W
enn Sie sich die Personen aussuchen, mit denen Sie arbeiten und verkehren, dürfen Sie sich nicht von deren Ruf einnehmen oder von dem oberflächlichen Bild blenden lassen, das sie zu projizieren versuchen. Üben Sie sich vielmehr darin, tief in sie hineinzuschauen und ihren Charakter zu erkennen. Der Charakter eines Menschen wird in seinen frühesten Jahren sowie durch seine täglichen Gewohnheiten gebildet. Es ist das, was ihn dazu zwingt, bestimmte Handlungen zu wiederholen und in negative Muster zu verfallen. Achten Sie genau auf solche Muster und führen Sie sich vor Augen, dass niemand etwas nur einmal tut. Menschen neigen grundsätzlich dazu, ihr Verhalten zu wiederholen. Messen Sie die relative Charakterstärke Ihrer Mitmenschen an ihrer Resilienz gegen Stress, ihrer Anpassungs- und Kooperationsfähigkeit, ihrer Geduld und Lernfähigkeit. Orientieren Sie sich immer an jenen, die Zeichen der Stärke aussenden, und meiden Sie die zahlreichen toxischen Typen, die es gibt. Sie müssen auch Ihren eigenen Charakter gründlich kennen, damit Sie Ihre Zwangsmuster durchbrechen und Ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen
können.
Das Muster
Für seine Onkel, Tanten und Großeltern, die ihn in Houston, Texas, aufwachsen sahen, war Howard Hughes Jr. (1905–1976) ein eher schüchterner und wunderlicher Junge. Seine Mutter war bei seiner Geburt beinahe gestorben und konnte anschließend keine weiteren Kinder mehr bekommen, sodass sie sich völlig auf ihren Sohn fixierte. Aus Angst davor, dass er vielleicht krank werden könnte, beobachtete sie jede seiner Bewegungen und tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihn zu beschützen. Der Junge schien große Ehrfurcht vor seinem Vater zu haben, Howard Senior, der 1909 die Sharp-Hughes Tool Company gegründet hatte, die der Familie bald ein kleines Vermögen einbrachte. Sein Vater war nicht oft zu Hause, weil er geschäftlich viel unterwegs war, und deshalb verbrachte Howard Jr. viel Zeit mit seiner Mutter. Den Verwandten erschien er unruhig und hypersensibel, aber als er älter wurde, wurde aus ihm ein bemerkenswert höflicher, ruhiger und seinen Eltern zutiefst ergebener Sohn.
1922 starb seine Mutter völlig unerwartet im Alter von neununddreißig Jahren. Sein Vater verkraftete ihren frühen Tod nie vollständig und starb zwei Jahre später. Im Alter von neunzehn Jahren war der junge Howard Jr. allein auf der Welt, nachdem er die beiden Menschen verloren hatte, die seine engsten Gefährten gewesen waren und jede seiner Lebensphasen gelenkt hatten. Seine Verwandten beschlossen, dass sie diese Lücke füllen und dem jungen Mann die Führung geben mussten, die er brauchte. Doch in den Monaten nach dem Tod seines Vaters lernten sie einen Howard Hughes Jr. kennen, der ihnen völlig fremd war. Der ruhige junge Mann wurde plötzlich ausfallend. Der gehorsame Junge war jetzt ein regelrechter Rebell. Er brach das Studium ab, zu dem sie ihm geraten hatten; er schlug all ihre Ratschläge in den Wind. Je mehr sie auf ihrem Standpunkt beharrten, umso feindseliger wurde er.
Weil er das Familienvermögen geerbt hatte, konnte der junge
Howard nun völlig unabhängig werden, und er hatte vor, diese Unabhängigkeit auf die Spitze zu treiben. Er machte sich sofort daran, alle Anteile der Sharp-Hughes Tool Company zu kaufen, die seine Verwandten besaßen, um die vollständige Kontrolle über das hochgradig lukrative Unternehmen zu erlangen. Nach dem texanischen Gesetz konnte er vor Gericht einen Antrag auf vorgezogene Volljährigkeit stellen, wenn er beweisen konnte, dass er reif genug war, die Aufgaben und Pflichten eines Erwachsenen zu übernehmen. Hughes freundete sich mit einem ortsansässigen Richter an und erhielt bald die Genehmigung, die er brauchte. Nun konnte er tun und lassen, was er wollte, und die Werkzeugfirma übernehmen, ohne dass jemand ihm Vorschriften machte. Seine Verwandten waren von diesem Verhalten schockiert, und kurze Zeit später brachen beide Seiten für den Rest ihres Lebens den Kontakt fast vollständig ab. Warum hatte sich der freundliche Knabe, den sie gekannt hatten, in einen hyperaggressiven, rebellischen jungen Mann verwandelt? Das war ein Rätsel, für das sie niemals eine Lösung finden sollten.
Kurz nachdem er seine Unabhängigkeit erklärt hatte, ließ sich Hughes in Los Angeles nieder, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, seinen beiden neuesten Leidenschaften nachzugehen: Filme drehen und Flugzeuge fliegen. Er besaß die finanziellen Mittel, und 1927 beschloss er, seine beiden Leidenschaften miteinander zu kombinieren und einen epischen, kostspieligen Film über die Kampfpiloten im Ersten Weltkrieg zu drehen, der Höllenflieger
heißen sollte. Er engagierte einen Regisseur und ein Team von Drehbuchautoren, die ein Skript ausarbeiten sollten, aber er zerstritt sich mit dem Regisseur und feuerte ihn. Er engagierte daraufhin einen anderen Regisseur, Luther Reed, der ebenfalls von der Fliegerei begeistert war und sich besser mit dem Projekt identifizieren konnte, aber auch dieser gab kurze Zeit später auf, weil Hughes sich ständig in seine künstlerischen Entscheidungen einmischte. Seine letzten Worte an Hughes waren: »Warum drehen Sie den Film nicht selbst, wenn Sie so viel Ahnung haben?« Dieser folgte dem Rat und ernannte sich selbst zum Regisseur des Films.
Das Budget stieg immer weiter, weil er nach maximalem Realismus strebte. Es verstrichen viele Monate und Jahre, und Hughes verschliss Hunderte von Mitarbeitern des Filmstabs sowie Stuntpiloten, von denen drei bei Brandunfällen ums Leben kamen. Nach endlosen Streitereien entließ er fast jeden Leiter der einzelnen Abteilungen und nahm alles selbst in die Hand. Er verlor sich in Details und machte jede Einstellung, jeden Winkel, jedes Storyboard zur Chefsache. 1930 fand die Premiere von Höllenflieger
statt, und er wurde ein Kassenschlager. Die Geschichte war zwar chaotisch, aber die Flug- und Actionszenen faszinierten das Kinopublikum. Die Legende von Howard Hughes war geboren. Er war ein wagemutiger, junger Rebell, der das System über den Haufen geworfen und einen Hit gelandet hatte. Er war der unbeugsame kompromisslose Individualist, der alles selbst tat. Es interessierte niemanden, dass der Film stolze 3,8 Millionen Dollar gekostet, aber nur knapp 2 Millionen Dollar eingespielt hatte. Hughes selbst war bescheiden und behauptete, seine Lektion gelernt zu haben: »Höllenflieger
im Alleingang zu drehen war mein größter Fehler … die Arbeit von zwölf Leuten alleine bewältigen zu wollen, das war einfach nur Dummheit meinerseits. Ich lernte durch bittere Erfahrung, dass kein Mensch alles wissen kann.«
In den 1930er Jahren schien die Legende um Hughes nur zu wachsen, als er mehrere Geschwindigkeitsweltrekorde im Fliegen aufstellte und dem Tod mehrfach um Haaresbreite entging. Hughes hatte aus der Firma seines Vaters ein neues Unternehmen namens Hughes Aircraft ausgegründet, das sich – so hoffte er – zu einem der größten Flugzeughersteller der Welt entwickeln würde. Um dieses Ziel zu erreichen, musste man damals lukrative Aufträge vom Militär erhalten, und als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten, unternahm Hughes einen kühnen Vorstoß, um einen solchen Auftrag an Land zu ziehen.
1942 beschlossen verschiedene Beamte des Verteidigungsministeriums, die von seinen spektakulären Flugleistungen, seiner in Interviews ersichtlichen Detailliebe und seiner unermüdlichen Lobbyarbeit beeindruckt waren, Hughes Aircraft
einen Auftrag in Höhe von 18 Millionen Dollar zu erteilen, um drei gewaltige Transportflugzeuge zu bauen, die Hercules
heißen und dazu dienen sollten, Soldaten und Ausrüstung an die verschiedenen Kriegsfronten zu bringen. Die Flugzeuge wurden »fliegende Boote« genannt und hatten eine Spannweite, die länger als ein Fußballfeld war, und einen Rumpf, der über drei Stockwerke hoch war. Wenn die Firma gute Arbeit leistete, die Flugzeuge rechtzeitig lieferte und das Budget nicht überschritt, würden sie noch mehr bestellen, und Hughes könnte den Markt für Transportflugzeuge in seine Hand bringen.
Kaum ein Jahr später gab es noch mehr gute Nachrichten. Weil die Air Force von dem ansprechenden und schnittigen Design seines kleineren D-2-Flugzeugs beeindruckt war, erteilte sie ihm einen Auftrag über 43 Millionen Dollar für einhundert Foto-Aufklärungsflugzeuge, die für militärische Zwecke abgewandelt, aber nach der Vorlage der D-2 gebaut werden sollten. Doch schon bald ging das Gerücht um, dass es bei Hughes Aircraft Probleme gebe. Die Firma war zunächst eine Art Hobby für Hughes gewesen. Er hatte wichtige Posten in der Firma mit Freunden aus Hollywood und Fliegerkollegen besetzt. Als die Firma wuchs, nahm auch die Zahl der Abteilungen zu, die untereinander aber kaum kommunizierten. Alles musste über Hughes gehen. Er musste über jede noch so kleine Entscheidung informiert werden. Mehrere federführende Ingenieure hatten schon gekündigt, weil sie sich durch seine ständigen Einmischungen gegängelt fühlten.
Hughes erkannte das Problem und engagierte einen Geschäftsführer, der das Hercules-Projekt auf den Weg und die Firma wieder ins Lot bringen sollte, aber dieser warf bereits nach zwei Monaten das Handtuch. Hughes hatte dem Geschäftsführer bei der Umstrukturierung der Firma freie Hand versprochen, doch nur wenige Tage nach dessen Arbeitsantritt fing Hughes an, gegen seine Entscheidungen Einspruch zu erheben und seine Autorität zu untergraben. Ende des Sommers 1943 waren sechs der neun Millionen Dollar, die für die Produktion der ersten Hercules-Maschine zur Verfügung gestellt worden waren, bereits verbraucht, aber das Flugzeug war nicht einmal annähernd fertig. Die Beamten im
Verteidigungsministerium, die sich für Hughes eingesetzt hatten, gerieten in Panik. Der Auftrag für die Foto-Aufklärungsflugzeuge war für die amerikanischen Kriegsbemühungen entscheidend. Hatten das firmeninterne Chaos und die Verzögerungen beim Bau der Hercules-Maschine zu Problemen mit dem wichtigeren zweiten Auftrag geführt? Hatte Hughes sie mit seinem Charme und seiner Publicity-Kampagne zum Narren gehalten?
Anfang 1944 lag die Bestellung für die Aufklärungsflugzeuge weit hinter dem Plan. Das Militär bestand nun auf die Einstellung eines neuen Geschäftsführers, um zumindest einen Teil der Bestellung zu retten. Zum Glück war damals einer der besten Männer für diesen Job verfügbar: Charles Perelle, der »Wunderknabe« der Flugzeugproduktion. Doch Perelle wollte den Job nicht. Wie jeder in der Branche wusste er, dass bei Hughes Aircraft das reine Chaos herrschte. In seiner Verzweiflung ging Hughes selbst in die Charmeoffensive. Er behauptete, den Fehler seines Vorgehens erkannt zu haben; er sei auf Perelles Fachwissen angewiesen. Hughes war ganz anders, als Perelle es erwartet hatte: Er war sehr bescheiden und erzeugte den Eindruck, als sei er auf skrupellose Manager hereingefallen, die in seiner Firma ihr Unwesen getrieben hatten. Er kannte sich mit den technischen Details des Flugzeugbaus aus und imponierte Perelle damit. Er versprach, Perelle die Handlungsfreiheit zu geben, die er brauchte. Obwohl er ein ungutes Gefühl hatte, nahm Perelle den Job an.
Nach nur wenigen Wochen bereute er diese Entscheidung. Die Flugzeuge lagen stärker hinter dem Terminplan zurück, als man ihm glauben machen wollte. Wohin er auch sah, erblickte er mangelnde Professionalität, bis hin zu den ungenau gezeichneten Entwürfen der Flugzeuge. Perelle machte sich dennoch an die Arbeit, reduzierte unnötige Kosten und verschlankte die Abteilungen, aber niemand nahm ihn ernst. Jeder wusste, wer die Firma wirklich leitete, und Hughes untergrub unablässig Perelles Reformen. Als der Auftrag immer länger dauerte und der Druck stieg, verschwand Hughes von der Bildfläche, weil er angeblich einen Nervenzusammenbruch erlitten
hatte. Am Ende des Krieges war nicht ein einziges Aufklärungsflugzeug gebaut worden, und die Air Force kündigte den Vertrag. Perelle, den diese Erfahrung schwer mitgenommen hatte, kündigte im Dezember desselben Jahres.
Hughes, der versuchte, etwas aus den Kriegsjahren zu retten, konnte immerhin die Fertigstellung eines Flugboots vorweisen, das später als »Spruce Goose« bekannt wurde. Es sei ein technisches Wunder, behauptete er, angesichts seiner enormen Größe ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Um alle Zweifler Lügen zu strafen, beschloss er, mit dem Flugzeug einen Testflug zu unternehmen. Als er über das Meer flog, wurde ihm jedoch schmerzlich bewusst, dass die Maschine nicht annähernd genug Leistung für ihr gewaltiges Gewicht hatte, und nach einer Meile musste er eine kontrollierte Wasserlandung vornehmen und sich abschleppen lassen. Das Flugzeug hob nie wieder ab und wurde für eine Million Dollar pro Jahr in einem Hangar abgestellt, weil Hughes sich weigerte, es demontieren zu lassen.
1948 wollte der Besitzer von RKO Pictures, Floyd Odlum, seine Produktionsfirma verkaufen. RKO war eines der profitabelsten und prestigeträchtigsten Hollywood-Studios, und Hughes verspürte den Drang, ins Rampenlicht zurückzukehren und sich in der Filmbranche einen Namen zu machen. Er kaufte Odlums Anteile und erlangte so eine maßgebliche Beteiligung. Bei RKO herrschte blankes Entsetzen. Die Manager dort wussten, dass sich Hughes gerne in alle Angelegenheiten einmischte. Die Firma hatte gerade erst eine neue Ära unter der Leitung von Dore Schary begonnen, der RKO zum angesagtesten Studio für aufstrebende Regisseure machen wollte. Schary beschloss zu kündigen, bevor er gedemütigt werden konnte, stimmte aber vorher einem Treffen mit Hughes zu, den er hauptsächlich aus Neugier kennenlernen wollte.
Hughes erwies sich als sehr charmant. Er nahm Scharys Hand, sah ihm in die Augen und sagte: »Ich will das Studio überhaupt nicht leiten. Sie werden freie Hand haben.« Schary, der von Hughes’ Aufrichtigkeit und dessen Zustimmung zu seinen Vorschlägen bezüglich der Veränderung des Studios überrascht war, lenkte ein, und in den ersten
Wochen war auch alles genau so, wie Hughes es versprochen hatte. Doch dann begannen die Telefonanrufe. Hughes wollte, dass Schary eine Schauspielerin in dem Film, der gerade gedreht wurde, ersetzte. Schary erkannte den Fehler, den er begangen hatte, kündigte sofort und nahm viele seiner Leute mit.
Hughes fing an, die Stellen mit Leuten zu besetzen, die seine Anweisungen befolgten, und engagierte nur Schauspielerinnen und Schauspieler, die er selbst mochte. Er kaufte ein Drehbuch namens Jet Pilot
und hatte vor, daraus die Höllenflieger
-Version von 1949 zu machen. John Wayne sollte eine Hauptrolle bekommen und der große Josef von Sternberg sollte Regie führen. Nach nur wenigen Wochen konnte Sternberg keinen weiteren Anruf mehr ertragen und kündigte. Hughes übernahm wieder das Sagen. Das Filmprojekt wurde eine genaue Wiederholung der Produktion von Höllenflieger
, der Dreh dauerte vor allem wegen der aufwendigen Luftaufnahmen beinahe drei Jahre, und das Budget stieg auf vier Millionen Dollar. Hughes hatte so viel Filmmaterial gesammelt, dass er sich nicht entscheiden konnte, welche Szenen er weglassen sollte. Es dauerte sechs Jahre bis zur Fertigstellung des Films, sodass die Jet-Szenen völlig veraltet wirkten und Wayne deutlich gealtert war. Der Film verschwand in der Versenkung. Schon bald verlor das einst so vielversprechende Filmstudio erhebliche Summen und als die Aktieninhaber ihren Unmut über das Missmanagement kundtaten, verkaufte Hughes im Jahr 1955 RKO Pictures an die General Tire Company.
In den 1950er und frühen 1960er Jahren beschloss das US-Militär, einige seiner alten Kampfpraktiken zu modernisieren. An Kriegsschauplätzen wie in Vietnam brauchte es Hubschrauber, unter anderem einen leichten Beobachtungshubschrauber, der zu Aufklärungszwecken eingesetzt werden konnte. Die Armee sah sich nach potenziellen Herstellern um und wählte 1961 zwei aus, die die überzeugendsten Anträge eingereicht hatten, lehnte aber den Entwurf der zweiten Hughes’schen Flugzeugfirma ab, die sich aus Hughes Tool entwickelt hatte (die ursprüngliche Version von Hughes Aircraft wurde jetzt völlig unabhängig von Hughes geführt).
Howard Hughes weigerte sich, diesen Rückschlag hinzunehmen. Sein PR-Team startete eine massive Lobbykampagne, hofierte ranghohe Militärs, wie es bereits zwanzig Jahre zuvor mit den Foto-Aufklärungsflugzeugen der Fall gewesen war, und scheute weder Kosten noch Mühen. Die Kampagne war ein Erfolg, und Hughes’ Vorschlag kam mit den beiden anderen in die Endauswahl. Die Armee wollte dem Unternehmen mit dem besten Preis den Zuschlag erteilen.
Der Preis, den Hughes einreichte, überraschte das Militär – er war so niedrig, dass es für die Firma unmöglich schien, mit dem Bau der Hubschrauber Geld zu verdienen. Es war offensichtlich, dass Hughes billigend in Kauf nahm, mit der ersten Produktion Geld zu verlieren, nur um den Auftrag zu erhalten und den Preis dann bei nachfolgenden Bestellungen zu erhöhen. 1965 erteilte das US-Militär Hughes den Auftrag – ein unglaublicher Coup für ein Unternehmen, dem in der Flugzeugbranche bisher so wenig Erfolg beschieden war. Wenn sie gut gebaut waren und pünktlich geliefert wurden, könnte das US-Militär potenziell Tausende von Hubschraubern bestellen, und Hughes könnte dies als Sprungbrett für die Herstellung kommerzieller Hubschrauber nutzen – seinerzeit eine aufstrebende Branche.
Da sich der Vietnamkrieg verschärfte, waren weitere Hubschrauberbestellungen seitens des US-Militärs so gut wie sicher, was Hughes einen Geldsegen bescheren würde. Doch noch während sie auf die Auslieferung der ersten Hubschrauber warteten, gerieten die Auftraggeber in Panik: Die Firma lag weit hinter der Terminfrist, auf die man sich geeinigt hatte, und so wurde eine Untersuchung angeordnet, um der Sache nachzugehen. Zu ihrem größten Entsetzen schien es gar keine organisierte Fertigungsanlage zu geben. Die Fabrik war zu klein, um eine solche Bestellung zu bearbeiten. Die Details waren völlig falsch, die Zeichnungen unprofessionell, die Werkzeuge ungeeignet, und es waren zu wenige Facharbeiter vor Ort. Es war, als hätte die Firma keinerlei Erfahrung, wie man Hubschrauber designt, es schien, als würde man sich dort erst jetzt damit auseinandersetzen. Es war genau dieselbe Situation wie damals bei den Foto-Aufklärungsflugzeugen, an die sich nur einige wenige Militärangehörige erinnern konnten.
Offensichtlich hatte Hughes aus dem früheren Fiasko nichts gelernt. Die Prognose lautete, dass die Hubschrauber nur stockend geliefert werden konnten. In ihrer Verzweiflung beschlossen die Militärs eine neue öffentliche Ausschreibung für die wesentlich größere Bestellung von 2.200 Hubschraubern, die jetzt gebraucht wurden, und hofften, dass eine professionellere Firma mit einem niedrigeren Preis das Rennen machen und Hughes ausstechen würde.
Nun geriet Hughes in Panik. Der Verlust dieses Folgeauftrags bedeutete seinen Ruin. Die Firma hatte sich darauf verlassen, den Preis bei einer Nachbestellung zu erhöhen, um die großen Verluste zu kompensieren, die sie bei der Erstproduktion in Kauf genommen hatte. Das war von Anfang an Hughes’ Strategie gewesen. Wenn er nun für die zusätzlichen Hubschrauber einen niedrigen Preis anbot, konnte er keinen Profit machen, aber wenn sein Angebot nicht niedrig genug war, würde er den Zuschlag nicht erhalten, und genau so kam es auch. Hughes verlor die unvorstellbare Summe von neunzig Millionen Dollar für die Hubschrauber, die er produziert hatte, und dies hatte eine vernichtende Wirkung für die Firma.
1976 starb Howard Hughes bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg von Acapulco nach Houston. Als sein Leichnam obduziert wurde, wurde der Öffentlichkeit erst klar, was im letzten Jahrzehnt seines Lebens mit ihm geschehen war. Hughes war jahrelang von Schmerz- und Betäubungsmitteln abhängig gewesen. Er hatte in hermetisch abgeriegelten Hotelzimmern gelebt, weil er Todesangst vor der kleinsten Kontamination mit Bakterien hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes wog er gerade einmal zweiundvierzig Kilogramm. Er hatte beinahe in völliger Isolation gelebt, war nur von wenigen Assistenten betreut worden und hatte verzweifelt versucht, seinen Zustand vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Es war die ultimative Ironie, dass der Mann, der solch eine furchtbare Angst vor Kontrollverlust hatte, in seinen letzten Lebensjahren einer Handvoll Assistenten und Managern ausgeliefert war, die seinen langsamen Tod durch Medikamente verwalteten und ihm die Kontrolle über seine Firma entzogen.
Interpretation:
Das Muster von Howard Hughes’ Leben wurde
bereits in seiner frühesten Kindheit festgelegt. Seine Mutter war eine ängstliche Frau, und als sie erfuhr, dass sie keine weiteren Kinder haben konnte, verlagerte sie einen Großteil ihrer Ängstlichkeit auf ihren einzigen Sohn. Sie erdrückte ihn mit ihrer ständigen Aufmerksamkeit; sie wurde seine engste Vertraute und ließ ihn fast nie aus den Augen. Hughes Senior hatte große Erwartungen an seinen Sohn, der sein Nachfolger und Stammhalter werden sollte. Seine Eltern bestimmten alles, was er tat: welche Kleidung er trug, welche Speisen er aß und welche Freunde er haben durfte (obwohl es nur wenige gab). Sie schickten ihn von einer Schule zur nächsten und suchten stets nach der perfekten Umgebung für ihren Sohn, der sich als hypersensibler und schwieriger Charakter erwies. Er war von ihnen völlig abhängig, und weil er große Angst hatte, sie zu enttäuschen, wurde er extrem höflich und folgsam.
In Wirklichkeit verabscheute er diese totale Abhängigkeit. Nach dem Tod seiner Eltern kam sein wahrer Charakter schließlich hinter all dem Lächeln und Gehorsam an die Oberfläche. Er empfand keine Zuneigung für seine Verwandten. Er zog es vor, sich alleine der Zukunft zu stellen, statt ihnen auch nur die kleinste Macht über ihn zu geben. Er musste die völlige Kontrolle über sein Schicksal haben, bereits im Alter von neunzehn Jahren; alles andere ließ alte Ängste aus seiner Kindheit aufkommen. Mit dem Geld, das er geerbt hatte, besaß er die Macht, seinen Traum von der vollkommenen Unabhängigkeit zu verwirklichen. Seine Leidenschaft fürs Fliegen spiegelte diese Charaktereigenschaft wider. Nur in der Luft, alleine und am Steuer, spürte er die Euphorie, die uneingeschränkte Kontrolle zu besitzen und frei von seinen Ängsten zu sein. Er konnte über die Menschen hinwegfliegen, die er insgeheim verachtete. Er konnte dem Tod trotzen – was er oft tat –, weil es ein Tod wäre, der in seiner Macht stand.
Sein Charakter zeigte sich noch deutlicher in seinem Führungsstil, den er in Hollywood und seinen anderen geschäftlichen Unternehmungen an den Tag legte. Wenn Autoren, Regisseure oder Manager ihre Ideen vorstellten, betrachtete er dies als persönliche
Infragestellung seiner Autorität. Das ließ alte Ängste der Hilflosigkeit und Abhängigkeit aufkeimen. Um diese Angst zu bekämpfen, musste er die Kontrolle über alle Aspekte seines Unternehmens behalten und selbst die Rechtschreibung und Grammatik jeder noch so unwichtigen Pressemitteilung korrigieren. Er musste in seinen Unternehmen eine sehr lose Struktur schaffen und die Manager dazu bringen, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Solange alles durch seine Hände lief, sollte ihm das interne Chaos recht sein.
Dadurch, dass er versuchte, die vollständige Kontrolle zu erlangen, neigte er paradoxerweise dazu, sie zu verlieren. Ein Einzelner kann nicht alles kontrollieren, und so traten alle möglichen unvorhersehbaren Probleme auf. Sobald Projekte zu scheitern drohten und die Situation brenzlig wurde, tauchte Hughes ab oder wurde praktischerweise krank. Die Obsession, sein Umfeld zu kontrollieren, erstreckte sich auch auf die Frauen, mit denen er liiert war: Er prüfte alles, was sie taten, und ließ sie von Privatdetektiven beschatten.
Das Problem, das Howard Hughes für alle darstellte, die den Entschluss fassten, mit ihm zusammenzuarbeiten, war, dass er ein öffentliches Bild von sich konstruiert hatte, das seine offensichtlichen charakterlichen Schwächen verdeckte. Statt des irrationalen Kontrollfanatikers gelang es ihm, sich als unbeugsamer Individualist und uramerikanischer Haudegen zu inszenieren. Am schädlichsten war seine Fähigkeit, sich als erfolgreicher Geschäftsmann darzustellen, der ein milliardenschweres Imperium leitete. In Wirklichkeit hatte er von seinem Vater ein sehr profitables Werkzeugunternehmen geerbt. Im Laufe der Jahre waren die einzigen Bereiche seines Imperiums, die nennenswerte Profite einbrachten, das Werkzeugunternehmen und eine frühere Version von Hughes Aircraft, die sich aus der Hughes Tools Company entwickelt hatte. Aus verschiedenen Gründen wurden diese beiden Unternehmen völlig unabhängig von Hughes geführt; er hatte keinen Einfluss auf ihre Geschäfte. Die vielen anderen Unternehmen, denen er vorstand – seine spätere Flugzeugabteilung, seine Filmproduktionen, seine Hotels und Immobilien in Las Vegas – verloren Unsummen, die glücklicherweise durch die beiden anderen
Firmen gedeckt werden konnten.
Hughes war ein miserabler Geschäftsmann, und das Muster für das häufige Scheitern, das Zeugnis davon ablegte, war für jeden offensichtlich. Aber das ist der blinde Fleck in der menschlichen Natur: Wir sind schlecht darin, den Charakter der Menschen zu beurteilen, mit denen wir es zu tun haben. Ihr öffentlicher Eindruck, der Ruf, der ihnen vorauseilt, ziehen uns allzu leicht in ihren Bann. Wir lassen uns von Äußerlichkeiten blenden. Wenn Menschen sich, so wie Hughes, mit einem faszinierenden Mythos umgeben, wollen
wir daran glauben. Statt den Charakter einer Person zu bestimmen – etwa ihre Fähigkeit, mit anderen zu kooperieren, ihren Worten Taten folgen zu lassen, sich Widrigkeiten zu stellen –, ziehen wir es vor, mit Menschen zu arbeiten oder Leute einzustellen, die einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen können sowie intelligent und charmant wirken. Doch selbst etwas so Positives wie Intelligenz ist wertlos, wenn die Person einen schwachen oder fragwürdigen Charakter hat. Aufgrund dieses blinden Flecks leiden wir unter zaghaften Anführern, pedantischen Chefs oder intriganten Kompagnons. Das ist die Wurzel endloser Tragödien in der Menschheitsgeschichte – und unser Muster als eine Spezies.
Sie müssen um jeden Preis Ihre Perspektive verändern. Lernen Sie, die Fassade zu ignorieren, die Menschen zeigen, den Mythos, der sie umgibt, und blicken Sie in die Tiefe, suchen Sie nach Zeichen für ihren wahren Charakter. Dieser lässt sich an den Mustern ablesen, die sie in der Vergangenheit gezeigt haben, an der Qualität ihrer Entscheidungen, daran, wie sie Probleme zu lösen versuchen, wie sie Autorität delegieren und mit anderen zusammenarbeiten, und an zahlreichen anderen Zeichen.
Eine Person mit einem starken Charakter ist wie Gold: selten, aber wertvoll. Sie kann sich anpassen, lernen und sich verbessern. Weil Ihr Erfolg von den Menschen abhängt, mit denen Sie zusammenarbeiten und für die Sie arbeiten, sollten Sie deren Charakter in den Mittelpunkt Ihres Fokus stellen. Auf diese Weise können Sie verhindern, ihren wahren Charakter erst dann zu entdecken, wenn es bereits zu spät ist.
Charakter ist Schicksal.
Heraklit
Schlüssel zur menschlichen Natur
Jahrtausendelang glaubten wir an das Schicksal: eine Kraft – Geister, Götter oder Gott –, die uns zwingt, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Bei der Geburt ist unser Leben im Voraus festgelegt; das Schicksal hat vorherbestimmt, ob wir erfolgreich sein oder scheitern werden. Heutzutage sehen wir die Welt überwiegend anders. Wir sind davon überzeugt, dass wir größtenteils steuern, was mit uns passiert, dass wir unser eigenes Schicksal erschaffen. Gelegentlich haben wir vielleicht ein Gefühl, das dem entspricht, was unsere Vorfahren gefühlt haben müssen. Vielleicht zerbricht eine persönliche Beziehung oder unsere berufliche Laufbahn steht an einem Wendepunkt, und diese Schwierigkeiten haben eine frappierende Ähnlichkeit zu Episoden, die uns in der Vergangenheit passiert sind. Oder wir erkennen, dass unser Arbeitsansatz für ein Projekt verbessert werden muss; wir könnten die Dinge besser machen. Wir versuchen, unsere Methoden zu verändern, nur um uns selbst dabei zu ertappen, wie wir die Dinge ganz genauso machen wie sonst auch, und dabei freilich dieselben Ergebnisse erzielen. Wir haben für einen Augenblick das Gefühl, dass eine bösartige Kraft, irgendein Fluch, uns dazu zwingt, dieselben Situationen wieder und wieder zu durchleben.
Wir erkennen dieses Phänomen oft deutlicher bei anderen, vor allem bei jenen, die uns nahestehen. Wir erleben zum Beispiel immer wieder, wie unsere Freunde sich in die falsche Person verlieben oder unbewusst die richtige Person von sich stoßen. Wir verstehen ihr törichtes Verhalten nicht, beispielsweise eine schlecht durchdachte Investition oder berufliche Entscheidung, die sie einige Jahre später wiederholen, wenn sie die alte Lektion vergessen haben. Oder wir kennen jemanden, der es immer wieder schafft, die falsche Person zur falschen Zeit vor den Kopf zu stoßen und sich mit jedem anzulegen. Oder jemand bricht immer auf dieselbe Weise unter Druck ein und gibt anderen oder dem Schicksal die Schuld für das, was passiert. Und
natürlich kennen wir alle die Abhängigen, die ihre Sucht überwinden, aber dann doch wieder rückfällig werden oder eine neue Sucht entwickeln. Wir sehen diese Muster, die anderen aber nicht, weil niemand gerne glaubt, von einem Zwangsverhalten gesteuert zu werden, das man selbst nicht unter Kontrolle hat. Dieser Gedanke wäre schlichtweg zu verstörend.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir aber zugeben, dass das Konzept des Schicksals nicht ganz verkehrt ist. Wir neigen dazu, immer wieder dieselben Entscheidungen zu treffen und Methoden zu verwenden, wenn wir mit Problemen umgehen. Es gibt ein Muster in unserem Leben, das sich vor allem in unseren Fehlern und unserem Scheitern bemerkbar macht. Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit, dieses Konzept zu betrachten: Es sind keine Geister oder Götter, die uns kontrollieren, sondern unser Charakter
. Das Wort »Charakter« stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet ein Gravur- oder Stempelwerkzeug. Charakter ist somit etwas, das tief in uns verwurzelt oder eingeprägt ist und uns dazu zwingt, auf eine Weise zu handeln, die jenseits unseres Bewusstseins und unserer Kontrolle liegt. Wir können uns diesen Charakter als aus drei Schichten bestehend vorstellen, die übereinander angeordnet sind und ihm Tiefe verleihen.
Die früheste und tiefste Schicht stammt aus den Erbanlagen, aus der besonderen Art, wie unser Gehirn vernetzt ist, was uns zu bestimmten Stimmungen und Präferenzen prädisponiert. Diese genetische Komponente kann einige Menschen zum Beispiel anfällig für Depressionen machen. Sie macht einige Menschen introvertiert, andere extrovertiert. Sie kann manche auch dazu veranlassen, besonders gierig zu sein – nach Aufmerksamkeit, Privilegien oder Besitz. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein, die Kleinkinder untersuchte, glaubt, dass Kinder, die gierig sind und nach Dingen greifen, mit dieser Charaktereigenschaft auf die Welt kommen. Es gibt möglicherweise auch andere genetische Faktoren, die unsere Neigung zu Feindseligkeit, Nervosität oder Aufgeschlossenheit begünstigen.
Die zweite Schicht, die darüber liegt, kommt aus unseren frühesten Jahren und damit aus der besonderen Art der Bindung, die wir mit
unserer Mutter und anderen Pflegern eingehen. In den ersten drei oder vier Jahren ist unser Gehirn besonders formbar. Wir erleben Emotionen viel intensiver, bilden Erinnerungsbahnen, die wesentlich tiefer sind als alles andere, was danach entsteht. In dieser Lebensphase sind wir besonders anfällig für den Einfluss anderer, und der Stempel aus diesen Jahren prägt sich besonders tief ein.
Der Anthropologe und Psychoanalytiker John Bowlby erforschte Bindungsmuster zwischen Müttern und Kindern und legte vier Grundschemata fest: frei-autonom, ablehnend, verstrickt-ambivalent
und desorganisiert.
Der frei-autonome Stempel kommt von Müttern, die ihren Kindern die Freiheit geben, sich selbst zu entdecken, die dauerhaft auf ihre Bedürfnisse achten, sie aber auch beschützen. Ablehnende Mütter sind oft distanziert, manchmal sogar feindselig und abweisend. Solchen Kindern wird das Gefühl des Verlassenwerdens aufgeprägt und der Gedanke, dass sie ständig auf sich allein gestellt sind. Verstrickt-ambivalente Mütter sind hinsichtlich ihrer Aufmerksamkeit nicht konsistent: Manchmal sind sie erdrückend und übertrieben präsent, bei anderer Gelegenheit distanziert, weil sie ihre eigenen Probleme und Ängste haben. Sie können ihren Kindern das Gefühl geben, als müssten sie sich um die Person kümmern, die sich eigentlich um sie kümmern müsste. Desorganisierte Mütter vermitteln ihren Kindern extrem widersprüchliche Signale, die ihr eigenes inneres Chaos und vielleicht frühe emotionale Traumata widerspiegeln. Nichts, was ihre Kinder tun, ist jemals richtig, und angesichts dieser ständigen Kritik können solche Kinder gravierende emotionale Probleme entwickeln.
Es gibt natürlich viele Abstufungen innerhalb jedes Typus und seiner Kombinationen, aber in jedem Fall wird die Qualität der Bindung, die wir in unseren frühesten Jahren hatten, tiefe Spuren in uns hinterlassen, vor allem hinsichtlich der Art und Weise, wie wir Beziehungen nutzen, um mit Stress umzugehen oder ihn zu modulieren. Kinder einer ablehnenden Mutter neigen zum Beispiel dazu, jede Art von negativer emotionaler Situation zu vermeiden und sich gegen Gefühle der Abhängigkeit abschotten. Es fällt ihnen vielleicht schwerer,
sich auf eine Beziehung einzulassen, oder sie stoßen andere Menschen unbewusst von sich. Die Kinder einer verstrickt-ambivalenten Mutter erleben in Beziehungen viele Ängste und widersprüchliche Gefühle. Sie sind anderen Menschen gegenüber immer ambivalent, und das wird in ihrem Leben ein klar erkennbares Muster haben, indem sie den Kontakt zu Menschen suchen und sich dann unbewusst zurückziehen.
Aus diesen frühesten Jahren stammt eine besondere charakterliche Färbung: feindselig und aggressiv, sicher und zuversichtlich, ängstlich und vermeidend, bedürftig und verstrickend. Diese beiden Schichten sind so tief, dass wir kein echtes Bewusstsein für sie und das Verhalten haben, zu dem sie führen – außer wir unternehmen große Anstrengungen, um uns selbst zu erforschen.
Darüber bildet sich mit der Zeit aus unseren Gewohnheiten und Erfahrungen eine dritte Schicht. Auf der Grundlage der ersten beiden Schichten neigen wir dazu, uns auf bestimmte Strategien zu verlassen, um Stress zu bewältigen, Befriedigung zu finden oder mit Menschen umzugehen. Diese Strategien werden Gewohnheiten, die sich in unserer Jugend festigen. Abhängig von den Leuten, mit denen wir es zu tun haben – Freunde, Lehrer, Liebespartner – und wie sie auf uns reagieren, gibt es Modifikationen der besonderen Natur unseres Charakters. Doch im Allgemeinen bilden diese drei Ebenen bestimmte erkennbare Muster heraus: Wir treffen eine bestimmte Entscheidung, die neurologisch in unser Gehirn eingeprägt wird. Wir sind gezwungen, dieses Muster zu wiederholen, weil der Pfad bereits angelegt ist. Es wird eine Gewohnheit und unser Charakter wird aus diesen Tausenden von Gewohnheiten gebildet, wobei die frühesten festgelegt werden, bevor wir uns ihrer überhaupt bewusst sind.
Es gibt aber noch eine vierte Ebene. Sie entwickelt sich oft in der späten Kindheit und Jugend, während wir uns unserer charakterlichen Schwächen bewusst werden. Wir tun, was in unserer Macht steht, um sie zu verdecken. Wenn jemand tief in sich spürt, dass er ängstlich und nervös ist, erkennt er, dass es sich dabei um keine sozial hochgeschätzte Eigenschaft handelt. Er lernt daher, sie hinter einer Fassade zu verbergen. Er kompensiert sein Defizit, indem er versucht,
besonders aufgeschlossen, sorglos oder sogar dominant zu wirken. Dadurch fällt es anderen umso schwerer, seinen wahren Charakter zu erkennen.
Manche Charaktereigenschaften können positiv sein und innere Stärke widerspiegeln. Manche Menschen sind etwa von Natur aus eher großzügig und aufgeschlossen, empathisch und resilient. Doch diese stärkeren, flexibleren Eigenschaften erfordern oft ein Bewusstsein und Übung, um Gewohnheiten zu werden, auf die man sich wirklich verlassen kann. Wenn wir älter werden, schwächt uns das Leben. Es wird schwerer, empathisch zu bleiben (siehe Kapitel 2). Wenn wir reflexiv großzügig und all jenen gegenüber aufgeschlossen sind, die uns begegnen, können wir uns eine Menge Ärger einhandeln. Selbstbewusstsein ohne Selbstreflexion und Kontrolle kann sich leicht in Selbstüberschätzung verwandeln.
Ohne bewusste Anstrengung werden diese Stärken schwächer oder verwandeln sich in eine Schwäche. Das bedeutet, dass die schwächsten Teile unseres Charakters jene sind, die Gewohnheiten und Zwangsverhalten schaffen, weil sie auch ohne Anstrengung und Übung erhalten bleiben.
Schließlich können wir konfligierende Charaktermerkmale entwickeln, die vielleicht aus einem Unterschied zwischen unseren genetischen Prädispositionen und unseren frühesten Einflüssen herrühren, oder von Eltern, die uns unterschiedliche Werte eingeprägt haben. Wir sind vielleicht sowohl idealistisch als auch materialistisch eingestellt, und diese beiden Teile kämpfen in uns. Das Gesetz bleibt gleich: Der innerlich zerrissene Charakter, der sich in den frühesten Jahren entwickelt, offenbart vielleicht ein anderes Muster und trifft Entscheidungen, die unsere Ambivalenz widerspiegeln oder die hin und her pendeln.
Unser Studium der menschlichen Natur besteht in diesem Zusammenhang aus zwei Aufgaben: Zuerst müssen Sie Ihren eigenen Charakter verstehen und zum einen die Elemente aus Ihrer Vergangenheit untersuchen, die dazu beigetragen haben, und zum anderen die Muster – vor allem die negativen –, die sich in Ihrem
Leben immer wieder abzeichnen. Es ist unmöglich, den Stempel loszuwerden, der Ihren Charakter ausmacht; er geht zu tief. Doch Sie können lernen, bewusst bestimmte negative Muster abzubauen oder anzuhalten. Sie können darauf hinarbeiten, die negativen und schwachen Aspekte Ihres Charakters in echte Stärken zu verwandeln. Sie können versuchen, neue Gewohnheiten und Muster zu schaffen, die durch Übung Ihre Stärken festigen und Ihren Charakter und Ihr Schicksal aktiv formen, das damit einhergeht (mehr dazu im letzten Abschnitt dieses Kapitels).
Zweitens müssen Sie die Fähigkeit entwickeln, den Charakter der Menschen zu lesen, mit denen Sie zu tun haben. Wenn es darum geht, sich für einen Geschäfts- oder Liebespartner zu entscheiden, müssen Sie seinen Charakter als wichtigstes Gut betrachten. Das bedeutet, dass Sie diesen Aspekt höher gewichten als den Charme, die Intelligenz oder den Ruf der Person. Die Fähigkeit, den Charakter einer Person zu beobachten, der sich in ihren Handlungen und Mustern zeigt, ist eine entscheidende soziale Fähigkeit. Sie kann Ihnen auch dabei helfen, genau jene Arten von Entscheidungen zu vermeiden, die jahrelanges Unglück herbeiführen, etwa sich auf einen inkompetenten Anführer einzulassen, einen zwielichtigen Partner, einen intriganten Assistenten oder einen inkompatiblen Ehepartner, der Ihr Leben vergiften kann.
Es ist eine Fähigkeit, die Sie bewusst entwickeln müssen, weil wir Menschen in der Regel falschliegen, wenn wir solche Beurteilungen abgeben. Unser größter Fehler besteht darin, dass wir dazu neigen, unser Urteil über Menschen darauf zu stützen, was am auffälligsten ist. Doch wie bereits erwähnt, neigen Menschen dazu, ihre Schwächen zu verdecken, indem sie sie als etwas Positives darstellen. Wir sehen, dass jemand vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, nur um später festzustellen, dass er eigentlich arrogant ist und nicht zuhören kann. Er scheint aufgeschlossen und ehrlich zu sein, aber wir erkennen mit der Zeit, dass er rüpelhaft ist und sich nicht um die Gefühle anderer schert. Oder er scheint umsichtig und nachdenklich zu sein, aber wir erkennen mit der Zeit, dass er ängstlich ist und sich vor jeder noch so kleinen Kritik fürchtet. Menschen sind ziemlich geschickt darin, Illusionen zu
erzeugen, auf die wir hereinfallen. Ähnlich schmeicheln uns andere mit ihrem Charme und ihren Komplimenten, und weil wir von unserem Wunsch geblendet werden, sie zu mögen, sind wir unfähig, tiefer zu blicken und ihre charakterlichen Schwächen zu erkennen.
In diesem Zusammenhang gilt: Wenn wir Leute betrachten, sehen wir in Wirklichkeit oft nur ihren Ruf, den Mythos, der sie umgibt, den Posten, den sie einnehmen, und nicht die Person an sich. Wir glauben, dass jemand, der erfolgreich ist, von Natur aus großzügig, intelligent und gut sein muss, und alles verdient, was er besitzt. Doch es gibt die unterschiedlichsten Menschen, die alle auf verschiedenen Wegen erfolgreich geworden sind. Manche sind Meister darin, andere zu benutzen, um in ihrer Karriere voranzukommen und ihre eigene Inkompetenz zu maskieren. Manche sind Meister der Manipulation. Erfolgreiche Menschen haben nicht mehr oder weniger Charakterschwächen als jeder andere. Außerdem neigen wir zu der Annahme, dass jemand, der einer bestimmten Religion oder Partei angehört oder bestimmte Moralvorstellungen hat, einen Charakter hat, der seinen Überzeugungen entspricht – dabei bringen die Menschen ihren Charakter in die Position, die sie belegen, oder in die Religion, die sie ausüben, mit ein. Jemand kann ein progressiver Liberaler oder ein überzeugter Christ und trotzdem in seinem tiefsten Inneren ein intoleranter Tyrann sein.
Um den wahren Charakter einer Person zu analysieren, ist es daher der erste Schritt, sich diese Illusionen und Fassaden bewusst zu machen und zu lernen, sie zu durchschauen. Ungeachtet des Eindrucks, den jemand nach außen projiziert, oder des Postens, den er bekleidet, müssen wir nach Anzeichen für seinen wahren Charakter suchen. Wenn wir uns diesen Grundansatz vor Augen halten, können wir an mehreren Schlüsselkomponenten für diese Fähigkeit arbeiten: das Erkennen bestimmter Signale, die Menschen in bestimmten Situationen aussenden und ein eindeutiger Hinweis auf ihren Charakter sind, das Verständnis einiger allgemeiner Kategorien, in die sich Menschen einordnen lassen (zum Beispiel starker oder schwacher Charakter), und schließlich das Bewusstsein für bestimmte Charaktertypen, die
besonders toxisch sind und möglichst gemieden werden sollten.
Charaktersignale
Der deutlichste Indikator für den Charakter einer Person sind die Handlungen, die sie in der Vergangenheit begangen hat. Ganz gleich ob jemand behauptet, dass er (so wie Howard Hughes) seine Lektion gelernt und sich im Laufe der Jahre verändert hat, werden Sie unweigerlich dieselben Handlungen und Entscheidungen bemerken, die sie kontinuierlich wiederholen. Diese Entscheidungen offenbaren ihren wahren Charakter. Achten Sie auf alle auffälligen Verhaltensweisen: der Rückzug, wenn der Stress zu groß wird, der Abbruch einer wichtigen Arbeit, eine aggressive Reaktion, wenn jemand auf die Probe gestellt wird, oder – umgekehrt – die mutige Auseinandersetzung mit einem Problem, für das jemand die Verantwortung trägt. Anhand dessen erforschen Sie die Vergangenheit der Person. Betrachten Sie rückblickend Handlungen, die Sie beobachtet haben und die dem Muster entsprechen. Achten Sie auch genau auf das, was die Person in der Gegenwart tut. Sehen Sie ihre Handlungen nicht als isolierte Einzelfälle, sondern als Teile eines zwanghaften Musters. Wenn Sie das Muster ignorieren, ist es Ihre Schuld. Halten Sie sich immer das primäre Korrelat dieses Gesetzes vor Augen: Menschen tun nie etwas nur einmal. Sie erfinden vielleicht Ausreden und sagen, dass sie für einen kurzen Augenblick den Kopf verloren haben, aber Sie können sich sicher sein, dass sie dieselbe Dummheit, die sie bei anderer Gelegenheit begangen haben, aufgrund ihres Charakters und ihrer Gewohnheiten wiederholen werden. Sie werden die Handlungen oft sogar auch dann wiederholen, wenn sie ihnen schaden – was die zwanghafte Natur ihrer Schwächen offenbart.
Cassius Severus war ein berüchtigter Anwalt und Redner, der während der Regierungszeit des römischen Kaisers Augustus lebte. Er erlangte erste Aufmerksamkeit mit seinen glühenden Reden, in denen er hochrangige Römer wegen ihres ausschweifenden Lebensstils kritisierte. Er scharte eine Anhängerschaft um sich. Sein Stil war
schwülstig, aber voller Humor, und er gefiel dem Publikum. Ermuntert durch die Aufmerksamkeit, die er erhielt, begann er, andere Würdenträger zu kritisieren und dabei den Ton seiner Angriffe zunehmend zu verschärfen. Die Behörden warnten ihn und sagten, er solle damit aufhören. Die Neuartigkeit seiner Reden verblasste und das Publikum ließ nach, was dazu führte, dass Severus sich umso stärker darum bemühte, die Gunst der Öffentlichkeit wiederzuerlangen.
Schließlich hatten die Machthaber genug – im Jahr 7 n. Chr. ordneten sie die Verbrennung seiner Bücher an und verbannten Cassius Severus auf die Insel Kreta. Zum Leidwesen der römischen Behörden setzte er jedoch auf Kreta seine Hetzkampagne fort und ließ Kopien seiner neuesten Machwerke nach Rom schicken. Sie warnten ihn erneut. Er ignorierte diese Warnungen nicht nur, sondern fing auch noch an, die kretischen Machthaber zu provozieren und zu beleidigen, die ihn töten wollten. 24 n. Chr. verbannten diese ihn auf den unbewohnten Felsen von Serifos mitten in der Ägäis. Dort verbrachte Cassius Severus die letzten acht Jahre seines Lebens, und es ist anzunehmen, dass er damals weitere beleidigende Reden schrieb, die aber niemand jemals zu hören bekam.
Es ist schwer vorstellbar, dass Menschen dermaßen selbstzerstörerische Tendenzen nicht kontrollieren können, und wir wollen ihnen die Dinge günstig auslegen, wie die Römer es taten. Aber wir müssen uns an die weisen Bibelworte erinnern: »Wie ein Hund, der zu seinem Erbrochenen zurückkehrt, so ist ein Dummer, der seine Torheit wiederholt.«
Sie können den Charakter eines Menschen daran erkennen, wie er seinen Alltag managt. Wenn er einfache Aufgaben immer zu spät erledigt, wird er auch größere Projekte zu spät erledigen. Wenn kleine Unannehmlichkeiten ihn aus der Bahn werfen, wird er bei größeren Hindernissen zusammenbrechen. Wenn er schon kleine Dinge vergisst und nicht auf Details achtet, wird er auch bei wichtigen Dingen nicht anders sein. Beobachten Sie, wie er Angestellte in alltäglichen Situationen behandelt, und registrieren Sie Diskrepanzen zwischen der Persona, die er nach außen verkörpert, und seiner Einstellung
gegenüber Untergebenen.
Im Jahr 1969 fuhr Jeb Magruder
*
zu einem Bewerbungsgespräch für einen Posten in der Nixon-Administration nach San Clemente. Der Mann, der das Gespräch führte, war Stabschef Bob Haldeman. Haldeman war ein anständiger Mann, der komplett hinter Nixons Politik stand, und beeindruckte Magruder mit seiner Ehrlichkeit, seinem Scharfsinn und seiner Intelligenz. Doch als sie nach dem Gespräch einen Golfwagen suchten, um eine Tour durch San Clemente zu machen, wurde Haldeman plötzlich panisch: Es waren keine Wagen verfügbar. Er schimpfte über diejenigen, die für die Wagen verantwortlich waren, und sein Ton war beleidigend und barsch. Er war beinahe hysterisch. Magruder hätte diesen Vorfall als Zeichen werten sollen, dass Haldeman nicht der war, der er vorgab zu sein, dass er einen Kontrollzwang hatte und boshaft war. Doch weil er sich von der Aura der Macht in San Clemente verführen ließ und den Job unbedingt haben wollte, beschloss er, über diese unschöne Szene hinwegzusehen – was er später bitter bereuen sollte.
Im Alltag schaffen es Menschen oft, ihre Charakterschwächen zu verbergen, aber unter Stress oder in einer Krise können diese Makel plötzlich sehr offensichtlich hervortreten. Wer unter Stress steht, verliert vielleicht die Selbstbeherrschung, er offenbart Unsicherheiten bezüglich seines Rufs, Versagensängste und einen Mangel an innerer Resilienz. Manche Menschen hingegen sind der Lage gewachsen und demonstrieren starke Nerven, wenn die Situation brenzlig wird. Das zeigt sich erst im Ernstfall, aber Sie müssen in solchen Momenten besonders aufmerksam sein.
In ähnlicher Weise gilt: Die Art und Weise, wie Menschen mit Macht und Verantwortung umzugehen pflegen, sagt viel über sie aus. Wie Lincoln einst sagte: »Wenn Sie den Charakter eines Mannes testen wollen, geben Sie ihm Macht.« Auf dem Weg zur Macht neigen die meisten Menschen dazu, den ehrerbietigen Höfling zu spielen, der der Parteilinie folgt und alles tut, was nötig ist, um Karriere zu machen. Sobald sie aber an der Spitze stehen, gibt es weniger Einschränkungen, und sie werden oft etwas über sich offenbaren, das bislang unbemerkt
geblieben ist. Manche Menschen bleiben nach dem Aufstieg an die Macht ihren alten Werten treu, sind weiterhin respektvoll und empathisch. Wesentlich mehr Menschen hingegen haben in dieser Situation plötzlich den Eindruck, dass es ihnen zustehe, ihre Mitmenschen ab sofort anders zu behandeln.
Das passierte bei Lyndon B. Johnson, nachdem er als Mehrheitsführer des US-Senats eine Position ultimativer Sicherheit erlangt hatte. Er war es leid, so viele Jahre den perfekten Höfling gespielt zu haben, und genoss die Macht, die er nun innehatte, um all jene zu provozieren oder zu demütigen, mit denen er in der Vergangenheit die Klinge gekreuzt hatte. Begegnete er einem solchen Senator, sprach er beispielsweise demonstrativ nur mit dessen Assistenten. Oder er stand auf und verließ den Saal, wenn ein Senator, den er nicht mochte, eine wichtige Rede hielt – was dazu führte, dass andere Senatoren ebenfalls aufstanden und gingen.
Im Allgemeinen gibt es in der Vergangenheit immer Anzeichen für diese Charaktermerkmale, wenn man genau genug hinsieht (Lyndon B. Johnson hatte schon zu Beginn seiner politischen Karriere seine unangenehmen Charakterzüge erkennen lassen). Aber was viel wichtiger ist: Sie müssen darauf achten, was die Leute offenbaren, sobald sie an der Macht sind. Wir denken oft, dass Macht die Menschen verändert, doch in Wirklichkeit offenbaren sie erst dann ihr wahres Selbst.
Die Wahl eines Ehepartners oder Lebensgefährten sagt auch viel über einen Menschen aus. Manche wünschen sich einen Partner, den sie dominieren und kontrollieren können, vielleicht jemanden, der jünger, weniger intelligent oder weniger erfolgreich ist. Manche wählen einen Partner, den sie aus einer misslichen Lage befreien können, und spielen die Rolle des Heilsbringers – was eine andere Form der Kontrollausübung ist. Wieder andere suchen jemanden, der für sie die Rolle der Mutter oder des Vaters übernimmt, und wollen verwöhnt werden.
Diese Entscheidungen werden selten auf einer intellektuellen, bewussten Ebene getroffen, sondern spiegeln die frühesten Jahre der
betreffenden Person und ihre Bindungsschemata wider. Sie überraschen uns manchmal, vor allem wenn sie einen Partner wählen, der sehr anders und von außen betrachtet inkompatibel zu sein scheint, aber es gibt immer eine interne Logik für diese Entscheidungen. Wer beispielsweise große Angst davor hat, von dem Menschen, den er liebt, verlassen zu werden, was Ängste aus der Säuglingszeit widerspiegelt, wählt eher eine Person, die ihm in Sachen Aussehen oder Intelligenz erkennbar unterlegen ist, weil er denkt, dass sich diese Person niemals von ihm trennen würde.
Ein anderer Bereich, den wir ebenfalls berücksichtigen sollten, ist, wie sich Menschen in ihrer Freizeit verhalten. Im Spiel oder beim Sport zeigt sich vielleicht ein Ehrgeiz, den sie nicht abschalten können. Sie haben Angst davor, überholt zu werden, selbst wenn es im Straßenverkehr ist. Sie müssen an erster Stelle sein – immer. Sie können diesen Hang nutzbringend auf ihre Arbeit richten, aber in der Freizeit offenbart dieses Verhalten große Unsicherheit. Beobachten Sie, was Leute tun, wenn sie bei einem Spiel verlieren. Sind sie gute Verlierer? Ihre Körpersprache wird in dieser Hinsicht viel verraten. Versuchen sie alles, was in ihrer Macht steht, um die Regeln zu umgehen oder zu ihren Gunsten auszulegen? Wollen sie in solchen Augenblicken die Arbeit ruhen lassen und sich entspannen, oder wollen sie sich auch in diesem Bereich profilieren?
Es gibt introvertierte oder extrovertierte Menschen, und dies spielt für den Charakter, den sie entwickeln, eine große Rolle. Extrovertierte werden größtenteils durch äußere Kriterien gelenkt. Die Frage, die sie beherrscht, ist: »Was denken andere über mich?« Sie neigen dazu, das zu mögen, was andere mögen, und sich hinsichtlich ihrer Meinungen von den Gruppen bestimmen zu lassen, denen sie angehören. Sie sind anfällig für Suggestionen und neue Ideen, aber nur wenn sie kulturell angesagt sind oder von einer Autorität unterstützt werden, die sie respektieren. Extrovertierte schätzen äußerliche Dinge: gute Kleidung, hervorragende Mahlzeiten, Unterhaltung im Beisein anderer. Sie suchen nach neuen und neuartigen Empfindungen und haben einen guten Riecher für Trends. Sie fühlen sich in einer hektischen, lauten
Umgebung nicht nur wohl, sie suchen diese sogar aktiv auf. Wenn sie wagemutig sind, lieben sie den Nervenkitzel. Wenn sie nicht so wagemutig sind, schätzen sie kleine Annehmlichkeiten. Sie streben in jedem Fall nach Anregung und Aufmerksamkeit von anderen.
Introvertierte sind sensibler und erschöpfen sich schnell bei zu viel äußerer Aktivität. Sie konservieren gerne ihre Energie, verbringen Zeit alleine oder mit ein oder zwei guten Freunden. Im Gegensatz zu Extrovertierten, die Tatsachen und Statistiken um ihrer selbst willen mögen, sind Introvertierte an ihren eigenen Meinungen und Gefühlen interessiert. Sie theoretisieren gerne und entwickeln ihre eigenen Ideen. Wenn sie etwas erschaffen, bewerben sie es nicht gerne; sie finden ein solches Verhalten stillos. Was sie erschaffen, soll sich von selbst verkaufen. Sie behalten einen Teil ihres Lebens gerne für sich, haben Geheimnisse. Ihre Meinungen kommen nicht von dem, was andere denken, oder von einer Autorität, sondern aus ihren inneren Kriterien – zumindest denken sie das. Je größer die Menge, in der sie sich aufhalten, umso verlorener und einsamer fühlen sie sich. Sie können unbeholfen und misstrauisch wirken und fühlen sich unwohl, wenn sie im Mittelpunkt stehen. Sie neigen auch dazu, pessimistischer zu sein und sich mehr Sorgen zu machen als der durchschnittliche Extrovertierte. Ihr Wagemut äußert sich in den neuartigen Ideen, die sie entwickeln, und in ihrer Kreativität.
Sie werden vielleicht Anzeichen für beides bei anderen oder sich selbst bemerken, aber im Allgemeinen tendiert jeder von uns in die eine oder andere Richtung. Es gibt einen einfachen Grund, warum es so wichtig ist, dies bei anderen zu messen: Introvertierte und Extrovertierte kommen von Natur aus nicht gut miteinander zurecht. Für den Extrovertierten ist der Introvertierte dröge, stur, vielleicht sogar unsozial. Für den Introvertierten ist der Extrovertierte oberflächlich, sprunghaft und zu sehr damit beschäftigt, was andere Leute denken. Die Zuordnung zu einer dieser Gruppen ist normalerweise genetisch bedingt und sorgt dafür, dass zwei Menschen denselben Sachverhalt in einem völlig anderen Licht sehen.
Sobald Sie verstehen, dass Sie es mit jemandem zu tun haben, der der
anderen Fraktion angehört, müssen Sie dessen Charakter neu bewerten und dürfen ihm Ihre eigenen Präferenzen auf keinen Fall aufzwängen. Manchmal können Introvertierte und Extrovertierte gut zusammenarbeiten, vor allem wenn sie eine Mischung beider Qualitäten haben und sich gegenseitig ergänzen, aber meistens kommen sie nicht besonders gut miteinander aus und neigen dazu, sich falsch zu verstehen. Bedenken Sie dabei, dass es grundsätzlich mehr Extrovertierte als Introvertierte auf der Welt gibt.
Letzten Endes ist es entscheidend, die relative Charakterstärke eines Menschen zu messen. Stellen Sie es sich folgendermaßen vor: Diese Stärke kommt tief aus dem Inneren der Person. Sie könnte von einer Mischung bestimmter Faktoren herrühren – genetische Veranlagung, ein stabiles Elternhaus, gute Mentoren und ständige Verbesserung (mehr dazu im letzten Abschnitt dieses Kapitels). Was auch immer der Grund ist, diese Kraft ist nichts, was äußerlich zur Schau gestellt wird, etwa in Form von Wutanfällen und anderen Ausdrucksformen der Aggression, sondern sie manifestiert sich in der allgemeinen Resilienz und Anpassungsfähigkeit eines Menschen.
Ein starker Charakter hat dieselben Eigenschaften wie ein gutes Stück Metall: Er ist bis zu einem gewissen Grad biegsam und gibt nach, behält aber trotzdem seine Form und zerbricht nicht. Diese Stärke entspringt einem Gefühl der persönlichen Sicherheit und des Selbstwerts. Damit fällt es solchen Menschen leicht, Kritik anzunehmen und aus ihren Erfahrungen zu lernen. Das bedeutet, dass sie nicht so leicht aufgeben, weil sie dazulernen und sich verbessern wollen. Und sie sind sehr beharrlich. Menschen mit einem starken Charakter sind offen für neue Ideen und Methoden, ohne die Grundprinzipien zu kompromittieren, die ihnen wichtig sind. Unter widrigen Umständen bleiben sie geistesgegenwärtig. Sie können Chaos und unberechenbare Bedingungen ertragen, ohne nervös zu werden. Sie halten Wort. Sie haben Geduld, besitzen Organisationstalent und ziehen alles durch, was sie angefangen haben. Sie machen sich nicht ständig Sorgen über ihren Status, können ihre persönlichen Interessen hinter das Gemeinwohl stellen und wissen, dass das, was für das Team am besten ist, ihr Leben
letztlich vereinfachen und verbessern wird.
Menschen mit einem schwachen Charakter fangen aus der entgegengesetzten Position an: Sie fühlen sich schnell überfordert, sodass sie unzuverlässig wirken. Sie wirken unsicher und ausweichend. Am schlimmsten ist aber, dass sie nicht lernfähig sind, weil Lernen impliziert, von anderen kritisiert zu werden. Das heißt, dass Sie kontinuierlich gegen eine Wand rennen werden, wenn Sie mit solchen Personen zu tun haben. Vielleicht wirkt es so, als würden sie Ihre Anweisungen befolgen, aber sie werden einfach auf das zurückfallen, was sie selbst für richtig halten.
Wir sind alle eine Mischung aus starken und schwachen Eigenschaften, aber bei manchen ist die eine Richtung deutlich stärker ausgeprägt als die andere. Umgeben Sie sich daher beruflich wie privat möglichst mit den starken Charakteren und meiden Sie die schwachen Persönlichkeiten. Das war die Grundlage für alle Investitionsentscheidungen, die Warren Buffett je getroffen hat: Er schaut über die Zahlen hinaus auf die Geschäftsführer, mit denen er zu tun haben wird, und prüft ihre Resilienz, Verlässlichkeit und Eigenverantwortlichkeit. Wir sollten diese Maßstäbe an die Mitarbeiter, die Geschäftspartner und selbst die Politiker ansetzen, die wir wählen.
Obwohl es in intimen Beziehungen andere Faktoren gibt, die Ihre Entscheidungen prägen, sollten Sie auch die Charakterstärke Ihres Lebenspartners berücksichtigen. Das war das entscheidende Kriterium, das Franklin D. Roosevelt dazu veranlasste, Eleonor zu heiraten. Als attraktiver, wohlhabender junger Mann hätte er viele andere, hübschere junge Frauen wählen können, aber er bewunderte Eleonors Aufgeschlossenheit und erstaunliche Entschlossenheit. Mit großem Weitblick konnte er erkennen, dass ihre Charakterstärke wichtiger war als alles andere – und das stellte sich als sehr weise Entscheidung heraus.
Um zu beurteilen, ob jemand einen starken oder schwachen Charakter hat, sollten Sie darauf achten, wie die betreffende Person auf Druck reagiert und mit Verantwortung umgeht. Betrachten Sie ihre Muster: Was hat sie tatsächlich abgeschlossen oder erreicht? Sie
können sie auch auf die Probe stellen. Ein harmloser Scherz auf ihre Kosten kann ziemlich aufschlussreich sein. Reagiert die Person gelassen, lässt sie sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen, oder blitzt in ihren Augen sofort Ablehnung oder sogar Wut auf? Um ihre Zuverlässigkeit als Teamplayer zu beurteilen, sollten Sie der Person strategische Informationen verraten oder ein Gerücht erzählen – gibt sie es gleich weiter oder nicht? Hat sie keine Skrupel, fremde Ideen als ihre eigenen zu präsentieren? Kritisieren Sie sie auch direkt. Nimmt sie sich die Kritik zu Herzen, versucht sie daraus zu lernen und sich zu verbessern, oder zeigt sie offene Ablehnung? Geben Sie ihr eine offene Aufgabe mit weniger Hilfestellung als sonst und beobachten Sie, wie sie ihre Gedanken und ihre Zeit organisiert. Fordern Sie sie mit einer schwierigen Aufgabe oder einer neuartigen Methodik heraus und beobachten Sie, wie sie reagiert, wie sie mit ihrer Anspannung umgeht. Bedenken Sie: Ein schwacher Charakter kann alle anderen guten Qualitäten neutralisieren, die eine Person besitzt. Hochintelligente, aber charakterschwache Menschen können gute Ideen haben und ihre Arbeit gut erledigen, aber sie werden unter Druck die Nerven verlieren, empfindlich auf Kritik reagieren, zuerst an ihre eigene Agenda denken, oder sie treiben mit ihrer Arroganz und ihren anderen unangenehmen Eigenschaften andere dazu, das Handtuch zu werfen, wodurch sie dem allgemeinen Umfeld schaden. Sie werden einen hohen Preis zahlen, wenn Sie mit einer solchen Person zusammenarbeiten oder sie einstellen. Jemand, der weniger charmant und intelligent, dafür aber charakterstark ist, wird sich auf lange Sicht als verlässlicher und produktiver erweisen. Menschen von wahrer Stärke sind eine echte Rarität, und wenn Sie sie finden, sollten Sie so reagieren, als hätten Sie einen Schatz gefunden.
Toxische Typen
Obwohl der Charakter jeder Person so einzigartig ist wie ein Fingerabdruck, können wir mit einem Blick auf die Menschheitsgeschichte bestimmte Typen erkennen, die immer wieder
in Erscheinung treten und mit denen sich eine Zusammenarbeit als besonders problematisch erweist. Im Gegensatz zu den offenkundig bösartigen oder manipulativen Charakteren, die man auf Anhieb als solche identifizieren kann, sind diese Typen schwerer auszumachen. Sie schaffen es oft, ihre Schwächen als positive Eigenschaften zu präsentieren. Im Laufe der Zeit sieht man die toxische Natur hinter der Fassade, doch oft ist es dann schon zu spät.
Ihre beste Verteidigung ist es, über diese Typen Bescheid zu wissen und sie schnell zu identifizieren, damit Sie sie von Vornherein meiden oder sich umgehend von ihnen distanzieren können.
Der Hyperperfektionist
Sie werden in seinen Dunstkreis gezogen, weil Sie von seiner Arbeitsmoral und Hingabe beeindruckt sind, kompromisslos beste Qualität zu liefern. Er arbeitet länger als jeder Berufseinsteiger und Praktikant, die in der Firmenhierarchie ganz unten stehen. Ja, er geht vielleicht in die Luft und brüllt seine Untergebenen an, weil sie ihre Arbeit nicht richtig machen, aber das liegt nur daran, dass er die höchsten Standards aufrechterhalten will – und das ist doch im Grunde etwas Gutes. Aber wenn Sie das Pech haben, für oder mit einer solchen Person zu arbeiten, werden Sie bald die Realität erkennen. Solche Zeitgenossen können nicht delegieren; sie mischen sich in alles ein. Es geht weniger um hohe Standards und Teamgeist als vielmehr um Macht und Kontrolle.
Solche Leute haben oft ein Problem damit, sich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu begeben, das ähnlich wie bei Howard Hughes einen biografischen Hintergrund hat. Jedes Gefühl, von jemandem abhängig zu sein, reißt alte Wunden auf und schürt alte Ängste. Sie können niemandem vertrauen. Sobald sie sich umdrehen, glauben sie, dass ihre Mitarbeiter nachlässig und faul werden. Ihr Zwang, jedes noch so kleine Detail kontrollieren zu müssen, stößt zunehmend auf Ablehnung und heimlichen Widerstand – genau das, wovor sie sich am meisten fürchten. Sie stellen fest, dass die Gruppe, der sie vorstehen, nicht sehr gut organisiert ist, weil scheinbar alles
über sie laufen muss. Dies führt zu Chaos und politischen Machtkämpfen, weil die Höflinge sich darum bemühen, dem alles beherrschenden König möglichst nahe zu sein. Hyperperfektionisten haben oft gesundheitliche Probleme, weil sie sich beruflich aufreiben. Sie geben zudem gerne anderen die Schuld für alles, was falsch läuft – kein anderer arbeitet hart genug. Muster des anfänglichen Erfolgs, gefolgt von Burn-out und einem spektakulären Scheitern kennzeichnen sie. Es empfiehlt sich, diesen toxischen Typus zu erkennen, bevor Sie sich auf irgendeiner Ebene zu sehr auf ihn einlassen. Nichts, was Sie tun, wird den Hyperperfektionisten jemals zufriedenstellen, und er wird Sie mit seinen Ängsten, seiner Ausfälligkeit und seinem Kontrollzwang langsam, aber sicher zermürben.
Der schonungslose Rebell
Auf den ersten Blick wirken solche Leute hochinteressant. Sie hassen jede Form von Autorität und stehen auf der Seite der Benachteiligten. Fast jeder fühlt sich insgeheim zu einer solchen Einstellung hingezogen; sie spricht den aufsässigen Jugendlichen in uns an, der dem Lehrer nur allzu gern den Mittelfinger zeigen will. Er erkennt keine Regeln oder Fakten an. Die Einhaltung von Konventionen ist in seinen Augen nur etwas für Schwächlinge und Langweiliger. Diese Typen haben oft einen beißenden Humor, der sich auch gegen Sie richten kann, aber das ist nun einmal ein Teil ihrer Authentizität, ihrem Drang, der selbstgefälligen Bourgeoisie einen Spiegel vorzuhalten – glauben Sie zumindest. Aber wenn Sie mehr mit diesem Typen zu tun haben, werden Sie sehen, dass es etwas ist, das diese Person nicht kontrollieren kann: Es ist ihr Drang, sich überlegen zu fühlen, und nicht etwa eine höhere Moral, der sie folgt.
In seiner Kindheit wurde der Rebell vermutlich von einem Elternteil oder einer Vaterfigur enttäuscht. So entwickelte er Misstrauen und Hass gegen alle, die Macht repräsentieren. Das führt so weit, dass er keine Kritik verträgt, die er als Ausdruck der Unterdrückung wertet. Er lässt sich von niemandem etwas sagen. Alles muss nach seinen Regeln gehen. Wenn Sie einer solchen Person begegnen, werden Sie als
Unterdrücker dargestellt, über den sie sich mit ihrem beißenden Humor lustig macht. Der Rebell erzielt mit dieser aufsässigen Einstellung Aufmerksamkeit und wird bald süchtig danach. Am Schluss geht es nur um Macht – niemand darf über ihm stehen, und jeder, der es wagt, seine Position infrage zu stellen, muss dafür bezahlen. Betrachten Sie seine Vergangenheit genauer: Der Rebell neigt dazu, sich im Streit von anderen zu trennen, meist begleitet von unflätigen Kraftausdrücken. Lassen Sie sich nicht vom Reiz seiner Unangepasstheit blenden. Er ist für immer in der Pubertät gefangen, und eine Kooperation mit ihm ist in etwa so produktiv wie ein Streit mit einem renitenten Teenager.
Der Personalisierer
Dieser Typ erscheint überaus sensibel und rücksichtsvoll – seltene und positive Eigenschaften. Er wirkt vielleicht ein wenig melancholisch, aber sensible Menschen können es im Leben schon schwer haben. Wir fühlen uns zu dieser Melancholie hingezogen und wollen helfen. Der Personalisierer kann auch ziemlich intelligent, fürsorglich und teamfähig erscheinen. Andere erkennen erst später, dass seine Sensibilität nur in eine Richtung geht: einwärts. Er neigt dazu, alles
, was jemand sagt, persönlich zu nehmen. Er neigt auch dazu, nachtragend zu sein und tagelang über Dingen zu brüten, die Sie beiläufig gesagt und längst vergessen haben. In der Kindheit hatte er das nagende Gefühl, niemals genug von seinen Eltern bekommen zu haben – Liebe, Aufmerksamkeit, materielle Dinge. Mit zunehmendem Alter scheint er sich an all das zu erinnern, was er nicht bekommen hat. Er geht mit einem Gefühl der Benachteiligung durchs Leben und will, dass andere ihm etwas geben, ohne dass er danach fragen muss. Er ist ständig wachsam: Schenken Sie ihm auch wirklich genug Aufmerksamkeit, respektieren Sie ihn, und geben Sie ihm das, wofür er bezahlt hat? Weil er reizbar und empfindlich ist, stößt er andere Menschen früher oder später von sich, was ihn noch sensibler macht. Und irgendwann entwickelt er einen Gesichtsausdruck, der permanente Enttäuschung zu signalisieren scheint.
Sie werden erkennen, dass sich dieser Typus oft mit anderen zerstreitet, aber er wird sich immer in der Opferrolle sehen. Beleidigen Sie den Personalisierer niemals versehentlich. Er hat ein gutes Gedächtnis und kann Jahre damit zubringen, Ihnen Ihre vermeintlichen Missetaten vorzuhalten. Wenn Sie diesen Typus früh genug erkennen, meiden Sie ihn am besten, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis er etwas findet, wofür er Ihnen ein schlechtes Gewissen machen kann.
Der Drama-Magnet
Dieser Typus zieht andere mit seiner quirligen, interessanten Präsenz an. Er hat ungewöhnlich viel Energie und kann viele unterhaltsame Anekdoten erzählen. Seine Mimik ist lebhaft und er ist ziemlich wortgewandt. Es ist unterhaltsam, sich in seiner Nähe aufzuhalten – bis das Drama hässlich wird. Als Kind hat er gelernt, dass ihm nur dann Liebe und Aufmerksamkeit zuteilwerden, wenn er seine Eltern in seine Sorgen und Probleme verstrickt. Diese mussten groß genug sein, um sie langfristig emotional zu beschäftigen. Dieses Verhalten wurde zu einer Gewohnheit und zu einer Strategie, um sich lebendig zu fühlen und anerkannt zu werden. Die meisten Menschen scheuen sich vor Konfrontationen jeglicher Art, doch der Drama-Magnet scheint in solchen Situationen regelrecht aufzublühen. Sobald Sie ihn besser kennen, erfahren Sie mehr über die Zankereien und Schlachten in seinem Leben, aber er schafft es immer, sich als Opfer zu inszenieren.
Sie müssen erkennen, dass es sein größtes Bedürfnis ist, Sie an den Haken zu bekommen, und dabei ist ihm jedes Mittel recht. Er wird Sie so sehr in sein Drama verwickeln, dass Sie ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn Sie auf Distanz gehen. Es ist am besten, diesen Typus möglichst früh zu erkennen, bevor Sie sich zu sehr darin verstricken lassen und heruntergezogen werden. Suchen Sie in seiner Vergangenheit nach Beweisen für dieses Muster und ergreifen Sie die Flucht, wenn Sie vermuten, es mit einer solchen Person zu tun zu haben.
Der Aufschneider
Sie sind von den Ideen und Projekten beeindruckt, die ihm vorschweben. Er braucht Hilfe und Unterstützung und Sie sind ihm wohlgesonnen, aber halten Sie dennoch kurz inne und werfen Sie einen Blick in seine Vergangenheit, um zu sehen, ob es handfeste Anzeichen für wahre Errungenschaften oder andere greifbare Leistungen gibt. Denn Sie haben es vielleicht mit jemandem zu tun, der nicht direkt gefährlich ist, sich aber als zermürbender Zeiträuber erweisen kann.
Der Aufschneider ist ambivalent. Einerseits hat er insgeheim Angst vor der Anstrengung und Verantwortung, seine Ideen in die Tat zu setzen, andererseits sehnt er sich nach Aufmerksamkeit und Macht. Diese beiden Seiten widersprechen sich, aber der ängstliche Teil gewinnt letztlich, und er kneift oft im letzten Augenblick. Er denkt sich einen Grund für seinen Ausstieg aus, nachdem Sie Ihre Beteiligung verbindlich zugesagt haben. Er selbst bringt nie etwas zu Ende und neigt dazu, andere dafür verantwortlich zu machen, dass er seine Vision nicht realisieren konnte: die Gesellschaft, diffuse antagonistische Kräfte oder schlichtweg Pech. Oder er sucht sich einen Leichtgläubigen, der für ihn die ganze Arbeit erledigt und seine ungenauen Ideen zu realisieren versucht und auch verantwortlich gemacht wird, wenn das Projekt scheitert.
Der Aufschneider hatte oft Eltern, die inkonsequent waren und ihn für den kleinsten Fehler scharf kritisierten. So wurde es sein erklärtes Lebensziel, Situationen zu vermeiden, in denen er kritisiert oder beurteilt werden könnte. Um seine Unsicherheit in den Griff zu bekommen, lernte er, eloquent zu sein und unterhaltsame Geschichten zu erzählen, aber sobald er zur Rechenschaft gezogen werden soll, ergreift er mit einer plausiblen Ausrede die Flucht. Werfen Sie einen genauen Blick in seine Vergangenheit und suchen Sie nach Anzeichen für dieses Verhalten. Wenn die betreffende Person diesem Typus anzugehören scheint, können Sie sich weiter von ihren Geschichten unterhalten lassen, sollten den Kontakt aber nicht weiter vertiefen.
Der Sexualisierer
Er scheint mit sexueller Energie aufgeladen zu sein, und zwar auf eine erfrischend naive, unverstellte Weise. Er neigt dazu, Arbeit mit Vergnügen zu mischen und die Grenzen zu überschreiten, in denen die Anwendung dieser Energie angemessen ist. Sie denken vielleicht, dass ein solches Verhalten natürlich und gesund sei, aber in Wirklichkeit ist es zwanghaft und negativ behaftet.
In ihren frühesten Jahren waren diese Personen möglicherweise Opfer sexuellen Missbrauchs. Dieser Missbrauch war entweder körperlicher oder psychologischer Natur, zum Beispiel weil sich ein Elternteil zu anzüglichen Blicken oder Berührungen hat hinreißen lassen, die subtil, aber unangemessen waren. Daraufhin wird ein unkontrollierbares Verhaltensmuster angelegt. Dieser Typus neigt dazu, jede Beziehung als potenziell sexuell zu sehen. Sex wird ein Mittel der Selbstbestätigung, und wenn die Person jung ist, lebt sie ihre Sexualität vielleicht mit wechselnden Partnern aus, weil sie feststellt, dass sie andere leicht in ihren Bann ziehen kann. Wenn der Sexualisierer älter wird, können lange Phasen ohne diese Bestätigung zu Depression und Suizidgedanken führen, weshalb sie noch verzweifelter werden. Wenn sie Führungspositionen bekleiden, nutzen sie ihre Macht, um unter dem Vorwand der Natürlichkeit und Unverstelltheit das zu bekommen, was sie wollen. Je älter sie werden, desto peinlicher und besorgniserregender wird dieses Verhalten. Sie können solchen Personen weder helfen noch sie von ihrem Zwang befreien. Das Einzige, was Sie tun können, ist, jede Form der Verstrickung zu vermeiden.
Der Prinz/die Prinzessin
Dieser Typus zieht Sie aufgrund seiner königlichen Aura an. Er wirkt ruhig und bringt damit auf subtile Weise ein Gefühl der Überlegenheit zum Ausdruck. Es ist wohltuend, Menschen zu begegnen, die selbstbewusst wirken und scheinbar dazu bestimmt sind, eine Krone zu tragen. Sie ertappen sich vielleicht dabei, wie Sie ihm oder ihr einen Gefallen tun, unbezahlte Zusatzaufgaben übernehmen und sich gar nicht erklären können, warum Sie das eigentlich tun. Irgendwie
vermittelt dieser Typus den Eindruck, dass man sich um ihn kümmern muss, und er beherrscht es meisterlich, andere dazu zu bringen, ihm etwas Gutes zu tun.
In der Kindheit wurden diese Personen von ihren Eltern verwöhnt, die sie vor jedem unliebsamen Kontakt mit der rauen Außenwelt beschützten. Es gibt auch Kinder, die dieses Verhalten bei ihren Eltern auslösen, indem sie hilflos tun. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, als Erwachsene sehnen sie sich danach, wieder in den Genuss dieser Sonderbehandlung zu kommen. Es bleibt ihr verlorenes Paradies. Sie bemerken oft, dass sie sich wie ein kleines Kind benehmen, wenn sie nicht das bekommen, was sie haben wollen – sie reagieren mit Schmollen oder Wutanfällen.
Dies ist auf jeden Fall das Muster in ihren intimen Beziehungen, und wenn Sie nicht gerade ein tiefes Bedürfnis danach haben, andere zu verwöhnen, werden Sie eine solche Beziehung als extrem belastend empfinden, weil immer der Prinz beziehungsweise die Prinzessin die Spielregeln aufstellt. Sie sind nicht darauf vorbereitet, die rauen Seiten des Erwachsenenlebens zu ertragen, und manipulieren entweder jemanden dazu, sich um sie zu kümmern, oder sie setzen Alkohol und Drogen ein, um sich zu beruhigen. Wenn Sie Schuldgefühle haben, weil sie dem Prinzen oder der Prinzessin nicht helfen, ist das ein Zeichen dafür, dass sie auf die Person hereingefallen sind und besser auf sich selbst aufpassen sollten.
Der Rechtmacher
Sie haben noch nie jemanden getroffen, der so nett und rücksichtsvoll ist. Sie können gar nicht glauben, wie zuvorkommend und charmant diese Person ist. Nach einer Weile regen sich allerdings erste Zweifel, aber Sie können gar nicht genau sagen, warum. Vielleicht erscheint der Rechtmacher nicht wie angekündigt zum vereinbarten Treffpunkt oder erledigt einen Auftrag nicht zufriedenstellend. Die Zeichen sind subtil. Mit der Zeit beschleicht Sie das ungute Gefühl, dass er Sie sabotiert oder hinter Ihrem Rücken schlecht über Sie spricht. Dieser Typus ist der vollendete Höfling, aber er hat seine Nettigkeit nicht entwickelt,
weil er seine Mitmenschen so sympathisch findet, sondern als Schutzmechanismus. Vielleicht hatte er strenge und strafende Eltern, die seine Handlungen genau beobachteten. Lächeln und Nachgeben waren seine Strategie, um jede Form des Angriffs abzuwehren, und es wurde sein lebenslanges Muster. Er schwindelte seine Eltern vermutlich oft an, um eine Bestrafung zu vermeiden, und ist in der Regel ein erfahrener und versierter Lügner.
So wie in seiner Kindheit steckt hinter dem Lächeln und den schmeichelnden Worten eine große Abscheu vor der Rolle, die er spielen muss. Dieser Typus sehnt sich insgeheim danach, der Person, der er dient oder unterstellt ist, zu schaden oder ihr etwas zu nehmen. Hüten Sie sich vor Leuten, deren Charme und Höflichkeit beinahe aufgesetzt wirken. Sie können sich als ziemlich passiv-aggressiv herausstellen und schlagen vor allem dann zu, wenn Sie Ihren Schutzschild gesenkt haben.
Der Retter
Sie können Ihr Glück kaum fassen – Sie haben jemanden getroffen, der Ihnen alle Schwierigkeiten und Sorgen nehmen will. Irgendwie hat er ihre Hilfsbedürftigkeit erkannt, und er bringt Ihnen weiterführende Literatur, nützliche Strategien und gesundes Essen, um Ihnen zu helfen. Am Anfang ist das alles ziemlich verlockend, aber Ihre Zweifel melden sich in dem Augenblick, in dem Sie unabhängig sein und die Dinge auf Ihre Weise tun wollen.
In der Kindheit musste sich der Retter oft um seine Eltern oder Geschwister kümmern. Die Mutter stellte beispielsweise ihre eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Familie. Als Kind kompensierte der Retter die mangelnde elterliche Fürsorge mit einem Gefühl der Macht, das er durch diesen Rollentausch erhielt. Dadurch etablierte sich ein Muster: Es verschafft ihm große Befriedigung, Menschen zu retten und ihr Retter und Pfleger zu sein. Dieser Typus merkt schnell, wer gerettet werden will. Aber Sie können die Zwanghaftigkeit seines Verhaltens daran erkennen, dass der Retter das Bedürfnis hat, Sie zu kontrollieren. Wenn er Ihnen den Freiraum gibt, auf eigenen Füßen zu stehen,
nachdem er Ihnen Starthilfe gegeben hat, hat er wirklich ehrenhafte Absicht. Andernfalls geht es ihm um die Macht, die er ausüben kann. Es ist grundsätzlich ratsam, Ihre Eigenständigkeit zu kultivieren und dem Retter zu vermitteln, dass er sich selbst retten soll.
Der Moralprediger
Er schwadroniert mit großer Empörung über diese oder jene Ungerechtigkeit und ist ziemlich eloquent. Mit seiner Überzeugungskraft findet er schon bald Anhänger, Sie eingeschlossen. Aber manchmal entdecken Sie Risse in seiner selbstgerechten Fassade. Er behandelt seine Angestellten nicht besonders gut, geht herablassend mit seinem Partner um, hat vielleicht ein geheimes Leben oder ein Laster, das manchmal hervorblitzt. Als Kind hat man dem Moralprediger oft Schuldgefühle eingeredet, wenn er starke Impulse hatte und sein Lustbedürfnis befriedigen wollte. Er wurde bestraft und versuchte daraufhin, diese Impulse zu unterdrücken. In der Folge entwickelt er eine gewisse Selbstverachtung und ist schnell dabei, negative Eigenschaften auf andere zu projizieren oder Menschen zu beneiden, die sich freier entfalten können. Er gönnt es anderen Menschen nicht, wenn sie Spaß haben. Statt seinen Neid zuzugeben, fällt er ein Urteil und wertet die anderen ab. Sie können den erwachsenen Moralprediger an seinem Schwarz-Weiß-Denken erkennen: Menschen sind entweder gut oder schlecht, es gibt keine Zwischentöne. Er führt Krieg gegen die menschliche Natur und kommt mit ihren nicht ganz so perfekten Eigenschaften nur schwer zurecht. Seine Moralität ist so einfach und zwanghaft wie Alkoholismus oder Glücksspiel, und er muss keine Opfer erbringen, sondern höchstens seine hochtrabenden Meinungen verkünden. Er blüht in einer Kultur der politischen Korrektheit auf.
In Wirklichkeit zieht es den Moralprediger insgeheim zu dem, was er verurteilt, und das ist der Grund dafür, dass er fast immer eine verborgene Seite hat. Wenn Sie ihm zu nahe kommen, werden Sie früher oder später mit Sicherheit das Ziel seiner Inquisition sein. Nehmen Sie seine mangelnde Empathie zur Kenntnis, die sich schon
früh bemerkbar macht, und halten Sie Abstand.
Weitere toxische Typen werden in den Kapiteln 10, 11 und 16 vorgestellt, in denen es um Neid, Selbstüberschätzung und Aggression geht.
Der überlegene Charakter
Dieses Gesetz ist einfach und unerbittlich: Sie haben einen festgelegten Charakter. Er wurde aus Elementen gebildet, die Ihrem bewussten Denken und Handeln vorausgingen. Tief in Ihrem Inneren zwingt Sie dieser Charakter dazu, bestimmte Handlungen, Strategien und Entscheidungen zu wiederholen. Das menschliche Gehirn ist entsprechend konstruiert: Sobald Sie einen Gedanken haben und eine Handlung vornehmen, entsteht ein neuronaler Pfad, der Sie dazu veranlasst, diesen Pfad immer breiter zu treten, also immer wieder dasselbe zu tun. Sie haben nun zwei Möglichkeiten, die Ihr Leben in völlig andere Richtungen lenken werden.
Die erste Möglichkeit besteht aus Wegsehen und Leugnen. Sie achten nicht auf die Muster in Ihrem Leben. Sie lehnen die Idee ab, dass Ihre frühesten Jahre Sie tief geprägt haben und dazu veranlassen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Sie stellen sich vor, dass Ihr Charakter völlig durchschaubar ist und sich bei Bedarf auf Knopfdruck neu erschaffen lässt. Sie können den Weg zu Macht und Ruhm beschreiten, den andere bereits gegangen sind, obwohl sie aus völlig anderen Verhältnissen kommen. Das Konzept eines festgelegten Charakters kann wie ein Gefängnis wirken, und viele Menschen wollen insgeheim aus ihrer Haut beziehungsweise Rolle schlüpfen und nutzen hierfür Drogen, Alkohol oder Videospiele. Das Ergebnis des Leugnens ist einfach: Das Zwangsverhalten und die Muster verfestigen sich. Sie können sich nicht gegen Ihren Charakter stellen und hoffen, dass er verschwindet. Er ist einfach zu stark!
Das war genau das Problem, das Howard Hughes hatte. Er selbst sah sich als großartigen Geschäftsmann, der ein Imperium erschaffen wollte, das den unternehmerischen Erfolg seines Vaters in den Schatten
stellen würde. Aber er konnte nicht gut mit Menschen umgehen. Seine wahre Stärke war technischer Natur – er hatte ein gutes Gespür für Design und die technischen Aspekte der Flugzeugproduktion. Wenn er diese Tatsache erkannt und akzeptiert hätte, hätte er als genialer Visionär in Erscheinung treten und die firmeninternen Abläufe seiner Firma einem kompetenten Geschäftsführer überlassen können. Doch er hatte ein Selbstbild, das sich nicht mit seinem wahren Charakter deckte. Dies führte zu einem wiederkehrenden Muster des Scheiterns und zu einem unglücklichen Leben.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, den beschwerlicheren, aber letztlich einzigen Weg zu gehen, der zu wahrer Stärke und der Bildung eines überlegenen Charakters führt. Das geht folgendermaßen: Sie erforschen sich möglichst eingehend. Sie ergründen die untersten Schichten Ihres Charakters und bestimmen, ob Sie introvertiert oder extrovertiert sind, ob Sie dazu neigen, sich von großer Angst und Sensibilität oder Feindseligkeit und Wut leiten zu lassen oder von einem tiefen Bedürfnis, sich mit anderen Menschen zu befassen. Sie betrachten Ihre elementarsten Neigungen – jene Themen und Aktivitäten, zu denen Sie sich magisch hingezogen fühlen. Sie untersuchen die Qualität der Bindung zu Ihren Eltern und betrachten Ihre aktuellen Beziehungen als aussagekräftige Hinweise darauf. Sie analysieren mit schonungsloser Ehrlichkeit Ihre eigenen Fehler und die Muster, die Sie immer wieder davon abhalten, etwas Neues zu wagen. Sie kennen auch Ihre Einschränkungen – die Situationen, in denen Sie sich immer wieder falsch verhalten. Sie machen sich die natürlichen Stärken Ihres Charakters bewusst, die Sie aus der Jugend ins Erwachsenenalter herübergerettet haben.
Mit diesem Bewusstsein sind Sie nicht der Gefangene Ihres Charakters, der nicht anders kann, als immer wieder dieselben Strategien und Fehler zu wiederholen. Wenn Sie sich dabei ertappen, wie Sie in ein übliches Muster verfallen, können Sie sich selbst rechtzeitig stoppen und einen Schritt zurücktreten. Sie sind unter Umständen nicht in der Lage, solche Muster vollständig zu beseitigen, aber mit etwas Übung können Sie deren Auswirkungen schmälern.
Wenn Sie Ihre Einschränkungen kennen, tun Sie nichts, wofür Sie offensichtlich kein Talent oder Können haben. Stattdessen schlagen Sie eine berufliche Laufbahn ein, die Ihren natürlichen Neigungen entspricht, und lassen dort Ihren Charakter einfließen. Im Allgemeinen akzeptieren und schätzen Sie Ihren Charakter. Sie haben nicht den Wunsch, eine andere Person zu werden, sondern arbeiten vielmehr darauf hin, Ihr wahres Potenzial zu entfalten. Sie betrachten Ihren Charakter als Tonklumpen, den Sie so lange bearbeiten, bis sich die Schwächen in Stärken verwandeln. Sie laufen nicht vor Ihren Schwächen davon, sondern sehen sie vielmehr als Kraftquelle.
Schauen Sie sich zum Beispiel die Karriere der Schauspielerin Joan Crawford an (1908–1977). Sie hatte von Anfang an keine guten Karten. Sie kannte ihren Vater nicht, weil er seine Familie kurz nach ihrer Geburt verließ. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre Mutter zeigte ihre Abneigung gegen Joan offen und schlug sie oft. Im Kindesalter erfuhr sie bereits, dass der Mann, den sie verehrte, nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Stiefvater war, und auch er verließ kurze Zeit später die Familie. In ihrer Kindheit erlebte sie immer wieder Bestrafungen, Vertrauensbrüche und das schmerzliche Gefühl des Verlassenwerdens, die sie für den Rest ihres Lebens prägten.
Als sie in sehr jungen Jahren ihre Karriere als Schauspielerin begann, erforschte sie sich selbst und ihre Fehler mit schonungsloser Nüchternheit: Sie war hypersensibel und labil; sie litt sehr unter ihrer Vergangenheit und konnte ihre Trauer nicht ablegen oder verbergen; sie wollte verzweifelt geliebt werden; sie hatte eine ständige Sehnsucht nach einer Vaterfigur. Solche Unsicherheiten können an einem so unbarmherzigen Ort wie Hollywood leicht der Tod einer Schauspielerin sein. Stattdessen schaffte Joan es durch Introspektion und harte Arbeit an sich selbst, diese Schwächen zu den Stützpfeilern ihrer extrem erfolgreichen Karriere zu machen. Sie bezog zum Beispiel ihre Gefühle der Trauer und des Verrats in ihre Filmrollen ein, wodurch sich Frauen weltweit mit ihr identifizieren konnten. Sie war anders als viele andere Schauspielerinnen, die aufgesetzt fröhlich und oberflächlich wirkten. Sie richtete ihre verzweifelte Sehnsucht nach Liebe auf die Kamera
selbst, und das Publikum spürte es. Die Filmregisseure wurden Vaterfiguren, die sie verehrte und mit dem größten Respekt behandelte. Und ihre markanteste Eigenschaft, ihre Hypersensibilität, richtete sie nach außen statt nach innen. Sie entwickelte sehr feine Fühler, die alles registrierten, was die Regisseure mochten beziehungsweise nicht mochten. Ohne sie anzusehen oder eine Anweisung zu hören, konnte sie spüren, ob sie mit ihrem Schauspielstil zufrieden waren, konnte die richtigen Fragen stellen und blitzschnell Korrekturen vornehmen. Sie war der Traum eines jeden Regisseurs. Sie kombinierte ihre Sensibilität mit ihrer enormen Willenskraft und schuf eine Karriere, die über vierzig Jahre währte – eine Dauer, die für Hollywood-Schauspielerinnen damals mehr als beachtlich war.
Das ist die Alchemie, die Sie auf sich selbst anwenden müssen. Wenn Sie ein Hyperperfektionist sind, der gerne alles kontrolliert, müssen Sie diese Energie auf Ihre Arbeit richten und nicht auf Ihre Mitmenschen. Ihre Liebe fürs Detail und Ihre hohen Standards sind positive Eigenschaften, wenn Sie sie in die richtigen Bahnen lenken. Wenn Sie jemand sind, der anderen immer alles recht machen will, haben Sie die Fähigkeiten eines Höflings und echten Charme entwickelt. Indem Sie die Quelle dieses Charakterzugs identifizieren, können Sie den zwanghaften und defensiven Aspekt kontrollieren und eine echte soziale Fähigkeit daraus machen, die Ihnen zu großer Macht verhelfen kann. Wenn Sie sehr sensibel und nachtragend sind, können Sie darauf hinarbeiten, diese Empfindsamkeit in aktive Empathie zu verwandeln (siehe Kapitel 2) und aus dieser Schwäche eine Stärke zu machen, die Sie für positive soziale Zwecke nutzen können. Wenn Sie einen rebellischen Charakter haben, lehnen Sie Konventionen und herkömmliche Vorgehensweisen ab. Richten Sie diese Energie auf eine Art von innovativer Arbeit, statt unentwegt andere zu provozieren und vor den Kopf zu stoßen. Für jede Schwäche gibt es eine entsprechende Stärke.
Schließlich müssen Sie auch jene Eigenschaften verbessern und kultivieren, die einen starken Charakter ausmachen – Resilienz unter Druck, Liebe zum Detail, Konsequenz, Teamfähigkeit, Toleranz für
unterschiedliche Ansichten. Das erreichen Sie nur, indem Sie an Ihren Gewohnheiten arbeiten, die durch ständige Wiederholung langfristig Ihren Charakter formen. Sie üben beispielsweise, nicht impulsiv zu reagieren, indem Sie sich immer wieder in stressreiche oder unangenehme Situationen bringen, um sich abzuhärten. Bei langweiligen alltäglichen Aufgaben kultivieren Sie Ihre Geduld und Liebe zum Detail. Übernehmen Sie bewusst Aufgaben, die leicht über Ihrem Fähigkeitsniveau liegen. Um sie zu erledigen, müssen Sie härter arbeiten, was dazu führt, dass Sie sich mehr Disziplin und bessere Arbeitsgewohnheiten aneignen. Gewöhnen Sie sich an, dem Wohlergehen des Teams oberste Priorität einzuräumen. Suchen Sie die Nähe anderer charakterstarker Persönlichkeiten und verkehren Sie in ihren Kreisen. Auf diese Weise assimilieren Sie deren Energie und Gewohnheiten. Und um einen flexibleren Charakter zu entwickeln, der immer ein Zeichen der Stärke ist, probieren Sie gelegentlich eine neue Strategie oder Denkweise und machen das genaue Gegenteil dessen, was Sie normalerweise tun würden.
Wenn Sie derart an sich arbeiten, werden Sie weder ein Sklave des Charakters sein, der in Ihrer frühen Kindheit angelegt wurde, noch des Zwangsverhaltens, zu dem er führt. Mehr noch, Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihren Charakter und das damit verbundene Schicksal aktiv zu gestalten.
In allen Dingen ist der Irrtum der, zu glauben, man könne eine Tat tun, eine Haltung annehmen einmal und dann so weiter. (Fehler derer, die sagen: »wir sind arbeitsam, geizig wenn notwendig, bis wir dreißig sind, dann wollen wir uns des Lebens freuen.« Mit dreißig werden sie die Wendung zum Geiz haben, zur Geschäftigkeit, und werden sich des Lebens nicht mehr freuen …) Was man tut, wird man weiter tun und hat es sogar schon getan in einer fernen Vergangenheit. … Die Angst des Lebens dreht sich immer wieder darum, daß unsere Entscheidungen uns unter die Räder bringen. (Die Wahrheit ist, daß wir, schon ehe wir uns entscheiden, die Richtung verfolgen.) Eine Entscheidung, eine Handlung ist
unfehlbare Ahnung dessen, was wir ein andermal tun werden, nicht aus irgendeinem mystischen astrologischen Grunde, sondern weil sie von einem Automatismus ausgeht, der sich wiedererzeugen wird.