu denken und neu zu begründen. Insbesondere Klassenpolitik und Sozialliberalismus haben nicht immer einwandfrei harmoniert, genauso wenig wie Sozialkonservatismus und freie Marktwirtschaft – bis die neocons an die Macht kamen und diese Formel perfektionierten. Wie Hartman uns erinnert, haben christliche Politiker_innen wie William Jennings Bryan Sorge um die Familie mit Kapitalismuskritik vereint, während vor den Sechzigern radikale Anhänger_innen des amerikanischen »Prärie-Populismus«1 sich gegen Konzernmonopole und Vetternwirtschaft organisierten. Eine große Zahl von Arbeiter_innen trat in Reaktion auf die Große Depression Gewerkschaften bei. Transgressive und kulturradikale Ideen waren für diese Linken der Arbeiterklasse weitestgehend irrelevant. In der Port-Huron-Erklärung von 1962, dem Manifest der Studentenvereinigung Students for a Democratic Society, findet sich eine ganz andere Art von Botschaft: »Wir sind Teil dieser Generation. Wir sind in zumindest bescheidener Bequemlichkeit groß geworden und momentan in Universitäten untergebracht. Wir blicken mit Unbehagen auf die Welt, die wir erben.« Im Präsidentschaftswahlkampf von 1972 weigerte sich der Gewerkschafts-Dachverband American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations, den demokratischen Kandidaten McGovern zu unterstützen, weil er sich in ihren Augen an die Identitätspolitik verkaufte. Dies lag an der New Politics der Partei, die Gruppenidentitäten in den politischen Vordergrund rücken und von der maßgeblichen Bedeutung der ökonomischen Ungleichheit wegführen sollte.

Herbert Marcuse, Denker der Neuen Linken, stellte währenddessen die Frage, »ob eine Revolution denkbar ist, wo das dringende Bedürfnis nach Revolution nicht mehr vorliegt«. Ein solches sei »sehr verschieden von den dringenden Bedürfnissen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen, nach mehr Gütern, mehr Freizeit, Freiheit und Befriedigung im Bestehenden. Warum soll der Umsturz des Bestehenden eine Lebensnotwendigkeit für diejenigen sein, die innerhalb des Bestehenden ein eigenes Haus, Automobil, Fernsehgeräte, ausreichend Kleidung und Nahrung besitzen oder zumindest darauf hoffen können?« Marx hatte prophezeit, dass der Kapitalismus zur Verelendung führen würde, also sei das städtische Industrieproletariat dazu bestimmt, die revolutionäre Klasse zu stellen. In der Wohlstandsgesellschaft scheinen jedoch, so Marcuse, die beiden großen historischen Kräfte der modernen Welt, die Bourgeoisie und das Proletariat, »nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein«. Viele, die diese Ansicht teilten, befanden, dass die Arbeiterklasse nicht mehr revolutionär, sondern vielmehr reaktionär und kulturkonservativ sei, während die identitären Bewegungen entlang der Trennlinien race, Gender und Sexualität radikaler wurden denn je.

An den Universitäten führte der cultural turn zu einer radikalen Zäsur in der Forschung, wodurch die Kultur ins Zentrum der Gegenwartsdebatte rückte. Das bedeutete auch eine Verschiebung des Hauptaugenmerks hin zu ›Sinn‹ und weg von einer positivistischen Epistemologie, der es um objektive Wahrheit ging. Zeitweiligen Versuchen zum Trotz, die antipostmoderne Sprache echter Konservativer zu bemühen, sind Milo und seine 4chan-Troll-Fans in vieler Hinsicht der perfekte postmoderne Nachwuchs: Jede Aussage ist in Schichten von Pseudo-Ironie, Wortspielerei und mehrdeutigen kulturellen Anspielungen und Bezugnahmen gehüllt.

Yiannopoulos’ Hauptgegner zu Zeiten seiner Beliebtheit in den USA war in erster Linie der Feminismus. So erregte er Aufmerksamkeit, als er auf Twitter ein Quiz erstellte, in dem er seine Follower_innen fragte, ob sie lieber (a) Feminismus oder (b) Krebs hätten. Später schrieb er sich das Motto Feminism is cancer auf die Fahnen, welches auch als T-Shirt-Kollektion erhältlich war. Er beschreibt Feminist_innen gerne als dick und, seine Lieblingsbeleidigung, »lesbianisch«. Hier würden Buchanan und er wohl auf einen gemeinsamen Nenner kommen, aber Buchanan und seine Mitstreiter hielten die Befreiung der Frau und die Befreiung der Schwulen für ein und dieselbe Seuche. Dieser doppelte Feind stach in Buchanans Rede als Maßstock des moralischen Niedergangs der US-Gesellschaft heraus. Da er Hillary Clinton anstatt als tief im Establishment verwurzelte Baby-Boomerin fälschlicherweise als Radikale einschätzte, griff er sie ebenso an wie Bill:

Dies, Freunde, ist radikaler Feminismus. Das Programm, das Clinton & Clinton Amerika überstülpen würden – Abtreibung auf Nachfrage, ein echter Prüfstein für den Obersten Gerichtshof, Rechte für Homosexuelle, Diskriminierung gegen religiöse Schulen, Frauen in Kampfeinheiten – es stimmt schon, das ist Wandel. Aber das ist nicht der Wandel, den Amerika braucht. Das ist nicht der Wandel, den Amerika will. Und das ist nicht der Wandel, den wir in einer Nation zulassen können, die wir nach wie vor God’s country nennen.

Als die Aids-Krise einschlug, schrieb Buchanan: »Die armen Homosexuellen – sie haben der Natur den Krieg erklärt und jetzt übt die Natur grausam Vergeltung.« Der Stonewall-Aufstand2 von 1969 und die darauf folgende Gründung der Gay Liberation Front hatten den Sex- und Geschlechterdiskurs in der westlichen Kultur tiefgreifend verändert, was Konservative tief bedauerten. Milo war Teil einer Bewegung gegen überbehütete Studierende; als Campusuniversitäten von ihrer Politik, sich in loco parentis für die Jungfräulichkeit ihrer Studierenden verantwortlich zu fühlen, Abstand nahmen, bedeutete dies eine riesige Niederlage für das konservative Establishment jener Zeit. Das Gutheißen von Homosexualität war Teil einer weitaus breiteren sexuellen Lockerung, die sowohl Milo als auch seine gender-fluiden Feinde auf Tumblr nach wie vor, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, beeinflusst. 1966 berichtete Time über die Sexual Freedom League3, 1972 kam Alex Comforts illustrierter Bestseller Die Freude am Sex heraus. Norman O. Brown, Philosoph der sexuellen Revolution, behauptete, wir hätten uns, indem wir unseren Wunsch nach »polymorpher Perversität« verdrängten, fälschlicherweise für Freuds ›Zivilisation‹ entschieden.

Auch wenn Milo schwule Männer feiern und gleichzeitig den Feminismus kleinreden will: Die Befreiung von Frauen und Schwulen spielt im Narrativ des Niedergangs westlicher Zivilisation eine große Rolle. Die Besessenheit, mit der die Alt-Right einen solchen proklamiert, folgt einer alten konservativen Denkrichtung, die sich bei Büchern wie Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire bediente, einem Werk aus dem achtzehnten Jahrhundert, das den Zusammenbruch Roms mit sexueller Dekadenz verknüpft. Das von Milo hoch verehrte Werk Camille Paglias befasst sich mit demselben Kausalzusammenhang zwischen Homosexualität, Promiskuität, gender fluidity und dem Niedergang von Zivilisationen. Ähnlich argumentierte die neocon Gertrude Himmelfarb, aufbauend auf ihren Forschungen zum viktorianischen Großbritannien, dass die westliche Zivilisation den Sturm der Moderne nur aufgrund ihrer viktorianischen Werte überstanden habe, welche in den Sechzigern unter der Schwulenbefreiung und der sexuellen Revolution zusammengebrochen seien.

Yiannopoulos spielte in seinen Reden regelmäßig auf Parties und Alkohol, zuweilen auch auf Drogenkonsum an. Er hält kaum ein paar Sätze durch, ohne seine Homosexualität, Analsex-Witze und eine angebliche Vielzahl von schwarzen Liebhabern und Partnern zu erwähnen. In seinem Podcast witzelte er im Gespräch mit Alt-Right-Autorin Ann Coulter, ihm habe die Vorstellung gefallen, mit schwarzen Drogendealer-Liebhabern im Bett erwischt zu werden, als er sich gegen seine Eltern auflehnte. In einer seiner Campusreden verkleidete er sich burlesk als Sadomaso-Polizist – samt Penis-Requisiten –, um gegen Black Lives Matter zu protestieren.

Als Antwort auf Kritik an seinen absichtlich grausamen Mobbing-Attacken tat er diese mit einem Achselzucken als Beispiele für das herrlich zickige Verhalten schwuler Männer ab. Auch 4chan ist eher ein Produkt der sexuellen Revolution als des Konservatismus. Von Anfang an wimmelte es dort nur so von bizarren hardcore-pornografischen Bildern und Gesprächen – schwul, hetero, transgender und alles dazwischen; insgesamt herrscht eine Kultur der genüsslichen Überschreitung aller sexualmoralischen Normen.

Nach dem islamistischen Massaker in einem Schwulenclub in Orlando, Florida 2016 reiste Yiannopoulos dorthin, um zu einer trauernden Menge zu sprechen. Er nutzte den Moment nicht nur, um sich gegen die Einwanderung von Muslimen auszusprechen, sondern auch für Waffenbesitz – ein vielleicht strategisch gewähltes typisch US-amerikanisches Thema, das britischen Konservativen sonst recht egal ist. Die Causa pro Waffen gefällt natürlich der Rechten, aber Yiannopoulos bezieht sich hier auch auf ›Negroes with Guns‹, Robert F. Williams radikalen Ruf zu den Waffen, der die Black Panthers und andere schwarze militante Selbstverteidiger_innen prägte.

Auch sagte Milo in seinem Podcast, dass es das ›Punkigste‹ überhaupt sei, zur Messe zu gehen, und wie langweilig es sei, dass Schwule als Teil der etablierten Gesellschaft akzeptiert würden. Im Online- und Campus-Kulturkrieg, den Yiannopoulos führte, betrachtete man Schwule nicht länger als Vorboten des Untergangs; vielmehr richtete der anklagende Finger sich auf Feminismus und Multikulturalismus. Yiannopoulos stellte Schwule ganz im Gegenteil mithilfe typisch rechter Ideen als Erlöser der Zivilisation dar. Auf seiner Campustournee behauptete er, Schwule seien genetisch vorherbestimmt, die leistungsstarken Beschützer des Westens gegen Feminismus und Islam zu sein. Viele Konservative, die jahrzehntelang die Schwulenbewegung bekämpft hatten, unterstützten mit einem Mal Milos theatralische Ungeheuerlichkeiten im Namen einer Einheitsfront gegen den gemeinsamen Feind. Als er schließlich seine Funktion erfüllt hatte – nämlich jungen Rebellen die Rechte schmackhaft zu machen –, erwiesen sich seine ungeheuerlichen Sex-Kommentare und sein geschmackloses Benehmen als zu große Belastung.

Anders als Milo und dessen Anhänger_innen befürwortete Buchanan auch Zensur, besonders von Pornografie. In seiner Kulturkampf-Rede sagte er: »Wir stehen an Präsident Bushs Seite für das Recht von Städten und Gemeinden, die Kloake der Pornografie, die unsere Populärkultur so schrecklich verschmutzt, zu kontrollieren.« Man kann sich kaum etwas vorstellen, was weiter vom Redefreiheit-Absolutismus, den vulgären schwarzen Analsex-Witzen und der Verteidigung der Pöbelei gegen »die Mimosen« durch Yiannopoulos’ schrille Kunstfigur sowie von seinem kosmopolitischen, multikulturellen Hintergrund entfernt wäre.

Er selbst räumt diese Unterschiede ein:

Die Alt-Right ist für mich in erster Linie eine kulturelle Reaktion darauf, wie die progressive Linke Leuten den Mund verbietet und Sprachpolizei spielt, auf ihren Autoritarismus – auf den Schwitzkasten, in dem sie die Kultur hält. Es ist in erster Linie – wie Trump es ist und wie ich es bin – eine Reaktion gegen das, was die progressive Linke heute tut und die religiöse Rechte in den Neunzigern getan hat: überwachen, was man denken und sagen darf, wie man Meinungen ausdrücken kann.

In den Kulturkriegen, die Yiannopoulos beschwört, waren Buchanan und die Rechte tatsächlich die größten Anti-Redefreiheit-»Mimosen«. Zugleich führten Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon die feministische Bewegung für Pornografie-Zensur an. Der Gegenschlag gegen den Feminismus in den Achtzigern und Neunzigern trug auch deshalb Früchte, weil es sich um eine Koalition mit den historisch dem Untergang geweihten Moralkonservativen handelte. Gemeinsam trat man gegen die wachsende sexuelle Freizügigkeit in der westlichen Kultur an. In seiner Show The Firing Line stimmte William F. Buckley Andrea Dworkin zu, dass Pornografie verboten werden müsse. Wenn man sich vorstellt, wo Milo sich im Kontext der berüchtigten Fernsehduelle aus dem Präsidentschaftswahlkampf von 1968, wo William F. Buckley mit Gore Vidal debattierte, politisch verorten würde, so stünde er wohl Vidal näher, dessen Libertinismus und spitzbübische schwule Redeweise Buckley so anwiderte.

Die Alt-Right beschreibt sich selbst als Reaktion auf den etablierten US-Konservatismus, indem sie eine ›tiefe Kontinuität‹ zwischen der Buckley-Bewegung und den neocons postuliert. Auch hat Spencer die Linke zur Rechten und die Alt-Right zur »neuen Linken« erklärt sowie gesagt: »Wir sind die, die das Unmögliche denken. Wir sind die, die das Undenkbare denken.« Das Radix Journal etwa bedient sich bei der Idee der ›Vierten Politischen Theorie‹, wobei auf den russischen Theoretiker Aleksandr Dugin und den französischen Neuen Rechten Alain de Benoist Bezug genommen wird.4 Dies stelle eine völlig neue politische Ideologie dar, die liberale Demokratie, Marxismus und Faschismus zusammenbringe und überwinde. Auch Rechte wie Peter Brimelow und John Derbyshire, die sich von der konservativen Bewegung ausgeschlossen fühlen, gehören zur Alt-Right. Wie Kevin DeAnna in seinem einflussreichen Pro-Alt-Right-Essay The Alternative Right and the impossibility of conservatism erklärt, stellt sich diese in erster Linie gegen etablierten politischen Konservatismus.

Anders als das burkeanisch-konservative Ethos, dem es um die Schaffung von Institutionen und das Bewahren von Traditionen ging, ist die Alt-Right weniger daran interessiert, Neues zu schaffen, als vielmehr daran, Altes zu zerschlagen – insbesondere einige der liebsten Grundsätze des US-Konservatismus, etwa die Lehre von der Ausnahmerolle der USA. Dies ist die auf Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika zurückgehende Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten auf einer Idee anstelle einer in ›Blut und Boden‹ verankerten nationalen Identität fußten. Blogeinträge wie America is not an idea von Vox Day oder Ideas Didn’t Build America auf The Right Stuff 5 sowie die vielen Texte zum ›Mythos Ideen-Nation‹ (›proposition nation myth‹) auf VDARE6 schlagen alle in die gleiche Kerbe.

Letzten Endes gehörte Buchanan zu den paleocons, die Trump den Rücken stärkten, und damit zu den vielen, die Yiannopoulos und den Großteil dessen, wofür er stand, vormals verabscheut hatten, sich dann aber umentschieden und auf den fahrenden Zug aufsprangen – und damit nicht bloß auf Trump, sondern auch auf die respektlose Online-›Punk‹-Rechte setzten. Nachdem sie Buchanans konservativen Kulturkampf verloren hatten, rechneten sie sich aus, dass ihnen nur eine Chance blieb, zumindest mit einem Teil ihrer Ideen noch einmal Gehör zu finden: Diese bestand darin, einen Frauen begrapschenden, lüsternen, gottlosen Präsidentschaftskandidaten und eine Freigeistfigur wie Yiannopoulos und dessen Online-Heer rassistischer, vulgärer, Porno-verliebter Nihilisten zu unterstützen, die in vieler Hinsicht für all das stehen, was Menschen wie Buchanan normalerweise ablehnen – und aus strategischer Sicht lagen sie damit möglicherweise richtig. Der Aufstieg von Milo, Trump und der Alt-Right ist kein Indiz für eine Rückkehr des Konservatismus, sondern für die absolute Vorherrschaft der Kultur des Nonkonformismus, der Selbstdarstellung, der Transgression und der Respektlosigkeit als Selbstzweck – eine Ästhetik, die jenen nützt, die an nichts außer der Entfaltung des Individuums und des Es glauben, ob sie sich nun links oder rechts verorten. Die prinzipienfreie Idee der Gegenkultur ist nicht verschwunden; sie ist bloß zum neuen Stil der Rechten geworden.


1 | Populäre Bewegung in einigen Staaten des amerikanischen Mittleren Westens Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. d. Übers.).

2 | Serie von gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Homo- und Transsexuellen und der Polizei in New York (Anm. d. Übers.).

3 | 1963 in New York gegründete Organisation, die sexuelle Freiheit und laxere Abtreibungs- und Zensurgesetze propagierte (Anm. d. Übers.).

4 | Vgl. Alexander Dugin: Die Vierte Politische Theorie, 2009 im russischen Original veröffentlicht. Der wichtigste Verlag für Alt-Right-Literatur, Arktos Media mit Sitz in Budapest, brachte 2012 bzw. 2013 Übersetzungen ins Englische und Deutsche heraus (Anm. d. Übers.).

5 | Von Mike Peinovich gegründeter rechtsextremer, antisemitischer Blog, auf dem z.B. der Podcast The Daily Shoah zu finden ist (Anm. d. Übers.).

6 | US-amerikanische Webseite, laut Selbstbeschreibung »Erster Nachrichtenkanal für patriotische Einwanderungsreform«, die US-Rechtsextremen sowie der Alt-Right nahesteht (Anm. d. Übers.).