Leben mit den Toten: Mr. May
Mr. May arbeitet als Angestellter der Stadt London. Sein Auftrag ist, für die Bestattung Verstorbener ohne Angehörige zu sorgen. Dies tut er mit großer Hingabe. Nicht, dass er die Toten schlicht einer Kremierung mit anschließender Beisetzung zuführt, nein, mit viel Zeit und Mühe durchforstet er die Wohnungen der Verstorbenen, sucht Fotos und Gegenstände zusammen, die vom Leben dieser Menschen erzählen und entwirft so persönliche biographische Bilder, die er schließlich in einfühlsamen Trauerreden zusammenfasst. Von jedem Toten hebt er ein Bild auf und klebt es in ein Album ein.
Seinem Arbeitgeber geht das alles zu langsam, in den formalisierten Prozessen der Stadtverwaltung ist kein Platz für Einzelschicksale und ein individuelles Andenken. Mr. May wird entlassen. Kurz darauf kommt er bei einem Busunglück ums Leben. Selbst alleinstehend, wird er gleichfalls anonym bestattet. Niemand steht an seinem Grab. Doch dann erscheinen plötzlich die Geister all der Verstorbenen, denen Mr. May durch seine Arbeit ein Gesicht gegeben hat und deren Andenken er bewahrt hat.
Diese Geschichte erzählt der Film »Das Flüstern der Ewigkeit« von Uberto Pasolini aus dem Jahr 2013. Was dieser Film mit seinem märchenhaften Ende andeutet, ist: Menschen sind mit ihren Toten auch über den Tod hinaus in Verbindung, es gibt eine Beziehung zwischen Lebenden und Toten, und es hat etwas mit der Achtung vor jedem individuellen Menschenleben zu tun, diese Beziehung zu pflegen.
Und auch in theologischer Perspektive ist diese Sequenz höchst interessant: Hier zeigt sich die Problematik, vor der alle, die beruflich mit Tod, Abschied und Trauer zu tun haben, stehen. Denn um was geht es bei der Gestaltung einer Trauerfeier? Wie davon reden, was niemand wissen kann, was sich der Erforschbarkeit unseres Lebens entzieht: Dem Tod? Es geht aus meiner Sicht darum, den Verstorbenen einen (neuen) Platz in Beziehung zu den Lebenden zuzuweisen und zugleich die Beziehung von Lebenden und Verstorbenen neu ordnen zu helfen. Religiöse Sprache kann hier als eine Art Symbolsprache verstanden werden, die es möglich macht, die bedeutsamen Elemente jedes einzelnen gelebten Lebens in einen Horizont einzustellen, der die materiellen Grenzen unserer Erfahrung überschreitet und zugleich doch auch eine Beziehung zu uns, als den leiblich lebendig auf dieser Welt Zurückbleibenden aufrechterhält.
Der Tod als Problem einer posttheistischen Theologie
Ein Kernbestand der christlichen Religion ist die Hoffnung, dass der Tod nicht »das letzte Wort« hat. Schon durch diese, selbst bildhafte, Formulierung deutet sich aber eine Problematik an: Wir können über einen Verbleib der Toten nicht mehr wissen als das, was wir als natürliche Erkenntnis haben – Körper verwesen, werden zu Erde, verschwinden schließlich ganz. Zugleich bietet die biblische Tradition eine Fülle von sprachlichen Bildern, die Vorstellungen über den Verbleib der Toten andeuten, aber keineswegs einheitlich sind. Der anthropologische Kern aller solcher bildsprachlicher Bewältigungsversuche für das Unerkennbare, Unbegriffliche lässt sich mit dem Anthropologen Helmuth Plessner im menschlichen »Sinn für das Negative« ausmachen. Schlicht gesagt, zeichnen sich Menschen gegenüber anderen Lebewesen dadurch aus, dass sie sich etwas vorstellen können, was nicht da ist, ja, was es auch gar nicht in einem »handgreiflichen« Sinne gibt oder geben kann und das trotzdem im menschlichen Leben »wirksam« werden kann. Menschen können träumen, wünschen, phantasieren und sich mittels der in diesen Formen des sich Einstellens zur Welt gebildeten Vorstellungen zur Welt verhalten. Auf dieser Ebene liegen religiöse Sprachbilder wie »die Namen, die im Himmel geschrieben sind« (Lk 10,20), »die Tage, die in Gottes Buch aufgeschrieben sind« (Ps 139,16), »das Bürgerrecht, das wir im Himmel haben« (Phil 3,20), »die vielen Wohnungen in Gottes Haus« (Joh 14,2). Und nicht zuletzt Gottes Zuspruch: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein« (Jes 43,1). In all diesen beispielhaften Textstellen kommt zum Ausdruck, dass Menschen sich schon immer in einer poetischen und deutenden Weise zu ihrer Erfahrungswelt verhalten, und mittels solcher sprachlichen Bilder diese auch zu überschreiten vermögen – nicht etwa in der Annahme, es gebe eine tatsächliche, materiale außerirdische Realität, sondern vielmehr im Modus der Phantasie und Einbildungskraft, die hier in einer Sprache des Trostes zur Geltung kommt.
Die evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts hat in unterschiedlicher Weise auf die Problematik des Todes und Vorstellungen über den Verbleib der Toten – im theologischen Fachjargon ist dann von der »Eschatologie«, also der Lehre von den letzten Dingen die Rede - reagiert. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass relative Einigkeit darüber besteht, dass es sich bei allen Aussagen, die in diesem Kontext getroffen werden, nicht um letzthin fixierbare Vorstellungen handeln kann. Das Faktum des Todes bedeutet vielmehr einen Einbruch in das menschliche Vorstellungsvermögen, der lediglich imaginativ überschritten werden kann. Bekannt geworden ist im 20. Jahrhundert besonders die Auseinandersetzung des Theologen Eberhard Jüngel mit dem Tod, die in einem gleichnamigen Büchlein – »Tod«, 1997 – zusammengefasst ist. Im Hintergrund steht bei ihm die unter anderem aus den Erkenntnissen der philosophischen Anthropologie gewonnene Absage an die Vorstellung einer Trennung von Leib und Seele. Es gibt demzufolge nur einen ganzen, leiblich verfassten Menschen, und im Tod stirbt dieser Mensch und geht in einen Zustand der Beziehungslosigkeit über. Als Trost des Glaubens firmiert bei Jüngel dann die Vorstellung eines Gedächtnis Gottes, in dem der Mensch bis zu seiner Auferstehung am Ende der Zeit aufbewahrt bleibt. Solche und ähnliche Deutungsversuche bilden das Bedürfnis ab, die Theologie im Gespräch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zu halten und zugleich christliche Hoffnungsbilder je gegenwärtig zu vermitteln. In der seelsorglichen Praxis zeigt sich im Rahmen von Trauer- und Sterbebegleitung allerdings häufig auch im christlichen Kontext ein differenzierteres Bild. Menschen machen sich ganz eigene Vorstellungen über den Verbleib der Toten, und das Wort »Seele« firmiert dabei vielfach als metaphorischer Ausdruck für das, was als Erinnerung an und mit den Verstorbenen als die gemeinsam erlebte und erzählbare Geschichte von ihm oder ihr bleibt. Insofern darf der Ausdruck »Seele« nicht als Bezeichnung für etwas, das es in einem materialen Sinne »gibt«, verstanden werden. Ganz ähnlich verhält es sich jedoch auch mit anderen Ausdrücken der religiösen Tradition. Da wird vom »Himmel«, von »Gottes Hand«, von »Geborgenheit« gesprochen. Alle solchen sprachlichen Versuche markieren die Grenze dessen, was Gegenstand einer messbaren und wissenschaftlich erfassbaren Wirklichkeit ist. Und dennoch kann ihnen eine eigene »Wahrheit« zu eigen sein, weil sie Teil der erzählten Lebensgeschichte von Menschen sind und dabei helfen, sich selbst im Angesicht des Todes, der eine Grenze der menschlich erfahrbaren Wirklichkeit markiert, zu verorten.
Diese Deutungen korrespondieren mit Strömungen der neueren evangelischen Theologie, Religion vor allem in der Nähe des menschlichen Bildvermögens anzusiedeln und sie als ein imaginatives Bezugssystem auf »Leben« zu verstehen, das die menschliche Fähigkeit zur Distanznahme zur unmittelbaren Gegenwart abbildet und eine Art symbolische Wirklichkeit hervorbringt.
Religiöse Metaphern und Bilder vermögen es, dem begrifflich unaussprechlichen einen Rahmen zu geben. Und in Form gesprochener Worte im Rahmen eines Abschiedsrituals verhilft religiöse Sprache inneren Bildern zu einer öffentlichen Geltung; sie erzeugt Vorstellungen, die mit anderen geteilt werden können, und damit auch einen gemeinschaftlichen »Raum« für das Totengedenken.
Die menschliche Beziehung zu den Toten als Leiberfahrung im Raum
Das Verhältnis von Lebenden und Toten repräsentiert sich in inneren und äußeren Bildern, Gegenständen und Monumenten. Diese können, geprägt durch kulturelle, religiöse und soziale Hintergründe vielfältig sein. Gemeinsam ist aber all solchen kulturellen Ausdrucksphänomenen, dass sie ein anthropologisches Fundament haben.
Als leibliche Wesen in Raum und Zeit leben Menschen in Resonanz, also in einer Art antwortenden Beziehung mit den Räumen, die sie umgeben und die sie sich zum Teil selbst schaffen. Das bedeutet, Menschen befinden sich in einer Beziehung zu ihrer Umgebung, die gewissermaßen darin besteht, dass Menschen auf den sie umgebenden Raum reagieren und sich in ihn einstellen, zugleich der Raum aber gleichfalls als ein reagierender, antwortender erlebt werden kann. Solche Räume sind mehr als der physikalische Raum, sie bilden sich in Beziehung zum Erleben des einzelnen Menschen. Der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs hat, ausgehend von verschiedenen phänomenologischen und anthropologischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, eine Theorie entwickelt, die die Art und Weise, wie ein Mensch sich als Person in seiner Umgebung erlebt, an die leibliche Präsenz im Raum rückbindet. Ich erfahre mich als Mensch demzufolge als ein Leib in einer räumlichen Umgebung, wobei »Leib« nicht identisch mit den Grenzen meines physischen Körpers sein muss. Die Grenzen des Leibes können vielmehr variabel sein. Dabei spielen Gefühle und Stimmungen eine entscheidende Rolle. So kann ich mich beispielsweise im Zustand von Angst oder Trauer beengt fühlen, die Grenzen des Leibes schrumpfen sozusagen, wohingegen Freude oder Euphorie eine Weitung meiner Grenzen hervorrufen können. Und auch andere Menschen nehmen mich als Person in meiner Leiblichkeit wahr, treten selbst leiblich mit mir in Interaktion und erleben meine Gegenwart in ihrer eigenen leiblichen Verfasstheit auf unterschiedliche Weise.
Unsere Wahrnehmung ist durchdrungen von Atmosphären, Stimmungen und Gefühlen. Diese können höchst individuell ausfallen, wie sich beispielsweise an der Wirkung einer Landschaft zeigt, die als friedlich, harmonisch oder auch als bedrohlich erlebt werden kann, auch wenn es sich um exakt dieselbe Landschaft zum exakt selben Zeitpunkt handelt.
Einen Sonderfall solcher wahrnehmbar atmosphärischen Ausdrücke bildet die menschliche Ausstrahlung, die eine Person dergestalt umgibt, dass sie auch ohne deren leibliche Präsenz, zum Beispiel durch die Eindrücke, die die Wohnung eines anderen auf uns macht, erfahren werden kann.
Dies ist bedeutsam für unser Verhältnis zum Tod und den Toten. Indem Trauer als Gefühl erlebt und erfahren wird, bleibt die Beziehung zu dem Objekt der Trauer erhalten; ein trauernder Mensch hält eine Verbindung zu dem Verstorbenen und schafft dieser einen äußeren oder inneren Ort. Schon allein das Betrachten eines geliebten Verstorbenen hält diesen, wenngleich er selbst nicht mehr antwortfähig ist, in der personalen Sphäre, weil das Gefühl des Betrachters ihn umschließt. Und auch Erinnerungsgegenstände, Fotos, Gerüche können Stimmungen und Gefühle erzeugen, die die Beziehung zu dem Verstorbenen gleichsam »lebendig« halten oder zumindest punktuell lebendig machen. Dies liegt in der leiblichen Räumlichkeit menschlichen Lebens und Erlebens begründet. Denn Menschen befinden sich in ihren Interaktionen und ihrer gegenseitigen Wahrnehmung in einem »personalen Raum«. Und auch der respektvolle Umgang mit dem Tod und den Toten hält diese innerhalb dieses personalen Raums präsent. Der tote Körper eines Menschen repräsentiert gewissermaßen für die Hinterbliebenen die Vergangenheit der lebendigen Leiblichkeit, die er einmal gewesen ist oder werden sollte. Damit hat er einen anderen Status als ein reines Objekt. Was Fuchs im Bereich des personalen Raums als den liebenden Blick bezeichnet, wird auch im Umgang mit einem geliebten Toten zu gelten haben: Der Blick schließt den Anderen gleichsam ein und hält ihn damit in der Sphäre des Personalen.
Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn es sich um solche Verstorbenen handelt, deren Lebensgeschichte fast unerzählbar ist, wie im Falle der anonymen Toten in Mr. Mays Geschichte, oder aber auch im Falle sogenannter »Sternenkinder« – Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt verstorben sind.
»Alle meine Tage waren in dein Buch geschrieben«: Eine Trauerfeier für »Sternenkinder«
Die gekalkten Mauern der kleinen Kapelle geben der Stille einen Rahmen. Fast kann man das Schweigen hören, das die Menschen, die gekommen sind, verbindet. Die Blicke sind nach vorn gerichtet, hin zu einem kleinen, weißen Sarg. 35 kleine, ja, winzige Kinder liegen darin, für den Betrachter unsichtbar hinter dem hellen Holz sind sie sogenannte »Sternenkinder«: Kinder, die vor oder im Umfeld der Geburt verstorben sind. In den Bankreihen sitzen die Eltern, doch liegt ihr Elternsein im Verborgenen, außerhalb des Raums hier weiß davon fast niemand. Hier wird dem Verlust ein Ort gegeben, der Trauer ein Platz eingeräumt. Und zugleich das Elternsein der versammelten Menschen öffentlich gewürdigt: Im Rahmen der Trauerfeier für die toten Kinder erhalten diese ihren Raum in der Welt der Lebenden.
Eine Pfarrerin liest Worte aus Psalm 139: »Alle meine Tage waren in dein Buch geschrieben, auch die, von denen keiner da war …« Zwei Ärzte aus dem Krankenhaus sind gekommen, zünden für jedes Kind eine Kerze an und nennen seinen Namen. Diese kleine Szene habe ich vor einigen Jahren während eines Praktikums in der Klinikseelsorge Marburg erlebt. Ein dichter Moment, in dem deutlich wird: Hier werden die Kinder, die gestorben sind, ohne gelebt zu haben, als die Personen gewürdigt, als die sie ihren Eltern gelten. Und zugleich warf das Erlebnis Fragen in mir auf: Was macht einen Menschen zur Person? Und ist paradoxerweise diese Feier, die vordergründig einen Abschied darstellt, nicht zugleich auch ein Anfang, nämlich die symbolische Aufnahme dieser Kinder, von deren Existenz womöglich außerhalb des engsten Familienverbandes gar niemand wusste, in den Kreis der Lebenden, ja, erhält die Existenz dieser Kinder möglicherweise zugleich innerhalb dieses Rituals überhaupt erst eine öffentliche Geltung?
Trauerfeiern für »Sternenkinder« sind ein relativ neues Phänomen, das sich seit einigen Jahren in verschiedenen Städten finden lässt. Denn bis 2013 sind »Sternenkinder« regelhaft schlicht entsorgt worden; ein Bestattungsrecht und die Möglichkeit, auch diesen Kindern einen personenstandsrechtlichen Status zuzuerkennen, ist erst auf Initiative betroffener Eltern hin erwirkt worden. Ein Vorgang, der auf Grauzonen verweist: Personsein lässt sich eben nicht mittels fixer Kriterien bestimmen, sondern bildet sich durch Relationen zwischen Menschen. Das macht Personalität zu einer fragilen Größe, angewiesen auf Anerkennung. Paradoxerweise ist das Ritual zum Abschied von den verstorbenen Kindern zugleich ein Moment dieser Anerkennung ihres kleinen, fast unerzählbaren Lebens in einem sozialen Raum, die Anerkennung ihres Gewesenseins innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes, der über den der Kernfamilie hinausweist.
Das Nennen der Namen hat dabei einen entscheidenden Stellenwert: Hier wird die Unverwechselbarkeit und Individualität jedes dieser einzelnen kleinen Leben bezeichnet; auch diese Kinder haben eine Geschichte, eine Familie, einen Raum in der Welt der Menschen, einen, um mit dem Anthropologen Helmuth Plessner zu sprechen: mitweltlichen Status.
Das Ritual verleiht diesen Kindern, deren Lebensgeschichten so kurz waren, dass sie fast unerzählbar sind, einen Platz im Sozialraum der Lebenden, und zugleich legitimiert es das Elternsein der anwesenden Hinterbliebenen im öffentlichen Raum. Es verhilft gleichsam dazu, die Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten neu zu ordnen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der Vorgang im christlichen Horizont eine Art Substitut der nicht stattfinden könnenden Taufe bildet.
Jedes noch so kleine Kind hat inzwischen das Recht, bestattet zu werden. Seither entstehen auf vielen Friedhöfen Gräberfelder für »Sternen- oder Schmetterlingskinder«; oftmals wirken sie wie schön geschmückte Gärten, voll von individuellen Erinnerungszeichen, Bildern, Gegenständen, die diese winzigen, ungelebten Leben in Raum und Zeit präsent halten. Und die Geschichten erzählen von den Beziehungen der Hinterbliebenen zu ihren Kindern, an denen sich zugleich zeigt: Es geht nicht darum, dass es etwas auch tatsächlich handgreiflich »gibt«, sondern ein Teil unseres Lebens und Erlebens setzt sich aus Phantasien, Träumen, Wünschen und Hoffnungen zusammen, aus denen sich dann wiederum unser eigenes Erleben und Erinnern speist. Es sind sozusagen symbolische Handlungen und Vorstellungen, die hier Raum bekommen und diese liegen damit nah am Bereich des Religiösen, auch wenn nicht explizit spezifische religiöse Gehalte thematisch werden.
Trauerfeiern als Abschied und Anfang
Am Beispiel einer solchen besonderen Trauerfeier, die als Abschied zugleich einen Anfang markiert, lassen sich Beobachtungen machen, die für Abschiedsrituale überhaupt zu gelten scheinen. Das Ritual markiert einen Übergang im Beziehungsstatus. Der verabschiedete Mensch ist tot, zweifellos, er ist in der Welt der Lebenden nicht mehr leiblich präsent, man kann ihn oder sie nicht mehr berühren oder mit ihm oder ihr interagieren. Und doch ist da etwas, das bleibt, um sinngemäß mit dem französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch zu sprechen: Es ist noch irgendetwas unter der Marmorplatte. Und eben nicht nur da: Sprachliche Bilder und Vorstellungen über den Verbleib der Toten, die notwendigerweise metaphorischen Charakter haben müssen, aber auch Erinnerungsorte und Gegenstände markieren einen Platz für die abwesende Anwesenheit der Toten in der Welt der Lebenden und helfen, mit ihnen zu leben. Freilich lassen sich, insbesondere in der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts, zahlreiche Transformationen im Umgang mit Tod und Sterben ausmachen, die in den letzten Jahrzehnten unter dem Topos »Todesverdrängung« ihren Ausdruck gefunden haben. Gemeint ist unter anderem die Verlagerung des Sterbens und damit auch des Umgangs mit dem Tod und den Toten in den klinischen und professionellen Bereich. Es gibt kaum noch »Sterbezimmer«, in die sich ein Mensch im Kreise seiner Lieben zurückzieht, um inmitten ihrer Gesellschaft die Schwelle des Todes zu erreichen. Eine Mehrzahl von Menschen stirbt, soweit erkennbar, umgeben von professionellem Personal im anonymisierten Raum von Kliniken, und auch die Versorgung des Leichnams steht vielfach in den Händen geschulter Bestattungsunternehmen. Und auch die, vielleicht vor Jahrzehnten noch als Standard geltende christliche Begleitung von Trauerprozessen – von der Aussegnung im Trauerhaus über seelsorgliche Trauerbegleitung und kirchliche Trauerfeier – kann längst nicht mehr als mehrheitlich in Anspruch genommene »Normalität« gelten. Zugleich entwickeln sich andere Formen des Totengedenkens und der Trauerbewältigung, auch im digitalen Raum. So bieten viele große Tageszeitungen inzwischen Gedenkseiten an, auf denen Menschen Grüße an Hinterbliebene und persönliche Worte des Andenkens hinterlassen können und beispielsweise virtuelle Kerzen entzünden. Zudem gibt es virtuelle »Friedhöfe«, Internetseiten, auf denen mit Foto und individuellen Erinnerungen an Verstorbene diesen ein sichtbarer Platz in der Unendlichkeit des world-wide-web geschaffen werden kann. Dahinter scheint das Bedürfnis zu stehen, zum einen die eigene Trauer aus dem Raum des Privaten in einen öffentlichen Bereich zu verlagern und sich zugleich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Außerdem entstehen so Orte, die man anschauen, Erinnerungen, die man »wachrufen« kann; es wird den Verstorbenen ein Platz eingeräumt, der gleichsam auf eine Art »Verewigung« abzuzielen scheint. Und so können die »klassischen« religiösen Ausdrücke wie »Ewigkeit« und »Jenseits« auch weiterhin von Bedeutung sein, denn sie bilden sprachlich ab, was als anthropologische Konstante gelten kann: Menschen sind leibliche Wesen in Raum und Zeit, die zugleich dazu imstande sind, die materielle Wirklichkeit ihres Daseins mittels Phantasie und Einbildungskraft zu überschreiten.
Resonanz im Angesicht des Todes
Der Ausdruck »Resonanz« als Bezeichnung einer speziellen Weise des menschlichen Weltverhältnisses ist in den letzten Jahren durch den Soziologen Hartmut Rosa prominent geworden. In seinem gleichnamigen Buch beschreibt er, u. a. im Anschuss an die Theorie des bereits erwähnten Thomas Fuchs, »Resonanz« als einen Modus der Weltbeziehung, in dem die Welt als eine antwortende erscheint. Grundlage hierfür ist die menschliche Leiblichkeit als Ausgangsbasis aller Sozialität, wobei dann Resonanz einerseits zu verstehen ist als eine Beschreibung des durch eine grundlegende Bezogenheit auf andere und anderes gekennzeichnete menschliche Weltbeziehung, andererseits aber auch als eine Art normativer Maßstab eines guten Lebens. Zugrunde liegt die Annahme, dass im Gegensatz zu den instrumentellen Weltverhältnissen, die unsere auf Beschleunigung und Reichweitenvergrößerung angelegte rationalistisch geprägte Gegenwartsgesellschaft prägen, Resonanz eine solche Weise des in der Welt Seins bezeichnet, in der wir mit den Dingen, die uns umgeben, in einem antwortenden Kontakt sind. Resonanz erfordert sozusagen eine »poetische« Beziehung zur Welt, die damit rechnet, dass es möglich ist, sich von etwas ansprechen zu lassen und darauf zu »antworten«. Rosa unterscheidet dabei zwischen sogenannten »Resonanzachsen«, die sozusagen Formen der Bezugnahme auf einen Weltausschnitt bezeichnen. Die »horizontale« Resonanzachse bezeichnet Beziehungen, die sich auf der sozialen und politischen Ebene, kurzum, im Miteinander mit anderen Menschen bilden. Die »vertikale« Resonanzachse bezeichnet die Beziehung auf ein »Ganzes« der Wirklichkeit, womit dann auch die Sphäre des Religiösen berührt wird. Und die »diagonale« Achse bezeichnet Beziehungen zur Dingwelt. Damit bildet sie gewissermaßen eine Verbindung zwischen der horizontalen und der vertikalen Achse; denn resonante Beziehungen zu Objekten können da entstehen, wo vertikale und horizontale Achse in Beziehung miteinander treten. Man kann sich das zum Beispiel anhand einer Abendmahlsfeier vorstellen: Eine Gemeinschaft tritt unter einem religiösen Vorhaben zusammen und benutzt Gegenstände wie etwa einen Abendmahlskelch, der dann nicht mehr nur einfach ein Trinkgefäß, sondern ein Behältnis mit symbolischer Bedeutung ist, die mehr ist als die reine Materialität des Gegenstandes.
Der Tod als Abbruch der menschlichen Möglichkeiten, sich in der Welt und zur Welt zu verhalten, scheint auf den ersten Blick keine Resonanzmöglichkeiten zuzulassen. Zugleich ist mein Eindruck, dass insbesondere das gedankliche Modell der diagonalen Resonanzachse eine Möglichkeit bietet, die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten als resonant zu denken, auch wenn ein Toter selbstverständlich kein »Akteur« einer Resonanzbeziehung mehr sein kann. Diagonale Resonanz kann aber dann erlebt werden, wenn ein Gegenstand gewissermaßen zum Substitut der abwesenden Anwesenheit eines Verstorbenen wird.
Beispielsweise meine Großmutter: Zeit ihres Lebens liebte sie eine besondere Sorte Seife, von der sie etliche Stücke in ihrem Wäscheschrank aufzubewahren pflegte. Die Kleidungsstücke im Schrank nahmen den Geruch der Seife an und so war meine Großmutter stets von diesem speziellen, unvergleichlichen Seifenduft umgeben. Hin und wieder schenkte sie mir ein solches Seifenstück und auch ich legte diese Stücke in meinen Kleiderschrank. Nach ihrem Tod vor einigen Jahren gewann diese Seife eine besondere Bedeutung für mich: Immer, wenn ich meinen Kleiderschrank öffnete, strömte der Duft meiner Großmutter daraus hervor. Und es war mir, als käme sie selbst aus dem Schrank heraus, um mich zu umarmen. Anhand dieser kleinen Szene lässt sich verdeutlichen: Im menschlichen Verhältnis zum Tod und den Toten haben wir es in aller Regel mit einem »als ob« zu tun.
Als aufgeklärter, rationaler Mensch und als Theologin »weiß« ich einerseits freilich, dass nicht ein sich irgendwie verselbstständigt habender Geist meiner Großmutter im Kleiderschrank sitzt. Und zugleich gibt es Momente, in denen ich es so erlebe, »als ob« sie ganz gegenwärtig da wäre und diese Gegenwart erzeugt dann auch ein leibliches Gefühl in mir. Wir haben als Menschen eben die Möglichkeit, unterschiedliche Formen der Bezugnahme auf unsere Wirklichkeit einzunehmen. Und dabei auch Erfahrungen zu machen, die eine rein rationale Betrachtung der uns umgebenden Welt überschreiten.
Das Ringen um einen geeigneten rituellen Umgang mit dem Tod ist ein Problem, das sich der praktischen Theologie stetig stellt. In meiner Ausbildung zur Pfarrerin vor einigen Jahren gab es im Predigerseminar im Rahmen liturgischer Übungen zur Bestattung lebhafte Diskussionen darüber, ob eine Urne im Rahmen einer Trauerfeier anders zu behandeln sei, als ein Sarg, konkret, ob es theologisch legitim sei, eine Segensgeste in Richtung einer Urne zu vollziehen (beispielsweise vor dem Gang zum Grab), oder ob diese »heilige Handlung« dem Sarg, der zumindest ansatzweise noch die Existenz des Verstorbenen als leibliche Person repräsentiere, vorbehalten bleiben sollte. Meine Erfahrung im Laufe der folgenden Berufsjahre als Pfarrerin hat gezeigt: Für die trauernden Hinterbliebenen gibt es diesen Unterschied nicht. In der Urne »ist« der geliebte Opa, ja, die Urne wird oftmals wie ein schönes Kleidungsstück für den oder die Verstorbene ausgewählt. Sie wird angesprochen (»tschüss, Mami«) und mit liebevollen Gesten zum Grab begleitet und verabschiedet. Hier zeigt sich aus meiner Sicht genau dies: Ein Gegenstand kann zum Substitut einer Beziehung, zur Repräsentation einer Anwesenheit eines Abwesenden werden. Der Gegenstand Urne kann also wie ein Abendmahlskelch plötzlich und vielleicht punktuell mehr sein, als er tatsächlich materiell ist, und zu einem Resonanzobjekt werden.
Freilich sind solcherlei Resonanzerfahrungen unverfügbar, dies wird auch Rosa nicht müde zu betonen. Sie lassen sich nicht absichtsvoll erzeugen, aber können da entstehen, wo wir mit den genannten »als obs« zu rechnen imstande sind. Für mich als Theologin ergibt sich daraus, und das macht Rosas Resonanzkonzept zu einem Anknüpfungspunkt für ganz handlungspraktische Aufgaben der Theologie, dass es vielleicht gerade im Umgang mit dem Tod als dem Maximum des Unverfügbaren unsere Aufgabe ist, als Anwältinnen des »als ob« zu fungieren, ja, vielleicht auch als Anwältinnen solcher punktuellen Situationen einer Verzauberung der Welt, die es erlauben, die Grenzen der messbaren Erfahrungswirklichkeit imaginativ zu überwinden und das »als ob« in unser Leben zu integrieren.
Der Mensch als Zwitterwesen, das Raum und Zeit durchschreitet
Menschen sind Tiere, die ihre Tierheit hinter sich lassen, so ähnlich hat es der Anthropologe Helmuth Plessner ausgedrückt. Sie sind weltoffen und mit Möglichkeiten ausgestattet, sich etwas vorzustellen, was es nicht gibt, ja, vielleicht auch gar nicht in einem materiellen, handgreiflichen Sinne geben kann. »Zwischen Tier und Engel gestellt, ein Zwitterwesen, verrät der Mensch in seiner Weltoffenheit ein typisches Zurückbleiben hinter den Möglichkeiten, durch die er über jede Umweltbindung von vornherein hinausreicht: ein die Tierheit hinter sich lassendes Tier.«1 Menschen sind eben nicht nur Wesen, die sich unmittelbar zu Situationen in ihrer Umgebung verhalten, sondern sie sind in der Lage, diese Umgebung zu deuten und zu gestalten. Sie sind in der Lage, die Grenzen der Erfahrung durch Imagination zu überwinden und dieser Imagination einen Geltungsbereich innerhalb des tatsächlich Erlebbaren beizumessen. Menschen können Zukünftiges antizipieren und Vergangenes deuten. Und sie können sich sogar von einer Dimension, die den Bereich der messbaren Zeit überschreitet, eine Vorstellung machen, »Ewigkeit« denken sozusagen. Und das Gleiche gilt auch für die räumliche Dimension menschlicher Erfahrung. Auch diese kann gedanklich überschritten werden: Wir bleiben zwar räumliche Wesen im Hier und jetzt, können uns aber Orte vorstellen, die außerhalb dieser Wirklichkeit liegen. »Himmel« wäre so ein Ort, oder die »Regenbogenbrücke«, all dies sind Ausdrücke für das »Jenseits« unserer Erfahrung.
Menschen leben miteinander in Rollen, die sie sich innerhalb ihres Miteinanders zuschreiben und dadurch zu den Personen werden, als die sie in ihrer Menschlichkeit gleichwohl schon immer gelten. Der Name gibt die Erste Rolle an, die ein Mensch im Gegenüber zu anderen hat. Im Fall der »Sternenkinder« kommt dieser Namensnennung im Zuge des Abschiedsrituals eine besondere Bedeutung zu, denn damit werden die ungelebten Leben dieser Kinder zu einem Teil eines auch geteilten sozialen Raums; sie sind nicht mehr einfach nur etwas, sondern »jemand«. Im Falle der anonymen Toten in Mr. Mays Geschichte kompensiert May den Mangel an sozialen Beziehungen der Verstorbenen durch seine Erzählungen, mit denen er ihnen eine Rolle im Gemeinwesen zumindest zuschreibt.
Was macht einen Menschen zur Person? Darüber scheiden sich die Geister. Mit Plessner gesprochen, ist es schlicht das Menschsein, das mit Namen versehen eine mitweltliche Rolle erhält. Dieser Ansatz hilft zu vermeiden, Personsein mittels deskriptiver oder gar messbarer Kriterien bestimmen zu wollen und damit Menschen, die diese oder jene Merkmale nicht aufweisen, aus dem Kreis der Personen ausschließen zu müssen. Alles, was Menschenantlitz trägt, gilt als Person. Damit lässt sich eben auch den Verstorbenen, selbst wenn wir nichts oder kaum etwas über ihre Lebensgeschichten wissen, ein mitweltlicher Status, eine soziale Rolle zuerkennen und damit die Verstorbenen auch gewissermaßen räumlich und zeitlich lokalisieren – auch wenn sie nicht mehr leibhaftig »da« sind.
Friedhöfe als Begegnungsorte
Friedhöfe sind beispielhafte Orte, an denen solche Vorstellungen und Relationen förmlich »in Stein gemeißelt« sind. Auf Grabsteinen eingeschriebene Namen bilden Beziehungsgeflechte ab, die noch lange nach dem Ableben der Namensträger öffentlich sichtbar und erkennbar bleiben, die Lebenswege- und Lebensgeschichten für die Nachwelt präsent halten. Somit sind Friedhöfe Orte, an denen sich ein Verhältnis zum »Jenseits« unseres gelebten Lebens einnehmen lässt; denn es ist dort ganz leiblich erfahrbar, dass die Verstorbenen nicht mehr sichtbar, nicht mehr lebendig, nicht mehr beweglich, schlicht: nicht mehr »hier« sind, und zugleich weisen wir ihnen, indem wir von »Ruhestätte« oder letzter »Ruhe« sprechen, einen Ort in unserer Welt zu, der impliziert, dass der Verstorbene noch irgendwo »ist«, an einer »Stätte« der »Ruhe« eben. Gewissermaßen zeigt sich hier ein Paradox: Wir wissen, der bzw. die Tote ist nicht mehr da, sein oder ihr Körper verwest, wird zu Erde, oder ist ohnehin schon vor der Beisetzung verbrannt worden. Aber indem wir seinem oder ihrem Namen und damit ihrer sozialen Rolle und ihrer Lebensgeschichte einen Ort zuweisen, halten wir den Abwesenden in einem Status der Anwesenheit, wie auch immer diese gedacht wird.
Und zugleich sind Friedhöfe Orte der Begegnung. Mit der eigenen Vergänglichkeit, mit unserer eigenen Beziehung zu dem Jenseits unseres Lebens. Aber auch mit Erinnerungen und Hoffnungen – wie auch immer diese aussehen mögen. Friedhöfe geben der Imagination einen Ort in unserer Welt. Sie sind Materialisierungen von Sehnsucht und Phantasie, sie geben dem Unvorstellbaren und Unaussprechlichen einen Platz in unserer Wirklichkeit. Friedhöfe sind Orte, die der Beziehung zwischen Lebenden und Toten – ganz gleich mit welchen Vorstellungen – eine solche individuell verknüpft ist, in der Welt der Lebenden materiale Geltung verleihen. Sie sind Orte des »als ob«. Aus ihnen flüstert gleichsam die »Ewigkeit«.
Hier rezipierte und weiterführende Literatur: