Kapitel 5 – Von Tumblr zu den Campus-Kriegen: Knappheit schaffen in der Tugend-Ökonomie


Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, dass bei einer jüngeren Generation ein neues rechtes Lebensgefühl entstanden ist, das die Grenzen des Sagbaren weiter nach rechts verschoben hat, als irgendjemand es sich hätte vorstellen können. Eine lautet, dass sich diese Weltsicht, lange bevor sie an Universitäten, auf Twitter oder auf YouTube zur Oberfläche aufstieg, als Gegenentwurf zur neuen Identitätspolitik auf Portalen wie Tumblr entwickelte. Letztere versuchte, die Kultur nach links zu verschieben, indem sie die Rechte für bestimmte Aussagen brandmarkte, zugleich jedoch bei Themen wie race und Gender den Diskurs-Rahmen auf der Linken ausweitete, wodurch antimännliche, antiweiße, antiheterosexuelle und Anti-Cisgender-Rhetorik auf der kulturellen Linken zunehmend normal wurden. Die liberale Online-Kultur à la Tumblr war genauso erfolgreich darin, Randideen in den Mainstream zu verhelfen, wie es die heutige Netz-Rechte ist. Verglichen mit der schockierenden Pietätlosigkeit der chan-Kultur war sie ultra-sensibel, jedoch ebenso subkulturell und radikal.

In der Folge der Trump-Wahl zeigten sich die Risse in der breiteren ›Linken‹ deutlicher denn je. Insbesondere die Animositäten und tieferen philosophischen Unterschiede zwischen der liberalen und der materialistischen Fraktion schlugen sich in Form von in beide Richtungen fliegenden Beleidigungen nieder. Beide Seiten waren verbittert, weil Hillary verloren hatte bzw. ›Bernie gewonnen hätte‹. Die Sozialisten wurden als brocialists und arrogante ›weiße Typen‹ abgestempelt; sie schlugen zurück, indem sie der moralisierenden, demonstrativ soziopolitisch engagierten (›woke‹) Tumblr-Identitätspolitik vorwarfen, die Linke kaputtgemacht zu haben. Neben brocialists und Berniebros bekam dieses Milieu auch den Namen Alt-Left. Es lohnt sich, diesen Bruch innerhalb ›der Linken‹ hier nachzuzeichnen und die Kultur linker Identitätspolitik im Netz näher zu beschreiben, die ebenso einflussreich, diffus, auf verschiedenen Plattformen beheimatet und ständig im Wandel begriffen ist wie ihr rechtes Pendant.

Das Mainstream-Nachrichtenpublikum war verblüfft, als Facebook 2014 verkündete, es böte seinen Nutzern nunmehr über fünfzig Gender-Optionen zur Auswahl an. Um diese Zeit herum brachen auch die Campus-Kriege um safe spaces, Trigger-Warnungen, Redeverbote und Gender-Pronomen aus. Der social-media-Konzern nahm damit allerdings lediglich einen Impuls aus seit Jahren lebendigen Netz-Milieus und den damit verbundenen jugendpolitischen Subkulturen auf. Diese neue Kultur (die Rechten tauften sie ›SJWs‹ und ›Schneeflocken‹ – ich schlage ›Tumblr-Liberalismus‹ vor) befasste sich in der Hauptsache mit gender fluidity und der Schaffung einer sicheren Umgebung, wo Themen wie psychische Probleme, körperliche Behinderung, race, kulturelle Identität und ›Intersektionalität‹ (der mittlerweile standardmäßige akademische Begriff für die Anerkennung sich in verschiedenen Konstellationen kreuzender Marginalisierungen und Unterdrückungsmuster) erkundet werden konnten. Die Wurzeln dieses politischen Lebensgefühls liegen an den Universitäten und im Aktivist_innen-Milieu. Dass es im Mainstream ankam und Hillary Ausdrücke wie ›Check your privilege!‹ und ›Intersektionalität‹ verwendete, stellte den Höhepunkt jahrelanger Entwicklung auf Tumblr, in Fan-Kulturen, auf früheren Plattformen wie LiveJournal und in diversen sozialen Medien dar. Zur Entstehung dieses umfassenden politischen und ästhetischen Werte-Kosmos mit eigenem Vokabular und Stil – ganz und gar das Spiegelbild rechter 4chan-Kultur – lassen sich verschiedene Entwicklungsfäden zu einer Vielzahl von Online- und Offline-Quellen zurückverfolgen. Tumblr war aber zweifellos entscheidend. Hier erreichte die von Walter Benn Michaels kritisierte liberale Prioritätensetzung der »Anerkennung von Vielfalt vor ökonomischer Ungleichheit« ihre aberwitzigste Apotheose, nämlich eine auf die Details und Abstufungen sich rasch vermehrender Identitäten und die durch systemische kulturelle Vorurteile zugefügten emotionalen Wunden gründende Politik. Ihre Ziele waren symbolische repräsentative Vielfalt und Anerkennung, während sie vermeintlichen Aggressoren vorwarfen, ihre Identität ›auszulöschen‹, und Weiße/Heteros/Männer/Cis aufforderten, ›zuzuhören‹ und zu ›glauben‹. Insbesondere die konservative Presse bezeichnet die Akademiker-Millennials, die auf den Aufstieg der Online-Kultur folgten, gern als ›Generation Schneeflocke‹. Tumblr war ihre Vorhut.

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«, schrieb 1949 die französische Feministin und Philosophin Simone de Beauvoir. 1990 dachte Judith Butler dies in Das Unbehagen der Geschlechter um mehrere Schritte weiter – oder nahm es vielleicht wörtlicher. Sie argumentierte, die Kategorien Geschlecht, Gender und Sexualität würden zur Gänze durch die Wiederholung stilisierter und kultivierter leiblicher Handlungen kulturell konstruiert, wodurch der Anschein eines essentiellen, ontologischen ›Kern‹-Geschlechts entstehe.

In den frühen 2010er Jahren hatte Tumblr Butlers Theorie in die Tat umgesetzt und eine umfassende subkulturelle Sprache inklusive typischen Slogans und einem eigenen Stil erschaffen. Die Kulturpolitik auf Tumblr kreiste um fluide Identitäten, insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, um Gender. Sie war der subkulturelle, digitale Ausdruck von Judith Butlers Ideen. Über Jahre füllte sich die Seite mit Geschichten junger Leute, die über das gänzlich sozial konstruierte Wesen von Gender und die möglicherweise grenzenlose Auswahl an Gendern diskutierten, mit denen eine Person sich identifizieren oder zwischen denen sie sich bewegen könne.

Es folgen einige direkt von Tumblr zitierte Einträge aus der ständig wachsenden Liste von Geschlechtern, mittlerweile hunderte Einträge lang:


Alexigender: zwischen mehr als einem Geschlecht fluide Genderidentität, doch die Person kann nicht sagen, was diese Gender sind.

Ambigender: das Gefühl zweier Geschlechter zugleich, aber ohne Fluidität/Wechsel. In manchen Fällen bedeutungsgleich mit Bigender.

Anxiegender: ein Geschlecht, das von Angst betroffen ist.

Cadensgender: ein Geschlecht, das sich leicht von Musik beeinflussen lässt.

Cassflux: wenn die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Geschlecht fluktuiert.

Daimogender: ein Dämonen und dem Übernatürlichen stark verbundenes Geschlecht.

Expecgender: ein Geschlecht, das sich ändert, je nachdem, in wessen Gesellschaft man sich befindet.

Faegender: ein Geschlecht, das sich mit den Jahreszeiten, Sonnenwenden und Mondphasen ändert.

Fissgender: ein Geschlecht, das in irgendeiner Weise geteilt ist, Bigender oder Demigender ähnlich.

Genderale: ein Geschlecht, das schwierig zu beschreiben ist. Hauptsächlich mit Pflanzen, Kräutern und Flüssigkeiten verknüpft.

Kingender: ein Geschlecht, das mit einer otherkin-Identität verknüpft ist.

Levigender: ein leichtgewichtiges, oberflächliches Geschlecht, das man nicht stark spürt.

Necrogender: ein Geschlecht, das einmal existiert hat, jetzt aber ›tot‹ oder nicht-existent ist.

Omnigay: wie gender-fluid, wobei man sich zu anderen Geschlechtern je nach eigenem Geschlecht hingezogen fühlt, sodass die Person sich immer zu dem je eigenen Geschlecht hingezogen fühlt.

Perigender: sich mit einem Geschlecht identifizieren, dies aber nicht als binäres Geschlecht oder Teil eines solchen.

Polygenderflux: mehr als ein Geschlecht haben, dessen Intensität fluktuiert.

Technogender: fühlt sich nur online bzw. beim Benutzen von Technologie mit seinem Geschlecht wohl, meist aufgrund von Sozialphobie (speziell für Menschen mit Angststörungen).

Xoy: jemand, der sich in irgendeiner Weise als nonbinärer Junge fühlt.

Xirl: jemand, der sich in irgendeiner Weise als nonbinäres Mädchen fühlt.

Diese Geschlechterorientierungen auf Tumblr sind einer anderen Online-Subkultur eng verwandt, auf die sie sich auch häufig direkt beziehen: otherkin. Hierbei handelt es sich um eine Subkultur von Menschen, die sich, der Wikipedia-Definition zufolge, »teilweise oder gänzlich nicht-menschlich« fühlen, als Fabelwesen, Gestalten aus Fantasy oder Populärkultur wie z.B. »Engel, Dämonen, Drachen, Elfen, Feen, Kobolde und Zeichentrickfiguren«. Manche behaupten, in der Lage zu sein, ihre »Astralform zu wechseln«, sich also als ein anderes Wesen zu fühlen, ohne sich physisch zu verändern. Freilich nehmen, wie in jeder Online-Kultur, viele Tumblr-Nutzer in selbstironischer Weise Bezug auf otherkin, beinah eher als bewusste, selbstreferentielle Performance der eigenen Zugehörigkeit zu einer geekigen Subkultur; dennoch sagt dies, als Extrembeispiel, etwas über das größere Thema fluider Identitäten aus, das diese Kultur durchzieht.

Während Gender-Nonkonformismus nichts Neues ist und seit sexueller Revolution und Schwulenbewegung zweifellos immer mehr im Mainstream ankommt, tritt hier eine teils politische Internetkultur in Erscheinung, die einen unerwartet riesigen Einfluss ausübt. In anderen, ähnlichen Nischensubkulturen des gleichen Milieus, die von der entstehenden Online-Rechten immer als Beweise für den Niedergang des Westens angeführt wurden, finden sich etwa auch Erwachsene, die sich als Babies fühlen, und Nicht-Behinderte, die sich als behinderte Menschen wahrnehmen – bis zu dem Punkt, wo sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollen, um zu erblinden, sich amputieren oder anderweitig versehren zu lassen, sodass sie zu der behinderten Person werden, als die sie sich fühlen. Man mag die Motivationen hinter der Fixiertheit der Rechten auf relative Nischensubkulturen anzweifeln, doch die liberale Fixiertheit auf relative Nischenbereiche der neuen Internet-Rechten, die aus kleinen Online-Subkulturen entstanden ist, ist durchaus vergleichbar – das heißt, der Einfluss von Tumblr auf die Prägung bizarrer neuer politischer Vorstellungen ist wohl ebenso wichtig wie das, was aus der rechtslastigen chan-Kultur hervorgegangen ist.

Der race-Forscher und Politikwissenschaftler Adolph Reed Jr. sagt häufig, Liberale glaubten nicht mehr an tatsächliche Politik, sondern nur noch daran, »von Leiden Zeugnis abzulegen«. Der Kult um Leiden, Schwäche und Verletzlichkeit ist mittlerweile ein Kernstück liberaler Identitätspolitik, wie sie etwa auf Tumblr praktiziert wird. Es ist in Kreisen, die sich intensiv mit Genderfluidität befassen, auch üblich, sich offen als Person mit Behinderungen und psychischen Problemen zu erkennen zu geben, die, eigenen Aussagen zufolge, zu äußerster Verletzlichkeit und Leid führen. Diese Behinderungen sind zum Teil psychologischen Ursprungs oder werden von der modernen Medizin nicht anerkannt. Ein Beispiel dafür findet sich in der spoonies-Identität, einer Selbstbezeichnung und Online-Subkultur, deren Mitglieder, meist junge Frauen, Schmuck in Löffelform und Löffel-Tattoos tragen sowie spoonie in ihre social-media-Biografien schreiben, um ihre Zugehörigkeit auszudrücken.

Der Name Spoonies leitet sich von der sogenannten ›Löffeltheorie‹ (die in Wahrheit eine Metapher war) ab. Den Begriff prägte Christine Miserandino in ihrem Essay The Spoon Theory, den sie 2003 auf ihrem Blog ButYouDon’tLookSick.com veröffentlichte. Sie lässt darin ein Gespräch mit einer Freundin Revue passieren, die sie fragt, wie es sei, eine Krankheit ohne äußerlich sichtbare Symptome zu haben. Miserandino nimmt eine Handvoll Löffel vom Tisch und legt sie einen nach dem anderen weg. Jeder Löffel steht dabei für ein Ereignis oder eine Aktivität an einem typischen Tag; so zeigt sie, dass ihre Kräfte äußerst limitiert und, wie die jedes anderen Menschen, nicht unendlich sind. Während Menschen sich ohne Frage seit Jahrhunderten mit Behinderungen auseinandersetzen, wurde das spoonie-Phänomen zu einer Subkultur mit einem gewissen quasi-politischen Eifer, der alle Subkultur-Identitätspolitik-Milieus zu kennzeichnen scheint. Junge Frauen, sehr oft auch intersektionale Feministinnen und Radikale, gaben sich als spoonies zu erkennen und teilten gegen alle aus, die auf ihre unzureichend anerkannten, undiagnostizierten oder undiagnostizierbaren unsichtbaren Krankheiten nicht angemessen reagierten bzw. ihren anderen Identitäten nicht sensibel genug begegneten.

Ein weiteres Kernmerkmal der neuen Identitätspolitik war Selbstgeißelung, insbesondere unter weißen, männlichen, heterosexuellen, cisgender- oder nichtbehinderten Mitgliedern der Subkulturen, die nur zu gerne ihre ›Privilegien checkten‹ – eine Phrase, die so sehr zu einem Teil Tumblr-liberaler Kultur wurde, dass die Rechte sie oft parodierte. Als diese Kultur des Privilegien-Prüfens es in den etablierten Diskurs geschafft hatte, twitterte der Anti-Gamergate-Kolumnist Arthur Chu: »Als Typ, dem der Feminismus am Herzen liegt, will ich manchmal alle Männer Arm in Arm nebeneinanderstellen & dann über eine Klippe laufen und das ganze Geschlecht ins Meer ziehen.« Am Morgen nach der Wahl Donald Trumps twitterte die Kolumnistin Laurie Penny: »Ich habe schon früher weiße Schuld empfunden. Heute ist das erste Mal, dass ich tatsächlich wahrhaftig entsetzt und voller Scham darüber bin, weiß zu sein.«

Und doch – auch wenn sie sich verletzlich zeigten und sich selbst klein machten – haben sich Mitglieder dieser Subkulturen in der Sicherheit hinter ihrer Tastatur häufig genauso außerordentlich boshaft und aggressiv verhalten wie ihre ›Pepe‹-Gegenspieler. Jonathan Haidts berühmtes Essay im Atlantic, The Coddling of the American Mind, das die titelgebende »Verhätschelung des amerikanischen Geistes« als Wurzel der Etablierung dieser neuen Weltsicht an den Universitäten verortet, trug eine Diskussion über die »Generation Schneeflocke« in den Mainstream-Diskurs. Schon lange vorher schufen obskure Interneträume, Subkulturen und Identitäten eine Kultur der Fragilität und Opfermentalität, gemischt mit boshaften Gruppenattacken, Gruppen-shaming und Versuchen, den Ruf und das Leben anderer im gleichen politischen Milieu zu zerstören, was später cry-bullying getauft wurde.

Während die Rechte ihre eigene Kritik dieser seltsamen Welt der Online-Identitätspolitik entwickelte, erschien das explosive Essay Exiting the Vampire Castle des marxistischen Publizisten Mark Fisher. Dieses erhitzte die Gemüter der Tumblr-Liberalen und der identitären, ›Privilegien checkenden‹ Linken noch weiter und zog derart bösartige Auseinandersetzungen und massenhafte öffentliche Bloßstellungen nach sich, dass es letztlich zu einer immer größeren Spaltung der jüngeren Generation der Linken in mehr oder weniger klassische Materialist_innen und die Anhänger_innen dieser puren Identitätspolitik führte. Fisher schrieb:

Das ›linke‹ Twitter ist oft eine elende, entmutigende Zone. Anfang des Jahres gab es einige Twitter-Stürme, in denen bestimmte, sich zur Linken zählende Leute bloßgestellt und verurteilt wurden. Was diese Menschen gesagt hatten, war bisweilen kritikwürdig; die Art, in der sie persönlich verteufelt und verfolgt wurden, hat jedoch etwas Grausiges hinterlassen: den Gestank von schlechtem Gewissen und Sittenwächtertum, wie bei einer Hexenjagd. Der Grund, warum ich zu keinem dieser Anlässe meine Meinung gesagt habe, war – ich schäme mich, es einzugestehen – Angst. Die Mobber waren auf der anderen Seite des Schulhofs. Ich wollte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken.

Genau das aber tat er. Die Flut an rachsüchtigen persönlichen Beleidigungen, die Fisher noch Jahre später erlebte, inklusive grundloser Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Transphobie etc., wurde zur Standardreaktion auf jeden, der es wagte, an irgendeine zentrale Empfindlichkeit der Tumblr-Linken zu rühren, vielleicht insbesondere, wenn dies von einem linken Standpunkt aus geschah. Die seltsamste Eigenschaft dieser Kultur der Online-Bloßstellung war die Mischung aus performativer Verletzlichkeit, selbstgerechtem soziopolitischem Bewusstsein (›wokeness‹) und Schikane. Ihre Dynamik beschrieb Fisher hellsichtig als »getrieben von der Sehnsucht eines Priesters, zu exkommunizieren und zu verdammen, von der Sehnsucht eines Akademiker-Pedanten, der erste zu sein, der einen Fehler findet, und von der Sehnsucht eines Hipsters, zu den Coolen zu gehören«. Ich würde hinzufügen, dass hinter all dem eine einzige Triebkraft steckt: Es geht darum, in einer Umgebung, in der ›Gutsein‹ die Währung ist, welche die Karriere oder soziale Stellung eines Online-Nutzers befeuern oder besiegeln kann, Knappheit zu erzeugen. Die anonyme Unterwelt, aus der die rechten Troll-Kulturen hervorgegangen sind, waren die Gegenkraft dieses Milieus.

Eins von zahllosen Beispielen für die Gleichzeitigkeit von Opferrolle und Gefühllosigkeit beginnt mit einer Nachricht von 2016: Ein Alligator hatte sich in einem Disney-Resort in Florida einen Zweijährigen geschnappt und ihn in eine Lagune gezogen. Trotz der Versuche seines Vaters, ihn zu retten, starb der Junge – für ein normales Mainstream-Publikum eine erschütternd traurige Geschichte. Eine Twitter-Nutzerin namens Brienne of Snarth mit mehr als 11.000 Follower_innen und einer einflussreichen Tumblr-Seite kritisierte den trauernden Vater des Kleinkinds für seine »weiße Privilegiertheit«. Indizien aus ihrem Online-Leben entsprachen allen Kennzeichen der Tumblr-Identitätspolitik. Wie viele der lautesten Ankläger_innen weißer Privilegien war auch sie selbst weiß. Sie schrieb: »Ich hab’ diese weiße Privilegiertheit mittlerweile so satt, dass ich nicht mal traurig bin, wenn ein 2j. von einem Alligator gefressen wird, weil sein Papa Schilder ignoriert hat« sowie »Du denkst wirklich, dass nichts irgendwelche Scheiß-Konsequenzen hat. Auf einem verdammten Schild stand, dass man in Florida nicht ins Wasser darf. SCHEISS DOCH AUF EIN SCHILD.« Das Publikum etablierter Medien war empört, als über den folgerichtigen Twitter-Sturm berichtet wurde, die Alt-Right und Alt-Light verbreiteten die Geschichte als Beweis für die Degeneration der modernen Linken, während viele Tumblr-Liberale sich Brienne zur Seite stellten.

Auf Twitter, wo Nutzer_innen um Follower_innen wetteifern, können stagnierende Karrieren durch das korrekte Signalisieren von ›Gutsein‹ augenblicklich befeuert werden. In der Anfangszeit der Plattform merkten viele B-Prominente, dass sie hier eine größere Anhängerschaft erreichen konnten als durch traditionelle Medien. Zunächst bestand der direkteste und sicherste Weg zu social-media-Ruhm darin, anderen in selbstgerechtem oder abfälligem Ton Rassismus, Sexismus oder Homophobie vorzuwerfen. Es zeigte sich, dass öffentliche social-media-Plattformen etwas hatten, was zur Eitelkeit moralisch-rechtschaffener Politik und zur unwiderstehlichen Anziehungskraft der Kulturkämpfe passte und diese befeuerte. Bald jedoch war das Geheimnis gelüftet und alle wollten mitspielen. Die Währung ›Tugend‹, in der mancher sein kulturelles Kapital gescheffelt hatte, war von plötzlicher Entwertung bedroht. Mir scheint, dass darauf eine Kultur der Säuberung folgen musste, größtenteils auf Konkurrent_innen gerichtet, die ebenfalls um diese wertvolle Währung wetteiferten. Insofern zielten die Angriffe zunehmend auf andere Liberale und Linke mit scheinbar lupenreiner progressiver Vita ab anstatt auf Menschen, die sich tatsächlich rassistisch, sexistisch oder homophob äußerten.

Nach dem Amoklauf von Orlando, in dem ein Mann, der sich zum Islamisten Abu Bakr al-Baghdadi bekannte, in einem Schwulen-Nachtclub das Feuer eröffnet hatte, eilten Millionen auf Twitter, um öffentlich ihre Trauer und Verzweiflung mitzuteilen. In diesem Moment massenhafter Solidarität mit der Schwulen-Community drehte der Knappheit erzeugende Säuberungsprozess über, um sicherzustellen, dass ›Gutsein‹ nicht zu günstig zu haben sei. Eine intersektionalistische Twitter-Berühmtheit erinnerte jene, die den Fall die schlimmste Massenerschießung in der Geschichte der USA genannt hatten, dass »Wounded Knee1 […] die schlimmste« war. Andere Tweeter_innen wetterten gegen den Gebrauch von ›Latina/o‹ anstelle von ›Latinx‹2 in der Berichterstattung, während wieder andere klarstellten, dass die psychische Erkrankung des Massenmörders und nicht etwa seine Loyalität zu IS und Kalifat der Grund für die Tat gewesen sei. Andere ließen sich das letzte Wort nicht nehmen und tweeteten erzürnt zurück, es sei Ableismus, dem Amokläufer eine psychische Erkrankung zuzuschreiben. Bei einer Mahnwache mit hunderten Teilnehmer_innen schrie eine junge Frau die Menge an: »Hier sind so viele Weiße. Das war kein Witz […]. Für wen seid ihr wirklich hier?«

Diese Dynamik, die im Dunkel der Online-Subkultur begonnen hatte, floss später in die Campus-Kriege um Redefreiheit, Trigger-Warnungen, den westlichen Kanon und safe spaces ein. Vielerorts mussten Trigger-Warnungen vorangestellt werden, um den unerwartet hohen Zahlen junger Frauen zu begegnen, die, obwohl sie nie im Krieg gewesen waren, angaben, an posttraumatischer Belastungsstörung zu leiden. Sie behaupteten, von allem ›getriggert‹ zu werden, was irgendwie belastend war, von großen Werken der Literaturgeschichte bis zu ziemlich gewöhnlichen nichtliberalen Meinungen, etwa dass es nur zwei Geschlechter gebe.

Auf dem Höhepunkt all dessen wurde Germaine Greer als Rednerin zum Thema Women & Power: The Lessons of the 20th Century an der Universität Cardiff in Wales angekündigt. Die Frauenbeauftragte der Studentenvertretung, Rachael Melhuish, warnte, Greers Anwesenheit wäre »schädlich«, und behauptete in ihrer Unterschriftaktion für die Absage der Veranstaltung:

Greer hat wieder und wieder ihre frauenfeindlichen Ansichten gegenüber Transfrauen zur Schau gestellt, indem sie z.B. kontinuierlich falsche Pronomen für Transfrauen verwendet und die Existenz von Transphobie gänzlich leugnet […]. Universitäten sollten den Stimmen der Verletzlichsten auf ihrem Campus Vorrang geben, anstatt Sprecher_innen einzuladen, die bestrebt sind, diese noch weiter zu marginalisieren. Wir halten die Universität Cardiff an, diese Veranstaltung abzusagen.3

Die Unterschriftenaktion wurde von über 2.000 Menschen unterschrieben; Greer war über Nacht von einer führenden Veteranin, die ihr ganzes Leben für die Befreiung der Frau gearbeitet hatte, zu einer verbotenen und toxischen ›TERF‹ (›Trans-Exclusionary Radical Feminist‹) geworden, deren Name durch den Schmutz gezogen wurde. Was diese neue Generation von Campus-Feminist_innen anging, hätte Greer genauso gut rechtsextrem sein können. Greer hatte seit fünfzehn Jahren keine Kommentare über Transgenderismus mehr veröffentlicht, was »nicht mein Thema« war, wie sie später gegenüber Newsnight angab. Als Antwort auf die Kontroverse biederte der Vizedekan der Universität Cardiff sich bei jenen an, die Greer angegriffen hatten, indem er betonte, die Universität dulde »in keiner Weise diskriminierende Kommentare« und arbeite »hart daran, eine positive und inklusive Umgebung für LGBT+-Menschen zu schaffen«.

Aus Unzufriedenheit mit den bisherigen Attacken auf Greer verfasste Payton Quinn, die sich als ›nonbinär‹ sowie als ›trans-feministische Aktivistin und ganzheitliches ätherisches Wesen‹ bezeichnet, unter dem Titel Entitled to Free Speech but not above the Law (etwa: »Redefreiheit ja, aber niemand steht über dem Gesetz«) einen zornigen offenen Brief, in dem sie andeutete, Greer habe sich strafrechtlicher Vergehen schuldig gemacht.

Bis dato war es undenkbar gewesen, dass auch Peter Tatchell, lebenslanger Schwulenaktivist, der viele Male in der ganzen Welt sein Leben für Schwulenrechte riskiert hat, sich im Zentrum der nächsten Runde der Vorwürfe wiederfinden würde. Fran Cowling, LGBTQI+-Repräsentantin der Nationalen Studentenvertretung Großbritanniens, sagte, sie würde keine Bühne mit einem Mann teilen, dem sie vorwarf, rassistisch, islamophob und sogar »transphob« auffällig geworden zu sein. Cowling lehnte eine Einladung zu einem Vortrag ab, falls Tatchell teilnähme. In den E-Mails führte sie Tatchells Unterzeichnung eines offenen Briefs im Observer im Vorjahr an, der sich für Redefreiheit und gegen die Praxis mancher Universitäten aussprach, bestimmten Personen keine Bühne zu bieten (›No Platform‹). Als das Debakel später öffentliche Aufmerksamkeit erregte, ging die Anti-Tatchell-Seite noch einen Schritt weiter und behauptete, dass die negative Aufmerksamkeit ihnen schade und dass sich Tatchell in seiner Haltung pro Redefreiheit sogar von der rechten Presse unterstützen lasse. Einige behaupteten sogar, er habe die Angriffe auf sich selbst inszeniert.

2015 wurde die iranische Sozialistin und Feministin Maryam Namazie eingeladen, an der Goldsmiths-Universität in London einen Vortrag zu halten. Aufgrund ihres militanten Säkularismus und ihres offenen Abfalls vom islamischen Glauben – eines Stils also, der westlichen Linken nicht geheuer ist – stellte sich eine Kontroverse ein: Die islamische Studentenvereinigung der Universität sprach sich gegen ihre Anwesenheit auf dem Campus aus. Als sie trotzdem ihre Rede hielt, saß eine Gruppe Männer aus der Vereinigung in der ersten Reihe und versuchte, sie einzuschüchtern. Sie riefen dazwischen, gestikulierten aggressiv, schalteten den Projektor und die Lichter aus; für einen Großteil der Rede musste Namazie schreien, um gehört zu werden. Videoaufnahmen des Vortrags zeigen ein Ausmaß der Einschüchterung, das undenkbar wäre, wenn Namazie oder die Islamisten weiße Westler_innen wären; nichtsdestotrotz erhielt sie nicht nur keine Solidaritätsbekundungen von ihren westlichen Genoss_innen, sondern wurde vielmehr auch von ihnen anlässlich des Vorfalls verurteilt und angegriffen.

Die feministische Studentenvereinigung der Universität reagierte mit Unterstützung für die islamische Vereinigung und Kritik an Namazie, die LGBT-Vereinigung drückte in einer Erklärung ebenfalls ihre Unterstützung der islamischen Vereinigung aus. Um zu den Leuten, denen die liberalen Studierenden auf Kosten Namazies den Rücken stärkten, etwas Kontext zu liefern: Der Präsident der Goldsmiths Islamic Society, Muhammed Patel, war Anhänger des Hasspredigers Haitham al-Haddad, der in einem Artikel namens Standing up against Homosexuality and LGBTs schreibt: »Um die Geißel der Homosexualität zu bekämpfen, hat Allah bestimmt, dass wir gegen sie unsere Stimme erheben und mit anderen in Rechtschaffenheit und Gottesbewusstsein zusammenarbeiten sollen.«

Neben dieser Serie von Angriffen auf diese und andere Veteran_innen der Neuen Linken nahmen nun einige Rechte ihre Rolle als Opfer solcher Kampagnen bereitwillig an – ein Stil, den Milo perfektionierte. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht jedoch darin, dass Rechte mit blitzenden Klingen, Linke dagegen oft verblüfft, eingeschüchtert oder apologetisch und in einigen Fällen sogar mit dem Rückzug von der Linken reagierten. Ich denke oft, dass der nach der ›Tumblrisierung‹ linker Politik erfolgte brain drain der Linken einen Schaden zugefügt hat, der sich noch als langlebig erweisen wird.

In Kanada wurde Dr. Jordan Peterson zum Helden der Alt-Light, nachdem er sich dem Gesetz zur Einführung alternativer Pronomen an Universitäten – ›ze‹ oder ›zir‹ als Alternativen zu den alten Hüten she oder he – verweigert hatte. Er erschien auf einer gegen ihn gerichteten Protestveranstaltung, um zu den Versammelten zu sprechen, und wurde von einer White-Noise-Maschine übertönt sowie von Menschen in der Menge angeschrien. Er sagt auch, das Schloss seiner Bürotür sei zugeklebt gewesen; die Universität habe seinem Recht auf akademische und Redefreiheit zwar plattitüdenhaft den Rücken gestärkt, ihn aber zugleich gewarnt, er könnte sich juristischen Ärger mit dem Menschenrechtskodex von Ontario einhandeln. Die Universität erhielt eine Welle von Beschwerden vonseiten Studierender und Angestellter, die seine Kritik an den neuen Pronomen-Regeln als »nicht hinnehmbar, emotional belastend und schmerzhaft« empfanden.

Im März 2015 veröffentlichte Laura Kipnis ein Essay im Chronicle of Higher Education, in dem sie die Stimmung »sexueller Paranoia« an Universitäten kritisierte, sexuelle Beziehungen zwischen Professor_innen und Studierenden verteidigte und Trigger-Warnungen kritisierte. Eine Gruppe Studierender protestierte und forderte die Universitätsverwaltung auf, sich erneut klar für die Richtlinien auszusprechen, die Kipnis kritisiert hatte, wobei sie in Anspielung auf Emma Sulkowicz’ Protestaktion gegen Vergewaltigung auf dem Campus an der Columbia-Universität eine Matratze trugen. Unter Verweis auf die Richtlinien der Universität reichten zwei Studierende Beschwerde gegen Kipnis ein, mit der Begründung, ihr – mittlerweile zu einem Buch erweiterter – Artikel schrecke Studierende davor ab, sexuelles Fehlverhalten zu melden. Kipnis wehrte sich öffentlich gegen die Vorwürfe und wurde schließlich entlastet.

Dies sind lediglich einige ausgewählte Fälle in einer gefühlt endlosen Reihe universitärer Kulturkämpfe um die Themen Sexualität, Gender und Identität, die aufkamen, nachdem eine gewisse Art von Identitätspolitik im Internet genährt worden war. Wie verhalten sich diese jedoch zu früheren Campus-Kriegen? William F. Buckley gründete die National Review als »Gegen-Establishment« zum universitären Milieu und hat bekanntlich gesagt: »Ich würde die Regierung der Vereinigten Staaten eher den ersten 400 Menschen im Bostoner Telefonbuch anvertrauen als dem Lehrkörper der Universität von Harvard.« 1983 sagte Robert Simonds, Sprecher der National Association of Christian Educators, ein »großer Krieg« wüte um das Thema Bildung. Walter Lippmann schrieb: »Die Schule ist der Ort, wo das Kind zur Religion und zum Patriotismus seiner Eltern hin- oder von diesen weggeführt wird.« Und in der Tat wurden die Auswirkungen des ›langen Marsches durch die Institutionen‹ spürbar. Lehramtsstudierende mussten Bücher wie Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten lesen und es wurden bedeutende Kulturkämpfe um das Einsickern von Feminismus und Multikulturalismus in Bildung und die breitere Kultur geführt. Phyllis Schlaflys Buch Child Abuse in the Classroom zum selben Thema prägte das konservative Misstrauen gegenüber liberaler Indoktrinierung an öffentlichen Schulen.

Wie Hartman schreibt, spielten sich an Hochschulen und Universitäten Debatten darüber ab, ob etwa Frantz Fanon statt John Locke auf den Leselisten der Universität Stanford stehen sollte, die sich im Wall Street Journal und in Büchern wie Der Niedergang des amerikanischen Geistes von Allan Bloom, Illiberal Education von Dinesh D’Souza und Tenured Radicals: How Politics Has Corrupted Our Higher Education von Roger Kimball fortsetzten. Heute spielen sich die gleichen Debatten an den Universitäten ab, etwa in der ›Decolonize Our Minds‹-Bewegung und der ›Rhodes Must Fall‹-Kampagne, dem erfolgreichen Versuch, Druck auf die Universität von Kapstadt auszuüben, eine Statue des Kolonalisten Cecil Rhodes entfernen zu lassen. Mitglieder der Kampagne gaben später an, »der Fall von ›Rhodes‹« sei »ein Symbol für den unaufhaltsamen Fall weißer Überlegenheit und Privilegiertheit auf unserem Campus« gewesen.

1988 hielten Studierende eine Massenkundgebung zum Stanforder Studiengang Western Civilization ab, die einen riesigen Kulturkampf zum als eurozentrisch kritisierten Kanon entfachte. Der Druck der Kampagne resultierte in der Entscheidung der Universität, den Lehrplan anzupassen. Für die Untergrabung des westlichen Kanons war der Relativismus von Denkern wie dem Literaturtheoretiker Stanley Fish wesentlich, der die Vorstellung angriff, ein Text und ein literarischer Kanon könnten objektiven, zeitlosen Wert haben: »Die einzige Möglichkeit, ein literarisches Werk zu interpretieren, besteht darin, dass wir den Standpunkt kennen, von dem aus wir den Akt der Interpretation vornehmen.« Die mit lauter Gleichgesinnten besetzte Anglistik-Fakultät der Duke-Universität wurde als Fish tank bekannt. Hier propagierte man auch französische Philosophie, in der das Postulieren allgemeingültiger Wahrheiten als den Interessen der Mächtigen dienlich dargestellt wurde.

Camille Paglia schrieb später: »Französische Philosophie ist wie diese Lernkassetten, die einen über Nacht zum Immobilienmillionär machen sollen. Machtgewinn durch Angriff auf die Macht! Rufen Sie jetzt diese Nummer in Paris an!« Allan Bloom, wie auch Paglias Doktorvater Harold Bloom, vertrat die Vorstellung, dass Ästhetik und Geschmack im Dienst von Wahrheit und Schönheit stehen müssten, und war der Meinung, relativistisches Denken führe geradewegs in den Nihilismus. Er schrieb:

Stanforder Studierende sollen mit kurzlebigen Ideologien indoktriniert werden. Ihnen soll beigebracht werden, dass es keinen intellektuellen Widerstand gegen die eigene Zeit und ihre Passionen geben kann. […] Diese totale Kapitulation vor der Gegenwart und dieser Verzicht auf die Suche nach Maßstäben, anhand deren man sie beurteilen könnte, sind die Definition des Niedergangs des amerikanischen Geistes und ich könnte mir keine atemberauberendere Bestätigung meiner These wünschen.

Diese Kritik an liberalem Gegenwartskult hat die Alt-Right kurz und bündig in der Vokabel the current year (»das laufende Jahr«) zusammengefasst – ein sarkastischer Verweis auf die liberale Auffassung, man könne bestimmte Meinungen nicht mehr vertreten, ›wir haben schließlich 2017!‹.

Todd Gitlin, eine Schlüsselfigur der Berkeleyer Neuen Linken, tat sich in jener Runde der Campus-Kriege als interner Kritiker der Linken hervor, als er sagte, die Linke »rückt auf die Anglistik-Fakultäten vor, während die Rechte das Weiße Haus übernimmt«. Er befand, dass Forderungen nach Gleichheit auf einem Universalismus gründen sollten und dass akademische, relativistische Auffassungen von Identität, die heute in der Tumblr-Welt wuchernder Identitäten ihre logische Konklusion erreicht hätten, das »nahende Ende der Gleichheit« darstellten. Parallel auch zu den negativen Auswirkungen der Internet-Kulturkämpfe und der heutigen Campus- und Identitätskriege meldete Gitlin seine Kritik der Identitätspolitik an, als die Students for a Democratic Society an inneren Gräbenkämpfen um universelle Ziele und Identitätspolitik zerbrachen. Er argumentierte, der Relativismus der Radikalen würde das »Ende gemeinsamer Träume« mit sich führen: »Dem Gerede von Identität liegt eine Identitätspolitik zugrunde, die eine Haltung, eine Tradition, eine tiefe Wahrheit oder einen Lebensstil aus den Tatsachen Geburt, Physiognomie, nationalstaatliche Herkunft, Geschlecht oder körperliche Behinderung ableiten will.« Als er befand, ein »Großteil der universitären Linken« strahle »eine bittere Intoleranz« aus, so hätte das auch wörtlich von Jordan Peterson oder vielen anderen, die heute weiter rechts stehen, kommen können.

1996 dachte Alan Sokal, Physikprofessor an der Universität von New York und dem University College London, sich einen berühmten Streich aus, der bis heute die akademische Welt heimsucht. Er reichte einen Artikel bei der Zeitschrift für postmoderne Kulturwissenschaften Social Text ein, zu deren Herausgebern damalige Stars wie Fredric Jameson und Andrew Ross zählten. Sokal hatte den Artikel, Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity, absichtlich »großzügig mit Unfug gespickt«; er argumentierte darin, die Schwerkraft sei ein soziales Konstrukt. Nachdem der Artikel zur Veröffentlichung angenommen worden war, enthüllte Sokal, dass er eine »Persiflage aus linkem Jargon, kriecherischen Querverweisen, pompösen Zitaten und völligem Unsinn« war.

Heute setzt sich dieser Kampf um die Universitäten fort, von Milos Tournee bis zum Twitter-Konto Real Peer Review, das Titel und Zusammenfassungen absurder Fachartikel, meist aus kultur- und literaturwissenschaftlichen Zeitschriften, samt lustigen Zitaten veröffentlicht. Die Themen reichen von feministischen Analysen von Gletschern bis zu ›dicken Männlichkeiten‹. Interessanterweise – auch für den heutigen Kontext – fand nach der Sokal-Affäre eine Konferenz zum Umgang mit dem Aufkommen eines sogenannten ›linken Konservatismus‹ statt, mit Judith Butler als Hauptrednerin. Dazu wurden auch sich als links einordnende Akteur_innen wie Sokal und seine Anhänger_innen gezählt, unter ihnen auch Barbara Ehrenreich, eine idiosynkratische und intellektuell unabhängige Linke, die in Büchern wie Arbeit poor: Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft zugänglich über Armut und das Leben der Arbeiterklasse schreibt. Der Begriff ›konservativ‹ zielte hier natürlich darauf ab, bestimmte Menschen und ein bestimmtes Gedankengut – und jene, die möglicherweise privat mit diesen sympathisieren – aus dem seriösen Fachdiskurs auszuschließen.

Heute sind wir wieder Zeug_innen eines sehr ähnlichen Kulturkampfes. Müsste man eine intellektuelle Persönlichkeit nennen, deren Ideen die Tumblr-Linke am meisten geprägt haben, wäre das zweifelsohne Judith Butler; jene auf der Linken, die dieser identitätsorientierten kulturellen Linken kritisch gegenüberstehen, würden sich nach wie vor eher Gitlin und Ehrenreich zuordnen. Die Alt-Light sieht Paglia als Heilsbringerin, Christina Hoff Sommers brachte ihr Werk einer jüngeren Generation nahe. Die genuin konservative Rechte Schlaflys ist währenddessen die einzige hier beschriebene Kraft, die wirklich tot ist, seit die Neue Rechte Grenzen überschreitet und Regeln bricht, wie die Neue Linke es einst tat. Und doch: In einigen Bereichen, wie dem Widerstand gegen Feminismus und ›Kulturmarxismus‹, dem Kanon, dem Westen und so weiter, scheint die Alt-Right das Erbe der ›alten‹ Konservativen fortzuführen.


1 | Im Massaker von Wounded Knee wurden im Jahr 1890 je nach Angaben zwischen 150 und 300 wehrlose amerikanische Ureinwohner_innen von US-Soldaten getötet (Anm. d. Übers.).

2 | Im Spanischen verbreitete Form des Genderns, in der anstelle der Endungen -a und -o die Endung -x gebraucht wird, vergleichbar dem deutschen Tiefstrich oder Sternchen (Anm. d. Übers.).

3 | Vgl. http://www.abc.net.au/news/2015-10-27/lehmann-greer-and-the-no-platforming-scourge/6887576 (zuletzt aufgerufen am 28.05.2018) (Anm. d. Aut.).