Ein Abschluss?
10. Juni 2024
SK: Die Debatten, die wir rund um den Gazakrieg in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gesehen haben, sind ganz schön hitzig verlaufen und auch teilweise eskaliert. Propalästinensische Demos an Unis, oftmals antiisraelisch gefärbt, Personalien wie die TU-Präsidentin werden heiß diskutiert, es kam zu Aggressionen in Kultureinrichtungen wie im Hamburger Bahnhof in Berlin, Ausladungen, Abbrüchen mit israelischen akademischen Institutionen. Dieser Krieg erhitzt die Gemüter noch mal um einiges mehr und ist auch offenbar zu einer Art Lackmustest in gewissen Szenen geworden: Wo stehst du? Ich möchte von Ihnen wissen, warum dieses Thema so obsessiv auf den Straßen hierzulande diskutiert wird und angekommen ist. Herr Schuster, haben Sie eine Erklärung dafür?
JS: Eine Vermutung, aber keine Erklärung. Die Vermutung ist, dass es im politisch linken Kreis eigentlich nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern auch vorher schon eine Antipathie, eine Abneigung gegen Israel als einen demokratischen Staat gegeben hat. Das mag im Zusammenhang stehen mit der dortigen eher politisch rechts ausgerichteten Regierung, an der auch rechtsextreme Parteien beteiligt sind. Ich habe aber das Gefühl, dass im linken Spektrum eine Sympathie für arabische Staaten, arabische Menschen besteht. Einfach auch unter dem Gefühl, dass Israel in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Stärke gezeigt hat. Trotz der bestehenden Bedrohung. Dass ein kleines Land gegenüber einer großen Bedrohung von außen Stärke gezeigt hat und dabei durch diese Stärke eine Schwächeempfindung gerade ins arabische Milieu gebracht hat. Und deshalb glaube ich, dass auf der anderen Seite Sympathien für den in der Empfindung Schwächeren entstanden sind. Das gab es mit einem Bauchgrimmen. Dann kam der 7. Oktober. Weniger der 7. Oktober selbst, aber als die Folge des 7. Oktober also der Krieg in Gaza, und jetzt hat man ein Ventil, um dem, was man schon lange mit sich herumgetragen hat, Luft zu machen.
SK: Sie haben bei einem unserer ersten Gespräch gesagt: »Bei allem, was negativ in Israel passiert, wird die jüdische Gemeinschaft immer in Mithaftung genommen.« Das halten Sie für problematisch, man sei hier nicht in der Lage zu differenzieren. Ich halte das auch für sehr problematisch, dass man bei vielem nicht in der Lage ist zu differenzieren. Gerade in akademischen Kreisen und an Universitäten. Wer auch immer da mitmischt.
Ahmad, auch an dich die Frage: Diese Obsession, gerade bei diesem Thema, wie ist die zu erklären? Wir hatten das Thema Obsession auch schon in vorigen Gesprächen, aber sie hat sich noch einmal zugespitzt.
AM: Also erst einmal habe ich keine vollständige Erklärung. Das ist eine Frage, die mich massiv beschäftigt. Gestern erst habe ich sehr intensiv mit Freunden darüber nachgedacht, weil die Dimensionen für mich absolut neu sind. Ich bin ja in diesem Konflikt groß geworden und gebe Herrn Schuster absolut recht. Wenn mein Vater, mein Großvater, Freunde von mir, arabische Israelis, die tagtäglich in Krankenhäusern, in Firmen, in der Hightechbranche in Israel arbeiten, Israelis in Israel betrachten, dann ist immer ein Minderwertigkeitskomplex dabei. Das ist eine Kränkung. Die Lebensaufgabe oder der Traum meines Vaters in seinen fast 80 Jahren war immer mit der Frage verbunden: »Wann verschwindet dieses Land?«, »Wann gewinnen wir als Araber?«, »Wann erniedrigen wir sie?« Und jedes Mal wurden sie selbst erniedrigt. Mein Vater hat erzählt, wie er 1967 auf die Straße ging, um die ägyptische und die syrische Armee zu empfangen und um mit ihnen zu feiern, und dann bekam er zwei Tage später die Nachricht, dass sie komplett vernichtet worden sind, dass Israel den Krieg gewonnen hat. Und das ist diese Kränkung geworden, die überall präsent ist, die Menschen arabisch-muslimischer, vor allem arabischer Herkunft aktiviert. Diese Kränkung wurde mit dem 7. Oktober geheilt, denn die Bilder waren nun für die andere Seite erniedrigend. Und deshalb gibt es dieses Feiern, dieses Stolzsein, diese massive emotionale Betrachtung dieses Konflikts. Die Leute, die in Deutschland, Jordanien oder in den palästinensischen Gebieten auf die Straße gegangen sind, haben zum ersten Mal in ihrem Leben dieses Gefühl: Wir sind wer.
Der politische Islam hat es aber in den letzten 30 Jahren geschafft, aus einer regionalen Auseinandersetzungen zwischen Israel und zunächst den arabischen Ländern, später zwischen Israel und den Palästinensern, eine religiöse Angelegenheit, und zwar eine internationale, weltweite Angelegenheit aller Muslime zu machen. Es geht nicht um Palästina. Es geht um den Islam, um die heiligen Orte, deshalb nennt die Hamas das auch »Al-Aqsa-Flut«, weil das Ganze eine religiöse Komponente haben soll. Das hat natürlich dazu geführt, dass mehr Menschen beteiligt sind, die vorher vielleicht nicht beteiligt waren: türkischstämmige, Menschen aus Ostasien, die eigentlich muslimisch sind, aber mit dem Konflikt nichts zu tun haben. Sie sind aktiviert. Was wir aber seit dem 7. Oktober erleben, ist eine grün-rote Partnerschaft, die dem Ganzen eine massive Professionalität gibt und Dimensionen verleiht, die uns allen Sorgen machen sollten. Das konnten die Araber und die Muslime alleine nicht stemmen. Aber mit dieser roten Linken, die auch nicht erst am 7. Oktober entstanden ist, da gebe ich Ihnen recht, das ist eine Vorarbeit von 15, 20 Jahren, die wir verschlafen haben. Der Ursprung ist Edward Said mit dem Orientalismus; mit dem Postkolonialismus später, war es möglich. Und da muss man die Frage stellen: Warum wird Israel gehasst? Und das ist die Frage, die mich beschäftigt. Ich glaube, dass es darum geht, was Israel repräsentiert. Israel repräsentiert ein Land, das einen nationalen Stolz hat, das auch über eine gewisse religiöse Identität verfügt. Ein Land, das seine Grenzen schützt. Ein Land, das stolz darauf ist, eine gewisse nationale Identität zu haben. All das, was wir in Europa ablehnen, was wir in Europa verachten, was wir in Europa nicht haben.
Und nun ist es im Postkolonialismus so – und das ist das erste Mal in der Geschichte des Antisemitismus der Fall –, dass nicht der Fremde, der unser Land unterwandern will, nicht der andere, nicht der Prophetenmörder, sondern der Jude die Verkörperung der Ursünde des Westens ist, und zwar des Kolonialismus.
Meiner Meinung nach ist Israel ein antikoloniales Projekt. Das sind Menschen, die nach über 3000 Jahren in ein Gebiet des jüdischen Reichs zurückgekehrt sind, das sind Menschen, die eine Geschichte, eine Tradition, einen religiösen Bezug in diesem Land haben. Der Postkolonialismus sieht das aber ganz anders. Da ist es eine Kolonialmacht. Und während die Europäer ihre Kolonialgeschichte zumindest bereuen, sind die Israelis auch noch stolz.
SK: Es ist auch ahistorisch, das ein koloniales Projekt zu nennen.
AM: Natürlich. Und das steht in Verbindung mit der Identitätspolitik, also Menschen in Gruppen einzuteilen, zu homogenisieren, und in dieser Logik ist der Jude der Weiße, der andere unterdrückt, und dadurch sind massive Sympathien entstanden für die andere Seite.
Und man kann natürlich auch für die Palästinenser sein, aber man muss die Vergewaltigungen von Frauen nicht gut finden, man muss nicht Ermordungen von Zivilisten gut finden, aber das ist ebendiese Atmosphäre, die da entstanden ist, und ich klage an, dass viele Menschen diese Entwicklung verschlafen haben, vor allem hier Europa, vor allem im Westen.
SK: Du hast mehrere Punkte angesprochen, diese unheilige Allianz zwischen Islamisten und postkolonialen Linken, also diese Allianzen, die wir schon vorher gesehen haben, die sich jetzt aber noch mal manifestiert haben. Antisemitismus als integratives Moment. Kränkung finde ich auch einen sehr wichtigen Punkt. Du hast bei einem der Interviews so was gesagt, ich zitiere mal: »Ich möchte, dass die Kinder in Gaza die gleichen Möglichkeiten haben wie die Kinder in Tel Aviv, sie wollen Karriere machen, sie wollen sich verlieben, sie wollen die besten Handys haben, sie wollen die beste Bildung haben. Diese 75-Jahre-Strategie der Araber hat nicht funktioniert, hat keinem einzigen arabischen Kind geholfen, eine bessere Zukunft zu haben.« Das noch als Ergänzung zu dem, was du gerade gesagt hast. Und du hast auch gesagt: »Ich glaube, wir Palästinenser müssen endlich begreifen, Israel ist da, um zu bleiben.« Und ich habe mir bei all den Staatsreden hiesiger Politiker gedacht, wenn es immer wieder heißt: »Das Existenzrecht des Staates Israel ist nicht verhandelbar«, müssen die das immer wieder sagen? Das müssen wir doch gar nicht mehr diskutieren: Israel ist da, um zu bleiben. Punkt. Aber was mit dem 7. Oktober noch mal deutlich wurde: Offenbar ist es doch gar nicht so sicher und wird so nicht gesehen weltweit. Ich habe das komplett unterschätzt, muss ich Ihnen ehrlich sagen, Sie, Herr Schuster?
JS: Ich glaube nicht, dass ich es unterschätzt habe, also diese Hinweise auf das Existenzrecht Israels und dass das Existenzrecht Israels ganz und gar nicht als ein Allgemeingut akzeptiert ist, hat mich jetzt nicht so überrascht. Ich meine, wir dürfen nicht vergessen, was Iran seit Jahren predigt. Und dass Iran nicht nur seine Fühler ausstreckt, sondern enge Verbindungen zu Terrororganisationen wie der Hamas und zu Hisbollah hat, ist ja auch keine neue Erkenntnis.
SK: Ja.
JS: Und es ist ja auch keine neue Erkenntnis, dass es arabische Staaten gibt, die das Existenzrecht Israels vielleicht noch zähneknirschend akzeptieren, aber nicht als gottgegeben und schon gar nicht für alle Zeit ansehen und vielleicht froh wären, wenn Israel lieber schon heute als morgen nicht mehr existieren würde.
Wir hatten die Situation, dass sich einige arabische Staaten mit Israel arrangiert hatten, diplomatische Beziehungen geschlossen hatten …
SK: Ja, die Abraham Accords.
JS: Die Abraham Accords. Ein positives Zeichen. Das hatte einen eigentlich hoffen lassen, dass wir in ein anderes Zeitalter kommen. Aber ich glaube, es war genau das, die Möglichkeit eines friedlichen Zeitalters, wenn ich gesehen habe, dass es jetzt Gespräche gab mit Saudi-Arabien, dass es auch eine Annäherung gab, das Iran mit veranlasst hat, die Terroranschläge durch die Hamas ausführen zu lassen.
SK: Wir sind jetzt tief im Nahen Osten, obwohl wir eigentlich über hiesige Phänomene sprechen wollen.
AM: Der Nahe Osten ist überall.
SK: Der Nahe Osten ist überall. (lacht) Du sagst es. Aber lassen Sie uns noch einmal einen Transfer leisten: Herr Schuster, was bedeuten die Ereignisse rund um Nahost und alles, was daraus resultiert: Proteste, Entgleisungen, Diskussionen, für die jüdische Gemeinschaft, die Sie vertreten? Was beobachten, was vernehmen Sie von den Menschen? Was heißt es so eine vulnerable Gemeinschaft heutzutage, in diesen Tagen zu vertreten? Haben sich die Themen verändert in den letzten Wochen und Monaten?
JS: Ein Thema hat sich nicht verändert, das ist das Thema Antisemitismus. Da ist eine neue Variante dazugekommen, den Antisemitismus politisch links gab es schon immer. Das ist nichts Neues, aber in der Ausprägung, wie wir ihn jetzt erleben, gab es ihn nicht. Und der Antisemitismus im Kulturbetrieb in der Form hat sich einfach erheblich verstärkt. Das sind Dinge, die wir seit dem 7. Oktober merken, und innerhalb der Gemeinden, innerhalb der Mitglieder der Gemeinden gibt es eine zunehmende Unsicherheit.
Antisemitismus von der politisch rechten Seite kennt man, man hat sich nicht daran gewöhnt, an so etwas darf man sich auch nicht gewöhnen, aber jetzt ist der Antisemit, also der Mensch, der Juden hasst, plötzlich nicht nur auf der politisch rechten Seite, sondern auch auf der politisch linken Seite deutlich zu vernehmen. Und im intellektuellen Bereich.
Gerade an den Universitäten, gerade auch im Kulturbetrieb. Das führt zu einer Bedrohungslage, die plötzlich sehr breit ist in der Gesellschaft und jüdische Menschen verunsichert. Erheblich verunsichert. Nicht nur Studierende, auch Studierende.
SK: Bekommen Sie auch direkt mit, was die Menschen vor allem bedrückt?
JS: Es bedrückt Menschen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind oder in der Lage sein sollen, sich als Juden auch offen erkennbar zu zeigen. Also wenn jemand, eine Frau oder ein Mann, ein Schmuckstück mit dem Davidstern nicht mehr offen tragen kann oder tragen will, dann sind wir so weit, dass man versucht, seine jüdische Identität zu verleugnen. Kann das eigentlich sein in Deutschland? Nimmt irgendjemand Anstoß daran, wenn jemand ein Kreuz als christliches Symbol trägt? Mich stört es nicht, selbstverständlich nicht. Aber warum stört dann der Davidstern? Warum stört es, wenn jemand mit einer Kippa auf die Straße geht? Das ist nicht überall in Deutschland so, das muss man klar sagen. Es gibt Unterschiede, insbesondere im großstädtischen Bereich, millionenstädtischen Bereich ist es ein Problem. Im mittleren, kleinstädtischen ist es, glaube ich, weniger ein Problem, man kann es nicht verallgemeinern, aber es ist deutlich mehr geworden.
SK: Eine Verunsicherung ist in jedem Falle da, das nehme ich auch wahr. Dass man seinen Namen nicht überall einfach laut öffentlich sagt.
JS: Das kommt auf den Namen an.
AM: Ich will dem nicht widersprechen, ich glaube, meine Erfahrungen sind viel begrenzter als Ihre. Aber ich bin ja bekannt für meine drastischen Worte.
JS: Ja.
AM: Und ich glaube, das gehört auch in das Buch. Das, was ich in meinem sehr kleinen Umfeld wahrnehme. Ich befürchte, es findet gerade ein emotionaler Exodus statt. Das heißt, dass die Menschen, die hier leben, alles verstecken, was jüdisch ist, und darüber müssen wir noch einmal nachdenken. Diese Republik ist darauf aufgebaut, das ist ihr Fundament, dass Juden hier sicher leben können als Minderheit. Dieses Versprechen kann die Politik seit dem 7. Oktober nicht wirklich halten. Das ist dramatisch. Und ich glaube, dass viele Menschen – nicht morgen oder übermorgen, aber wenn diese Auswirkungen des 7. Oktobers lange andauern – in kleinen Schritten verängstigt und vertrieben werden. Das muss nicht die große Attacke auf eine Synagoge oder auf einen Kippatragenden sein, die es ja leider immer wieder gibt. Ich habe jetzt Bilder gesehen, wo jemand, der die israelische Flagge trägt, angegriffen wird und sie ihm weggenommen wird.28
Diese Dinge passieren ja tagtäglich. Kann ich Uber fahren und meinen Namen nennen? Wie verhalte ich mich gegenüber meinen Nachbarn? Meine Tochter geht auf eine sehr kleine Schule. Und aufgrund meiner Gefährdung haben wir ein Gespräch mit der Schulleitung geführt, in dem sie sagte, dass sie drei israelische Familien an der Schule haben, dass das aber niemand wisse. Dass die Leute nicht wollen würden, dass bekannt wird, dass sie israelisch sind. Dass sie, die Schulleiterin, es nur wüsste, weil es in den Ausweisen der Kinder stehe, es aber sonst keiner wisse. Und ich meine, wir bewegen uns in sehr bürgerlichen Kreisen, wo man das nicht vermuten würde und wo auch, glaube ich, nichts passiert. Aber trotzdem: Diese voreilige Prävention, dass man das versteckt, kann auf Dauer ganz viele Leute verunsichern. Nicht die Eltern, die vielleicht wissen, dass es leider auch solche Zeiten gibt, sondern die jungen Menschen. Und ich befürchte, das kann auf Dauer zu einem Riesenproblem werden.
JS: Aber wir müssen mit etwas aufpassen: Also erstens muss ich, wenn mein Kind auf eine Schule geht, nicht zwangsläufig jedem auf die Nase binden, dass ich Jude bin. Ein anderer wird mir auch nicht unbedingt sagen, dass er katholisch oder evangelisch ist. Wenn es sich ergibt, ergibt es sich. Ich bin nicht der Meinung, dass man es verstecken sollte, aber man muss auch kein Schild tragen, auf dem steht: »Ich bin Jude.« Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns jetzt hier nicht selbst in eine Paniksituation hineinbegeben.
AM: Ich verstehe Sie.
SK: Klar, wo so eine Selbstzensur stattfindet …
JS: Das sind zwei Dinge. Davor habe ich so ein bisschen Sorge. Ich meine, nicht plakativ damit umgehen. Ich glaube, relativ normal damit umzugehen, ist eigentlich immer noch der beste Weg. Aber klar, wenn mein Kind in Neukölln in die Schule gehen würde, wäre das sicherlich eine andere Situation.
AM: Das habe ich auch öffentlich gesagt in unterschiedlichen Interviews, denn mir ist wichtig, dass die Politik das versteht. Sie gucken nach innen, und da verstehe ich vollkommen, dass Sie die Menschen nicht in Panik versetzen wollen und ihnen auch Sicherheit geben möchten. Das ist Ihre Aufgabe, und das ist auch richtig so. Aber wenn die Politik jetzt nicht agiert …
JS: Richtig. Wenn die Politik den Kopf in den Sand steckt …Dann können wir endgültig genau in die Situation kommen, die dann auch nicht mehr umkehrbar sein wird.
SK: Wir erleben in Israel massive Proteste gegen die Netanjahu-Regierung, wirklich jeden Tag. Ich bekomme ständig Bilder von Freunden, Kollegen, Verwandten und so weiter. Und auch hierzulande gibt es viel Kritik von unterschiedlichen jüdischen Menschen an dem Krieg, Waffenstillstand wird gefordert. Ich frage mich: Wo sind die muslimischen Stimmen, die so etwas fordern? Die auch die Hamas verurteilen? Die sagen: Für Palästina, aber gegen die Hamas. Und ich frage mich auch international: Die palästinensische Diaspora, wo ist sie? Warum gibt es keine Stimme, die sagt: Stopp! So nicht. Und nicht mit der Hamas.
AM: In Israel hast du es mit einer demokratischen Gesellschaft zu tun, das gehört dazu. In der arabischen Welt nirgendwo. Und deshalb sind diese Differenzierung und die Bereitschaft, vielleicht auch Selbstkritik zu üben, kaum vorhanden.
SK: Selbst in der Diaspora, in Ländern wie Deutschland, den USA?
AM: Ja, selbst in der Diaspora. Zuerst einmal haben wir es mit einer sehr kindlichen Vorstellung, nicht nur unter Muslimen, sondern auch unter Linken zu tun. Klare Vorstellungen von Schwarz und Weiß und von Gut und Böse. Das ist auch eine Reaktion auf die Überforderung der Postmoderne. Und zweitens haben wir sehr viele Akteure, die a) entweder eingeschüchtert sind und deshalb keine Kritik äußern, oder b) ganz viele, die die Hamas gar nicht kritisieren wollen, weil sie mit ihr sympathisieren. Die wollen natürlich nicht unter Hamas-Herrschern leben, aber von ganz weit weg ist es viel einfacher, die Hamas als Helden darzustellen.
Und noch etwas, was wir am Anfang diskutiert haben: Wenn Netanjahu nicht da wäre – was ich mir sehr wünsche (und ich bin auch immer noch der Meinung, dass er politisch erledigt ist und es egal ist, was er tut, dass er bei den nächsten Wahlen nicht erneut gewählt wird, und ich hoffe, dass ich damit richtig liege) –, glaube ich, dass der 7. Oktober dennoch passiert wäre. Dass er auch unter einer sehr linken Regierung stattgefunden hätte. Ich glaube, es ist egal, wie sich Israel den Palästinensern gegenüber verhält. Ich habe die Hamas kennengelernt in den 1990er Jahren zur Zeit des Osloer Abkommens. 1993, 1994, 1995, 1996, wo die Israelis ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern geführt haben. Das waren historische Momente. Und was hat die Hamas gemacht? Busse in die Luft gejagt, weil sie kein Interesse daran hat.
Und übrigens: Der 7. Oktober wurde laut Geheimdienstinformationen wohl bereits für das Jahr davor geplant. Ohne zu wissen, dass Netanjahu wieder an die Macht kommen würde. Zu dem Zeitpunkt gab es ja sogar eine Regierung mit einer arabischen Beteiligung. Und trotzdem hätten sie das, wenn sie einen günstigen Moment gefunden hätten, was nicht der Fall war, auch unter einer anderen Regierung durchgeführt.
SK: Es ist wirklich schwer nachzuvollziehen für mich, warum Menschen diese Differenzierung nicht hinbekommen, und ich rede jetzt gar nicht von Muslimen, die propalästinensisch und antiisraelisch demonstrieren. Sondern da sind ja auch ganz viele aus dem akademischen Bereich dabei, Jugendliche, die weder Moslems noch Juden, sondern Biodeutsche sind, zumindest hier sozialisiert wurden und aufgewachsen sind.
AM: Weil weder Bildung noch Westlichsein vor Antisemitismus schützen. Das war noch nie der Fall.
JS: Ich habe das Gefühl, was in den Köpfen der deutschen Bevölkerung (aber ich glaube, nicht nur der deutschen Bevölkerung) noch nicht verstanden wurde, ist, dass die Hamas eine reine Terrororganisation ist. Sie wird hier, so habe ich das Gefühl, als die vermeintlich legitime Regierung im Gazastreifen angesehen.
SK: Ja.
JS: Es wurde nicht verstanden. Und da muss man auch der Politik vorwerfen, dass auch hier nicht klar genug Hamas-Aktivitäten als terroristische Aktivitäten gebrandmarkt werden.
AM: Die Hamas hat nichts Neues gebracht, sie macht das, was viele sich wünschen. Und zwar Israel zu attackieren. Israel zu erniedrigen. Darüber haben wir vorhin gesprochen. Und das ist etwas, was in der Debatte fehlt. Ich meine,jeder darf sich wünschen, dass dieser Krieg zu Ende geht. Jeder darf sich wünschen, dass die Geiseln freikommen, dass die unbeteiligten Menschen in Gaza diesen Krieg unversehrt überleben. Aber keiner ist bereit, darüber zu diskutieren, wie Israel diesen Krieg gewinnen kann, wenn es keinen Krieg führt? Wie kann es garantieren, dass daraus kein erneuter 7. Oktober entsteht? Wie kann es garantieren, dass eine bessere Zukunft für die Menschen in Gaza entsteht? Unter der Hamas wird das nicht passieren. Und was die Menschen auch nicht verstehen, das ist die Doppelmoral: Da entsteht auch Antisemitismus. Das ist eine neue Kriegsführung. Das ist Guerilla, das ist eine Terrororganisation. Sie verstecken sich unter Zivilisten, sie nutzen Schulen und so weiter und so fort.
In Mossul war das genau dasselbe beim Kampf gegen den IS. Und keiner hat protestiert. Jetzt macht Israel etwas, was unschön ist, was schrecklich ist, aber es gibt militärisch auch keine andere Möglichkeit, diesen Krieg zu führen. Und viele Menschen in Europa haben vergessen, was Krieg bedeutet, was gut ist.
JS: Ja, ich frage immer, was hätte man eigentlich von der Bundesregierung erwartet, wenn es von irgendeinem, ich nenne bewusst keinen Namen, irgendeinem der Deutschland umgebenen Ländern zu einem solchen Terrorangriff gekommen wäre mit 1200 Toten in Deutschland? Unter weiteren existierenden Bedrohungen. Ich hätte doch, oder jeder hätte doch, wenn es eine weiter bestehende Bedrohung gewesen wäre, hätte ich doch von meiner Bundesregierung erwartet, dass sie dagegen etwas tut, damit ich sicher in Deutschland leben kann.
SK: Das sind aber alles Transfergedanken, die nicht stattfinden und die sehr irritierend sind. Höchst irritierend. Ob man jetzt Krieg gewohnt ist, nicht gewohnt ist, von welchen Kreisen das ausgeht, von Kreisen, von denen man eigentlich annehmen könnte, dass sie verstehen, wie komplex und kompliziert die Situation ist, und das ja seit Jahrzehnten schon, aber eben die Palästinenser als Speerspitze des Globalen Südens jetzt gesehen werden gegen den westlichen Imperialismus, und plötzlich ist Israel auch Metapher für den westlichen Imperialismus und alles Koloniale, wie du es schon ausgeführt hast.
AM: Einen Gedanken würde ich gerne noch zu Ende führen, weil ich glaube, dass es sehr wichtig ist, das zu verstehen. Das ist eine zentrale Aufgabe auch für die Juden hier in Europa. Die Erinnerungskultur ist meiner Meinung nach gescheitert, weil wir die Menschen in Israel und ihren Transfer dessen, was ihre Großeltern hier in Europa erlebt haben, nicht verstanden haben. Wir betrauern die toten Juden, aber wenn ein israelischer Jude sagt: Israel ist für mich jetzt da, um mich zu beschützen und Stärke zu zeigen, um jüdisches Leben auch in einer unmöglichen Umgebung möglich zu machen, dann findet er in Europa kaum Verständnis dafür, kaum Sympathien. In Deutschland meint man, verstanden zu haben, was hier im Zweiten Weltkrieg passiert ist, und man hat daraus Konsequenzen für sich gezogen. Und diese Konsequenzen müssen jetzt für alle gelten. Aber sie gelten eben nicht im Nahen Osten. Sie können nicht für Israel gelten. Das sind andere Konsequenzen. Und das wurde hierzulande nicht ausreichend verstanden. Und wenn ich dann sehe, was Sie auch zu Recht kritisiert haben, wie Claudia Roth versucht hat, diese Gleichsetzung von Rassismus und Postkolonialismus und dem Holocaust in die Gedenkwelt zu integrieren, da müssen wir uns alle Sorgen machen, ob das in zehn oder 20 Jahren noch als Erinnerungskultur bezeichnet werden kann.
SK: Ich war neulich bei einem Treffen von verschiedenen Institutionen der Erinnerungskultur, und ich muss sagen, die Ratlosigkeit war zum Schneiden.
JS: Bezogen auf das aktuelle Papier?29
SK: Nein, das war schon zuvor. Es waren 30 Jahre Shoah Foundation. In der US-Botschaft gab es ein Treffen, und es waren alle möglichen Einrichtungen, die mit Erinnerungskultur und -orten zu tun haben, eingeladen. Es ging grundsätzlich um die Frage: Was haben wir falsch gemacht? Wo sind wir falsch abgebogen? Oder was haben wir unterschätzt, nicht gesehen? Und wie müssen wir uns neu ausrichten? Das war schon eine sehr deprimierende Angelegenheit, weil eine große Ratlosigkeit vorherrschte und große Fragezeichen.
Warum schaffen wir es nicht, mal eine Demonstration auf die Beine zu stellen, wo man – wenn man schon Flaggen sieht – die palästinensische und die israelische sieht und: Für Frieden. Für Waffenstillstand. Für Sicherheit. Für eine Zweistaatenlösung. Für Freiheit, Bildung, alle möglichen zivilen Infrastrukturen, Demokratien in beiden Ländern, in Palästina und Israel also. Ist das so schwer?
AM: Wenn das passiert, haben wir keinen Nahostkonflikt mehr.
JS: Genau. (lacht)
SK: Würde uns etwas fehlen?
AM: Nein, im Gegenteil!
JS: Aber solange von muslimisch-politischer Seite (ich rede nicht vom einzelnen Menschen), ich meine speziell auch die Türkei, in der Hinsicht gehetzt und gesteuert wird, werden wir so etwas nicht erleben.
SK: Es gibt aber auch eine nichtmuslimische Bevölkerung hierzulande. Es könnte auch von der kommen. Also die ganzen Uniproteste, da sehe ich gar nicht so viele Moslems. Meine ich zumindest.
JS: Da sehe ich vor allen Dingen auch bei der Besetzung der Universitäten auf dem Campus Menschen, die gar keine Angehörigen der Universität sind.
SK: Auch das.
JS: Jetzt muss man aber doch ganz klar sagen: Israel ist 3000, 3500 Kilometer von hier entfernt. Der Gazastreifen ist natürlich genauso weit entfernt. Da geht es doch vielen so: Man schaut sich die Bilder mal in der Tagesschau an. Aber was habe ich denn damit zu tun? Was interessiert mich das morgen? Deswegen sollen wir auf die Straße gehen?
Es war doch eigentlich schon so, das, finde ich, ist positiv, dass nach den Enthüllungen rund um die AfD-Treffen in Potsdam wirklich viele Menschen in Deutschland zu motivieren waren, auf die Straße zu gehen, Menschen, die offensichtlich sonst nicht zu Demonstrationen gehen. Da hat es aber auch das Land hier betroffen. Hier direkt. 3500 Kilometer entfernt? Hat der Sudankonflikt uns hier wesentlich tangiert?
SK: Nein, aber es scheint einen Lustgewinn zu geben …
AM: Darf ich widersprechen? Aber nicht böse sein. Ich halte diese Demos nach der Enthüllung in Potsdam für absolut heuchlerisch. Ich sage auch, warum. Wenn man die Demokratie schützen möchte, dann muss man überall Flagge zeigen und nicht nur da, wo es politisch vielleicht bequem ist. Das ist genau das, was wir nach dem Vorfall auf Sylt erlebt haben. Da gab es zu Recht Empörung, aber wenige Tage später: Humboldt-Universität, rotes Dreieck,30 Vandalismus, Zerstörung, Aussagen, die keiner ertragen kann. Und trotzdem gab es nur Empörung auf der jüdischen und auf der proisraelischen Seite.
Was wir nicht vergessen dürfen: Ich kenne so viele Leute, ich habe mit ihnen studiert, ich habe sie auf Veranstaltungen getroffen. Sie engagieren sich politisch, weil ihre Motivation ist, anders zu sein als ihre Großeltern. Das kann ich verstehen, das finde ich gut. Aber dann findet das größte Pogrom an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg statt, 3500 Kilometer entfernt, ja, das verstehe ich. Aber die Juden hier sind betroffen, sind unsicher. In einer miserablen Situation. Leute feiern hier diesen Terror. In Neukölln. In Frankfurt. In München. Und trotzdem schaffen es diese Leute nicht einmal, 16 000 Menschen auf die Straße zu bringen? Und nicht nur das. Diejenigen, die besser als ihre Großeltern sein wollten, die sympathisieren jetzt mit dem Aggressor? Mit der Hamas, mit den Palästinensern? Und zwar nicht mit den Unbeteiligten, sondern mit den politisch Motivierten, die für die Befreiung Palästinas sind. Und da möchte ich verstehen, woher das kommt. Da möchte ich diese Menschen wachrütteln für das, was sie eigentlich seit dem 7. Oktober für ein Unding leisten in dieser Republik.
SK: Das ist aber das Seltsame. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dasss ihr nicht seht, mit wem wir es da eigentlich zu tun haben. Hier geht ihr auf die Straße. Wenn ihr dasselbe im Gazastreifen versuchen würdet, wärt ihr sofort einen Kopf kürzer. Dass dieser einfache Transfer nicht geleistet wird …
AM: Dafür müssen wir noch nicht einmal nach Gaza. Nehmen wir nur mal die documenta, die Berlinale. Auch den Eurovision Song Contest. Und trotzdem ist das kein Einzelfall. Es gibt so viele andere an den Universitäten, der TU, der UdK-Präsident31, sie haben es nicht verstanden.
JS: Es ist nicht meine Aufgabe, die BKM zu verteidigen, aber was das Papier angeht: Ich glaube, man hat es inzwischen verstanden. Und das Papier wurde auch zurückgezogen.
SK: Die Frage war schon, auch bei den Gedenkstätten, wie Erinnerungskultur in einer divers werdenden Einwanderungsgesellschaft noch an die Menschen gebracht wird. Wie wird sie erzählt? Wo kann man Menschen mit internationalen Geschichten, Familiengeschichten so abholen, dass sie sich auch damit identifizieren können?
AM: Die Frage ist ja auch legitim. Und die stelle ich mir auch. Ich habe zum Beispiel das Projekt »ReMember«32 mit ganz großartigen Kollegen gestartet, wo Menschen aus Syrien, aus Afghanistan mit Muslimen, Menschen mit Fluchthintergrund oder einem anderen Migrationshintergrund zusammengearbeitet haben, und am Ende waren sie super reflektiert und haben viel verstanden – auch von der Geschichte dieses Landes. Aber die Frage kann man nicht allein beantworten, indem man sagt, ah okay, dann sprechen wir ein bisschen über den Holocaust, und die Themen inklusive Erinnerungskultur und Antisemitismus sind damit erledigt. In der Regel werden Muslime zu sehr in einer Opferrolle wahrgenommen – als Opfer von Diskriminierung, antimuslimischem Rassismus, sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung. Insbesondere wenn es um das Thema Antisemitismus geht, werden sie nicht als mündige Bürgerinnen und Bürger betrachtet und dazu aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen. Diese Menschen haben in der Schule, in der Moschee und zu Hause durch die Eltern ein antisemitisches Weltbild vermittelt bekommen. Dieses antisemitische Weltbild hat sich somit nicht nur als eine Reaktion auf gesellschaftliche Diskriminierung entwickelt.
JS: Ich habe das Gefühl, wir müssen zwei Dinge differenzieren. Und mein Hauptproblem ist, dass von organisierten muslimischen Gruppen, das sind für mich Moscheegemeinden, das ist der Zentralrat der Muslime, nur um ein Beispiel zu nennen, das von hier die falsche Richtung vorgegeben wird. Interessant ist es, dass es im individuellen Gespräch weitgehend unproblematisch ist. Also eben nicht auf Funktionärsebene. Im persönlichen Gespräch mit muslimischen Menschen ist es eine ganz andere Situation. Wir sehen es beim Zentralrat mit Schalom Aleikum.33 Hier funktioniert das Gespräch sehr gut. Dort gibt es auch für dieses Thema Empathie. Ich merke es privaten Bereich, dass es völlig problemlos ist. Schwierig ist es, wenn es der organisierte Islam ist.
SK: Und das Thema hatten wir auch schon im Zuge unserer Gespräche von Anfang an: Wo sind Ansprechpartner? Und ich frage mich: Warum lässt sich nicht genau dieses Brückenbaunarrativ überführen in eine größere Öffentlichkeit? Es wäre doch sehr viel konstruktiver. Ich glaube, viele Menschen sind verzweifelt in Anbetracht des Zustands der Welt. Viele machen sich Sorgen, viele sind überfordert. Und eigentlich könnte man doch dankbar sein für positive Narrative, für positive Impulse, für Brücken und diejenigen, die sie bauen.
AM: Also erst einmal gebe ich Herrn Schuster absolut recht: Es gibt viele Muslime, die in der Lage sind, Empathie zu zeigen, die das viel differenzierter betrachten. Ich kenne mehrere, die auch in die Öffentlichkeit gehen und einen ganz, ganz hohen Preis dafür bezahlen, aber diese Krise, die wir erleben, oder die Krisen dieser Welt erleben wir auch aufgrund eines neuen Zeitalters, in dem wir leben, und zwar des postfaktischen. Und jetzt bin ich ein 13-, 14-jähriger junger Mensch (der muss nicht mal muslimisch sein), der auf TikTok oder auf Instagram ein bis drei Stunden pro Tag verbringt, wobei das vermutlich noch zu wenig ist. Sagen wir also, der viele Stunden pro Tag Sachen guckt. Welche Narrative sehe ich da? Sind dort Muslime, Juden, die zusammenkommen, die Gespräche führen, die Empathie füreinander zeigen, die eine differenzierte Haltung über das Geschehen vertreten, sind sie überhaupt auf TikTok oder Instagram? Nein, sind sie nicht. Wer ist auf TikTok und Instagram? Islamisten.
JS: Scharfmacher.
AM: Antisemiten, Scharfmacher, Populisten aller Art, die diese Generation woanders hinlenken. Und das ist, glaube ich, die zentrale Aufgabe der Demokraten. Und darüber haben wir auch vorher gesprochen. Ich komme nicht durch. Die Leute haben nicht verstanden, dass wir alle da sein müssen. Alle. Alle. Jeden Tag. Wir müssen auf Social Media aktiv sein, wir müssen etwas produzieren, wir müssen unsere pädagogische Arbeit, unsere soziale Arbeit, unsere Aufklärung, unsere Position digitalisieren. Aber Digitalisierung ist ja nicht die Stärke dieses Landes.
SK: Was ja auch versucht worden ist: Antidiskriminierungsklauseln per Dekret durchzusetzen, zu regulieren, Richtlinien, Leitplanken, Code of Conducts, was nicht alles diskutiert wird. Herr Schuster, ist das tatsächlich etwas, wo es lohnt anzusetzen? Glauben Sie daran, dass so etwas funktionieren kann?
JS: Ich glaube schon, dass es funktionieren kann, es ist aber sicher nicht das Allheilmittel, darüber müssen wir uns im Klaren sein.
SK: Ich war kürzlich auf dem Berliner Bücherfest, und da ging es um diese Antisemitismusklausel bzw. Antidiskriminierungsklausel gegen alle möglichen Ismen, aber der Antisemitismus als Thema hatte die größte Aufmerksamkeit in der derzeitigen Situation. Grundsätzlich klingt es auch überzeugend, nur in dem Moment, in dem möglicherweise andere Menschen in der Politik aktiv sind und sagen: Ja, dann möchten wir auch einen Schutz für Biodeutsche, und jede Organisation muss erst mal ihre deutsche Heimatliebe unter Beweis stellen, und dann erst bekommt sie das Geld, das kann auch schnell missbraucht werden, das kann von der anderen Seite genauso benutzt werden, darüber müssen wir uns im Klaren sein. Auch an dich die Frage, Ahmad, wie stehst du dazu?
AM: Ich muss dem massiv widersprechen: Es gibt kein Recht auf Fördergelder. Das heißt, wenn ich Fördergelder bekomme (ich bin ja in diesem Bereich tätig, wenn auch nicht im Kultur- oder Kunstbereich, sondern in der Präventionsintegration), muss der Staat doch wissen, was ich mit den Geldern mache. Wenn ich also zum Beispiel sage, ich möchte etwas gegen Antisemitismus tun, aber das Existenzrecht Israels will ich nicht akzeptieren, und ich finde die Hamas nicht schlimm, dann muss doch der Staat irgendwelche Kontrollmechanismen haben. Und warum soll es in Kunst und Kultur anders sein? Und es geht wirklich um Basics, es geht um das, was dem Grundgesetz widerspricht. Wenn man sagt, die IHRA-Definition34 ist für die Bundesregierung gültig, um Antisemitismus zu definieren, dann muss es auch bei den Fördergeldern, da, wo ich das Geld investiere, um etwas zu fördern, gültig sein und Anwendung finden. Und wenn das nicht der Fall ist, kann nicht gefördert werden. Und das betrifft natürlich nicht nur Antisemitismus, sondern alle Fälle, in denen Menschen diskriminiert werden, oder Fälle, die unserem Grundgesetz widersprechen.
SK: Das ist so, aber die Frage ist, wenn wir eine andere politische Konstellation haben: Woran genau ist es gebunden? Es heißt immer: kein Geld für Demokratiefeinde. So, und da sind wir natürlich alle dabei. Natürlich, keine öffentlichen Gelder für Demokratiefeinde, aber die Frage ist, wie valide ist so eine Richtlinie, und müssen wir nicht von der anderen Seite her lieber Demokratie fördern?
AM: Ja, aber wir haben ja Demokratieförderung. Das Familienministerium (mit dem Bundesprogramm »Demokratie leben!«) gibt ganz viel Geld, das leider einseitig eingesetzt wird. Und das nicht der Demokratie dient, sondern die Politik im linken Spektrum fördert. Und ich habe natürlich die Sorge: Wenn die AfD irgendwann ein Ministerium übernimmt, was wird dann gefördert, müssen wir dann gesetzlich festschreiben, was Demokratieförderung ist? Was wollen wir dann fördern? Wie wollen wir das fördern? Ich orientiere mich am Grundgesetz und der historischen Verantwortung Deutschlands. Und dann sagen wir per Gesetz: kein Geld für Diskriminierung. Kein Geld für Demokratiefeinde. Kein Geld für Leute, die Antisemitismus betreiben wollen. Kein Geld für Leute, die andere Menschen diskriminieren. Und dann sind wir auf der richtigen Seite.
SK: Das ist wirklich die Frage. Wenn jemand sagt, es gibt kein Geld, das gegen die Diskriminierung von Deutschen hierzulande arbeitet ...
AM: Ich möchte so etwas auch nicht. Ich halte auch nichts von dieser Identitätspolitik. Ich bin Psychologe. Theoretisch kann ich jeden Mensch diskriminieren, und jeder Mensch kann mich diskriminieren. Es geht nicht nur um Minderheiten. Ich kann natürlich auch einen Deutschen diskriminieren. Natürlich gibt es auch Rassismus gegen Deutsche. Das erlebt man jeden Tag an manchen Schulen in Neukölln und im Wedding. Ich lehne all diese Formen von Diskriminierung und von Rassismus kategorisch ab.
Übrigens, ich habe mich selbstständig gemacht, weil ich in dieser Integrationsarbeit bemerkt habe, wie schwierig es sein kann, Sachen beim Namen zu nennen. Man bekommt Geld, um Antisemitismus oder um Islamismus zu bekämpfen, und dann geht man zwei, drei Monate später in den Workshop, und man sieht eigentlich nichts davon. Es werden die bequemen Sachen gemacht, also ich suche mir die Themen, mit denen alle einverstanden sind und bei denen alle Spaß haben, aber nicht die Themen, wo es um die Verantwortung geht. Die Themen, die wehtun können, werden zu oft ausgespart. Deshalb saß ich mit meinen Kollegen zusammen und wir haben eine Charta geschrieben. Ich habe mehrere Mitarbeiter verloren, die nicht bereit waren, sie zu unterschreiben. Da wusste ich, dass es in Ordnung ist, diese Leute zu verlieren. Ich schreibe es groß, Rassismus kategorisch abzulehnen und dass wir Identitätspolitik, also die Homogenisierung und die Kategorisierung von Menschen, ablehnen. Wir haben deutlich geschrieben, dass wir die Menschen »mündiger betrachten und auch in der Verantwortung sehen« wollen. Wir haben das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont und gesagt, dass jede Form von Antisemitismus, auch auf Israel bezogener Antisemitismus, abzulehnen ist. Und wer das nicht mitmacht, kann bei mir nicht arbeiten. Und die Bundesregierung kann das genau so formulieren, auch als eine gewisse Brandmauer gegen Rechtsradikale, die das vielleicht anders sehen. Und die Ablehnung dieses Vorhabens35 unseres Berliner Kultursenats ist nicht aus Angst vor den Rechten erfolgt, sondern es kam zu der Ablehnung, weil es in der Kultur- und Kunstszene ganz viele Antisemiten gibt, die nicht bereit sind, ihre antisemitische Einstellung zu hinterfragen oder abzulegen. Darum geht es. Wenn man sagt, die IHRA-Definition gilt, warum sollten die Leute dann Angst haben? Sie sind aber gegen die IHRA-Definition, deshalb lehnen sie es ab.
SK: Ja, die IHRA-Definition wäre jetzt noch mal ein Kapitel für sich, aber ich glaube, das geht ein bisschen zu weit, weil es dann natürlich auch eine politische und eine wissenschaftliche und eine aktivistische Sicht darauf gibt. Nicht immer verstehen sich diese Sprachen.
Festzuhalten bleibt: Selbst wenn Frieden in Nahost wäre, hätten wir noch Antisemitismus, das ist ein Ressentiment, das wird es immer geben, das werden wir so nicht wegkriegen. Aber die Frage ist dennoch für mich, wie wir – und die Frage habe ich auch schon mehrfach gestellt innerhalb unserer Gesprächsreihe – in der jetzigen Situation wieder alle produktiv, konstruktiv, versachlicht, möglichst auch nicht zu emotional miteinander ins Gespräch kommen. Ich bin gerade wirklich fassungslos und auch ratlos, wie das gehen soll. Ich finde diese Art von Debatte, die ja gar keine Debatte ist, denn es geht ja gar nicht mehr darum, wie eine Zweistaatenlösung aussehen, wie ein Frieden in Nahost aussehen könnte, wie wir politisch in Deutschland und überhaupt weltweit agieren müssten, um in Nahost endlich Frieden herzustellen. Die Debatten, die hier geführt werden, sind teilweise so zynisch und so selbstverliebt und haben überhaupt nichts mehr mit dem Gegenstand als Solchem zu tun. Das macht mich sauer. Fest steht für mich: Es vergiftet unglaublich viel an Debattenkultur insgesamt, und das wird auch nicht spurlos an uns vorübergehen, glaube ich. Selbst wenn diese Debatten abebben. Ähnlich wie schon bei Corona, wo es auch solche Verhärtungen gab, aber ich erlebe es noch einmal heftiger bei Nahost. Die große Frage bleibt: Wie können wir das wieder in einen Strom lenken, der ein bisschen versöhnlicher ist? Gibt es dazu Ideen und Ansätze?
JS: Ich kann mir das erst vorstellen, wenn sich die Situation in Gaza gelegt hat, ich sage bewusst nicht: befriedet ist. Das wäre ein Wunschtraum, dass es befriedet ist. Die Hoffnung habe ich noch nicht. Aber dass zumindest ein Kriegsgebiet in Gaza, in Israel kein aktuelles Thema mehr ist.
SK: Was glaubst du, Ahmad?
AM: Absolut, das merke ich auch in meiner Arbeit. Vor dem 7. Oktober habe ich ganz viele Workshops, Vorträge zum Thema Antisemitismus gehalten, die sind nicht mehr möglich. Im Moment einfach irgendwo hinzugehen und direkt über das Thema Antisemitismus zu sprechen, ist nicht denkbar. Ich brauche mehrere Sitzungen, um überhaupt erst einmal die Emotionen einzufangen, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, weil die Jugendlichen entweder hochtraumatisiert sind, und da mache ich den Eltern große, große Vorwürfe, die das überhaupt ungefiltert an ihre Kinder weitergeben, oder es ist so emotionalisiert, dass es wirklich erst mal Zeit braucht, da gebe ich Ihnen recht, das wird viel einfacher, wenn der Krieg zu Ende ist. Trotzdem machen wir diese Arbeit, weil wir auch nicht warten können, weil es überall brennt. Also: Wenn es um Dialoge mit der muslimischen Community und um Versöhnung geht, dann glaube ich wirklich, das Ende des Krieges kann viel dazu beitragen, dass wir wieder in einen Dialog miteinander gehen, und mein Appell ist: Wir brauchen Empathie. Wir müssen nicht einmal mit allem einverstanden sein. Ich muss nicht dieselbe Meinung wie viele Israelis oder Juden haben, wie der Nahostkonflikt zu lösen sein könnte. Aber wenn ich eine empathische Grundhaltung mitbringe, wenn ich zuhöre, wenn ich die Schmerzen des Gegenübers auch verstehe, wahrnehme, dann wird kein Hass entstehen. Dann werden Menschen einfach unterschiedlicher Meinung sein. Und diese Empathie fehlt überall. Und das ist nicht nur im Falle des Nahostkonflikts so, das ist nicht nur in Bezug auf Gaza so. Sondern ich merke, dass wir in Zeiten leben, in denen ich als Vater alles tun muss, um meinem Kind einen empathischen Umgang mit den anderen zu vermitteln. Und das passiert viel zu wenig. Nicht weil die Eltern zu bösartig sind, sondern weil die Kinder digital verwahrlost sind, weil wir in diesen Krisenzeiten überfordert sind, weil wir auf Leistung aus sind, und weil wir nicht mehr in der Lage sind, uns zu begegnen. Ich meine, ich habe eine Kindheit gehabt, und das mag jetzt banal klingen, aber wir sind auf die Straße gegangen. Wir sind uns begegnet, wir haben uns gestritten, wir haben uns geschlagen, aber einen Tag später waren wir wieder da und haben miteinander gespielt. Heute, wenn ich meine Tochter angucke, wenn ich die Jugend angucke, die kommunizieren ganz anders. Sie treffen sich viel weniger. Es ist viel einfacher, Leute zu löschen, indem man sie blockiert und nicht mehr auf sie reagiert. Mobbingsituationen, die vorher vielleicht in der Schule stattfanden, und wenn man nach Hause gegangen ist, hatte man ein bisschen Schutz davor, sind permanent, 24 Stunden über WhatsApp, über die sozialen Medien vorhanden. Und das hat dazu geführt, dass wir in eine Empathiekrise geraten sind. Deshalb ist auch die Reaktion auf diesen Konflikt in Gaza so, weil die Empathie einfach fehlt. Ich meine, ich kann Israel hassen. Aber ich würde doch nie auf die Idee kommen, das Plakat eines entführten Babys von der Wand zu reißen. Wie herzlos muss man sein, um so etwas zu tun? Und das haben wir überall gesehen. Überall, an Universitäten, in den USA, hier in Berlin.
SK: Was wünschen wir uns denn? Mehr Empathie? Wie kommen wir heraus aus einer Empathiekrise? Was sagt der Arzt, der Mediziner?
JS: Gut, was wir uns erst mal wünschen, ist Frieden für den Nahen Osten. Zumindest keine kriegerische Auseinandersetzung. Und dann wäre mein persönlicher Wunsch, da bin ich wieder bei der Empathie: eine Empathie im Nahen Osten von beiden Seiten. Was wir doch erleben, ist, dass sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite, ein grenzenloses Misstrauen gibt. Und solange diese Einstellungen da sind, kann es vor Ort keine Ruhe geben. Und all diese Einstellungen übertragen sich auch in unsere Breiten.
SK: Es gibt aber auch so etwas wie »Standing Together«. Organisationen, die sagen, eine Shared Society ist möglich und denkbar, und im Kleinen funktioniert es in Israel und Palästina ja auch im Alltag.
AM: Na ja, ich habe es erlebt. Ich hasste diese Menschen, ich hasste den Staat Israel, ich war Antisemit, und man kann sich davon befreien. Ich war aber jetzt im März in Israel und habe versucht, ganz viele Facetten dieses Landes zu sehen. Ich habe Leute getroffen, die mir gesagt haben, sie glauben nicht mehr an den Frieden. Die haben auch Plakate abgehängt, wo es um Frieden ging. Weil sie jetzt kein Vertrauen haben, sie müssen überleben. Sie müssen sich schützen. Ich habe sogar den deutschen Botschafter in Israel, Steffen Seibert, mit zu meiner Familie genommen. Das war ein Versuch, um meinen Eltern, dieser älteren Generation, klarzumachen, warum Deutschland sich so verhält, wie es sich verhält. Und er ist gescheitert. Aber was mir Hoffnung gibt, weil wir über Hoffnung gesprochen haben, waren mein Bruder und seine Frau. Die neue Generation. Die natürlich pro Palästina sind, die natürlich für die Menschen in Gaza sind, aber ich habe bei denen doch einen Funken Empathie für das, was den Juden und den Israelis am 7. Oktober angetan wurde, gespürt. Das hat mir Hoffnung gegeben. Es muss diese neue Generation geben, denn die älteren Menschen – auch wenn das hart klingen mag – haben uns nicht dazu gebracht, dass wir empathisch gegenüber anderen sind, dass wir den Frieden suchen. Und ich glaube, dass diese Härte, mit der dieser Krieg geführt wird, schrecklich ist, aber er könnte doch zum Nachdenken anregen. Auf allen Seiten.
SK: Die Frage ist, was ist mit einer neuen Generation hier? Wenn ich mir diese jungen Menschen angucke, die demonstrieren und Unis besetzen, dann bereitet mir das eher Bauchschmerzen.
AM: Ja, wir müssen das ernst nehmen. Und ich bin einer, der das sehr, sehr ernst nimmt, und das ist höchst problematisch, aber ich bin mir sicher, dass es auch diesen linken, woken Studierenden nach dem Abschluss primär darum gehen wird, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Dann werden sie zwangsläufig kapitalistisch. Dann geht es um den besten Job, dann geht es um die Stellung dieser Menschen in der Gesellschaft. Und wenn es eine Phase während des Studiums ist, dann ist sie schlimm, aber wenn diese Menschen mit dieser Einstellung in ein paar Jahren politische Entscheidungen treffen, dann haben wir ein anderes Problem. Und da habe ich doch Hoffnung, dass dies nicht geschehen wird. Dass die Studierenden von heute vielleicht im Laufe der Zeit und mit dem Eintreten in den Arbeitsmarkt ihre Einstellungen hinterfragen.
JS: Wo ich ehrlicherweise ein bisschen skeptisch bin, ist, wenn ich sehe, was sich so auf den Leitungsebenen gerade in Berliner Hochschulen abspielt.
AM: Ja, aber da ist das Problem Führung, da herrscht Mutlosigkeit. Da ist das Problem: Ich möchte meine Ruhe haben. Ich bin in Israel sozialisiert worden, und das merke ich sehr, sehr schnell überall. Dass die Führung eigentlich keine Führung ist, dass sie wirklich nicht so denken. Ich habe den UdK-Präsidenten getroffen. Der ist kein Antisemit. Aber er ist überfordert. Er will sich nicht gegen seine Studierenden stellen, und er will auch keine Haltung zeigen. Und das ist die Krise: die Haltung.
SK: Vielleicht weil wir es lange nicht gewohnt waren hierzulande, wirklich Haltung zu zeigen. Und jetzt geht es plötzlich um etwas. Auch wenn es nur ein Alibi, ein Stellvertreterkonflikt ist, den wir hier erleben.
AM: Genau, diese Haltung braucht die Demokratie.
SK: Das braucht die Demokratie, und umso erschreckender ist es, – und dann kommen wir schnell zu der Europawahl –, dass wir es vor allem mit rechtspopulistischen Tendenzen europaweit zu tun haben, wenn nicht weltweit. Dass nicht gesehen wird, was so eine Demokratie eigentlich wert ist. Offenbar wird das von Menschen als solches nicht mehr wahrgenommen.
AM: Das ist ein sehr guter Satz, den du da gesagt hast. Wir haben es mit einer weltweiten Krise der Demokratie zu tun. Und wir sollten uns fragen, woher das kommt?
JS: In meinen Augen geht es uns allen zu gut. Ich meine gar nicht, wirtschaftlich gut. Wir sind seit Jahrzehnten Demokratie gewöhnt, haben in der westlichen Welt keine Diktatur, kein autoritäres System erlebt, und da fühlt man sich wohl, hat sich eingenistet, und dann kann man auch mal Parolen verbreiten, die ja darauf abzielen, dass es genau so bleiben soll, nur keine Einflüsse von außen geben soll. »Deutschland den Deutschen.« Da fühlt man sich in so etwas wohl. Mitunter auch dann, wenn die aktuelle Politik vielleicht Fehler macht oder einem selbst nicht gefällt.
AM: Ich unterschreibe das. Ich finde das sehr, sehr gut auf den Punkt gebracht. Die Leute kennen keine Alternativen. Und das ist gut so.
JS: Ja, natürlich ist es gut so! Aber es ist eben auch ein Risiko.
SK: Ich habe letzte Woche ein längeres Interview mit Marina Weisband geführt,36 die Demokratie an der Schule praktiziert und dazu jetzt noch mal ein Buch veröffentlicht hat, und sie sagte: »Demokratie muss natürlich auch eingeübt und erlernt werden.« Und wir erleben Demokratie gar nicht an so vielen Orten. Es ist immer ein wenig abstrakt für unsere Generation, die so selbstverständlich in einer Demokratie lebt und eben nicht weiß, was das Gegenteil ist. Sie sagt: »Schulen sind weitgehend nicht demokratisch – weitestgehend. Arbeitsplätze sind nicht demokratisch.« Das heißt, woher soll man Demokratie kennen und sie üben? Ich fand den Punkt interessant. Sie praktiziert wirklich solche Partizipationsprozesse an Schulen, wo die Schülerinnen und Schüler mitbestimmen, was wie gemacht wird. Im Kleinen, im Großen. Aber ich fand interessant, dass offenbar dieser Gewöhnungsprozess einsetzt: Wir leben in einer Demokratie, ist doch alles gut, aber so soll es bitte auch schön bleiben. Aber dafür muss eben auch etwas getan werden.
AM: Aber was noch wichtiger ist, als darüber abzustimmen, ob es ein Kaugummiverbot geben soll, ist der Streit. Es ist wichtig zu streiten, zu diskutieren. Unterschiedliche Meinungen zuzulassen. Ich habe gestern Leute getroffen und habe sie gefragt: »Wart ihr wählen?« »Ja, wir waren wählen«, haben sie gesagt. Man darf diese Frage in Deutschland wegen des Wahlgeheimnisses eigentlich nicht stellen, aber ich habe sie trotzdem gestellt: »Was habt ihr gewählt?« Und sie sagten dann: »Ich habe den Wahl-O-Mat gemacht, und der hat mir dann die Linke oder die CDU vorgeschlagen, und dann habe ich mich für die Linke entschieden.« Ich meine, warum brauchen Demokraten überhaupt einen Wahl-O-Mat, der uns sagt, was wir wählen sollen? Wählen bedeutet nicht nur, ein Kreuz zu machen, es bedeutet, sich damit zu beschäftigen, politische Auseinandersetzung, das Begleiten von Prozessen, wütend sein, zufrieden sein mit der Politik und dann eine Entscheidung zu treffen.
JS: Ja, aber der Wahl-O-Mat ist doch gar nicht so verkehrt. Ich glaube, wir in dieser Runde sind so politisch interessiert, dass wir im Prinzip die Richtung und das, was einzelne Parteien machen, machen wollen, ganz gut kennen. Für viele Menschen stimmt das, glaube ich, nicht.
AM: Ich verstehe, was Sie meinen. Sie brauchen keinen Wahl-O-Mat, sondern eine politische Beteiligung, das können die Schulen leisten.
JS: Ja, gut. Aber viele brauchen noch zusätzliche Informationen, und die sollen möglichst einfach zu bekommen sein. Und woher bezieht man sie dann?
AM: Ich verstehe, was Sie meinen.
SK: Ich habe zum ersten Mal begriffen, dass wir wirklich – das wird ja oft gesagt – eine Krise der Demokratie haben, Demokratie unter Druck. Da ist so einiges, was man sah, aber mir ist das jetzt so richtig klar geworden aufgrund dieses ganzen Rechtsrucks weltweit. Weltweit gibt es inzwischen weniger Demokratien als Diktaturen.
AM: Demokratien können sich nicht so gut vor ihren Feinden schützen wie die Autokraten. Und das ist der Schwachpunkt.
SK: Ich glaube, was wir jetzt erleben an nicht vorhandener Diskussionskultur und wirkliche Vergiftung des Klimas, wird noch dazu führen, wenn wir nicht aufpassen, dass das die Demokratie noch mehr untergräbt letztlich. Es muss gegengehalten werden.
AM: Ich habe persönlich nach dem 7. Oktober vieles verloren.
SK: Und das ist auch weiterhin so geblieben, oder?
AM: Ja, leider. Und viele andere auch, die sich mit dem Thema beschäftigen. Das ist ja bei Ihnen sicher nicht anders.
JS: Nein, genau so.
SK: Die Frage ist, wie nachhaltig das sein wird, Ahmad.
AM: Das weiß ich nicht.
SK: Ich weiß es auch nicht.
JS: Man sieht im Moment eigentlich nur Konflikt. Konflikt in Gaza. Genauso einen Konflikt in der Ukraine. Konflikt der Demokratie. Also, man ist eigentlich schon glücklich, wenn es im familiären Umfeld keinen Konflikt gibt. Wenn das ein sicherer Hafen ist. So geht es mir im Moment.
AM: Und was auch gut ist: Es geht uns gut. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich habe Angst vor einer Zeit, in der die Leute wirklich wirtschaftliche Einbußen haben. Davor, was das mit den Menschen macht.
SK: Dann geht es so richtig ans Eingemachte.
AM: Und es wird es keine Hemmungen mehr vor Antisemitismus, vor Rassismus geben. Dann geht es um das Überleben des Einzelnen.
JS: Ich sehe noch eine größere Gefahr im Sinne von rechtsextremen Parteien.
AM: Natürlich, das sind die Gewinner der Krisen. Sie sind es immer gewesen.
JS: Jetzt haben wir keine Krise. Eigentlich doch. Wir haben von Krisen gesprochen. Aber wir haben in Deutschland doch eigentlich für das Gros der Menschen keine existenziellen Krisen, und trotzdem haben wir einen Zulauf der rechtsextremen Parteien, und das nicht nur in Deutschland.
SK: Uns hier geht es eigentlich ziemlich gut …
AM: Aber als Psychologe glaube ich, dass es enorm wichtig ist, zu vermitteln, dass wir alle handlungsfähig sein müssen. Das heißt: Jeder und jede im persönlichen Umfeld. Herr Schuster macht das mit dem Zentralrat überall, wir sollten es auch machen. Wir sollten handeln. Wir sollten das schützen, was uns wichtig ist. Diese Demokratie wirklich nicht als selbstverständlich ansehen. Egal wie, jeder und jede auf eigene Art und Weise. Ob in Schulen oder auf politischer Ebene oder ob mit Projekten wie mit Schalom Aleikum oder wenn man als Verlag Bücher produziert, oder du, Shelly, als Journalistin. Ich glaube, wir müssen den Leuten Handlungsmöglichkeiten geben. Ansonsten können die Trauer und diese Hilflosigkeit sehr gefährlich werden.
SK: Da gebe ich dir absolut recht. Und ich wünschte mir öffentliche Debatten. Ich denke zum Beispiel an die große Hilfe, die große Empathiewelle 2015, als so viele Menschen hierzulande Geflüchteten geholfen haben, sie aufgenommen haben. Als wirklich ganz tolle Initiativen entstanden sind. Auch in der Coronazeit gab es plötzlich nachbarschaftliche Netzwerke, Hilfsangebote, ich fand das unglaublich. Das sind ja alles große Potenziale. Vielleicht haben wir es auch da verpasst, diese Geschichten noch mehr nach vorne zu bringen, zu zeigen: Hey, wow, wir sind doch in der Lage, so viel Positives zu bewirken, auch in schwierigen Situationen. Daraus hätte sich vielleicht noch mehr Potenzial schöpfen lassen, denn was wir jetzt erleben, ist ja sehr destruktiv letztlich. Wir müssen wieder zu einer Debatte kommen, die Möglichkeitsräume aufmacht, Positivbeispiele zeigen. Ich glaube, jeder Mensch sehnt sich danach. Die Aggressionen, die wir teilweise erleben, das ist eine kleine, aber sehr, sehr laute Minderheit.
AM: Absolut!
JS: Ja, klar.
SK: Eine sehr laute Minderheit, aber die Wirkung ist enorm!
AM: Das haben wir ja bei dem Eurovision Song Contest gesehen, wie laut die Antisemiten waren. Und zwölf Punkte von Deutschland an Israel und von so vielen Ländern ebenfalls hohe Punktzahlen. Das zeigt, dass die Mehrheit der Menschen anders denkt.37
JS: Ja.
SK: Absolut. Deswegen: Das Potenzial ist da. Die Frage ist, wie kann man da Gegennarrative schaffen? Das ist die große Frage. Für mich zumindest.