Diese Frage stand im Zentrum der historischen Dartmouth Conference 1954. Sie war die Geburtsstunde einer völlig neuen Forschungsrichtung, zur sogenannten künstlichen Intelligenz (KI). Alles begann mit einem kühnen Plan, in dem es hieß: «Wir wollen herausfinden, wie man Maschinen dazu bringen kann, zu sprechen, Abstraktionen und Konzepte zu bilden, Probleme zu lösen, die bislang dem Menschen vorbehalten waren, und sich selbst zu verbessern.» Die Wortführer waren überzeugt, man könne «signifikante Fortschritte machen …, wenn eine sorgfältig ausgewählte Gruppe von Wissenschaftlern einen Sommer lang an dem Projekt zusammenarbeitet».
Viele Sommer später arbeiten einige der klügsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch immer verbissen an diesem Problem.
Einer der Leiter der damaligen Konferenz war MIT-Professor Marvin Minsky, der auch als «Vater der künstlichen Intelligenz» bezeichnet wird.
Als ich ihn nach dieser Anfangsphase fragte, meinte er, es seien aufregende Zeiten gewesen. Es schien, als sei es in wenigen Jahren möglich, eine Maschine zu entwickeln, deren Intelligenz der menschlichen Intelligenz gleichkam. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis Roboter den Turing-Test bestehen würden.
Wie es schien, gab es jedes Jahr neue Durchbrüche auf dem Gebiet der KI. Zum ersten Mal konnten digitale Computer Schach spielen und Menschen bei einfachen Spielen schlagen. Es gab Computer, die Algebra-Probleme auf Schulniveau lösen konnten. Mechanische Arme wurden entwickelt, die Spielklötze erkannten und dann greifen konnten. Am Stanford Research Institute bauten Wissenschaftler Shakey, einen kastenförmigen Minicomputer auf Rollen mit einer oben aufsitzenden Kamera. Er konnte darauf programmiert werden, in einem Raum herumzufahren und Objekte auf seinem Weg zu identifizieren. Er konnte selbstständig navigieren und Hindernisse umgehen. Seinen Namen verdankte er dem Geräusch, das er machte, während er durch den Raum rumpelte.
Die Medien gerieten buchstäblich aus dem Häuschen. Direkt vor unseren Augen werde der mechanische Mensch geboren, verkündeten sie. Schlagzeilen in Wissenschaftsmagazinen verkündeten das Kommen von Haushaltsrobotern, die den Boden saugen, das Geschirr abwaschen und ganz allgemein die Hausarbeit erleichtern würden. Eines Tages würden uns Roboter als Babysitter dienen oder sogar zu echten Familienmitgliedern werden. Selbst das Militär öffnete sein Scheckbuch und finanzierte Roboter für den Einsatz auf dem Schlachtfeld, zum Beispiel Smart Truck, der sich eines Tages allein bewegen, hinter den feindlichen Linien Aufklärungsarbeit leisten, verwundete Soldaten retten und dann zur Berichterstattung zur Basis zurückkehren sollte, alles völlig selbstständig.
Wir stünden kurz davor, uns einen uralten Traum zu erfüllen, begeisterten sich Historiker. Der griechische Gott Hephaistos schuf eine Flotte von Robotern, um diverse Arbeiten in seinem Palast zu erledigen. Einer der von Hephaistos geschaffenen Roboter war Pandora, die eine magische Büchse öffnete, ohne zu wissen, dass aus ihr alle Laster und Untugenden in die Menschenwelt entweichen würden. Und selbst der geniale Leonardo da Vinci baute 1495 einen mechanischen Ritter, der mithilfe verborgener Flaschenzüge und Seile seine Arme bewegen, stehen, sitzen und sein Visier heben konnte.
Aber dann setzte der «KI-Winter» ein. Trotz all der atemberaubenden Presseerklärungen war der Medienrummel um die KI zu groß geworden, und dunkle Wolken des Pessimismus zogen auf. Die Forschenden erkannten, dass ihre KI-Maschinen immer nur eine einzige Fähigkeit besaßen. Und jede Maschine konnte nur eine einfache Aufgabe erfüllen. Roboter waren noch immer unbeholfene Maschinen, die sich kaum in einem Raum zurechtfinden konnten. Die Idee, eine Allzweck-Maschine zu bauen, die es mit der menschlichen Intelligenz aufnehmen konnte, schien wieder unendlich weit entfernt.
Das Militär begann, das Interesse zu verlieren. Die finanzielle Unterstützung blieb mehr und mehr aus, und die Investoren verloren ihr letztes Hemd. Seitdem hat es mehrere KI-Winter gegeben, Boom-Bust-Zyklen mit enormer Begeisterung und schamloser Publicity, die stets in einem Zusammenbruch endeten. Wissenschaftler mussten sich der harten Realität stellen und zugeben, dass die Entwicklung einer KI schwieriger war als angenommen.
Da Marvin Minsky so viele KI-Winter hatte kommen und gehen sehen, fragte ich ihn, ob er vorhersagen könne, wann ein Roboter die Intelligenz eines Menschen erreichen oder sie gar übertreffen werde. Er lächelte und meinte, dass er solche Aussagen über die Zukunft nicht länger mache. Er sei nicht mehr im Wahrsagegeschäft. Zu oft, gab er mir gegenüber zu, geht ihr Enthusiasmus mit den Leuten durch.
Das Problem, so Minsky, sei, dass KI-Forscher unter «Physikneid» leiden, wie er es nannte, dem Wunsch, DAS eine vereinheitlichende, übergreifenden Thema für die KI zu finden. Physiker, meinte er, suchen nach einer einzigen Einheitlichen Feldtheorie, die uns ein zusammenhängendes, elegantes Bild des Universums verspricht. KI ist jedoch anders, ein chaotisches Patchwork mit zu vielen auseinanderstrebenden und sogar widersprüchlichen Wegen, die wir der Evolution verdanken.
Wir müssen neue Ideen und neue Strategien ausprobieren. Ein vielversprechender Weg könnte sein, KI und Quantencomputer miteinander zu kombinieren, die Kraft dieser beiden Disziplinen zu verschmelzen, um das Problem der künstlichen Intelligenz in Angriff zu nehmen. In der Vergangenheit war KI mit digitalen Computern vermählt, das schränkte die Fähigkeit der KI in frustrierender Weise ein. Aber KI und Quantencomputer ergänzen einander. KI hat die Fähigkeit, neue, komplexe Aufgaben zu erlernen, und Quantencomputer können die dazu nötigen rechnerischen Muskeln liefern.
Ein Quantencomputer mag eine beeindruckende Leistungsfähigkeit haben, doch er lernt nicht unbedingt aus seinen früheren Fehlern. Ein Quantencomputer, der mit neuronalen Netzwerken ausgestattet ist, wäre hingegen in der Lage, seine Berechnungen mit jeder Wiederholung zu verbessern, sodass er Probleme schneller und effektiver lösen kann, indem er neue Wege findet. Ähnlich mögen KI-Systeme darauf programmiert sein, aus ihren Fehlern zu lernen, doch ihre Rechenkapazität dürfte zu klein sein, um hochkomplexe Probleme zu lösen. Daher könnte eine KI, unterstützt von der Rechenleistung eines Quantencomputers, schwierigere Probleme in Angriff nehmen.
Am Ende könnte die Zusammenarbeit von KI und Quantencomputern für die Forschung völlig neue Wege eröffnen. Vielleicht liegt der Schlüssel zur KI in der Quantentheorie. Tatsächlich könnte die Verschmelzung dieser beiden Ansätze sämtliche Zweige der Wissenschaft revolutionieren und auch unsere Lebensweise und die Wirtschaft radikal verändern. KI wird uns in die Lage versetzen, lernende Maschinen zu konstruieren, deren Fähigkeiten sich allmählich denjenigen des Menschen annähern, während Quantencomputer die Rechenleistung liefern könnten, um eine intelligente Maschine zu erschaffen. Wie der CEO von Google, Sundar Pichai, einmal gemeint hat: «Ich denke, die KI kann das Quantencomputing beschleunigen, und das Quantencomputing kann die KI beschleunigen.»
Ein Wissenschaftler, der lange und intensiv über die Zukunft der KI nachgedacht hat, ist Rodney Brooks, früherer Direktor des Artificial Intelligence Laboratory am MIT, das von Marvin Minsky gegründet wurde. Dr. Brooks ist der Ansicht, man habe den Begriff KI vielleicht zu eng gefasst. Man denke beispielsweise an die erstaunlichen Navigationskünste einer Fliege, erklärte er mir. Sie erbringt Meisterleistungen, die die Fähigkeiten unserer besten Maschinen übersteigen. Ganz allein kann sie gewandt in einem Zimmer herumfliegen, manövrieren, Hindernissen ausweichen, Nahrung aufstöbern, einen Geschlechtspartner finden und sich verstecken – mit einem Gehirn nicht größer als ein Stecknadelkopf. Eine Fliege ist zweifellos ein Wunderwerk der Biologie.
Wie ist das möglich? Wie kann Mutter Natur eine Flugmaschine konstruieren, die unsere besten Fluggeräte in den Schatten stellt?
Allmählich wurde ihm klar, dass das Gebiet der KI möglicherweise damals, 1956, die falschen Fragen gestellt hatte. Damals nahm man an, das Gehirn sei eine Art Turing-Maschine, ein Digitalrechner. Man listet alle Regeln für Schach, Laufen, Algebra etc. in einer gigantischen Software auf, die man dann in einen Digitalrechner eingibt, und der beginnt plötzlich zu denken. «Denken» wurde auf Software reduziert. Damit war auch die grundsätzliche Strategie klar: Man schreibe zunehmend raffiniertere Programme, um die Maschine zu steuern.
Wie bereits erwähnt, besitzt eine Turing-Maschine einen Prozessor, der die eingespeisten Befehle ausführt. Sie ist nur so intelligent wie die Programmierung, die sie umsetzt. Daher muss ein laufender Roboter Newtons Bewegungsgesetzte einprogrammiert haben, sodass er die Bewegung seiner Gliedmaßen steuern kann, und zwar Mikrosekunde für Mikrosekunde. Deshalb erfordert es schon gigantische Computerprogramme mit Millionen Zeilen Computercode, um nur quer durch den Raum zu laufen.
Bis dahin basierten KI-Maschinen darauf, erklärte mir Brooks, ihnen all die Gesetze der Logik und Bewegung von Anfang an einzuprogrammieren, was sich als äußerst mühselig herausstellte. Das wurde als Top-down-Ansatz bezeichnet (von oben nach unten), d.h., Roboter wurden im Voraus darauf programmiert, alles Mögliche zu meistern. Aber die Roboter, die so entworfen worden waren, erschienen armselig: Wenn man Shakey oder einen der fortgeschrittenen Militärroboter nimmt und im Wald aussetzt, was tut er dann? Höchstwahrscheinlich verirrt er sich oder kippt um. Hingegen kann das kleinste Insekt mit einem winzigen Gehirn herumsausen und Nahrung, Geschlechtspartner sowie einen Unterschlupf finden, während unser Roboter hilflos auf dem Rücken liegt und mit den Armen rudert.
So hat Mutter Natur ihre Geschöpfe nicht entworfen.
In der Natur, erkannte Brooks, sind Tiere nicht von vornherein darauf programmiert zu laufen. Sie lernen dies auf die harte Tour, indem sie ein Bein vor das andere setzen, hinfallen und wieder aufstehen und es noch mal versuchen. Die Natur arbeitet nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum.
Das erinnert an den Rat, den jeder Musiklehrer seiner vielversprechenden Schülerin gibt. Wie kommt man in die Carnegie Hall? Antwort: Üben, üben, üben.
Mit anderen Worten: Mutter Natur entwirft Geschöpfe, die Muster suchende Lernmaschinen sind und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum lernen, sich in der Welt zu orientieren. Sie machen Fehler, aber mit jeder Wiederholung stellen sich Fortschritte ein.
Das ist ein Bottom-up-Ansatz (von unten nach oben), und er beginnt damit, gegen Hindernisse zu rennen. Zum Beispiel lernen Babys, indem sie Erwachsene nachahmen. Wenn man nachts in eine Wiege ein Tonbandgerät legt, hört man Babys ständig brabbeln. Sie üben immer wieder, wie man die Laute hervorbringt, die sie ständig hören, und zwar so lange, bis sie diese Laute perfekt reproduzieren können.
Aufgrund solcher Erkenntnisse schuf Professor Brooks eine ganze Flotte von «Insektoiden» oder «Bugbots» («Insektenroboter»). Laufen lernen sie nach der Methode von Mutter Natur, indem sie gegen Hindernisse rempeln. Schon bald krabbelten kleine insektenähnliche Roboter über die Gänge des MIT und stießen gegen Objekte, doch sie stellten sich geschickter an als die unbeholfenen traditionellen Roboter, die strikten Regeln folgten, aber an der Tapete entlangschrappten, während sie vorbeirumpelten. Warum das Rad neu erfinden?
«Als ich noch ein kleiner Junge war», erzählte mir Brooks, «hatte ich ein Buch, in dem das Gehirn als eine Telefon-Schaltzentrale beschrieben war. Frühere Bücher beschrieben es als hydraulisches System oder als Dampfmaschine. Dann, in den 1960ern, wurde es zu einem digitalen Computer. In den 1980ern wurde es zu einem massiv parallelgeschalteten Digitalrechner. Wahrscheinlich gibt es irgendwo da draußen ein Kinderbuch, das behauptet, das Gehirn sei so etwas wie das World Wide Web.»
Vielleicht ist das Gehirn tatsächlich eine Muster suchende Lernmaschine, die auf sogenannten neuronalen Netzen basiert. In den Computerwissenschaften machen sich neuronale Netzwerke etwas zunutze, das man als Hebbsche Regel bezeichnet. Eine Version dieser Regel besagt: Wenn man eine Aufgabe ständig wiederholt und aus vorangegangenen Fehlern lernt, dann bringt jede Wiederholung einen näher an den richtigen Weg. Mit anderen Worten wird die korrekte Bahn für diese Aufgabe im Gehirn des KI-Systems nach zahlreichen Wiederholungen verstärkt. Wenn eine lernende Maschine zum Beispiel versucht, eine Katze zu identifizieren, wird sie nicht mit der mathematischen Beschreibung der Grundzüge einer Katze gefüttert. Vielmehr zeigt man ihr eine breite Palette von Katzenbildern in Situationen aller Art – schlafend, schleichend, jagend, springend, usw. Dann findet der Computer selbst nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum heraus, wie eine Katze in unterschiedlichen Umgebungen aussieht. Das nennt man Deep Learning.
Die Erfolge des Deep-Learning-Ansatzes sind recht bemerkenswert. Googles AlphaGo, eine KI, die dazu entworfen worden ist, das alte Brettspiel Go zu spielen, konnte 2017 den Weltmeister besiegen. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, da es auf einem 19x19-Go-Brett 10170 mögliche Positionen gibt. Das sind mehr Positionen, als es Atome im bekannten Universum gibt. AlphaGo lernte das Spiel nicht nur durch Beobachtung von Spitzenspielern, sondern auch dadurch, dass der Computer gegen sich selbst spielte, wobei er Spiele mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durchlaufen konnte.
Lernende Maschinen oder neuronale Netzwerke könnten schließlich eines der hartnäckigsten Probleme bei der künstlichen Intelligenz lösen, das «Problem des gesunden Menschenverstands». Dinge, die Menschen für selbstverständlich halten und die selbst ein Kind versteht, liegen jenseits der Fähigkeiten der fortschrittlichsten Computer. Solange Roboter das Problem des gesunden Menschenverstands nicht lösen, werden sie sich nicht in die menschliche Gesellschaft integrieren können.
Zum Beispiel kann ein Digitalrechner unter Umständen aus einem simplen Satz an Beobachtungen keine Schlüsse ziehen, wie:
Wasser ist nass, nicht trocken
Mütter sind älter als ihre Töchter
Stricke können ziehen, aber nicht drücken
Stöcke können drücken, aber nicht ziehen
An einem einzigen Nachmittag kann man problemlos ganze Listen «offensichtlicher» Tatsachen über unsere Welt niederschreiben, die über das Verständnis von digitalen Computern hinausgehen. Das liegt daran, dass Computer die Welt nicht so erfahren wie wir.
Kinder lernen diese Tatsachen des gesunden Menschenverstands, indem sie in diese Dinge hineinstolpern. Sie lernen, indem sie etwas tun. Sie wissen, dass Mütter älter sind als ihre Töchter, weil sie diese Tatsache gesehen und erlebt haben. Ein Roboter ist jedoch wie eine leere Tafel, die keinerlei Vorverständnis für seine Umgebung mitbringt.
Wie beim Top-down-Ansatz diskutiert, haben Wissenschaftler versucht, gesunden Menschenverstand in die Software eines Computers einzuprogrammieren. Dann würde dieser sofort wissen, wie er sich in der menschlichen Gesellschaft bewegen und benehmen sollte. All diese Versuche schlugen jedoch fehl. In gesundem Menschenverstand steckt einfach enorm viel Wissen, das zwar selbst ein vierjähriges Kind begreift, einen Digitalrechner aber überfordert.
Daher könnte eine Verschmelzung des Top-down- und des Bottom-up-Ansatzes und eine Verschmelzung von KI mit Quantencomputern den Traum der ersten KI-Forscher erfüllen und den Weg in die Zukunft ebnen.
Während das Mooresche Gesetz allmählich an Gültigkeit verliert, da sich Transistoren der Größe von Atomen nähern, müssen auf Mikrochips basierende Computer zwangsläufig irgendwann von weiter fortgeschrittenen Computern, wie Quantencomputern, ersetzt werden.
Was die KI angeht, so ist ihre Weiterentwicklung aufgrund mangelnder Computerleistung ins Stocken geraten. Alle ihre Fähigkeiten, was Maschinenlernen, Mustererkennung, Suchmaschinen und Robotik angeht, werden durch fehlende Rechenleistung eingeschränkt. Quantencomputer können den Fortschritt auf all diesen Gebieten stark beschleunigen, da sie riesige Datenmengen simultan verarbeiten können. Während Digitalrechner eine Aufgabe Bit für Bit berechnen, rechnen Quantencomputer gleichzeitig mit einer riesigen Anordnung von Qubits und steigern ihre Leistungsfähigkeit dadurch exponentiell.
Daher können wir uns vorstellen, wie die KI und Quantencomputer sich gegenseitig befruchten. Quantencomputer können davon profitieren, neue Aufgaben zu erlernen, wie es neuronale Netzwerke tun, und die KI kann von der riesigen Rechenleistung der Quantencomputer profitieren.
Deep-Learning-Systeme der KI sind inzwischen dabei, eines der größten Probleme in Biologie und Medizin in Angriff zu nehmen: die Entschlüsselung des Geheimnisses der Proteinmoleküle. Zwar enthält die DNA die Instruktionen für Leben, doch es sind die Proteine, die tatsächlich die Schwerstarbeit verrichten, den Körper in Gang zu halten. Wenn wir unseren Körper mit einer Baustelle vergleichen, enthält die DNA die Konstruktionszeichnung, die Blaupause, doch die Proteine übernehmen das schwere Heben und Lastentragen der Vorarbeiter und Bauarbeiter. Eine Blaupause ist wertlos, wenn es nicht ein Heer von Arbeitern gibt, die sie ausführen.
Proteine sind die Arbeitstiere der Biologie. Sie bilden nicht nur die Muskulatur, die unserem Körper seine Beweglichkeit verleiht, sie verdauen auch unsere Nahrung, greifen Keime an, regulieren unsere Körperfunktionen und erledigen viele andere wichtige Aufgaben. Darum haben sich Biologen gefragt: Wie gelingt es diesen Proteinmolekülen, all diese wundersamen Funktionen zu erfüllen?
In den 1950er- und 1960er-Jahren benutzten Wissenschaftler Röntgenkristallografie, um die räumliche Gestalt einer Reihe von Proteinmolekülen zu kartieren. Diese Proteine bestehen aus Bausteinen, den Aminosäuren, von denen es in der Natur 20 verschiedene Typen gibt, die in langen Strängen angeordnet sind und komplexe Knäuel bilden. Zu ihrer großen Überraschung stellten die Wissenschaftler fest, dass es die Form des Proteinmoleküls ist, die seine Magie möglich macht. Wissenschaftler sagen in diesem Fall «Die Funktion folgt der Form», d.h., es ist die Form eines Proteinmoleküls mit all ihren komplizierten Knoten und Wirbeln, die die charakteristischen Eigenschaften eines Proteins hervorbringt.
Denken Sie zum Beispiel an das Coronavirus, das mit seinen vielen Spikeproteinen, die auf seiner Oberfläche sitzen, im Aussehen an die Sonnencorona erinnert. Diese Oberflächenproteine oder Spikes sind wie Schlüssel, die die speziellen «Schlösser» auf der Oberfläche von Lungenzellen öffnen, sodass das Virus die Zellen mit seinem genetischen Material infizieren kann; anschließend fertigen die Zellen zahlreiche Kopien des Virus an. Wenn die Zelle abstirbt, werden die Viruskopien frei und infizieren weitere gesunde Lungenzellen. Die Spikeproteine, die das Eindringen in Zellen ermöglichen, sind der Grund dafür, dass die Weltwirtschaft 2020–2022 fast einen Zusammenbruch erlitt.
Daher bestimmt die Form des Proteins mehr als alles andere, wie sich das Molekül verhält. Wenn wir die Form eines jeden Proteinmoleküls kennten, wären wir einen großen Schritt weiter, seine Arbeitsweise zu verstehen.
Das ist das sogenannte «Proteinfaltungs-Problem», die Aufgabe, die dreidimensionale Struktur aller wichtigen Proteine aufzuklären. Denn dies könnte das Geheimnis vieler unheilbarer Krankheiten lüften.
Die Röntgenkristallografie war entscheidend wichtig, um die Form eines Proteinmoleküls aufzuklären, doch das ist ein langer und mühsamer Prozess. Zunächst muss das Protein, das man analysieren will, isoliert, gereinigt und in Kristallform überführt werden. Das Proteinkristall kommt dann in ein Röntgendiffraktometer, das die Probe mit Röntgenstrahlen beschießt, sodass sich auf einem lichtempfindlichen Film ein Interferenzmuster bildet. Auf den ersten Blick sieht die Röntgenaufnahme wie ein chaotischer Wirrwarr von Punkten und Linien aus. Aber mit Intuition, Glück und Physik kann es Wissenschaftlern gelingen, die dreidimensionale Struktur des Proteins mithilfe der Aufnahme zu entschlüsseln.
Eines der Ziele eines sich gerade entwickelnden Gebiets, der sogenannten Bioinformatik (englisch computational biology), ist daher, die dreidimensionale Struktur eines Proteins mithilfe von Computern aufzuklären, indem man sich lediglich die chemischen Bausteine des Proteins anschaut. Vielleicht ließe sich die jahrelange Arbeit, die nötig ist, um die Struktur eines Proteinmoleküls zu verstehen, durch das Drücken eines Knopfes an einem Computer ersetzen, auf dem ein KI-Programm läuft.
Um die Forschung auf diesem schwierigen, aber so wichtigen Gebiet voranzubringen, bedienten sich Wissenschaftler einer neuen Strategie. Sie riefen einen Wettbewerb namens CASP (Critical Assessment of Structure Prediction) aus, um herauszufinden, wer das beste Computerprogramm besaß, um das Problem der Proteinfaltung zu lösen.
Das war ein Wendepunkt, denn dieser Wettbewerb gab jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ein aufregendes konkretes Ziel. Sie konnten Ruhm und Anerkennung unter ihresgleichen ernten, indem sie KI einsetzten, um das Problem der Proteinfaltung zu lösen – und das konnte wiederum zu Therapien führen, die Tausenden das Leben retten würden.
Die Regeln des Wettbewerbs waren einfach. Die Teilnehmenden erhielten einige wenige Hinweise auf die Natur eines bestimmten Proteins, beispielsweise dessen Aminosäuresequenz. Eine Möglichkeit, das Problem anzugehen, bestand darin, das Prinzip der kleinsten Wirkung anzuwenden, das Richard Feynman so erfolgreich auf die Quantenmechanik angewandt hatte. Sie erinnern sich, dass Feynman als Highschool-Student ermitteln konnte, welchen Weg ein Ball nahm, indem er seine Wirkung (kinetische Energie minus potenzieller Energie) minimierte.
Dieselbe Methode lässt sich auch auf Proteinmoleküle anwenden. Ziel ist es, diejenige Anordnung der Aminosäuren zu finden, die den niedrigsten Energiezustand einnimmt. Man vergleicht diesen Prozess gern mit dem Herabsteigen von einem Berg, um den tiefsten Punkt in einem Tal zu finden. Zuerst macht man kleine vorsichtige Schritte in alle Richtungen. Dann bewegt man sich nur noch in die Richtung, die die eigene Höhe ein wenig verringert. Dann beginnt man wieder von vorn, macht den nächsten Schritt und schaut, ob man weiter abwärts steigen kann, bis man schließlich den Talboden erreicht.
Auf dieselbe Weise kann man die Anordnung von Aminosäuren finden, die die niedrigste Energie aufweist.
Hier ist eine Möglichkeit, wie man dabei vorgehen kann: Zunächst macht man eine Reihe von Näherungen. Da ein Molekül viele Wellenfunktionen hat, die Elektronen und Atomkerne beschreiben, welche alle miteinander in komplexer Weise wechselwirken, übersteigt die Berechnung rasch das Leistungsvermögen eines konventionellen Computers. Daher lässt man einfach eine Reihe komplexer Terme fallen (z.B. die Wechselbeziehungen von Elektronen mit schweren Atomkernen und gewisse Wechselwirkungen zwischen Elektronen) und hofft, dass daraus nicht allzu viele Fehler resultieren.
Nun, da man das Programm eingerichtet hat, verknüpft man als Erstes die verschiedenen Aminosäuren miteinander zu einer langen Kette. Das bildet ein Skelett oder «Spielzeugmodell» vom möglichen Aussehen des Proteinmoleküls. Da man die Bindungswinkel kennt, die sich ergeben, wenn sich gewisse Atome miteinander verbinden, erhält man auf diese Weise eine grobe Vorstellung vom möglichen Aussehen des Proteins.
Zweitens berechnet man die Energie dieser Konfiguration von Aminosäuren, denn die Energie der verschiedenen Ladungen und die Bewegungsmöglichkeiten der Bindungen sind bekannt.
Drittens dreht und wendet man diese Bindungen, um herauszufinden, ob andere Konfigurationen die Energie des Proteins erhöhen oder senken. Das ist den vorsichtigen Schritten am Berg vergleichbar, die die eigene Höhe verringern.
Viertens verwirft man alle Konfigurationen, die die Energie erhöhen, und behält nur diejenigen bei, die sie senken. Der Computer «lernt» durch Versuch und Irrtum, wie die Bewegung der Atome die Energie des Moleküls verringern kann.
Und zuletzt beginnt man wieder von vorne, indem man die chemischen Bindungen verdreht oder die Aminosäuren neu anordnet. Bei jeder Wiederholung senkt man die Energie ein wenig, indem man die Lage und Position der Aminosäuren leicht verändert, bis man schließlich zu der Konfiguration mit der niedrigsten Energie gelangt.
Normalerweise würde dieser ständige Anpassungsprozess der Position der Atome die Fähigkeiten eines Digitalrechners übersteigen. Da man jedoch mit einer Reihe von Näherungen startet und nur auf relativ kleine Beiträge zur Energie verzichtet, kann ein Computer die vereinfachte Version innerhalb von Stunden oder Tagen lösen.
Zunächst waren die Ergebnisse lachhaft schlecht. Wenn man die Form des Moleküls, die von einem Computer vorhergesagt wurde, mit der aktuellen Form verglich, die sich per Röntgenkristallografie ergeben hatte, lagen die Computermodelle ziemlich weit daneben. Im Lauf der Jahre wurden Lernprogramme für Computer jedoch immer besser, und die Modelle wurden präziser.
Um 2021 waren die Ergebnisse spektakulär. Selbst bei all diesen Näherungen meldete das Computerunternehmen DeepMind, das an Google angegliedert ist, sein KI-Programm namens AlphaFold habe die Grobstruktur einer erstaunlichen Anzahl von Proteinen entschlüsselt: 350000. Zudem identifizierte es 250000 Formen, die zuvor unbekannt waren. Und es klärte die dreidimensionale Struktur aller 20 Proteine auf, die im Humangenomprojet aufgelistet sind. Es entzifferte sogar die Struktur von Proteinen, die in der Maus, der Taufliege und dem E. coli-Bakterium gefunden wurden. Später meldeten die Gründer von DeepMind, das Unternehmen würde in Kürze eine Datenbank mit mehr als 100 Millionen Proteinen veröffentlichen, die sämtliche der Wissenschaft bekannten Proteine umfasst.
Ebenfalls bemerkenswert ist, dass DeepMinds Ergebnisse trotz all der Näherungen den Ergebnissen der Röntgenkristallografie einigermaßen entsprechen. Obwohl verschiedene Terme in der Schrödingergleichung vernachlässigt wurden, erhielten die Forscher erstaunlich gute Resultate.
«Fast 50 Jahre lang sind wir bei diesem einen Problem – der Proteinfaltung – nicht weitergekommen. Wahrzunehmen, dass DeepMind eine Lösung für dieses Problem parat hat, an dem ich selbst so lange Jahre gearbeitet habe und nach so vielen Anläufen, bei denen wir uns gefragt haben, ob wir unser Ziel jemals erreichen werden, ist ein ganz spezieller Moment», meint John Moult, Mitbegründer von CASP.[38]
Diese Goldmine an Information hat auf der Stelle Konsequenzen gehabt. Beispielsweise ist sie verwendet worden, um 26 verschiedene Proteine des Coronavirus zu identifizieren, in der Hoffnung, dessen Schwachstellen zu finden und neue Impfstoffe zu entwickeln. In Zukunft sollte es möglich sein, die Struktur von Tausenden wichtiger Proteine aufzuklären. «Es ist uns gelungen, innerhalb weniger Monate Coronaviren-neutralisierende Proteine zu entwerfen. Unser Ziel ist jedoch, so etwas innerhalb weniger Wochen zu schaffen», meint David Baker vom Protein Design an der University of Washington.
Aber das ist nur der Anfang. Wie bereits betont, folgt die Funktion der Form. Das heißt, die Art und Weise, wie Proteine funktionieren, wird von ihrer Struktur bestimmt. Ebenso, wie ein Schlüssel in ein Schlüsselloch passt, bewirkt ein Protein seine Magie, indem es sich irgendwie an ein anderes Molekül anhängt.
Aber herauszufinden, wie sich Proteine falten, ist der einfache Teil. Nun beginnt der schwierige Teil, bei dem Quantencomputer eingesetzt werden, um die komplette Struktur eines Proteins zu entschlüsseln, ohne all die Näherungen. Es geht darum herauszufinden, wie ein bestimmtes Protein mit anderen Molekülen zusammenpasst, sodass es seine Funktion ausüben kann: beispielsweise Energie liefern, als Katalysator arbeiten, mit anderen Proteinen verschmelzen oder zusammenarbeiten, sich von anderen Molekülen abspalten und vieles mehr. Daher ist die Proteinfaltung nur der erste Schritt auf einer langen Reise, auf der wir dem Rätsel des Lebens selbst näher kommen.
Daher wird das zukünftige Programm zum Verständnis der Proteinfaltung in mehreren Schritten ablaufen:
Wir befinden uns gegenwärtig in diesem Stadium und legen gerade ein riesiges Wörterbuch mit vielen Hunderttausend Einträgen an, in denen es um die Faltung verschiedener Proteine geht. Jeder Eintrag in dieses Wörterbuch liefert ein Bild der individuellen Atome, die gemeinsam ein komplexes Protein bilden. Diese Diagramme stammen ihrerseits aus dem Studium von Röntgenaufnahmen. Dieses riesige Buch enthält die korrekte Schreibweise eines jeden Proteins, doch noch ist es insofern bislang weitgehend leer, als es noch auf einer Reihe von Näherungen basiert, die Digitalrechnern erlauben, diese Berechnungen anzustellen. Wirklich erstaunlich ist dennoch, dass Wissenschaftler trotz so vieler Näherungen derart präzise Resultate erzielen.
Im nächsten Stadium, in das wir nun eintreten, geht es darum herauszufinden, wie die dreidimensionale Struktur des Proteins seine Funktion bestimmt. Mithilfe von KI und Quantencomputern wollen wir klären, wie gewisse atomare Anordnungen in einem gefalteten Protein ihm ermöglichen, bestimmte Aufgaben im Körper zu erfüllen. Ziel ist eine vollständige Beschreibung körperlicher Funktionen und ihre Kontrolle durch Proteine.
Der letzte Schritt besteht darin, mithilfe dieses Wörterbuchs der Proteine neue, verbesserte Protein-Versionen zu entwickeln, die uns die Entwicklung neuer Arzneimittel und Therapien ermöglichen. Dazu müssen wir die Näherungen hinter uns lassen und die ursprünglichen quantenmechanischen Gleichungen der Moleküle lösen. Das können nur Quantencomputer leisten.
Die Evolution hat durch rein zufällige Wechselwirkungen eine Schatztruhe von Proteinen geschaffen, die verschiedene Aufgaben erfüllen können. Dafür hat sie jedoch Milliarden Jahre gebraucht. Wenn man den Speicher eines Quantencomputers als «virtuelles Labor» verwendet, sollte es möglich sein, die Evolution zu übertreffen und neue Proteine zu entwerfen, die besser im Körper funktionieren als die alten.
Bei diesem Vorgehen ergibt sich eine breite Palette von Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Entwicklung völlig neuer Medikamente. Als Einstieg haben einige Menschen darüber nachgedacht, wie man damit die Umweltverschmutzung reduzieren könnte. So suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegenwärtig nach Wegen, die 150 Millionen Tonnen Plastik abzubauen, die in Form von Getränkeflaschen auf Müllkippen landen oder als Mikroplastik in den Weltmeeren treiben. Die Idee lautet, mithilfe dieser Proteindatenbank die dreidimensionale Struktur bestimmter Proteine, sogenannter Enzyme, zu untersuchen, welche Kunststoffmoleküle abbauen und damit unschädlich machen können. Daran wird im Center for Enzymes in Portmouth, Großbritannien, bereits gearbeitet.
Dieser Prozess könnte auch sofortige medizinische Anwendungen zeitigen, denn eine Reihe von unheilbaren Krankheiten steht offenbar mit falsch gefalteten Proteinen in Zusammenhang. Ein vielversprechender Weg besteht darin, die Natur von Prionen zu verstehen; diese Proteine werden potenziell mit einer ganzen Palette unheilbarer Krankheiten in Verbindung gebracht, die besonders ältere Menschen betreffen, wie Alzheimer, Parkinson und ALS. Daher könnten Quantencomputer entscheidend dazu beitragen, Therapien für diese unheilbaren Krankheiten zu finden.
Die größten Herausforderungen der Medizin, bislang unheilbare Krankheiten, könnten das neue Schlachtfeld für Quantencomputer sein.
Traditionell steht in jedem medizinischen Lehrbuch, dass Krankheiten von Bakterien und Viren verbreitet werden.
Aber das ist wahrscheinlich nicht die ganze Geschichte. Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass Tiere an merkwürdigen Krankheiten leiden, die anders sind als diejenigen, die Menschen heimsuchen. Schafe mit Scrapie verhalten sich seltsam, scheuern sich an Zaunpfosten die Wolle ab (to scrape = kratzen) und verweigern das Futter. Diese unheilbare Krankheit endet immer tödlich. Rinderwahnsinn (Bovine spongiforme Enzephalopathie, BSE) ist eine ähnliche Erkrankung, die Rinder befällt, sodass sie Gangstörungen entwickeln, leicht erschrecken und aggressiv werden.
Beim Menschen gibt es eine seltene und ausgefallene Krankheit namens Kuru, die früher unter einigen Stämmen in Papua-Neuguinea kursierte. Dort verzehrten Stammesmitglieder im Rahmen ihrer Begräbniszeremonien das Gehirn ihres verstorbenen Verwandten. Einige der Beteiligten entwickelten einige Zeit später Symptome wie Demenz, starke Stimmungsschwankungen und Bewegungsstörungen; Ursache war die neue, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckte Krankheit, die im Gehirn ihrer Verwandten nachgewiesen wurde.
Stanley B. Prusiner von der University of California in San Francisco wandte sich gegen das konventionelle medizinische Denken und kam zu dem Schluss, alles weise auf einen neuartigen Krankheitstyp hin. Im Jahr 1982 verkündete er, er habe das Protein gereinigt und isoliert, das die Ursache für diese Krankheit sei. Für seine Entdeckung der «Prionen» erhielt er im Jahr 1997 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
Prione sind Proteine, die im Körper in normal gefalteter, physiologischer Form und in einer schädlichen (pathogenen), anomal gefalteten Form vorliegen können. Pathogene Prionen verbreiten sich nicht in der für Infektionen üblichen Weise, sondern durch Kontakt mit anderen Prionen. Wenn ein pathogenes Prion in Kontakt mit einem anderen, normal gefalteten Prion kommt, zwingt das anomal gefaltete Prion das normale Prion auf irgendeine Weise, sich ebenfalls falsch zu falten. So kann sich die Prionenkrankheit rasch im ganzen Körper verbreiten.
Inzwischen nehmen Wissenschaftler an, dass viele der tödlichen Krankheiten, die ältere Menschen befallen, ebenfalls von Prionen verursacht werden, wenn diese Meinung auch nicht unumstritten ist. Dazu gehört die Alzheimer-Krankheit, die von manchen als «Krankheit des Jahrhunderts» bezeichnet wird. Heute leiden rund sechs Millionen Amerikaner an Alzheimer, viele von ihnen 65 Jahre und älter; in Deutschland sind rund 700000 Menschen betroffen. Rund eine Person von drei Senioren und Seniorinnen stirbt an Alzheimer oder Demenz. Gegenwärtig ist Alzheimer die sechsthäufigste Todesurdache in den Vereinigten Staaten, und die Fallzahlen steigen ständig. Schätzungen zufolge wird rund die Hälfte der Menschen über 80 Jahren schließlich an Alzheimer erkranken.
Alzheimer ist eine besonders tragische Krankheit, weil sie unseren privatesten und wichtigsten Besitz angreift, unsere Erinnerungen und unser Gefühl dafür, wer wir sind. Sie attackiert zunächst Bereiche tief im Gehirn, wie den Hippocampus, der Kurzzeiterinnerungen verarbeitet. Daher gehören zu den ersten Symptomen einer Alzheimer-Erkrankung Lücken im Kurzzeitgedächtnis. Vielleicht erinnern sich die Betroffenen glasklar an Ereignisse, die vor 60 Jahren stattgefunden haben, vergessen jedoch Dinge, die vor 6 Minuten passiert sind. Aber schließlich greift die Krankheit auf das gesamte Gehirn über, und selbst Langzeiterinnerungen verschwinden im Meer der Zeit. Die Krankheit endet immer tödlich.
Meine Mutter starb an Alzheimer. Es war herzzerreißend zu beobachten, wie ihre Erinnerungen langsam schwanden, bis sie nicht mehr wusste, wer ich war. Später wusste sie nicht einmal mehr, wer sie selbst war.
Es ist bekannt, dass Alzheimer eine genetische Komponente aufweist. Menschen mit einer Mutation auf dem ApoE4-Gen sind besonders anfällig für die Krankheit. In einer BBC-Reihe, die ich früher einmal moderiert habe, konzentrierte sich die Kamera auf mein Gesicht, als ich gefragt wurde, ob ich den ApoE4-Test machen würde, um herauszufinden, ob ich genetisch für diese Krankheit disponiert sei. Was würde ich sagen, wenn sich herausstellen sollte, dass mir tatsächlich das Schicksal drohte, an Alzheimer zu erkranken? Ich dachte darüber nach und meinte schließlich, dass ich den Test dennoch machen würde, denn es ist stets besser, für die Zukunft gerüstet zu sein, ganz gleich, was sie bringt. (Zum Glück war mein Test negativ.)
Leider ist die Ursache von Alzheimer bislang unbekannt. Die einzige Möglichkeit, zu einer eindeutigen Alzheimer-Diagnose zu gelangen, ist eine Autopsie. Dabei finden Pathologen im Gehirn der Verstorbenen häufig zwei Typen von klebrigen Proteinen, die als Tau-Protein und als Beta-Amyloid bezeichnet werden. Seit Jahrzehnten diskutieren Ärzte darüber, ob diese klebrigen Proteine die Ursache für Alzheimer sind oder ein unwichtiges Nebenprodukt der Krankheit. Das Problem ist, dass bei Autopsien im Gehirn einiger Obduzierter starke Amyloid-Ablagerungen gefunden wurden, die Betroffenen aber keinerlei Alzheimer-Symptome aufwiesen. Daher gibt es in vielen Fällen keine direkte Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Alzheimer und Amyloid-Ablagerungen (Plaques).
Ein Hinweis, der zur Lösung des Rätsels beitragen könnte, wurde vor Kurzem entdeckt. Wissenschaftler in Deutschland fanden eine direkte statistische Korrelation zwischen Menschen mit missgestalteten Proteinen und Menschen mit Alzheimer. Im Jahr 2019 veröffentlichten sie die erstaunliche Mitteilung, dass symptomfreie Menschen mit einem falsch gefalteten Amyloidprotein im Blut ein um das Dreiundzwanzigfache erhöhtes Risiko trugen, an Alzheimer zu erkranken. Diese Verbindung ließ sich bis zu 14 Jahre vor dem Zeitpunkt feststellen, an dem sie durch eine klinische Alzheimer-Diagnose bestätigt wurde.
Das heißt, dass uns ein einfacher Bluttest vielleicht Jahre vor der Entwicklung von Alzheimer-Symptomen über das Erkrankungsrisiko aufklären kann, indem er nach den missgestalteten Amyloid-Proteinen sucht.
Prusiner meinte dazu: «Meiner Meinung nach zeigt dies ohne jeden Zweifel, dass Beta-Amyloid und Tau beides Prionen sind und dass Alzheimer eine Doppelprionen-Krankheit ist, bei der diese Schurkenproteine gemeinsam das Gehirn zerstören. … Wir brauchen ein rigoroses Umdenken in der Alzheimer-Forschung.»[39]
Einer der Autoren des Artikels, Klaus Gerwert von der Universität Bochum, betonte, dieser Durchbruch könne zu neuen Therapien für Alzheimer führen – momentan gibt es keine. Er meinte: «Der Nachweis falsch gefalteter Beta-Amyloide im Blut könnte daher einen entscheidenden Beitrag dazu liefern, ein Medikament gegen die Alzheimer-Krankheit zu entwickeln.»[40] Der deutsche Krebsforscher Hermann Brenner aus Heidelberg, ein weiterer Autor der Studie, meinte: «Alle setzen nun ihre Hoffnungen auf neue Behandlungsansätze während des symptomfreien Frühstadiums der Krankheit, um vorbeugende Schritte zu unternehmen.»[41]
Eine weitere Entdeckung 2021 könnte uns ganz genau sagen, wie dieser Krankheitsprozess abläuft. Wissenschaftler an der University of California fanden heraus, dass sich gute und schlechte Versionen des Amyloidproteins auf einen Blick anhand ihrer Struktur unterscheiden lassen. Sie stellten fest, dass Proteinmoleküle, da sie aus langen Aminosäureketten bestehen, die sich zusammengerollt haben, oft Cluster von Atomen aufweisen, die sich in die eine oder die andere Richtung schrauben, entweder im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn.
Im normalen Amyloidprotein ist die Struktur «linkshändig», d.h., die Spiralen und Wirbel des Moleküls weisen diese eine Orientierung auf. Das andere, mit Alzheimer assoziierte Amyloidprotein ist hingegen rechtshändig. Wenn die Theorie stimmt, dass ein Typ von missgestaltetem Amyloidprotein für die Alzheimer-Krankheit verantwortlich ist, könnte dies einen völlig neuen Ansatz für die Forschung bedeuten.
Zunächst müssen wir detaillierte 3-D-Bilder dieser beiden Amyloidprotein-Typen anfertigen. Möglicherweise ließe sich mithilfe von Quantencomputern auf atomarem Niveau genau erkennen, wie das missgestaltete Alzheimer-Molekül sich vermehren kann, indem es mit gesunden Amyloid-Proteinen zusammenstößt, und warum es im Gehirn so großen Schaden anrichten kann.
Durch eine genaue Untersuchung der Struktur des Proteins ließe sich dann vielleicht aufklären, wie es die Nervenzellen in unserem Nervensystem schädigt. Sobald der Mechanismus bekannt ist, gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine davon wäre, die Defekte in diesem Protein zu identifizieren und mittels Gentherapie eine korrekte Version des Gens zu schaffen, das für das fehlerhafte Protein kodiert. Vielleicht werden auch eines Tages Medikamente entwickelt, die das Wachstum des rechtshändigen Proteins blockieren oder dafür sorgen können, dass es rascher aus dem Körper eliminiert wird.
Beispielsweise ist bekannt, dass diese missgestalteten Moleküle nur rund 48 Stunden im Gehirn existieren, bevor sie auf natürliche Weise ausgespült werden. Sobald wir die molekulare Struktur des rechtshändigen Amyloidproteins verstehen, können wir ein anderes Protein entwerfen, das an dieses abweichende Molekül andockt und es entweder abbaut und neutralisiert, sodass es nicht länger gefährlich ist, oder sich an das Protein bindet, sodass es rascher aus dem Körper gespült wird. Quantencomputer könnten dazu beitragen, die Schwachstellen des Moleküls herauszufinden.
Alles in allem könnten Quantencomputer zahlreiche Ansätze auf molekularem Niveau aufzeigen, mit deren Hilfe sich die schlechten Prionen neutralisieren oder eliminieren ließen – etwas, das uns mittels Versuch und Irrtum und digitalen Computern nicht gelungen ist.
Ein weiteres Ziel für Quantencomputer ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), auch Lou-Gehrig-Syndrom genannt, eine tödliche Erkrankung des Nervensystems, die zu Muskelschwund und zur Lähmung der Muskulatur führt. In den USA sind mindestens 16000 Menschen betroffen, in Deutschland sind es 6000–8000. Die Betroffenen sind bei klarem Verstand, doch ihr Körper gehorcht ihnen immer weniger. Diese Krankheit greift das Nervensystem an und trennt in gewissem Sinne die motorischen Nervenzellen (Motoneuronen) von den Muskeln, die sie steuern. ALS führt auf die Dauer stets zum Tod.
Das berühmteste Opfer dieser Krankheit ist der verstorbene Kosmologe Stephen Hawking. Sein Fall war insofern ungewöhnlich, als er 76 Jahre alt wurde; die meisten ALS-Patienten sterben deutlich früher. Die Opfer leben nach dem Auftreten der ersten Symptome und der Diagnose dieser schrecklichen Krankheit in der Regel nur noch 2 bis 5 Jahre.
Hawking lud mich einmal zu einem Vortrag über Stringtheorie nach Cambridge ein. Ich war erstaunt, als ich zu ihm nach Hause kam. Das Haus war vollgestopft mit Geräten, die ihm trotz seiner lähmenden Krankheit zu «funktionieren» erlaubten. So gab es zum Beispiel eine mechanische Vorrichtung, in die man eine Physik-Zeitschrift legen konnte. Man musste nur einen Knopf drücken, dann ergriff der Apparat eine Seite und blätterte sie automatisch um.
Während der Zeitspanne, die ich mit ihm verbringen durfte, war ich tief beeindruckt von seiner Willenskraft und seinem Wunsch, produktiv zu sein und am wissenschaftlichen Austausch in der Physik teilzunehmen. Obwohl er fast vollständig gelähmt war, war er fest entschlossen, seine Forschungen weiterzuführen und mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu bleiben. Seine Entschlossenheit angesichts schier unüberwindbarer Hindernisse war ein Zeugnis seines Mutes und seines Tatendrangs.
Fachlich drehte sich seine Arbeit um die Anwendung der Quantentheorie auf Einsteins Gravitationstheorie. Die Hoffnung ist, dass sich die Quantentheorie eines Tages revanchiert und einen Weg für Quantencomputer findet, diese schreckliche Krankheit zu heilen. Gegenwärtig wissen wir nur wenig über ALS, denn die Krankheit ist relativ selten. Wenn man sich jedoch die Familiengeschichte der Betroffenen anschaut, wird deutlich, dass eine Reihe von Genen bei ALS eine Rolle spielt.
Bislang sind rund 20 Gene gefunden worden, die mit ALS in Verbindung gebracht werden, doch vier von ihnen sind für die meisten Fällen verantwortlich: C9orf72, SOD1, FUS und TARDBP. Eine Fehlfunktion dieser Gene wird mit dem Tod von Motoneuronen im Hirnstamm und im Rückenmark in Zusammenhang gebracht.
Von besonderem Interesse ist das SOD1-Gen. Man nimmt an, dass eine fehlerhafte Proteinfaltung, die vom SOD1-Gen verursacht wird, an der Entstehung von ALS beteiligt ist. Das SOD1-Gen kodiert für ein Enzym namens Superoxiddismutase (SOD), das geladene Sauerstoffmoleküle, potenziell gefährliche sogenannte Superoxid-Radikale, abbaut. Wenn es SOD jedoch nicht gelingt, diese Superoxidradikale zu eliminieren, kann das zu Schädigungen von Motoneuronen führen. Daher könnte die fehlerhafte Faltung des vom SOD1-Gen kodierten Proteins einer der Mechanismen sein, die den Tod von Neuronen bewirken.
Die Kenntnis des molekularen Weges, der von diesen defekten Genen eingeschlagen wird, könnte der Schlüssel dafür sein, diese Krankheit zu heilen, und Quantencomputer könnten dabei eine entscheidende Rolle spielen. Wenn man die Gene als Schablone einsetzt, kann man eine 3-D-Version des defekten Proteins schaffen, für das dieses Gen kodiert. Wenn man dann die Struktur des Proteins untersucht, ließe sich aufklären, wie es die Neuronen in unserem Nervensystem schädigt. Wenn wir feststellen können, wie das defekte Protein auf molekularer Ebene funktioniert, könnten wir vielleicht eine Therapie finden.
Eine weitere tödliche Krankheit, für die mutierte Proteine im Gehirn eine entscheidende Rolle spielen, ist die Parkinson-Krankheit, an der in den Vereinigten Staaten rund eine Million Menschen leiden; in Deutschland sind es rund 400000 Menschen. Der bekannteste von dieser Krankheit Betroffene ist Michael J. Fox, der seine Berühmtheit dazu genutzt hat, Spendengelder in Höhe von einer Milliarde Dollar einzuwerben, um Parkinson zu bekämpfen. Ein typisches Anzeichen der Krankheit ist ein unkontrollierbares Zittern der Gliedmaßen («Schüttellähmung»), doch es gibt noch zahlreiche weitere Symptome, wie Gehstörungen, Verlust des Riechvermögens, Schlafstörungen usw.
Bei der Bekämpfung der Krankheit hat es einige Fortschritte gegeben. So haben Wissenschaftler zum Beispiel herausgefunden, dass man mithilfe von Hirnscans genau lokalisieren kann, wo Neurone stärker als normal feuern, was möglicherweise das Zittern (Tremor) der Hände hervorruft. Diese Form von Parkinson lässt sich dann manchmal dadurch behandeln, dass man dort, wo Zellen hyperaktiv sind, eine Elektrode ins Gehirn einpflanzt. Durch Neutralisieren der erratisch feuernden Neurone lässt sich dann ein Teil des Zitterns unterdrücken und das Beschwerdebild lindern.
Leider ist die Krankheit bislang nicht heilbar. Einige der Gene, die mit Parkinson in Zusammenhang gebracht werden, sind inzwischen jedoch isoliert worden. Es ist möglich, die mit diesen Genen assoziierten Proteine zu synthetisieren, deren dreidimensionale Struktur sich mithilfe von Quantencomputern entschlüsseln ließe. Auf diese Weise könnten wir herausfinden, wie Mutationen in solch einem Gen Parkinson hervorrufen können. Wir könnten dann die korrekte Version klonen und wieder in den Körper injizieren.
Daher könnten Quantencomputer einen völlig neuen Weg zur Bekämpfung dieser unheilbaren Krankheit, die vorwiegend ältere Menschen betrifft, aufzeigen. Vielleicht können sie eines der größten medizinischen Probleme aller Zeiten in Angriff nehmen: den Alterungsprozess. Wenn man den Alterungsprozess aufhalten kann, dann kuriert man automatisch eine ganze Palette von Krankheiten, die mit dem Altern einhergehen.
Wenn Quantencomputer eines Tages Heilungsmöglichkeiten für ältere Menschen finden können, heißt das dann auch, dass wir überhaupt nicht mehr sterben müssen?