Tanz am Abgrund

Am 3. Juli 1943 ist Karlrobert Kreiten bereits seit fast neun Wochen in Haft. Als der Wärter um 12 Uhr das Mittagessen bringt, sind es, um genau zu sein, 61 Tage und vier Stunden. Natürlich hat Karlrobert Angst vor dem, was noch kommen mag. Doch am ärgsten setzt ihm derzeit der Umstand zu, dass ihm wertvolle Lebenszeit verwehrt bleibt. Knapp neun Wochen seines Lebens, in denen er in Gefängniszellen sitzen muss, anstatt sich mit seiner Musik beschäftigen und Konzerte spielen zu können. Die Perspektivlosigkeit – nicht zu wissen, wie es weitergeht – kann Karlrobert manchmal kaum ertragen.

Aus den niedrigen Kellerfenstern, durch die ein wenig Tageslicht in die Zellen dringt, sieht man ständig die Stiefel der am Gebäude patrouillierenden SS -Männer. Manche Häftlinge versuchen sich dadurch abzulenken, dass sie die Schritte der Wachleute zählen und dann Zahlenpaare bilden, mit denen sie in Gedanken jonglieren. Immer wieder sind mitten in der Nacht Stimmen zu vernehmen, die näher kommen und an einer der Zellentüren plötzlich verstummen. Schlüssel drehen sich im Schloss, Wachmänner befehlen einem Insassen mitzukommen. Stunden später wiederholt sich dann der Vorgang; offensichtlich wird die Person, die zuvor abgeholt wurde, in ihr Verlies zurückgebracht. Wenn die Wächter sich dann entfernt haben, ist durch die Wände das leise Wimmern der offenbar Gefolterten zu hören. Das blieb Karlrobert bislang Gott sei Dank erspart. Doch wie lange noch?

Die Häftlinge des »Hausgefängnisses« dürfen normalerweise alle zwei Tage für eine halbe Stunde in den Hof. Dabei ist es ihnen untersagt, miteinander zu sprechen. Doch wenn die Bewacher einmal nicht aufpassen, wechseln die Gefangenen heimlich ein paar Worte miteinander – etwa darüber, vor welchem Wächter man sich in Acht nehmen muss, welcher Beamte eher ein Auge zudrückt, und über anderes mehr. Unter den Männern und Frauen, die sich im Hof begegnen, befinden sich auch einige Ausländer – Tschechen, Franzosen, Ungarn. Obwohl all diese Menschen sich nicht kennen und nichts übereinander wissen, sind sie dazu verdammt, ein Schicksal zu teilen.

Im Unterschied zu manchem Mitgefangenen genießt Karlrobert Privilegien. Er kann Nahrungsmittel und Dinge des persönlichen Bedarfs empfangen, und er darf in der Regel täglich an die frische Luft. Nichtsdestotrotz sind die zurückliegenden 61 Tage und vier Stunden und die anhaltende Ungewissheit ein einziger Albtraum. Wann endet dieser?

Dann aber geht es schneller als gedacht. Nachdem Karlrobert wochenlang verhört worden ist, glaubt Otto Prochnow jetzt genau zu wissen, was sich im März in Ellen Ott-Moneckes Wohnung zugetragen hat. Schließlich habe der Beschuldigte gestanden, die ihm zur Last gelegten Äußerungen getan zu haben, auch wenn er das alles nicht so gemeint haben wolle. Für Prochnow ist der Fall Kreiten damit dennoch erledigt. Ihm ist es gleichgültig, aus welcher Motivation heraus und mit welcher Ernsthaftigkeit Karlrobert gehandelt haben will. Tatsache ist, dass diese Bemerkungen offensichtlich gefallen sind – und nur das ist für Otto Prochnow ausschlaggebend. Was die Bewertung von Karlroberts Handeln angeht, so ist das in Prochnows Augen Sache der Gerichte. Er schreibt seinen Abschlussbericht, und am 6. Juli 1943, einem Dienstag, erlässt das Amtsgericht Berlin Haftbefehl. Noch am selben Tag wird Karlrobert Kreiten aus der Gestapohaft entlassen und in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz überstellt.

Die »Rote Burg«, wie das Berliner Polizeipräsidium im Volksmund heißt, dient in der Regel als Durchgangsstation für die anderen Strafvollzugsanstalten der Reichshauptstadt. Wer hier einsitzt, hat das Schlimmste oft noch vor sich. Karlrobert wird in einen Raum gepfercht, der mit 150 Personen hoffnungslos überfüllt ist. Die Luft ist stickig, und es riecht nach Ausdünstungen. Man hört alle möglichen Sprachen, denn unter den Inhaftierten befinden sich auch Ausländer, die irgendwie in die Fänge der Polizei geraten sind. Sosehr Karlrobert sich auch freut, dass er die Gestapozentrale verlassen konnte, sosehr empfindet er seinen neuen Aufenthaltsort als Vorhof zur Hölle. Seine Blicke wandern umher. Er schaut in Gesichter, die Verletzungen aufweisen; manche Menschen weinen, andere machen einen apathischen Eindruck, die allermeisten wirken verängstigt. Inmitten der Menge entdeckt Karlrobert plötzlich einen Mann, den er zu kennen glaubt. Zunächst kann er ihn nur von der Seite sehen, doch als er auf ihn zugeht, dreht der Mann sich um, und die beiden schauen sich in die Augen. Es ist Karlroberts Freund Pál Kiss.

Pál ist neun Jahre älter als Karlrobert und ebenfalls Pianist. Im ungarischen Tolna geboren, lebt er seit Ende der Zwanzigerjahre in Berlin. Hier studierte er am Stern’schen Konservatorium bei Claudio Arrau, der dann ja auch Karlroberts Klavierlehrer wurde. Nachdem Pál 1932 den Mendelssohn-Preis gewonnen hatte, begann eine erfolgreiche Karriere, die ihn sogar zu Schallplattenaufnahmen nach London führte. Er musizierte mit den Berliner Philharmonikern und im vergangenen Jahr mit der Preußischen Staatskapelle unter der Leitung von Herbert von Karajan. Irgendwann haben sich Pál und Karlrobert, die beide bei der bekannten Konzertdirektion Curt Winderstein unter Vertrag stehen, kennen- und schätzen gelernt. Da ihr Repertoire durchaus unterschiedlich ist, sind sie sich bislang künstlerisch nicht ins Gehege gekommen. Pál liebt etwa die Musik von Haydn, Mozart, Bartók und Kodály, während Karlrobert neben Chopin insbesondere Komponisten wie Debussy, Ravel und Prokofjew schätzt. Die Klavierwerke von Franz Liszt verehren allerdings beide gleichermaßen.

Man kann sich gut vorstellen, wie nun die Häftlinge Pál Kiss und Karlrobert Kreiten in ihrem Verlies im Berliner Polizeipräsidium beieinanderhocken und sich ihre Geschichten erzählen. Auch Pál ist denunziert worden, wenn auch aus anderen Gründen als Karlrobert. Irgendjemand war hinter sein großes Geheimnis gekommen, das er doch so lange und erfolgreich hatte wahren können: Pál Kiss ist Jude. Die Tarnung funktionierte geraume Zeit nahezu perfekt, denn Pál präsentierte sich als vorbildlicher Künstler, der sogar Benefizkonzerte für die »Hitlerjugend« gab. Als er dann aber mit seiner »arischen« Freundin Charlotte an der Heiden in eine gemeinsame Wohnung zog, kam plötzlich der Vorwurf der »Rassenschande« auf. Am 2. Juni wurde er verhaftet. Pál hat keinen blassen Schimmer, wer ihn verraten haben könnte. Er versteht das alles nicht und hadert: »Warum muss ich mit dem Tod bestraft werden« , schreibt er in einem Brief, »nur weil ich nicht in einer den heutigen Anforderungen entsprechenden Familie geboren bin, warum muss ich am Schicksal einer Rasse teilhaben, wenn ich keinerlei Bezug zu den Juden hatte und heute noch habe?«

Am 8. Juli, also schon nach zwei Tagen, wird Karlrobert erneut verlegt, diesmal in das Zellengefängnis in der Lehrter Straße im Stadtteil Moabit. Pál Kiss bleibt im Gefängnis am Alexanderplatz zurück.

Karlrobert Kreiten an seine Eltern, Donnerstag, 8. Juli 1943: »Das habt Ihr fein gemacht , mich so schnell gefunden zu haben. Nun muss ich mich noch einige Tage gedulden. Ich bin glücklich, dass ich von der Gestapo entlassen bin, denn jetzt geht meine Sache den geordneten Rechtsweg u. ich kann einem Urteil entgegensehen. […] 2 Tage war ich auf dem Alexanderplatz. Ich werde Euch später erzählen, wen ich dort getroffen habe. […] Ich habe hier ein nettes helles Zimmerchen mit Aussicht auf die Bahnanlagen des Lehrter Bahnhofes u. fühle mich soweit ganz wohl. Nur nachts geht es leider nie ohne Wanzen. […] Wie geht es Euch allen? Ist Rosemarie nun zurück? Habt Ihr Platz genug in der Wohnung? Was wird das für eine Freude geben, wenn ich erst einmal wieder bei Euch bin!! Ich kann es schon bald nicht mehr glauben, dass ich eines Tages in Freiheit kommen werde. Über 2 Monate Untersuchungshaft ist doch eine lange Zeit!«

Als Tullio Mobiglia vor etwas mehr als zwei Jahren nach Berlin kam und sich dort niederließ, begann für nicht wenige Musikliebhaber eine neue Zeitrechnung. Der zweiunddreißigjährige Italiener mit dem eleganten Äußeren, den streng nach hinten frisierten Haaren und dem Menjoubärtchen gehört zu den besten Jazzsaxophonisten und Kapellmeistern seiner Zeit. Dabei war dieser Erfolg zunächst kaum vorherzusehen gewesen. Geboren in Carezzano, einem verschlafenen Nest im norditalienischen Piemont, hatte Tullio zwar eine fundierte Ausbildung am Konservatorium in Genua erhalten, musste sich dann aber die ersten Jahre mit unbedeutenden Engagements über Wasser halten. Ein paarmal reiste er als Mitglied einer Bordkapelle in die USA , danach trat er eine Zeit lang im Casino von San Remo auf. Doch erst in Berlin zündete der Funke, und seither kennt seine Karriere nur eine Richtung: nach oben. Ja, man hat den Eindruck, als habe das hauptstädtische Publikum nur auf ihn gewartet.

Im Sommer 1943 gastieren Tullio Mobiglia und sein Sextett im Konzertcafé Rosita am Bayerischen Platz. Bis vor Kurzem ist dieses Nachtlokal noch als Rosita-Bar stadtbekannt gewesen, doch der Inhaber hat dann den Namen des Etablissements geändert, um einer behördlichen Schließung zu entgehen. Seit Goebbels den »totalen Krieg« proklamiert hat, steht das Nachtleben bekanntlich unter besonderer Beobachtung der Behörden. Von der Umbenennung abgesehen, hat sich dort aber nicht viel geändert.

Die Art, wie Tullio Mobiglia und seine Männer spielen, ist in Berlin überaus angesagt. Oft sind es amerikanische Jazzstandards, denen er zur Tarnung irgendwelche deutschen Fantasienamen verpasst. Aus dem Song »Joseph, Joseph« der berühmten Andrew Sisters wird das Lied »Sie will nicht Blumen und nicht Schokolade«. Das Original darf in Deutschland nicht gespielt werden, denn die Textdichter Sammy Cahn und Saul Chaplin sowie die Komponistin Nellie Casman sind allesamt Juden. Über Ella Fitzgeralds »A-Tisket, A-Tasket« legt Tullio kurzerhand die Zeilen eines Kinderliedes: »Laterne, Laterne«. Zur Sicherheit schneiden die Musiker von den Notenblättern noch die Kopfzeilen ab, damit die Originaltitel nicht mehr zu entziffern sind. Natürlich wird die Bar auch regelmäßig von der zuständigen Reichsmusikkammer überprüft. Doch die Kontrolleure erkennt man mit ihren Aktentaschen und den sauertöpfischen Gesichtern in der Regel schon aus hundert Metern Entfernung, sodass dem Studenten, der auf der Straße vor dem Haus gerade Wache schiebt, immer genug Zeit bleibt, die Musiker zu warnen. Wenn die Beamten die Bar betreten, wird einfach von »You Can’t Stop Me from Dreaming« auf »Rosamunde« umgestellt.

Tullio behauptet von sich, der schönste Saxophonist der Welt zu sein. Vor jedem Auftritt scheitelt er sein schwarzes Bärtchen auf der Oberlippe. Wenn er dann im weißen Dinnerjacket die kleine Bühne der Bar betritt, liegt ihm das Publikum zu Füßen. Zu Tullios Truppe gehörte bis vor Kurzem auch der Gitarrist Heinz Schumann. Der neunzehnjährige Berliner hatte ursprünglich Klempner gelernt, doch seine große Leidenschaft war die Swingmusik. Schon bevor er zu Tullios Band stieß, hatte Heinz einige Engagements vorzuweisen, weshalb er in den einschlägigen Lokalen gut bekannt war. Tullio sagte kurzerhand, Heinz stamme aus Mailand. Dass der kein Wort Italienisch sprach und obendrein noch stark berlinerte, scherte niemanden. Doch es gab da etwas, das tunlichst niemand erfahren sollte: Heinz war Jude.

In den Pausen schickte Tullio seinen hübschen jungen Freund zu bestimmten Tischen, damit er den dort sitzenden Damen den Hof machte. »Haben Sie später schon etwas vor?« , fragte Heinz dann. »Herr Mobiglia würde Sie gerne treffen.« Einmal geriet er an eine Französin, die das »H« in Heinz nicht aussprechen konnte und ihm umgehend den Spitznamen »Coco« verpasste. Im März 1943 flog die Tarnung aber plötzlich auf. Heinz Schumann wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Tullios Erfolg in Berlin ist den Chefs der Deutschen Grammophon und ihrer Tochterunternehmen nicht verborgen geblieben. In diesem Jahr haben »Tullio Mobiglia und sein Bar-Orchester«, wie es auf den Etiketten der Schellackplatten heißt, bereits gut zehn Aufnahmen gemacht. Die letzte Sitzung hat erst Anfang Juni stattgefunden, wobei an jenem Tag auch der Foxtrott »Melodie in F« aufgezeichnet wurde. Dabei handelt es sich um eine Bearbeitung des gleichnamigen Klavierwerks von Anton Rubinstein. Tullio spielt die Nummer aber so swingend, dass das Ganze wie ein völlig neues Stück klingt. Kaum jemandem dürfte jedenfalls aufgefallen sein, dass es sich um eine heimliche Hommage an den großen russischen Komponisten und Pianisten des 19. Jahrhunderts handelt. Rubinstein war nämlich Jude gewesen, und seine Musik ist im »Dritten Reich« verboten.

Joseph Goebbels erreichen derweil immer wieder Klagen, dass die Tanzorchester zu »hot« spielen würden. Er hält das zunächst für übertrieben, doch als auch Hans Hinkel, einer seiner engsten Mitarbeiter, in dieses Horn stößt, lässt sich Goebbels Mitte Mai 1943 einige aktuelle Platten vorführen. »Die Musik ist zwar modern , aber nicht undeutsch«, kommentiert der Minister daraufhin in seinem Tagebuch. »Wenn wir nur nach den Wünschen der Spießer und der Gestrigen gingen, so müsste die deutsche Musik beim Rheinländer und beim Walzer zum Abschluss gekommen sein.«

Das Zellengefängnis in der Lehrter Straße wurde in den 1840er-Jahren errichtet. Damals galt es als besonders fortschrittlich, die Gefangenen in Einzelzellen unterzubringen, anstatt wie bis dahin üblich in Gemeinschaftsräumen. So modern der wuchtige Bau mit den fünf sternförmig angeordneten Flügeln seinerzeit auch gewesen sein mag, heute ist er hoffnungslos in die Jahre gekommen.

Die Anstalt besteht aus vier Etagen, die einen hohen Lichthof umschließen. Zwischen den Stockwerken sind Drahtnetze gespannt, um Selbstmordkandidaten am Herunterspringen zu hindern. Die einzelnen Zellen messen etwa zehn Quadratmeter und sind mit einem Eisenbett, einem kleinen Tisch samt Hocker und einer Art Spind ausgestattet. Fließendes Wasser oder gar ein WC sind nicht vorhanden – die Gefangenen müssen sich mit Wasser aus einem Steinkrug waschen und einen Abortkübel benutzen.

Die Zellen wie überhaupt das gesamte Gebäude machen einen verwahrlosten und dreckigen Eindruck. Die Heizungsanlage ist völlig veraltet und fällt im Winter regelmäßig aus, sodass der alte Kasten auch bei strengem Frost längere Zeit nicht geheizt werden kann. In den dicken Gemäuern hat sich Feuchtigkeit ausgebreitet, die modrig stinkt. Belastend ist auch der ohrenbetäubende Lärm: Jedes Wort und jedes Türenschlagen, Klappern oder Schlüsselrasseln schallt ungehindert durch die offenen Stockwerke. Für die Insassen besonders unangenehm sind die im Gefängnis allgegenwärtigen Wanzen. In den eisernen Bettgestellen, in Türritzen oder Mauerspalten – überall nistet das Ungeziefer. Vor ein paar Jahren hat die Gefängnisleitung versucht, die Viecher mithilfe irgendwelcher Giftpulver auszurotten, was allerdings misslang. Der Wanzenplage ist einfach nicht Herr zu werden, und so hat man schließlich kapituliert. Fast alle Gefangenen klagen über zerstochene Arme oder Beine, manche reagieren allergisch auf die Bisse, und es kommt zu Schwellungen.

Der Tagesablauf im Zellengefängnis in der Lehrter Straße ist an Eintönigkeit nicht zu übertreffen. Karlrobert steht gegen 6 Uhr auf und macht dann zunächst einige Fingerübungen. Dabei stellt er sich vor, der Tisch in seiner Zelle sei ein Flügel und die Tischplatte die Klaviatur. Er setzt sich vor den Tisch, legt die Hände auf das Möbel und bewegt seine Finger so, als spiele er gerade an einem richtigen Musikinstrument. Bach, Mozart, Chopin, Liszt oder Ravel – da Karlrobert sein gesamtes Repertoire auswendig im Kopf hat, benötigt er keine Noten. Er will mit diesem ungewöhnlichen Training in Form bleiben für die Zeit nach seiner Entlassung, wenn er endlich wieder konzertieren kann. Um 7 Uhr kommt das Frühstück, das aus Kaffeeersatz und einer Scheibe trockenem Brot besteht. Alle zwei Tage gibt es dazu einen Klecks Rübenkraut. Um 12 Uhr erhält Karlrobert zum Mittagessen eine Schüssel Suppe. Die Gefangenen müssen mehrere Stunden am Tag Zwangsarbeit leisten. Manche schneiden und packen Toilettenpapier, andere stellen Bürsten und Besen her, und wiederum andere fertigen Strohgeflechte an. Karlrobert muss gefütterte Taschen produzieren.

Das Abendessen um 18 Uhr umfasst wiederum eine Scheibe Brot und eine Tasse Muckefuck. Dreimal pro Woche gibt es statt des abendlichen Kaffeeersatzes eine Suppe, und manchmal findet sich auf seinem Tablett auch ein kleines Stückchen Wurst, das allerdings oftmals schon stinkt. Nicht wenige Gefangene verlieren innerhalb eines Monats 15 bis 20 Kilo Gewicht. Im Gegensatz zur Gestapohaft in der Prinz-Albrecht-Straße darf Karlrobert im Zellengefängnis keine Lebensmittel erhalten. Er muss mit dem wenigen auskommen, das ihm dort zugeteilt wird. In der Regel geht er abends hungrig zu Bett.

Als Emmy, Sophie und Rosemarie, mit der S-Bahn von Westen kommend, in die Station Lehrter Stadtbahnhof einfahren, befindet sich das Zellengefängnis unübersehbar zu ihrer Linken. Ein dunkler Klinkerbau, der an eine riesige Zitadelle mit Türmen, Zinnen und Schießscharten sowie mächtigen Portalen erinnert. Irgendwo hinter den hohen Mauern sitzt Karlrobert, der den Besuch von Mutter, Großmutter und Schwester kaum erwarten kann. Anders als in der Prinz-Albrecht-Straße darf er im Zellengefängnis üblicherweise einmal im Monat Familienangehörige treffen. Diese müssen dafür allerdings bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Besuchserlaubnis beantragen. Wird diese gewährt, was völlig willkürlich geschieht, denn ein Anspruch besteht nicht, erhält man einen sogenannten Sprechzettel, mit dem man sich an einem bestimmten Tag im Gefängnis zu melden hat. An diesem Dienstag, dem 13. Juli 1943, ist es so weit.

Die drei Frauen gehen über die Lehrter Straße auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Mit jedem Schritt wächst die Freude auf das Wiedersehen und zugleich das Unbehagen, Karlrobert nach dem Besuch wieder zurücklassen zu müssen, ihn nicht einfach nach Hause mitnehmen zu können. Wie wird er wohl aussehen? Wie wird es ihm in der monatelangen Haft ergangen sein? Emmy konnte ihren Sohn ja noch für einen Moment im Heidelberger Gefängnis treffen, doch für Sophie und Rosemarie ist es die erste Begegnung mit ihm seit Anfang Mai.

Links vom Tor befindet sich ein Büro, in dem sich die Besucherinnen zu melden haben. Danach werden sie von einem Beamten über einen Hof geführt, bevor sie durch eine Glastür das eigentliche Hauptgebäude der Anstalt betreten. Dort müssen sie erneut in einem Dienstzimmer vorsprechen und die Besuchsgenehmigung vorzeigen. Nachdem diese geprüft wurde – das alles dauert gefühlt eine Ewigkeit –, bringt man Emmy, Sophie und Rosemarie in einen Besprechungsraum. In dem Zimmer befinden sich lediglich ein Tisch und ein paar Stühle, und die Fenster sind wie überall im Haus vergittert. Ein Polizist weist die Frauen noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass über den Fall nicht gesprochen werden dürfe. Kein Wort über das, was man dem Häftling vorwirft, über die Ermittlungen und über die Haft. Wenn sie sich daran nicht hielten, sei die Besuchszeit ruckzuck zu Ende. Dann verlässt er den Raum. Einige Minuten später öffnet sich die Tür, und Karlrobert wird hereingeführt.

In Bayreuth werden am 15. Juli die diesjährigen Richard-Wagner-Festspiele eröffnet. Auf Hitlers ausdrücklichen Wunsch steht Wilhelm Furtwängler am Pult, die Bühnenbilder stammen von Wagners Enkel Wieland. Die Aufführungen finden als sogenannte Kriegsfestspiele vor ausgesuchtem Publikum statt. Es sind vor allem verwundete Soldaten mit ihrem Pflegepersonal sowie Rüstungsarbeiter, die mit viel Aufwand in die fränkische Provinz kutschiert werden. Hitler selbst hat seine Teilnahme kriegsbedingt abgesagt; er war das letzte Mal im Sommer 1940 in Bayreuth.

Furtwängler hat privat gerade einige Turbulenzen hinter sich. Die Scheidung von seiner ersten Frau Zita – die Eheleute lebten bereits seit 1931 getrennt – gestaltete sich so schwierig, dass er am Ende sogar Joseph Goebbels um Vermittlung bitten musste. »Er hat eine Reihe von Familiensorgen« , notiert der Minister Ende Mai trocken in sein Tagebuch. »Ich werde ihm bei ihrer Überwindung behilflich sein.« Goebbels hält Wort. Damit war Furtwängler frei, seine neue Liebe Elisabeth Ackermann zu heiraten. Nur wenige Tage vor dem Auftakt in Bayreuth hat sich das Paar – die Braut ist zweiunddreißig Jahre alt, der Bräutigam siebenundfünfzig – in Potsdam das Jawort gegeben. Hitler weiß, was er an Furtwängler hat, und entsprechend großzügig soll das Hochzeitspräsent ausfallen. »Der Führer will ihm ein Haus zum Geschenk machen«, so Goebbels. »Furtwängler steht bei ihm außerordentlich hoch im Kurs; er hält ihn für den ersten Musiker der Nation.«

Die nationalsozialistische Kulturpolitik braucht Weltstars wie Wilhelm Furtwängler, der sich seiner Ausnahmestellung durchaus bewusst ist. Seine Unverzichtbarkeit versetzt ihn in die Lage, immer wieder bei Hitler und Goebbels intervenieren zu können – auch in eigener Sache. So liefert sich der Dirigent seit geraumer Zeit ein Heugabelduell mit seinem jüngeren Kollegen Herbert von Karajan, dessen Erfolg in der Reichshauptstadt ihm ein Dorn im Auge ist. Mehrfach wurde Furtwängler bereits im Propagandaministerium vorstellig und beschwerte sich bitter über Karajan. »Der Krach zwischen Furtwängler und Karajan geht unentwegt weiter«, klagt Goebbels am 13. Juli. »Diese übereitlen Dirigenten, die sich wie Primadonnen benehmen, fallen mir allmählich auf die Nerven.«

Ob sich Wilhelm Furtwängler – der »erste Musiker der Nation« – bei Goebbels oder Hitler für Karlrobert Kreiten eingesetzt hat, wissen wir nicht. In Goebbels’ sowie in Furtwänglers Tagebüchern wird eine solche Fürsprache jedenfalls nirgends erwähnt.

Emmy Kreiten an ihren Sohn Karlrobert, Samstag, 17. Juli 1943: »Mein lieber Bub , Du siehst sehr bleich aus und ich lasse mir ein Attest geben von dem Arzt, der Dich zuletzt untersucht u. durchleuchtet hat aus Straßburg, und wir hoffen, da Deine Lungen angegriffen sind, dass Du dann etwas zusätzliche Kost bekommst. Wir würden Dir ja gerne wenigstens 1× in der Woche etwas bringen, Brot und Butter etc. Aber das ist leider verboten. Bei dem Gedanken kann ich auch kaum mehr was essen, ach, mein lieber Bub, wir sind alle sehr gequält, besonders Grand’maman u. Papa machen sich viel Sorge um Dich.«

In der Lothringer Straße, unweit des Dresdner Elbufers, kommt Victor Klemperer ein älterer Herr entgegen. Der Mann ist auffallend gut gekleidet – Typ pensionierter höherer Beamter –, trägt einen weißen Spitzbart und dürfte etwa siebzig Jahre alt sein. Der Unbekannte geht direkt auf Klemperer zu, sodass sie einander nicht ausweichen können. Dann streckt er Klemperer die Hand hin und sagt mit feierlicher Würde: »Ich habe Ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich verurteile diese Verfemung einer Rasse, und viele andere tun das ebenso.«

»Sehr freundlich« , bedankt sich Klemperer, »aber Sie dürfen nicht mit mir reden, es kann mich das Leben kosten und Sie ins Gefängnis bringen.«

Er habe ihm das einfach sagen wollen und müssen, antwortet der Mann. Dann trennen sich ihre Wege. Geschehen am 18. Juli 1943.

Karlrobert Kreiten an seine Eltern, Donnerstag, 22. Juli 1943: »Nach Eurem Besuch war ich noch den ganzen Tag guter Dinge, am nächsten Tag jedoch fing der Katzenjammer an. Ich bin jetzt aber wieder gefasst und hoffe, Euch, alle meine Lieben, doch noch in diesem Jahr in Freiheit wiederzusehen. […] Am Donnerstag voriger Woche war der Rechtsanwalt hier. Ich sprach nur kurz mit ihm. Ich glaube, er muss erst einmal die Akten haben, bevor ich ihm alles eingehender erklären kann.«