Trügerische Ruhe

Am 1. April 1943 tritt Christine von Passavant ihre Tätigkeit als »wissenschaftliche Hilfsarbeiterin« im Propagandaministerium an. Ganz freiwillig geschieht das nicht, denn sie wurde dazu als Folge der Maßnahmen zum »Totalen Krieg« dienstverpflichtet. Was sie dort machen soll, weiß die Einundfünfzigjährige zunächst nicht; man hatte ihr gegenüber ganz allgemein von einer Bürotätigkeit gesprochen. Dabei hat sie es noch vergleichsweise gut angetroffen, denn viele andere Frauen müssen in Munitionsfabriken harte körperliche Arbeit leisten.

Es gab Zeiten, da war Frau von Passavant auf nahezu allen bedeutenden Konzertpodien des Reichs regelmäßig zu Gast. Damals nannte sie sich noch Christine »Tiny« Debüser, wie ihr Geburtsname lautet. Tiny Debüser war eine etwas kapriziöse, aber sehr musikalische Sängerin mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die zeitgenössische Musik. Nichts war ihr modern genug. Komponisten wie Ernst Krenek, Paul Hindemith und Ernst Toch schrieben für sie Lieder, sie trat bei den Donaueschinger Musiktagen auf, gastierte in Salzburg, Frankfurt, Köln und Berlin. Tourneen führten sie bis nach Italien und Spanien. Der berühmte Dirigent Hermann Scherchen war geradezu vernarrt in Tinys glockenhelle Stimme und neckte sie als »mein Himbeerbonbon«. Unter Scherchens Leitung sang sie im Mai 1931 im Münchner Gärtnerplatztheater sogar die Titelrolle in Alois Hábas ultramoderner Oper Die Mutter . Das war zweifellos der Höhepunkt ihrer Karriere. Dann lernte sie Hans von Passavant kennen.

Als die beiden vor zehn Jahren heirateten, verlangte der Gatte, dass sie der Bühne Adieu sagte. Er wollte nicht, dass seine Frau im Rampenlicht steht. So wurde aus Tiny Debüser Christine von Passavant. Seit Kriegsbeginn ist ihr Mann Hans nun im Feld, während sie alleine in Berlin ausharren muss. Manchmal bereut sie es, sich so früh aus dem Konzertbetrieb zurückgezogen zu haben. Seit ein paar Jahren ist Christine von Passavant als ehrenamtliche Kunstleiterin in der »NS -Frauenschaft« tätig. Gemeinsam mit ihrer Freundin Annemarie Windmöller kümmert sie sich um die Singgruppe, in der auch Ellen Ott-Monecke Mitglied ist.

Victor Klemperer erhält am 17. April den Befehl zum Arbeitsdienst. Die Anordnung kommt für ihn nicht überraschend, gleichwohl ist er erschüttert, dass sie für die weitere Dauer des Krieges gelten soll. Als Klemperer im strengen Winter 1941/42 zum Schneeschippen abkommandiert wurde, konnte er sich sagen, dass die harte Arbeit mit den steigenden Temperaturen im nächsten Frühjahr ein Ende finden werde. Doch wie lange wird der Krieg noch dauern?

Willy Schlüters Firma hat ihren Sitz in der Wormser Straße 30c im Dresdner Stadtteil Striesen. Das Unternehmen nennt sich »chemisch-pharmazeutisches Laboratorium«, doch in Wahrheit werden hier Kräutertees und Heilbäder hergestellt. Das Anwesen selbst ist eine architektonische Mischung aus Wohn-, Büro- und Fabrikgebäude. Im Erdgeschoss des Gartenhauses befinden sich zwei Säle, an deren Fensterfronten lange Tische stehen. Als Klemperer am 19. April erstmals zum Arbeitsdienst erscheint, sieht er dort Feinwaagen, diverse Behältnisse, kleine Schaufeln, Stapel von Papiertüten sowie größere Kartonagen, in denen sich der Tee befindet.

Die Tätigkeit ist monoton und ermüdend: Tee abfüllen, wiegen, eintüten und verpacken. Gearbeitet wird sechs Tage die Woche von 14 bis 22 Uhr. Um 16 Uhr gibt es eine fünfminütige Pause, in der die Arbeiter einen Becher Muckefuck erhalten, von 17.30 bis 18 Uhr folgt die große Pause für das Abendessen. Klemperer hat am ersten Arbeitstag eine Aluminiumbüchse mit kalten Kartoffeln sowie ein Glas mit Sauerkraut dabei. Während einer weiteren kurzen Unterbrechung um 20 Uhr wird Pfefferminztee ausgegeben. Gegen 21.30 Uhr beginnt das Reinemachen, eine halbe Stunde später verlassen die Arbeiter das Haus. Klemperer und die anderen jüdischen Zwangsarbeiter erhalten einen Betriebsausweis und eine Kennkarte, die sie bei Polizeikontrollen, bei Hausdurchsuchungen und zum Einkaufen vorzeigen müssen.

Willy Schlüter, der Chef, erweist sich als human und bezeichnet die Zwangsarbeiter als »die jüdischen Mitkameraden« . Oft stellt er das Radio an – was eigentlich verboten ist –, damit die Arbeit etwas leichter von der Hand geht. Doch was ändert das, fragt sich Victor Klemperer in seinem Journal: »Mir ist es nicht um leicht und schwer, nur um den unwiederbringlichen Zeitverlust und den tödlichen Stumpfsinn dieser acht Stunden.« Wird er die Arbeit an der LTI fortsetzen können?

Ida Jauchs Laube in der Kolonie »Dreieinigkeit« besteht aus dem winzigen Tante-Emma-Laden und einem noch viel kleineren Zimmerchen, das sich hinter einer Tapetentür daran anschließt. Wer den Laden betritt und nicht allzu genau hinschaut, käme niemals auf die Idee, dass es da noch einen weiteren Raum gibt. Dieses Refugium misst vielleicht vier Quadratmeter und ist mit einem alten Bett, einem Tisch und einem klapprigen Stuhl möbliert. Es gibt auch ein etwa taschentuchgroßes Fenster, das Frau Jauch zur Sicherheit mit einem Tüllvorhang verhängt hat, durch das aber dennoch ein wenig Licht fällt. Diese Behausung mag an einen primitiven Verschlag erinnern – für Hans Rosenthal ist sie Zufluchtsstätte und ein Ort der Sicherheit. Seit über drei Wochen harrt er nun schon dort aus.

Hinter der Laube befindet sich eine kleine Rasenfläche, die von einer Hecke und einem Drahtzaun eingefasst wird. Dort haben Frau Jauchs Hühner ihren Auslauf. Wenn Hans den Tüllvorhang an dem Fenster ein wenig zur Seite schiebt, kann er die Hühner beobachten. Um sich die Zeit zu vertreiben, studiert er das Verhalten der Tiere: wie die Hennen sich gegenseitig vom Futtertrog fortjagen und wie die älteren Hähne die Jüngeren dominieren. Es dauert nicht lange, und er kann die Starken von den Schwachen unterscheiden. Er selbst, denkt Hans, während er das Hin und Her verfolgt, gehört in dieser Welt zu den Schwachen, zu denen, die wegzulaufen haben. »Ganz unten stand ich in der Hackordnung dieses Staates.«

Elizabeth Arden ist eine außerordentlich erfolgreiche Geschäftsfrau. Mit 1000 Dollar Startkapital, das sie sich von ihrem Bruder geliehen hatte, eröffnete sie 1910 in New York ihren ersten Kosmetiksalon. In den Jahren danach folgten weitere, bis sie 1922 die erste europäische Niederlassung in Paris aus der Taufe hob. Was Mrs Arden auch anpackt, es wird zu Geld. Dabei ist Elizabeth Arden ein Fantasiename, denn in Wirklichkeit heißt sie Florence Nightingale Graham. Doch das klingt in ihren Ohren kitschig. Wer will schon wie ein Vogel heißen? Elizabeth Arden ist dagegen der passende Name für eine starke und selbstbewusste Frau, die sich von Männern nichts sagen lässt. Auch sonst geht Mrs Arden mit den Details ihrer Herkunft großzügig um. Wurde sie nun 1878 oder doch erst 1884 geboren? Man weiß es nicht.

Elizabeth Arden ist davon überzeugt, dass Schönheit das Geburtsrecht einer jeden Frau ist. Mit ihren knallroten Lippenstiften, den Lidschatten und Wimperntuschen will sie Frauen ein neues Selbstwertgefühl verleihen. Vor knapp zwei Jahren hat sie vom amerikanischen Militär den Auftrag erhalten, für die Frauen in der Armee einen eigenen Lippenstift zu kreieren. Das daraufhin von Arden entwickelte Produkt »Victory Red« ist seither ein Kassenschlager. Mit »Victory Red« auf den Lippen setze man ein Zeichen gegen die Tyrannei, heißt es in der Werbung. Hitler steht nämlich im Ruf, keine geschminkten Frauen zu mögen.

Elizabeth Ardens Patriotismus hält sie indes nicht davon ab, auch in Berlin einen Schönheitssalon zu betreiben. In der Budapester Straße 31, unweit der Gedächtniskirche, befindet sich das »Institut«, für das regelmäßig Annoncen geschaltet werden. »Ein zeitloses Aussehen der Wunsch jeder Frau! Hierzu verhilft die Elizabeth Arden Hautpflege.« Ob sie in Berlin auch »Victory Red« verkauft? Es wäre ihr zuzutrauen.

Ostern liegt in diesem Jahr sehr spät. Der Ostersonntag wird erst am 25. April gefeiert und fällt somit auf das letzte kalendarisch mögliche Wochenende. Am Karfreitag greift Ellen Ott-Monecke zum Telefon und ruft ihre Bekannte Christine von Passavant in deren Wohnung an.